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Die Vermählung des Brautpaares hatte stattgefunden. Arnold versank jetzt in die süßeste Glückestrunkenheit und konnte nicht genug sein Weib preisen, das immer ihre Gedanken beisammen hatte und neben seinem Überschwange doch nie kühl erschien. Johanna war darin auch bewunderungswürdig. Sie wußte, sobald es die Stunde heischte, das Nüchternste verständig zu ordnen, ohne je die zärtlichste Innigkeit für Arnold zu verleugnen. Aus ihrer frischen kräftigen Art, welche merkwürdig zu ihrer ganzen Erscheinung stimmte, sprach es gleichsam: Wenn ich dich küsse, hast du meinen vollen Kuß; soll ich aber etwas schaffen, so gib mich frei, und ich kehre dann gewiß mit der alten Glut zu dir zurück! Als Hausfrau war sie ein Muster. Sie verlangte für sich kein anderes Vergnügen als vom Morgen bis zum Abend in ihrer Wirtschaft zu schalten, sie war von unermüdlicher Tätigkeit und legte, wenn es not tat, selbst überall die Hand an. Da ihr hier Arnold im vorhinein freien Spielraum gewährt hatte, so konnte sie ungescheut alles, was ihr mißfiel, sogleich ändern; sie entließ Knechte und Mägde, die sich an Unordnung und lungernde Trägheit gewöhnt hatten, zog bessere heran, und bald machte sich in allem ein anderer Geist bemerkbar. Ja, Johanna ward selbst ihrem Manne eine Führerin, ohne daß sie es ihn unzart fühlen ließ. Sie schlich dann und wann ins Gewölbe und verbesserte ganz im stillen, was ihr nicht gut schien; dann guckte sie wieder in Arnolds Bücher, ob er alles ordentlich eingetragen habe, und wenn sie kleine Anstände fand, so verwies sie ihn unter neckenden Scherzen und Küssen. – Arnold schlug solche Ermahnungen auch keineswegs in den Wind. Aber es ist ein wunderbares Ding um den Ruf: sein Gewölbe war einmal schon übel angeschrieben, und wie sehr er sich anstrengte, um alle Schaden zu beseitigen, es hieß doch überall: »Mit dem jungen Frank ist's nichts; dort kauft man schlecht.« Und ein anderer Kaufmann des Städtchens wußte das zu benützen: er ließ sich ein doppelt so großes Schild malen, verdoppelte die Anzahl der an der Gewölbtüre baumelnden buntfarbigen Tücher und ließ drinnen alles zierlich anstreichen und lackieren. Da sagte man nun: »Ah, das ist ein tätiger Mann! Der hat schöne Sachen.« Und die Leute liefen an Frank vorüber dem andern zu und ließen sich dort auch gern prellen. Nur ein Anhang blieb Arnold getreu: die große Zahl derer, welche auf Borg nahmen. Sein Schuldbuch war immer wohlgefüllt. Wenn ihm all das Geld eingelaufen wäre! Manchmal erschrak Johanna über die lange Namensliste seiner Schuldner. Und bei diesem oder jenem rief sie dann: »Wie kannst du nur diesem Menschen borgen? Du weißt ja, daß er dir sein Lebtag keinen Kreuzer bezahlt.« Aber wem hätte Arnold je beharrlich etwas abschlagen können! Da kommt z. B. ein zerlumpter lahmer Kerl herein, der als Taugenichts im ganzen Orte bekannt ist. Die Posten seiner Schulden bei Arnold füllen schon mehrere Seiten. Heute ein Päckchen Kaffee, morgen etwas Zucker usw. Und nun verlangt er wieder ein Stück der geräucherten bräunlichen Speckseite, welche, von Johanna sorglich bereitet, gar einladend vor ihm hängt. Arnold ist gerade im Gewölbe. »Nein! mein Lieber,« ruft er mit einem gewaltigen Anlaufe. »Eher zahlen! Auf Borg wird nichts mehr gegeben.« – »Sagen Sie das nicht, Herr Frank,« erwidert der andere mit einem kecken schlauen Lächeln, »ich weiß ja doch, daß Sie mir's geben.« – »Was? Über die Frechheit! Das wollen wir sehen. Hinaus!« herrscht Arnold so zornig als möglich. – »Nun,« steuert der andere klug auf sein Ziel los, »ich weiß es, weil Sie immer recht tun, und recht ist's, daß Sie mir's geben. Den ganzen Tag hab' ich mich mit meinem krummen Fuß als Handlanger abgeschunden, und auf die paar verdienten Kreuzer haben schon Weib und Kind hungrig gepaßt: wollen Sie mich nun wie einen armen herrenlosen Hund mit knurrendem Magen von der Türe jagen? Nein! ich weiß, wenn Sie nicht mehr borgen, so fangen sie bei Reicheren an.« – Arnold wendet sich zum Lehrjungen: »Gib ihm! aber nicht zu viel und zum letztenmal.« Und damit flüchtet er sich, als hätte er Übles getan, aus dem Gewölbe. – Trotzdem borgte er immer wieder. Er hatte die besten Vorsätze, er wußte, daß er, nun er einen Hausstand gegründet, mit doppeltem Bedacht den Blick auf das Seine richten müsse, und er sparte ja auch keine redliche Mühe; aber die hundert kleinen Kniffe und Herzlosigkeiten, mit welchen er seinen Vorteil hätte wahrnehmen sollen, widerstrebten nun einmal seiner innersten Natur. Was ein anderer wie selbstverständlich tat, ja, was auch ihm an einem andern gar nicht auffiel, das erschien ihm, wenn es sich um ihn selbst handelte, wie eine Schlechtigkeit. Wie beneidete er jetzt jene, die irgend ein Handwerk ausübten, und wenn sie etwas zustande gebracht hatten, ausrufen konnten: »Hier liegt's! Ich hab' es gemacht. Nun gebe mir einer dafür, was recht ist!« Er wollte ja auch arbeiten, unermüdlich arbeiten, aber die Art der Arbeit, welche er leisten sollte, war ihm eine erdrückende Last.

Die Dinge nahmen so einen Gang, welchen sich Johanna nicht hätte träumen lassen. Im Gewölbe Arnolds gab es Anstände auf Anstände, und was seine Frau, welche die Grundstücke vorzüglich bewirtschaftete, auf der einen Seite hereinbrachte, erreichte doch nicht die Höhe, um den üblen Stand auf der andern Seite nicht empfinden zu lassen. Das Kaufmannsgeschäft war ja ehemals der eigentliche Reichtum des alten Frank, und nun drohte es fast regelmäßig Zuschüsse zu fordern. Johanna half, griff bessernd ein, aber sie vermochte nicht alles zu tun, und da sie zu fürchten begann, daß sie ihren Willen und ihre Kraft am Ende doch vergeblich einsetzen könnte, wurde sie nachdenklich und verstimmt; denn sie, die in allem an die größte Ordnung gewöhnt war, empfand diese Mißverhältnisse doppelt schwer. Endlich fuhr sie auch, rasch und heftig wie sie war, manchmal gegen Arnold mit einem gereizten Wort heraus, was sie zwar immer gleich bereute und gutzumachen suchte, in diesem aber doch recht schmerzlich nachwirkte.

Das holde Mädchen, welches jetzt Johanna ihrem Manne gebar, kam gerade recht, um den Mißklang zwischen den Ehegatten, welcher immer schmerzlicher zu werden drohte, versöhnend aufzulösen; denn hier vereinigten sich ja beide in einem Gefühl: in überschwenglicher Freude. Namentlich Arnold vergötterte die kleine Lina, und er hatte nun für jeden bangen Gedanken einen Trost: das Engelsantlitz seines Kindes. Wie überreich fühlte er sich, wenn er die Kleine in den Armen wiegen, in jeder Miene und Bewegung belauschen konnte! Die Kinderstube war ihm sein liebster Erholungsort, und wie sorglich Johanna neben ihrer angestrengten Tätigkeit ihre Mutterpflichten erfüllte, Arnold beschäftigte sich mit Lina fast noch mehr; er eilte in jeder freien Stunde zu seinem Kinde, spielte mit ihm und war ganz selig, wenn es schon von weitem mit einem Lallen begehrlich die Händchen nach ihm ausstreckte.

Aus dieser Freude wurde Arnold bald rauh geweckt. Da stand er nun wieder vor einer kleinen Krise. Eine größere Geschäftsschuld war zu decken, wenn er nicht um seinen Kredit kommen wollte, und er selbst konnte es ja nicht ertragen, in der Erfüllung seiner Verpflichtungen säumig zu sein. Aber es war kein Geld in der Kasse. Da galt es denn, so gern er es vermieden hätte, rasch das einzige Mittel zu ergreifen, welches ihn von seiner Last befreien konnte, und er sagte mit einer gewissen Beklemmung zu Johanna: »Wir werden ein Paar Äcker verkaufen müssen: ich brauche Geld.« Johanna fuhr erschreckt zurück. »Was? geht es nun schon an unsern Grund und Boden? Willst du mir die schönen Äcker zerstückeln? Ich' lass mir nichts wegnehmen; denn mit weniger kann ich nicht wirtschaften.« – Er wollte schon sagen: »Wie hast du's denn früher zu Hause können?« Aber er erwiderte doch ohne jede Gereiztheit: »So müssen eben auch ein paar Kühe aus dem Stalle.« – Johanna sah in Arnolds Begehren die beängstigende Einleitung für Schlimmeres. »So! so!« höhnte sie fast, sich in ihrer leidenschaftlichen Erregung vergessend, »du weißt dir gut zu helfen! Auf ein Übel das andere. Oder meinst du vielleicht: je weniger man hat, desto weniger braucht man zu sorgen?« – Arnold empfand ein stechendes Wehe im Herzen. »Ich muß das Geld haben,« sagte er sanft mit gesenktem Auge, »wenn du mir's anders ehrlich schaffen kannst, so ist mir's gewiß recht.« – Johanna konnte sich noch immer nicht fassen. Ihre herrlichen Äcker, um die sie jeder beneidete, sollten dahingehen! In ihrer verzweifelten Ratlosigkeit brach ihr jetzt ein Tränenstrom aus den Augen. – »Es fällt mir auch schwer genug,« sagte er begütigend, erst durch den Anblick ihres Wesens über sein Vorhaben selbst ängstlich geworden; aber eigentlich konnte diese Natur einen solchen Verlust gar nicht so recht empfinden, und er hätte lieber sagen mögen: Warum sich am Ende über all das Schmerzen machen! Johanna wurde nun doch ruhiger. »Ich bin gegen dich aufgefahren,« lenkte sie bereuend ein, »aber mein' ich's denn nicht gut? Für wen sorg' ich als für uns und, Arnold, für unser Kind! Wenn ich nicht alles fest zusammenhalte – weiß Gott –« Und sie brach wieder in helle Tränen aus.

Das war eine arge Aufregung zwischen den Eheleuten, wenn sich auch Johanna schnell genug fügte und beide versöhnt auseinander gingen. Ein großer Acker wurde verkauft und eine Kuh dazu, und so war Ordnung und Frieden geschafft. Aber ein tiefer liegendes bängeres Übel enthüllte dieser erste offene Zwiespalt. Johannas Eigenschaften ergänzten Arnold, das war gut; es war jedoch schlimm, daß sie dabei nicht mehr mit ihm gemein hatte, denn erst dadurch hätte sich beider Wesen schon verbunden. So fehlte ihr gleichsam die Handhabe, um ihn zu fassen und zu sich herüber zu ziehen; es drohte die Gefahr, daß sich jedes in immer größerer Einseitigkeit zuspitzen werde, statt sich mit dem andern auszugleichen und dauernd zu versöhnen. Arnold fühlte ja selbst, was ihm fehlte, Johanna aber, da sie über ihn gleich heftig aufwallte und dazu ihr gutes Recht zu haben meinte, bemerkte nicht, daß sie ihn gerade durch ihre Heftigkeit scheu und verzagt machte und in seine innere Gemütswelt zurücktrieb. Zudem kehrte durch die Verhältnisse des Hauses, die ja in der Wurzel noch immer dieselben waren, der Anlaß für neue Aufregungen Johannas nur allzuoft zurück. In solchen Fällen hatte immer ihr Vater heilsam gewirkt, indem er sein Kind im stillen besänftigte und versöhnlich stimmte; nun war aber der gute Alte tot, und das kleine Erbe, welches er Johanna zurückließ, konnte die Lage der Dinge auch nicht irgendwie wesentlich verändern.

So ging die Zeit dahin. Sie brachte nichts Neues, sie setzte nur das alte Übel fort. Aller Grundbesitz Arnolds war verkauft, und auf dem Hause lagen auch schon Schulden. Welche Tränen hatte das Johanna gekostet! Sie arbeitete und arbeitete, aber wie durch einen bösen Zauber blieb ihre Mühe vergeblich und alles verflog. Auch ihre Natur hatte ihren Fluch. Sie bürdete sich zuviel auf und konnte es nie über sich gewinnen, sich beizeiten auf das Kleinere zu beschränken, bis sie endlich unter doppelt verdrießlichen Umständen dazu gezwungen wurde. Statt das Unwiederbringliche fahren zu lassen und alle Verhältnisse von Grund aus zu ändern, glaubte sie fort und fort, was einst war, müsse wieder in der alten Herrlichkeit emporblühen. Mit einem Worte: sie wollte nichts verloren geben; daß sie das nicht wollte, erhielt ihr freilich wieder den Mut, auszuharren und zu ringen. – Im Hause Arnolds herrschte jetzt ein eigen stiller, gedrückter Ton. Johanna hatte sich's schon abgewöhnt, ihn mit Vorwürfen jäh anzulassen, aber diese Mäßigung entsprang aus dem traurigsten Grund. Das Weib, das im Wirken und Schaffen ihr Element sah und Arnolds Wesen so gar nicht begreifen konnte, empfand jetzt gegen ihn eine gewisse Mißachtung; sie rechnete gar nicht mehr mit ihm und übernahm jetzt auch ganz allein das Gewölbe. Unter all dem verkümmerte ihre Liebe. Was ist das für ein Mann? fragte sie sich. Wie konnte er ruhig bleiben, wo sie verzweifelte? Wie konnte er so unbekümmert das drohendste Elend über die Seinen kommen lassen? Und war nicht sie selbst durch ihn wie gelähmt? Sie durfte sich doch sonst etwas zutrauen, und nun wollte ihr nichts mehr gelingen. So nahm sie es allgemach fast als ein Unglück, ihr Los mit dem seinen vereint zu haben, und neben ihrer doch noch mächtigen Liebe war es schon ein gut Teil Mitleid, was sie bei ihm festhielt. Arnold, dem bei seiner namenlosen Leidenschaft für Johanna schon der erste leiseste Zwiespalt wie etwas Undenkbares erschienen war, trug doch alles in stummer Ergebung. Wenn er oft schmerzlich darüber nachdachte, wie das Geschick zwischen zwei Herzen, die mit solcher Liebe aneinander hingen, soviel Trübendes und Ängstliches wälzen konnte; so klagte er doch sein Weib in nichts an, und er dankte ihr noch immer jeden heiteren seligen Tag, den sie ihm gewährte. – Nun sollte noch eines dazukommen, um Johanna noch mehr ihrem Gatten zu entfremden und das Verhältnis des Ehepaares gar schnell in der schlimmsten Richtung zu entwickeln.

Es war eines Nachmittags. Arnold stand eben in Gedanken versunken an der Türe seines Gewölbes, als ein Wagen die Straße dahergefahren kam und vor ihm anhielt. Ein junger Mann, ein leichtes Felleisen in der Hand, sprang heraus. »Ich danke Ihnen nochmals, daß Sie mich bis hieher mitgenommen!« rief er der noch darin sitzenden Person mit einer Verneigung zu. Der Wagen rollte wieder weiter, und der Fremde wandte sich jetzt mit der ausgestreckten freien Hand und dem Ausrufe: »Nun, kennst du mich nicht mehr?« zu Arnold. – Dieser forschte eine Weile ungewiß in den Zügen des Angekommenen, dann ergriff er rasch die dargebotene Hand und rief in heller Freude: »Robert, du bist's!« – »Freilich bin ich's, wenn ich auch ein bißchen anders ausschaue als einst,« gab jener zurück. Es war Arnolds Jugendfreund aus dem Erziehungsinstitute. »Nun, bin ich nicht ein treuer Freund, daß ich dich nicht vergessen und nach langen Jahren in deiner Heimat aufsuche? Ach, wo sind die Jugendzeiten! Aber du kannst mich doch bei dir aufnehmen? Ich war recht neugierig, was aus dir geworden und ob du nicht etwa, weiß Gott, wohin? in die Welt ausgezogen. Wie ich sehe, bist du der Überlieferung deines Hauses treu geblieben und drehst Düten. Hast recht! Das ist sicher. Ich habe inzwischen viel erlebt, Freund! Sollst alles hören! Jetzt laß mich nur den Reisestaub abschütteln.« So quoll es in raschem Fluß aus dem Munde des Sprechenden, welcher jetzt Arnold am Arm faßte und mit sich hinein fortzog. Arnold war unter diesem Erguß gar nicht dazu gekommen, selbst seinen Freund einzuladen, und ging ihm nun mit jener verlegen gedrückten Stimmung voran, welche ein überfreies, lautes Auftreten immer in einer stillen, schweigsamen Natur erregt. Oben angekommen, stellte Arnold seinen Jugendfreund Johanna vor und führte ihn dann in das freundliche Gastzimmer, um ihn zunächst sich selbst zu überlassen. Robert erschien jedoch bald wieder bei seinem Wirte und erzählte seine Geschichte. Diese enthielt nun des Abenteuerlichen genug. Er war, nachdem er das Institut verlassen und wenig Neigung zum Studieren fühlte, nach dem Beispiel seines Vaters Soldat geworden und hatte es auch bald zum Offizier gebracht. Aber der einförmige Friedensdienst konnte ihm nicht lang' gefallen, und er ergriff begierig die Gelegenheit, als mit der Gründung des mexikanischen Kaiserreiches Werbungen für eine Fremdenlegion ausgeschrieben wurden. Da winkte ein anderes Leben. Seine Mutter war tot, und den Zorn seines Vaters schlug er in die Schanze. In Mexiko war er nun Zeuge all der Schicksale jener unglücklichen Unternehmung. Er sah und erlebte das Abenteuerlichste, und als die Tragödie zu Ende war und die letzten Reste der fremden Truppen, aufgelöst und zersprengt, in die Heimat zu entkommen trachteten, trieb er sich noch auf seine eigene Hand im Lande umher und fand als Berichterstatter deutscher Zeitungen seinen Lebensunterhalt. Aber seine Lage wurde unter dem neuen Regimente immer gefährlicher, und er entschloß sich, endlich auch der Abenteuer satt, nach Hause zurückzukehren. Er schiffte sich ein und erreichte, arm wie eine Kirchenmaus, Europa. Auf der Reise nach der Residenz wollte er nun, da er so nahe an Arnolds Vaterstadt vorbeikam, doch zu diesem abzweigen, und er fand zufällig einen in derselben Richtung Reisenden, welcher freundlich genug war, ihm einen Platz in seinem Wagen anzutragen, was ihm sehr erwünscht kam, denn mit seiner Barschaft ging es schon zu Ende. »Du siehst,« schloß er seine Erzählung, »ich bin ein bißchen ein Taugenichts und noch auf keinen grünen Zweig gekommen; aber ich habe mir stets meine muntere Laune erhalten und nie verzagt.«

Arnold hatte anteilsvoll und verschüchtert zugehört. Das unruhige, abenteuerlustige Wesen Roberts war dem seinen geradezu entgegengesetzt, und doch glichen sich beide Freunde darin, daß auch Arnold, wenn man es so nennen wollte, mit einem gewissen Leichtsinn von heute auf morgen lebte, träumend hinnahm, was die Stunde brachte, und nicht dazu gekommen war, etwas planmäßig und ausdauernd aufzubauen. Durch die Art seines Freundes noch immer von einer unklaren gemischten Empfindung beengt, entgegnete er jetzt nur, daß er Robert gerne bei sich zu Gaste sehe und ihm, soviel er könne, gewiß in allem beistehen wolle.

Robert gefiel es bei Arnold sehr wohl, und er selbst entfaltete immer liebenswertere Eigenschaften. Wohin er im Städtchen kam, gewann er alle Sympathien. Das offene, zwanglose Wesen des vielgewanderten Mannes erschien nur im Anfange etwas befremdend; später erkannte man darin leicht ein unbefangenes, gerades Herz, und je länger man mit ihm verkehrte, desto mehr gewann man ihn lieb. Das alles galt nur für Johanna nicht. Hatte sie schon im vorhinein der so plötzlich dahergeflogene Gast nicht erfreut, so war nun auch seine Weise gerade dazu angetan, ihr zu mißfallen. Sie duldete es nie, wenn sie Männer nur so obenhin nahmen und als Herren der Schöpfung ihre Überlegenheit wollten blicken lassen; das pflegte aber Robert Frauen gegenüber ganz unwillkürlich zu tun, wenn er auch dabei für Johanna stets die größte Rücksicht zeigte. Dagegen erwachte in Arnold durch Roberts Gegenwart immer mächtiger die alte Jugendzeit, und er verlebte mit ihm selig angeregte Tage. Robert erwies sich in allem besser, als er schien. Neben seinem Leichtsinn wohnte das wärmste Gefühl, und wenn er einen tollen Spaß liebte, so verschloß er sich doch auch nicht ernsteren Eindrücken. Er bat Arnold oft, Musik zu machen, und sagte, er reime selbst noch manchmal ein Gedicht, aber es fehle ihm doch das rechte Talent, und es sei gut, daß er das erkenne; denn so treibe er die Poesie gerade nur bescheiden als Feiertagsarbeit, ohne von der Welt dafür Beifall und Gold zu verlangen. Johanna hatte für Arnolds musikalische Leidenschaft nie eine besondere Sympathie gezeigt, und er vermißte das auch an ihr nicht, denn sie erschien ihm in ihrer Weise vollkommen; nun freute ihn aber doch an seinem Freunde nicht wenig, was ihm sein Weib versagte. Und – wessen er sich gar nicht bewußt wurde – die Trübungen zwischen ihm und Johanna hatten in ihm schon etwas wie eine Sehnsucht nach Erholung geweckt, oder vielmehr diese unvermutete Erholung im Umgange mit einem Gleichfühlenden tat ihm wohl. Einmal ließ sich Robert gegen Arnold gar folgendermaßen aus: »Weißt du, ich war eigentlich doch immer der Meinung, aus dir würde etwas Größeres werden. Dein Talent zur Musik erscheint mir ganz erstaunlich, und vielleicht bist du auch einer, der unter seinem rechten Namen inkognito durch die Welt geht. Ich an deiner Stelle hätte einen ganz andern Lärm gemacht.« Diese Worte hafteten in Arnold, und wenn er jetzt alle seine Werke hervorsuchte, welche er im Verlaufe der Zeit geschaffen, ohne sie irgend einer Seele zu zeigen, so fand er sie noch immer gut und den Gehalt, den er aus seiner innersten Seele hineingelegt, echt und wahr. Vielleicht war da in Tönen die Geschichte seines Innern. Aber was sollte er damit anfangen? Dergleichen war ja nicht da, um für Geld verhandelt zu werden. Indessen erfaßte ihn jetzt doch ein gewisser Künstlerehrgeiz. Wenn man nur sagen wollte, er habe so etwas nicht als unnütze Spielerei gemacht und es sei wert, da zu sein, dann war ja auch sein Leben kein bloßer Müßiggang. Ähnliche Gedanken gingen Arnold durch die Seele, und er schloß sich immer fester und seliger an Robert. Zwei, welche in der Jugend Freundschaft geschlossen, bleiben ja durch den Zauber der Erinnerung stets in einem gegenseitigen Banne, selbst wenn sie sich, was oft genug geschehen mag, sonst als ganz Verwandelte wiederfinden. Und Arnold hatte ja außer seinem Weib und Kinde an Robert den einzigen Menschen, welchem er näher stand. – So entfaltete sich zwischen den Freunden ein inniges Zusammenleben, und sie schweiften miteinander viel in der Umgebung umher. Der sonst so scheue schweigsame Arnold erschloß jetzt gegen Robert seine ganze Seele, und er hielt auch all die Torheiten und Träumereien nicht zurück, für welche er früher kein Ohr fand. Beide beschenkten sich wechselseitig: Arnold trachtete dem unternehmenden, ewig unverzagten Sinne Roberts nach, und dieser ward wieder durch jenen gewissermaßen veredelt, indem er sich gerne seinen stilleren Neigungen fügte und plötzlich alle Sehnsucht nach einem wechselvollen, bewegten Leben verloren zu haben schien.

Johanna betrachtete dieses Verhältnis mit Eifersucht und Mißstimmung; sie fühlte bald heraus, daß darin etwas wie ein Vorwurf gegen sie lag, ohne sich aber dadurch zur rechten Selbsterforschung und Abhilfe leiten zu lassen. Darum sah sie sich zuletzt eben nur als die Vernachlässigte und Gekränkte, und wie dadurch Arnold noch mehr in ihren Augen verlor, so kehrte sie sich immer entschiedener gegen den Fremden, welcher nicht anstand, ihren Mann von seinen Nächsten abzuziehen. Dazu kam, daß dieser Gast schon recht schwer auf dem Hause lastete, denn Arnold war nicht in der Lage, freigebig zu sein. Es kam darüber endlich zwischen dem Ehepaar zu kleinen Erörterungen, und Johanna ließ einige empfindliche Worte fallen. Aber naive, unbefangene Naturen, die gern aller Welt das Liebste erweisen möchten, begreifen auch nicht, wie ihnen jemand eine arglose Freude übelnehmen könne, und so war Arnold von der Art seines Weibes rauh berührt. Daß sie alles aus dem Punkte des Klugen und Nützlichen beurteilte und dies nun auch geltend machte, um ihn von seinem Freunde zu trennen, das erschien ihm unschön, und jetzt zum ersten Male glaubte er ihr in seinen Gedanken ein Unrecht vorhalten zu können. Warum verstand sie ihn denn gar so wenig? War doch er für alle ihre Vorzüge, die oft so ganz außer seinem Wesen lagen, niemals verschlossen, und er erkannte sie mit dankbarem Herzen an.

Die Verstimmung zwischen den Ehegatten, oder eigentlich doch nur die Verstimmung Johannas, hatte auf diese Weise schon einen solchen Grad erreicht, daß ein unbedeutender Zufall, welcher sich jetzt ereignete, genügte, um einen offenen Bruch herbeizuführen. Es kam so: Arnolds stattliches Haus hatte einen Kauflustigen angezogen, der von den bedrängten Verhältnissen des Besitzers gehört haben mochte und sich im Städtchen als Kaufmann niederlassen wollte. Der Mann machte Arnold ein schönes Angebot, und dieser, fast schon in allem gewöhnt, sich zuerst an Robert zu wenden, erzählte ihm von der Sache. Robert hatte nun die mißlichen Umstände Arnolds längst durchschaut (wiewohl sonst die Freunde gerade über diesen Punkt nie ein Wort wechselten), und er hielt auch, da das Gespräch einmal darauf gebracht war, mit dem Rate nicht zurück, daß Arnold gut täte, die günstige Gelegenheit rasch zu ergreifen. Durch den Verkauf des Hauses mit dem Gewölbe stand ein ansehnlicher Überschuß über Arnolds Schulden in Aussicht, welcher ihm, gut angelegt, für alle Fälle ein bescheidenes Dasein sicherte. Arnold taugte ja nicht zum Kaufmanne, und an eine vollkommen erwünschte Schlichtung der Dinge war nicht mehr zu denken; so aber rettete er doch, was zu retten war und kam einer noch schlimmeren Verwirrung zuvor. Das leuchtete Arnold ein. Die Trennung von seinem Vaterhause war für sein Gefühl wohl eine harte Zumutung; aber er dachte jetzt nicht an den Abschied, er sah nur, daß, wie alles lag, der Gedanke vortrefflich war, ja, er erstaunte, nicht schon längst selbst darauf gekommen zu sein; denn nur in dem Fortschleppen eines Geschäftes, das nichts abwarf und er doch immer emporbringen wollte, lag am Ende die Quelle all seines Unglücks. Seine Phantasie malte sich schon aus, wie er sich mit den Seinen irgendwo niederlassen und in einer ihm zusagenderen Tätigkeit ein ganz neues Leben beginnen werde. Er hatte ja doch etwas gelernt und vielleicht konnte ihm sein musikalisches Talent noch Früchte tragen.

Arnold war plötzlich so erfreut und von seinen Gedanken fortgerissen, als hätte man ihm ein rettendes Geschenk ins Haus gelegt. In dieser Stimmung eilte er zu Johanna und setzte ihr seine Absichten auseinander. Aber sein Weib begegnete seinen schönen Hoffnungen mit heftig abweisenden Worten. »Also sollen wir auf die Gasse gesetzt sein?« rief sie erregt. »Das Haus, in welchem du geboren, das deine Eltern mit ihrer schweren Mühe aufgebaut, gibst du so leicht preis? Und wie soll es weiter werden? Was schon fest gegründet war, hast du untergehen lassen, und denkst du nun Neues anzufangen?«

Wenn es Arnold nur verstanden hätte, mit ihr zu rechten! Da sie nicht sogleich auf seine Gedanken einging, hatte er eigentlich gar nichts mehr zu sagen. »Ich glaube, mein Vorschlag ist gut,« erwiderte er sanft, »und Robert, der manches in der Welt erfahren und mich genau kennt, hat mich darauf geführt; wenn du indessen anders denkst, so mag es sein.«

Das war nun eine große Unvorsichtigkeit von dem offenen, arglosen Arnold, in dieser Sache Robert zu erwähnen. Johanna verlor darüber vollends ihre Fassung. »So! von deinem Freunde kommt dir das?« rief sie erzürnt. »Hat er vielleicht auch schon den Plan, was ihr mit den letzten Groschen, die dir noch abfallen, anfangen werdet? Und er kennt dich genau! Das heißt soviel als: ich kenne dich nicht.« Das Weib war durch ihr bloßes Mißtrauen gegen den Fremden und den Gedanken, daß ihr ihr Mann das Letzte, worauf noch ihr Dasein und ihre Freude ruhte, so ohne weiteres wegziehen wollte, schon zum äußersten gebracht; daß Arnold ihrem Widerstande sogleich nachgab, das beachtete sie gar nicht mehr. »Arnold, Arnold!« loderte sie immer heftiger empor, »wir stehen vor einem Abgrunde. Soll unser Kind einst betteln? Freilich, wenn ich es so fortgehen lasse, wird es Zeit genug haben, das noch von uns zu lernen. Deine Gedanken mögen höher gehen als die meinen, aber es gilt zuerst auf einem festen Grunde Fuß zu fassen. Die Anhänglichkeit an das Seine steht jedem wohl, und wehe dir, wenn du, wie dein Freund, am Ende noch die Lust am ziellosen Wandern spüren solltest. Mir gilt das liebe Brot auch nicht als das Höchste, aber ohne das Brot fällt alles auseinander. O, daß du so wenig von meinem Sinne hast! Ich kann es nicht mehr ansehen, und ich glaube, wenn es mich gar nichts anginge, ich ertrüg' es nicht. Arnold, es gilt jetzt für uns einen ernsten Entschluß, und ich sag' es dir grad' und ehrlich heraus: wir müssen auseinander!«

Arnold, der in schmerzlichem Brüten zu Boden gestarrt hatte, schaute jetzt, wie von einem elektrischen Schlage berührt, mit einer zuckenden Bewegung auf.

»Es ist traurig, aber es ist das Beste, ich hab' es bedacht,« sagte Johanna fest, doch milder. »Ich rufe Gott zum Zeugen an, daß ich mich dir in Liebe und mit der guten Zuversicht verbunden, dein Glück zu begründen; ich sehe nun ein, daß ich's nicht kann. Weiß ich doch auch, daß dir mein Wesen, welches so wenig mit dem deinen übereinstimmt, längst schon nur eine fortwährende Beunruhigung ist!«

Arnold war es, als drehte sich mit ihm wankend und zusammenbrechend das All und er versänke schwindelnd in ein erschreckendes dunkles Chaos. Nach einer langen Pause qualvollen Kampfes entgegnete er, äußerlich ruhig: »Ich habe dir nichts zu antworten; in deinem Wunsche liegt schon meine Zustimmung. Wie sollte ich dich gegen deinen Willen bei mir festhalten wollen!«

Johanna atmete auf. Sie fühlte sich wie entlastet, denn trotz ihrer zürnenden Erregung brachte sie das entscheidende Wort, womit sie einen in ihr schon oft aufgetauchten und immer wieder abgewiesenen Gedanken aussprach, zuletzt doch schwer über die Lippe, und sie mußte es ihrer Empfindung abringen. Nun war es vollbracht, was ihr notwendig erschien, vollbracht gegen jede Einsprache des Herzens, und Arnold nahm es immer noch gefaßter, als sie gehofft hatte. »Ich gehe zu meiner Tante und nehme nur mit, was mein ist,« sagte sie sanft, wie um ihn schonend in die neue Lage der Dinge einzuführen. »Wir brauchen auch nicht in Groll zu scheiden und füreinander aus der Welt gestrichen zu sein. Und das schwör' ich dir: keine Mutter kann je aufopfernder für ihr Kind sorgen, als ich für Lina sorgen will.«

Er sah sie mit einem Ungewissen erstaunten Blicke an, dann entgegnete er: »Da du dich von mir trennst, wirst du mich wohl allein für Lina sorgen lassen.«

Nun kam das Staunen an Johanna. »Das Kind geht doch selbstverständlich mit mir?« rief sie, und ihre frühere Erregung wollte wieder über sie kommen. »Warum geh' ich denn? Um ihretwillen zu retten, was mein ist, und, wenn der Allmächtige meine Mühe segnet, für sie noch etwas zu erwerben. Arnold, hast du den Mut, das Kind bei dir behalten zu wollen?«

»So frage mich lieber, ob ich den Mut zu leben habe. Ich gebe um keinen Preis der Welt mein Kind her. Du mußt mich für innerlich arg herabgekommen halten, daß du mir eine solche Zumutung machst. Kurz, Johanna,« schloß er fast entrüstet, »rede mir kein Wort mehr davon!«

Das Weib glühte nun auch erzürnt auf. Sie sah in Arnolds Entschlossenheit nicht so sehr die Liebe des Vaters als vielmehr wieder einen sorglosen Leichtsinn, der das Kind festhielt, ohne die weitere Zukunft zu bedenken. »Arnold,« rief sie, »ein Wort hörst du doch noch: Was ich will, ist recht, das bezeugt mir gewiß jeder, und so sag' ich dir, es wird und muß geschehen!« Und damit verließ sie ihn.

Das geschah nach dem Essen. Gegen Abend entfernte sich Johanna aus dem Hause und kehrte lange nicht zurück. Es ward schon sehr spät; sie kam noch immer nicht. Arnold brachte endlich Lina zu Bette und setzte sich, angstvoll bewegt, in eine Ecke des Zimmers. Er wollte hinaus, um sie zu suchen, um zu forschen, ob ihr kein Unfall zugestoßen sei, aber es bannte ihn das Gefühl fest, daß er da eine andere Lösung zu erwarten habe. Endlich pochte jemand an die Tür des Zimmers. Es war ein kleiner Knabe, welcher einen Brief brachte. Arnold machte Licht. Er erblickte die Handschrift Johannas, Am ganzen Leibe bebend, zerriß er den Umschlag und las:

»Ich bin fort zu meiner Tante und will zu Dir noch schriftlich ruhiger reden, wie ich auch darauf baue, Dich ruhiger zu finden. Verzeihe mir meine Heftigkeit! Ich bereue sie selbst. Es drang auch so vieles auf mich ein. – O man darf darüber nicht nachdenken! – Unser Kind hab' ich Dir nicht entführen wollen; aber ich rufe nun Dich selbst zwischen Dir und mir zum Richter an und ich weiß, Du wirst Dich in das Notwendige fügen. Sende mir Lina oder sage mir, wann ich sie abholen kann. Arnold, es wäre zu traurig, wenn wir uns feindlich gegenübertreten müßten; denn Du weißt ja wohl, daß ich mir durch das Gericht erzwingen könnte, was Du mir etwa, wider jede bessere Einsicht, nicht gewähren wolltest. Nochmals: verschließe Dich nicht dem Unabweislichen und glaube, daß ich selbst unter all dem genug schwer leide.«

Arnold ließ schlaff die Arme sinken, und das Papier entglitt seinen Fingern, während sein Auge starr am Boden haftete. Er hatte ja das alles bis jetzt doch nicht glauben können. Da sprang er plötzlich auf, ergriff die Lampe und hielt sie über das schlafende Kind. Ein himmlischer Friede war über das kleine rosige Gesichtchen ausgegossen. Da lag es selig, ahnungslos. Er schaute lange, lange, als wollte er den Genius des unschuldigen Geschöpfes auf sich wirken lassen und aus diesen Zügen Trost und Stärkung schöpfen.

Es war eine unsäglich bange, schlaflose Nacht, welche er verbrachte. Als den andern Morgen Lina erwachte, rief sie sogleich nach dem Vater, hing sich begehrlich an ihn und schien die Mutter gar nicht zu vermissen. »Das Kind hat zwischen uns gerichtet!« rief er jetzt aus seinen Gedanken heraus, als wollte er über allen Raum weg zu Johanna hinübersprechen, und ein Strom von Tränen brach aus seinen Augen. »Ja, du bleibst bei mir!« wandte er sich zu der Kleinen und umschlang sie und herzte sie wieder und wieder. Jetzt kleidete er sie an und ging mit ihr hinaus durch den Garten den Hügel hinan, welcher dahinter lag. – Sein Freund schlief noch. – Ein golden klarer Tag war angebrochen; rings funkelte der Tau, und leise Rauchwolken, den Schloten einzelner Häuser entsteigend, zerflatterten in der durchsichtigen Luft. O, wie eigen bang bewegt das Weben der taufrischen, sonnigen Frühe, das stillselige Aufatmen der Natur, wenn sich das Herz nicht auch so selig dehnen und all der Herrlichkeit rings hingeben kann! Arnold setzte sich nieder; Lina spielte vor ihm. Er überdachte die Zeit, wo er um Johanna geworben, jene überglücklichen Tage, die in ihm noch immer gleich lebendig waren. Hatte sie ihn denn nicht geliebt? Ja, ja! er sah es in tausend Zeichen; aber jetzt liebte sie ihn nicht mehr, wie hätte sie ihn sonst verlassen können! Ach, müssen gewisse Gefühle nicht ewig sein? Oder worin ist der Mensch vor anderen Geschöpfen begnadet? Ein unsägliches Weh erfaßte ihn, ein Weh, ganz neu und ungekannt, denn bis zu dieser Stunde empfing er ja doch jeden Schlag des Schicksals harmlos wie ein Kind, und er ließ ihm keine Last quälender Gedanken zurück, jetzt aber gingen ihm die Augen auf, und er sagte sich, wenn er auch sein schweres Los ergeben tragen wollte, das Geschehene bliebe ja doch da als ein Fleck in der Schöpfung. Er wandte den Blick von sich auf das Allgemeine und fand sich vor der beklemmenden Frage, ob denn das Dasein überhaupt schön und wert sei? So versank er in eine tiefe Trostlosigkeit. Aber in seiner schwersten Bedrängnis kam ihm zuletzt eine wunderbare Kraft. Mit der Erkenntnis, daß das Leben hart und bange sei, fand er auch sich selbst. Du warst bis zu dieser Stunde ein Träumer! rief er sich zu; erwache, bevor du träumend untergehst! Da dich alles verläßt, suche deine Rettung in deiner eigenen Brust. Die unerbittlich waltenden Mächte über dir mögen dich einen Augenblick verwirren, und du bist gegen sie nichts; aber du darfst doch nicht verzweifeln und mußt bis zum letzten Atemzuge ehrlich kämpfen. Es gilt ja kein vermessenes Ertrotzen von Gaben, welche dir der Himmel vorenthält, es gilt nur ein bewußtes festes Einstehen für dein Selbst, es gilt den ernsten Drang, dich nach deinem Vermögen zu betätigen; dadurch erst wird dein Leben, wie es immer ausfalle, zu einem menschenwürdigen, vollen Schicksal. Und hast du auch vielleicht dein Bestes schon unwiderruflich versäumt, in irgend einer Weise kannst du dich immer geltend machen, wie es ja jeder kann, und damit ist's genug! – Als jetzt Arnold die spielende Lina betrachtete, erkannte er, daß das, was andere trieb, sich zu regen und das Nächste zu fassen, wo sie's redlich fassen konnten, doch im Innersten echt und gesund sei. Ja, es gilt, gleich dem Baume, in der schweren dunklen Erde zu wurzeln; wem es vergönnt ist, der mag dann seine Blüten in das Licht entfalten! Er wollte sich nun auch zusammenraffen; wie in einem edlen Trotze gegen sein Weib wollte er zeigen, daß auch er arbeiten könne und ein Recht auf sein Kind habe. Niemand sollte ihn einen sorglosen Vater schelten und ihm seinen letzten Schatz entreißen dürfen. Das gelobte er mit einem stummen Schwur. So brachte das Unglück Arnolds für sein Inneres eine entschiedene Wandlung, und erst diese Stunde entwickelte in ihm den vollen ethischen Ernst.

Wundersam erhoben und erleichtert kehrte er mit seinem Kinde nach Hause zurück. Sein Freund kam ihm im Hofe entgegen, und Arnold erzählte ihm alles.

Das fiel nun Robert schwer aufs Herz. Er konnte wohl längst bemerken, daß er zwischen den Ehegatten wider Willen ein entzweiendes Element war; aber er hatte sich das doch nicht so arg vorgestellt und die glücklichen Tage gedankenlos dahingelebt: jetzt plötzlich kam er zur Besinnung, und jedes längere Verweilen erschien ihm als eine Gewissenlosigkeit. »So breche ich denn mein Zelt ab und wandere wieder weiter!« sagte er rasch entschlossen. »Es ist mir nur schmerzlich, daß ich dir ein solches Ungemach bereitet habe. Nun, ich hoffe, deine Frau kehrt zurück, sobald ich fort bin.« Es überkam ihn jetzt eine eigene Rührung, und sein Auge wurde feucht. »Mich dünkt, wir zwei sind mit unserer Traumverlorenheit schon rechte Unglücksvögel.« Und er drückte Arnold schmerzlich zuckend die Hand. Aber das war nur ein Augenblick, und er schloß wieder in seiner alten Weise: »Ich wünsche dir nur, daß du, wenn es sein muß, so gefaßt und munter scheiterst wie ich!«

Arnold vernahm Roberts Entschluß mit Schmerz und Befriedigung zugleich. Ach, er hätte ihn ja jetzt um so lieber bei sich festgehalten; aber Johanna sollte auch in der Ferne nicht den leisesten Grund zu einer Anklage wider ihn haben und sein neuer Lebensplan erheischte durchaus die Trennung von dem Freunde.

Robert war bald reisefertig. Er wollte seinen Weg in die Residenz fortsetzen und empfing noch zu guter Letzt von Arnold ebenso unbefangen das Reisegeld, wie es ihm dieser mit aufrichtigem Herzen anbot, obgleich es fast seine letzte Barschaft war. – Das gab nun für beide einen gar schweren Abschied.


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