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Der so plötzlich ganz vereinsamte Arnold hielt sich tapfer aufrecht und sah sogleich zu, um über sein neues Leben ins klare zu kommen. Zuerst schrieb er an Johanna, die unweit in einer kleinen Stadt weilte. Er zeigte ihr an, daß er Lina in keinem Falle herausgebe, daß Robert abgereist sei und er es ihr übrigens nicht verwehre, zu ihm zurückzukehren. Sein Brief war durchaus in würdiger Zurückhaltung und ohne jedes dringende Flehen abgefaßt. Hierauf kam die Antwort, Johanna könne nicht mehr aufzurichten versuchen, was sie schon hoffnungslos aufgegeben, und da er ihr Lina vorenthalte, so werde sie, wie schwer es ihr auch falle, sogleich die nötigen Schritte tun, um beim Gericht durchzusetzen, was ihr gutes Recht sei und ihr die Pflicht gegen ihr Kind gebiete. – Arnold hatte, wie er nun sein Weib kannte, kaum anderes erwartet und dachte weiter. Der Verkauf seines Hauses erschien ihm jetzt, da er allein war, um so notwendiger, und er wollte ihn unverzüglich einleiten; aber da gab es einen schlimmen Anstand: der Käufer, auf welchen er rechnete, war inzwischen anderen Sinnes geworden. Man hatte dem Manne eingeflüstert, daß er, wenn er nur warten könne, später für einen Spottpreis erstehen werde, was er jetzt doch annähernd nach seinem vollen Werte bezahlen sollte. – Diese Wendung war für Arnold ein arger Stoß und er glaubte schon wieder in seine alte Verzweiflung zurückzusinken. Was sollte er mit dem Gewölbe beginnen, das er seinerseits jedenfalls aufgeben wollte? Und wie sollte er über seine freilich kleinen Bedürfnisse noch soviel erwerben, um fortwährend die zehrenden Gläubiger zu befriedigen? Aber wenn ihm auch einen Augenblick schwindelte, er faßte sich schnell wieder. Er verkaufte – freilich mit großem Verluste – seine Warenvorräte und sperrte sein Gewölbe zu, um es bei guter Gelegenheit zu vermieten, was er auch mit den übrigen Räumen des Hauses tun wollte. Für sich und Lina behielt er nur ein Zimmer und ein Kämmerchen, und eine alte Magd, die schon seit langen Jahren im Hause war, sollte ihm die nötigsten Dienste leisten. Sein Klavier ward aus dem stattlichen Zimmer, wo es bis jetzt stand, in seine neue Wohnung getragen und die Violine aus dem Kasten hervorgeholt. – Nun war es bald an allen Straßenecken des Städtchens in großer Schrift zu lesen, daß sich Arnold Frank für ein Billiges zum Klavier- und Violinunterricht anbiete. Aber er fand im Anfange fast gar keine Beschäftigung und auch hier ward ihm seine Vergangenheit zum Fluche. Da Arnold einst ein so angesehener Bürger war, hatte jeder eine gewisse Scheu, ihn nun als Lehrer und gewissermaßen Diener im Hause zu empfangen, und wenn man auch zu seiner Kenntnis Zutrauen hatte, so zweifelte man doch an seinem gewissenhaften Fleiße. Erst nach und nach, da seine Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit in seiner neuen Stellung bekannt wurde und die Erfolge seiner Schüler für ihn sprachen, ward er mehr gesucht; aber nun stellte sich ein anderes Übel ein: man sündigte auf seine bedrängte Lage und seine Güte. Jeder schraubte das Honorar auf das Niederste herab, und mancher stand vollends nicht an, unpünktlich oder gar nicht die Zahlungen zu leisten; er wußte ja, daß auch der so herabgekommene Arnold nicht der Mann war, darüber ein helles Geschrei anzufangen. So erwarb sich Arnold durch den Musikunterricht doch allzuwenig und er trat auch für ein paar Gulden in das Amt eines Gemeindeschreibers ein. Ergab sich zwischendurch etwas, was einen kleinen Verdienst abwarf, so griff er ebenfalls begierig zu. O du wundersame Natur! Du hast dir dein schönes Erbe nicht erhalten und ringst nun mühselig, um ein Paar Groschen zu erwerben; du hast einst deiner Leute Arbeit nicht überwacht und tust nun doch gern selbst das Lästigste und läufst z. B. unermüdlich als Leichenbitter von Haus zu Haus; du hast in deinem eigenen Gewölbe die Käufer nicht anzulocken gewußt, aber bei der Versteigerung eines Nachlasses, zu welcher man um ein Bescheidenes deine Dienste haben kann, legst du sorgsam und gefällig alle Sachen aus, damit ja die Kauflust rege werde. Und in welch eifriger Bewegung bist du heute, da eine durchziehende Schauspielertruppe für ihre Vorstellungen der Musik bedarf! Du stellst schnell ein kleines Orchester zusammen und streichst bis in die tiefe Nacht als Kapellmeister deine Violine, daß dir der Schweiß über die Stirne rinnt, ganz ungewiß, ob du auch nur den geringsten Lohn erhältst; denn schon morgen vielleicht zieht das leichte Völkchen wieder weiter und läßt nur Schulden zurück. Und wie du dich, der du noch immer gern dein Letztes für einen andern hingibst, tapfer in den rührendsten Egoismus hineinlügst und selig bist, wenn du den kleinsten Erwerb einstreichen und dabei rufen kannst: »Das hab' ich verdient! Das gehört mir! Ich kann doch etwas!«
Arnold Frank ward allgemach zu einer Charakterfigur im Städtchen. Groß und klein wandte sich mit besonderen Anliegen an ihn, und wenn er die Straße dahergeschritten kam, grüßte er jeden schon von weitem ergeben und mit einer eigenen Wehmut lächelnd. Der Mann war jetzt auf den ersten Blick gar nicht mehr zu erkennen. Obwohl nach seinen Jahren im schönsten Mannesalter, hatte er schon fast ganz weiße Haare, und sein äußerer Aufzug sah recht dürftig aus. Ein alter fadenscheiniger Sammetrock, eine gleiche Weste und ein Beinkleid, dessen Farbe sich nicht mehr genau feststellen ließ, das war seine Bekleidung. Aber unter dem vielfach eingedrückten schwarzen Filzhut erblickte man noch immer ein helles, edles Antlitz, aus welchem sich die schöne Adlernase gar stolz heraushob, und noch immer war jeder mächtig ergriffen, der dieses träumerische Auge verstand und sich hineinversenkte. – Wenn übrigens Arnold in seiner äußeren Erscheinung nicht allzu sorgfältig sein konnte, so sah er darin um so mehr auf Lina, die nun im sechsten Jahre war. Das Kind erschien immer in höchst reinlichen zierlichen Kleidchen; dafür sparte sich der Vater, wenn es sein mußte, das Nötige vom Munde weg. Und er sorgte dabei in allem gleich gewissenhaft für die Kleine; zwischen ihr und seiner Arbeit teilte er sein Leben. – Wer Arnold nicht genauer kannte, hätte ihn jetzt – so bang das Weh an seinem innersten Herzen nagte – für zufrieden gehalten, und vielleicht wäre er auch noch über die Vergangenheit weg zu einer gefaßten Resignation gelangt, wenn er nur einen freien, heitern Ausblick in die Zukunft gehabt hätte. Aber da erschreckte ihn stets die bängste Sorge, die für seine edle Natur doppelt lähmende, ganz gemeine Sorge um die Fristung des Daseins. Er brachte sich mit seinem Kinde wohl gut fort, die Zinsen für die Gläubiger konnte er jedoch mit aller Mühe nur unregelmäßig erschwingen und es kamen kleine Anstände vor. Jetzt zum ersten Male verstand er so ganz die Drohung, die in einem solchen Verhältnisse lag, und eine schwere Beängstigung erfaßte ihn bei dem Gedanken an das Unheil, das erst noch kommen konnte. Jetzt, wo er sich aufgerafft, um alles Menschenmögliche einzusetzen, sollte er sich nicht behaupten können? – Er rang und rang mit beharrlichem Aufgebot seiner ganzen Kraft; aber die Anstände wiederholten sich, und die Gläubiger wurden immer ungeduldiger: wehe ihm, wenn all seine Anstrengung zuletzt doch eine verlorene wäre!
Es war an einem Herbstnachmittage. Arnold hämmerte und besserte im Holzschuppen seines Hauses an einem Wägelchen der kleinen Lina, während das Kind in einer Ecke des Hofes mit der Puppe spielte. Das Haus Arnolds sah jetzt schon recht verfallen aus; wo die pflegende Hand fehlt, wird dies sogleich bemerkbar. Die hölzerne Freitreppe, welche an der einen Seite auf den Boden führte, war halb zerbrochen und nur mehr mit Gefahr zu besteigen; das Dach zeigte manche Lücke, und von der verwitterten ungetünchten Mauer bröckelte an vielen Stellen der Mörtel ab. Wäre ihm das noch so schwer aufs Herz gefallen, er hätte es nicht ändern können: es fehlten die Mittel. Aber es ging ihm nicht einmal so nahe. – In allem, was den inneren Menschen betraf, von der ängstlichsten Genauigkeit, im Sittlichen von der fleckenlosesten Reinheit, war er durch äußere Unordnung nicht besonders gestört. Ein fortwährendes Flicken und sorgliches Herausputzen lag nicht in seiner Art. Vieles bemerkte er gar nicht, und fiel ein Ziegel vom Dache, so räumte er ihn einfach weg. Aber er konnte oft stundenlang an einem Spielzeug der kleinen Lina emsig arbeiten; denn er wußte, daß er ihr damit eine Freude machte. Darin offenbarte er ein Stück des alten Träumers, der, das Nützliche vergessend, nur stets den Augenblick verschönen wollte. – Da sein Haus jetzt in so üblem Zustande war, wurde es auch nur von armen Leuten bewohnt, welche wenig Miete bezahlten. Wer bei niemand mehr unterkommen konnte, der fand noch für ein Geringes bei Arnold ein kleines Kämmerchen, und allgemach siedelte sich bei ihm ein ganzes Völkchen von Taglöhnern mit Weibern und Kindern an, die für die säuberliche Erhaltung der Wohnräume auch nicht förderlich waren und seinem Hause den Namen »Armenhaus« einbrachten. Nun, das konnte ihm kein Schimpf sein, und die mit der Not kämpfenden Armen verehrten ihn als ihren Wohltäter. Freilich, den wohlhabenderen Bürgern des Städtchens, deren Häuser stets blank und reinlich dastanden, war dieser Verfall seines letzten Besitzes das einzige, was sie ihm trotz ihrer Teilnahme – oder vielleicht gerade aus Teilnahme – an seinem Mißgeschicke noch fortwährend übelnahmen, und mancher, der vorüberging, schüttelte den Kopf und murmelte in Gedanken an die frühere Zeit, halb schmerzlich, halb ärgerlich: »Wie da jetzt alles aussieht! Das nimmt ein schlimmes Ende!«
Ach, für Arnold nahm es auch ein recht schlimmes Ende! Heute erschien bei ihm der Gerichtsbote mit einer Schrift. Der wenig feine, aber biedere Mann, welcher mit Arnold oft amtlich zu verkehren hatte, mußte wohl um den Inhalt wissen, denn er traute sich kaum damit hervor, als er jetzt neben Arnold stand und dieser von seiner Arbeit aufsah. »Da hab' ich etwas für Sie!« stotterte endlich der Angekommene. »Ach, die Menschen haben kein Herz! Wenn Sie nur wüßten, wie es uns allen leid tut!«
Arnold nahm ihm mit einem ungewissen Blicke die Schrift aus der Hand und überflog sie. Jetzt zuckte er schmerzlich zusammen. Es war die gerichtliche Anordnung der Feilbietung von Arnolds Besitz. Die Gläubiger, in jüngster Zeit wieder nicht ganz befriedigt, hatten diesen Gerichtsbeschluß erwirkt. Ja, sie hatten kein Herz, und doch waren sie nicht einmal so sehr zu verdammen; denn sein Haus wurde ja täglich mehr entwertet, und es konnte sie immerhin die Furcht beschleichen, daß sie am Ende mit ihren Forderungen gar nicht mehr gedeckt seien. So hatte Arnold bei aller Unschuld doch wieder in gewissem Grade selbst dieses neue Verhängnis herbeigeführt.
Nach einer kurzen bangen Pause kämpfte er seine Bewegung nieder und sagte, indem er die Schrift in die Tasche steckte: »Ich danke Ihnen! Man muß es ertragen,«
»Es war mir ein schwerer Gang, Herr Frank. Nichts für ungut!« Und der Gerichtsdiener entfernte sich, von sichtlicher Teilnahme ergriffen.
Kurze Zeit danach wurde Arnolds Besitz um einen Spottpreis verschleudert, und für ihn fiel nicht ein Heller ab.
So war er nun ohne Obdach, ein Bettler. Zuerst bemächtigte sich seiner eine gewaltige innere Wut. Er kam sich wie ein Bestohlener, wie ein Wehrloser vor, den lauter gierige Verfolger umlauern. Was tat er denn, daß man ihm nach und nach alles nahm und unerbittlich von dem letzten Fleckchen weghetzte, das noch sein war? War aber das alles nach anerkanntem Rechte geschehen, dann um so schlimmer! Arnold befand sich nicht in der Stimmung, sich den Fall nüchtern auseinanderzusetzen, er sagte sich nur, daß er nichts verschuldet, und ob nun das Üble auf diesem oder jenem Wege über ihn hereinbrach, er hatte es nicht verdient und lehnte sich dagegen auf. Und worüber er am meisten erschrak, das war der Gedanke, daß nun sein Weib, deren Ansprüche er bis jetzt mit Glück zurückgewiesen hatte, einen gewichtigen Grund mehr beibringen konnte, um Lina für sich zu fordern. Ach, dieses Kind war ja noch sein alles! Und doch – welches Geschick erwartete es bei ihm? Durfte er es noch länger an sich fesseln? Seine Pulse stockten, da er sich nun selbst diese Frage stellte und sie nicht mehr als toll abweisen konnte. Er stand vor einer schrecklichen Entscheidung; seine Gedanken verwirrten sich und ein wahnsinniger Mut, welcher plötzlich in ihm aufflammte, wollte ihn zu einem raschen, gewaltsamen Ende treiben. – So verharrte er stundenlang in den qualvollsten Kämpfen. – Dann trieb es ihn, wie immer, wenn ein allzu großes Wehe sein Herz belastete, ins Freie. Aus dem Zimmer hinaus schritt er durch den Garten weiter die Felder entlang. – Es war ein trüber, herber Novemberabend. Die untergehende Sonne offenbarte sich nur durch die am westlichen Horizonte heller erleuchteten Wolken, welche in einem bunten Farbenchaos übereinander getürmt waren, und von Norden her strich ein kühler, frostiger Windhauch. Rechts und links von seinem Pfade lag das Land, welches einst ihm gehörte. Die aufgegangene Wintersaat machte es zu einem grünen Rasen, der wundersam frisch gegen den herbstlichen fahlen Farbenton der umliegenden Landschaft abstach. Es war wie ein Zeichen der ewigen Erneuerung in dem melancholischen, trostlosen Sterben ringsumher, und so sehr das Bild, welches die Natur im ganzen bot, zu der todesbangen Stimmung in seinem Innern paßte, eine heimliche Regung sagte ihm jetzt, daß da draußen in der weiten Runde vielleicht doch manche Stelle sei, wo ein müdes, verlassenes Herz ankern könne. Aber wem ist es beschieden, sie zu finden? Der Punkt, wo er jetzt für allen Drang und alle Qual die Ausgleichung ahnte, lag ihm doch über dem einzelnen Menschenschicksal. Tritt in einen wimmelnden Ameisenhaufen! Du weihst damit Hunderte dem Untergange, wahllos, wie eben dein Fuß den tödlichen Druck übt; aber komm nach einiger Zeit wieder: der Haufen steht wohlgebaut da, und unzählige Tierchen tummeln sich geschäftig, als hättest du ihn nie berührt. So ist's! so ist's! Und daß er zu den Zertretenen gehörte, wie durfte er darüber klagen? Die Ordnung im Weltganzen kann kein Verzweifelnder hinausleugnen, und eben diese Ordnung verlangt, daß der einzelne gefaßt den Untergang ertrage. Was an ihm mißlang, wird an einem andern zur Entfaltung kommen. – Wie er sich einst zum Ausharren ermuntert, wie er einst für die Behauptung seines Selbst gekämpft, so erschien es ihm jetzt nur schwach, sich an ein verlorenes Dasein zu klammern; er hätte rasch aus der Welt verschwinden mögen, ohne bei jemand eine Erinnerung zurückzulassen, als wäre er nie gewesen; er empfand über sein Leben eine Art Scham, es erschien ihm wie ein Irrtum der treibenden Natur, der schleunig ausgelöscht werden mußte. Daß ihm darüber nicht die Entscheidung zukam, daß jeder den vernichtenden Schlag wohl gefaßt empfangen, aber nicht selbst gegen sich führen soll: zu diesem Lichte konnte er sich aus dem verwirrenden Dunkel, das ihn umgab, nicht emporringen. Aber er hatte sich über jedes kleine Klagen und Jammern erhoben, er war ruhig und fand in den Entschlüssen, welche seine Seele in dieser Stunde faßte, eine gewisse Versöhnung: das nahm er für die Gewähr, daß sie auch die rechten waren. – Es lag schon tiefes Dunkel über der Landschaft, als er nach Hause zurückkehrte.
Den andern Tag ging er mit der kleinen Lina zum Photographen des Städtchens, um das Bild des Kindes anfertigen zu lassen. – Während der Mann in dem dunkeln Kämmerchen hantierte, griff Arnold rasch nach dem Glastiegel mit jenem verhängnisvollen chemischen Präparat, das für den flüchtigen Blick wie Zucker aussteht. Er nahm ein Stück heraus, verbarg es und stellte den Tiegel wieder an seinen Platz. Der Himmel verzeihe mir diesen Diebstahl! dachte er bei sich. – Linas Bild gelang recht gut, und sie sah darauf gar selig unbefangen in die Welt hinaus.
In den nächsten Tagen ordnete Arnold den Besitz Linas. Sie hatte eine Menge gar schöner Kleidchen und Röckchen, Spielereien und viele andere Dinge. Alles wurde sorglich verpackt. Dann bat Arnold einen befreundeten Bürger, er möge das Kind mit den Sachen zur Mutter bringen. Dieser sagte gern zu, und Arnold schrieb für Johanna noch den folgenden Brief:
»Ohne den Ausgang des Streites abzuwarten, den Du um Lina mit mir führst, sende ich Dir das Kind freiwillig. Du wirst für sie mehr tun können als ich; Du wirst sie besser das Leben beherrschen lehren, das sehe ich jetzt ein. – Vergebens rang ich nach einer Befestigung meines Daseins; es war schon zu spät, das Schicksal hat mir nicht mehr Zeit gelassen, und vielleicht taugte ich auch nimmermehr in die Welt. Mißverstehe diese letzten Worte nicht; sie sollen nur Dir recht geben und mich ermahnen, daß ich das Bange und Ungeheuere, wozu ich gedrängt bin, ohne die leiseste Verbitterung des Herzens vollbringe.
Die Schmerzen, die Du durch mich erfahren, wirst Du dem Dahingegangenen verzeihen, und wolltest Du Dich unter dem Eindrucke einer Tat, für die ich keinen Mitschuldigen vor den Richterstuhl des Allmächtigen fordere, dennoch selbst anklagen, so blicke auf unser Kind und fasse Dich: hier kannst Du alles gut machen, was Du etwa mir gegenüber bereust. Wache über das unschuldige Geschöpf, und des Himmels Segen begleite Euch beide! – Dein Arnold.«
Eines Nachmittags trennte sich nun Arnold von seinem Kinde und ließ es dahinfahren zur Mutter; unter welchen Schmerzen, dies ahne ein fühlendes Herz!
Den Abend darauf saß Arnold länger, als er pflegte, am Klavier. Bald in mächtig brausenden, bald in leise klagenden Tönen scholl es hinaus in die herbstliche Landschaft; das war ein anschwellendes Stürmen und verzitterndes Säuseln, so schaurig wild und so melodisch süß, daß es wohl wert gewesen wäre, für immer festgehalten zu werden; aber es verhallte spurlos in den Lüften wie die Schreie und Seufzer eines einsamen hoffnungslosen Menschenherzens. – Man konnte heute von draußen sehr lange Licht in seinem Zimmer sehen.
Als am andern Morgen die alte Magd bei Arnold eintrat, fuhr sie entsetzt zurück: da lag er tot auf dem Boden. Zitternd vor Schreck und wehklagend rief das Weib Leute herbei. Auf einem Tische neben der Leiche fand man ein leeres Glas, das noch einen trüben Bodensatz enthielt, und daneben lagen das Bildnis Linas und ein Blatt Papier, auf welchem Arnold noch über seinen Nachlaß verfügte und namentlich auch die alte Magd für ihre getreuen Dienste bedachte. – Bald darauf stürzte Johanna herein. Sie war nach dem Empfang von Arnolds Brief in der größten Seelenangst sogleich hieher aufgebrochen. Ach, keine Verzweiflung vermochte ungeschehen zu machen, was sie unter dem unerbittlichem Gebote ihrer Natur getan!
Armer, unglücklicher Arnold Frank! Dir möchte ich diese Grabschrift auf deinen Leichenstein setzen: Hier ruht einer, er war mäßig und genügsam, und hat doch all seine Habe vertan; er war gut und hilfreich, und hat doch über seine Liebsten nur Kummer gebracht; er war von edelstem Geist und Herzen, und hat in der Welt doch keinen Raum finden können. Der du seinem Grabe nahst und diese Worte liesest, verweile sinnend und weihe dem Modernden eine Träne!