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Stephan Milow

Arnold Frank

Vom Verfasser durchgesehener Abdruck aus der »Deutsch-Österreichischen National-Bibliothek«, Verlag von Theodor Daberkow in Wien; mit Genehmigung des Verlegers.

Arnold Frank war als das einzige Kind wohlhabender Eltern in einem kleinen deutschen Städtchen geboren. Sein Vater, früh verwaist und nur mit einem kargen Erbe bedacht, hatte sich durch eigenen Fleiß ein erkleckliches Sümmchen erworben. Er besaß im Städtchen eines der schönsten Häuser, das auf dem Hauptplatze stand und schon von weitem durch ein großes, reich ausgestattetes Gewölbe den Blick anzog. Dort waren rechts und links vom Eingange in zwei großen Glasschränken Zuckerhüte, Fäßchen voll Kaffee, Südfrüchte, Badeschwämme, eiserne Gartenwerkzeuge und alles mögliche sorglich ausgelegt, von oben herab wehten bunte Tücher und Kleiderstoffe, und ganz in der Höhe über all den Herrlichkeiten stand auf einer schwarzen Tafel in großen Goldlettern zu lesen: Adam Frank. Aber außerdem gehörte dem rührigen Kaufmanne noch manches treffliche fruchtbare Grundstück in der Nähe des Ortes, und sein Stall war mit zwei kräftigen wohlgenährten Pferden und mehreren schönen Rindern wohl besetzt. Trotzdem hatte Frank, der nun schon vier Jahre mit seinem geliebten Weibe verheiratet war, manche nachdenkliche Stunde, und er entbehrte noch eines, um sich all seines Besitzes so recht zu freuen. Da schenkte ihm der Himmel ein kleines rundliches Bübchen und machte seinen Segen voll. Was das nun auch für eine Taufe gab! Wohl seit langen Jahren war die Geburt eines kleinen Weltbürgers im Städtchen nicht so feierlich begangen worden wie die des jungen Frank, welcher den Namen Arnold erhielt. Die alten Weiber schüttelten auch gar bedenklich die Köpfe; sie meinten, so eine Pracht sei eine Herausforderung des Himmels, und es werde mit dem Kinde schlecht enden. Der kleine Arnold ließ sich das aber nicht anfechten: er gedieh frisch und munter zur Herzensfreude seiner Eltern. Es war ein überaus schöner Knabe, und Vater und Mutter zerbrachen sich, da er noch kaum umherkriechen konnte, schon den Kopf, was sie aus ihm machen sollten. Denn es verstand sich von selbst, daß er etwas Besonderes werden mußte. Er sollte nicht etwa Fässer rollen und um ein paar Kreuzer Zucker oder Gewürze verkaufen; er sollte studieren und alles, was nur einem Menschenkinde offen stand, noch einstens erreichen können. Es geschieht oft, daß gerade schlichte Eltern, die alles, was sie besitzen, ihrer Hände Kraft verdanken und sich durch still begnügte, eingeschränkte Arbeit ein erfreulich Dasein gründeten, bei der Erziehung ihrer Kinder ihrer eigenen Art abtrünnig werden. Da hegen sie plötzlich die hochfliegendsten Pläne, so daß man erstaunt, wie sie bei ihrem Gesichtskreise nur überhaupt zu solchen Gedanken kommen konnten. Sie selbst haben nie in ein Buch geschaut, aber ihr Kind muß alles lernen; sie können kaum ihren Namen niederschreiben, ihr Kind muß zeichnen, malen und musizieren; sie gehen in zerschlissenen unscheinbaren Kleidern, ihr Kind muß fein und modisch gekleidet sein. Das ist gewiß überaus rührend, es kann aber auch dem so gehegten Geschöpfe eine große Gefahr werden. – Übrigens wuchs der kleine Arnold zum bescheidenen und liebenswürdigen Knaben heran. Der kühle Beobachter, namentlich der nicht tiefer blickende, hätte an ihm freilich nichts Besonderes gefunden, wenigstens nichts, was gerade sehr zu loben gewesen wäre; aber es konnte immerhin jeder mit ihm zufrieden sein. Das Auffallendste an ihm war seine Weichmütigkeit und überhaupt sein in sich gekehrtes, ängstliches Wesen. Wenn sonst Grausamkeit ein allgemeiner Charakterzug der Kindernatur ist, so stand es bei ihm umgekehrt. Stieß jemand den Haushund an, daß er aufschrie, so konnte der kleine Arnold gleich herzlich mitweinen, und da er schon im siebenten Jahre war, fiel es ihm noch immer nicht ein, Haus und Hof zu verlassen und mit den anderen Knaben auswärts umher zu tollen, ja, er wollte nicht einmal allein über die Gasse gehen. Das mochte freilich zum großen Teil an den Eltern liegen, die ihn durch ihre fortwährende Überwachung daran gewöhnt hatten, nicht von ihrer Seite zu weichen. Kam dagegen ein Kind zu ihm ins Haus, so freute es ihn doch nicht wenig; er nahm es bei der Hand, führte es überall umher, wo er ihm etwas zu zeigen hatte, und war überhaupt recht artig. Da sich indessen solche Besuche nicht oft einfanden, so hatte er eigentlich gar keine Spielgenossen. Zur schönen Jahreszeit war es seine größte Freude, hinter dem Hause im Garten, der an einen sanften Hügel stieß, auf dem Rücken zu liegen, ins Blaue zu starren und dabei allerlei wirres Zeug laut vor sich hin zu sprechen. Trat jemand herzu und sah er sich entdeckt, so schwieg er sogleich beschämt. Noch eins war ihm eine große Lust: wenn ihm jemand etwas vorsang oder vorlas. Er konnte dasselbe Lied, dieselbe Geschichte immer wieder hören und verfiel dabei aus seiner anfänglichen Aufmerksamkeit in eine wundersame Gedankenverlorenheit, so daß er nur noch mit dem äußeren Sinne lauschte, aber doch für das, was in seiner Seele vorging, dieser tönenden Begleitung bedurfte. Im Lernen, das nun schon begonnen hatte, zeigte er sich etwas sprunghaft. Er faßte alles sehr gut, war aber manchmal nicht aufgelegt, und dann ging es durchaus nicht. Neben dem Besuch der Stadtschule (wobei ihn immer die Magd oder der Knecht begleitete) hatte er noch seine regelmäßigen Korrepetitionsstunden mit dem Lehrer im Hause.

So vollendete Arnold das neunte Jahr. Nun galt es für die Eltern einen Entschluß. Ach, so bang ihnen der Gedanke an eine Trennung war, sie sahen ein, das Kind mußte fort! Im Städtchen konnte es ja nicht genug lernen, nicht nach ihren Absichten ausgebildet werden. Aber wohin? Nach mannigfachen Projekten, bei welchen sich bald dieser, bald jener Anstand geltend machte, verfiel der alte Frank auf einen stolzen Gedanken. In der nächsten größeren Stadt befand sich ein weithin berühmtes Knabenerziehungsinstitut. Dort lernten die Kinder eine lange Reihe von schönen Dingen, Sprachen, Musik, alles mögliche, und Hunderte von Anerkennungsschreiben bestätigten, wie gut sie dort aufgehoben seien. Dabei galt das Zeugnis, welches man nach gut zurückgelegten Lehrjahren erhielt, so viel wie das Maturitätszeugnis der Gymnasien; Arnold konnte also auf Grund desselben weiter studieren. Das war prächtig! Freilich kostete die Aufnahme viel Geld, fast zuviel für die Verhältnisse des Hauses Frank; aber die Eltern wollten es erschwingen, und wenn sie sich's vom Munde weg sparen müßten. – Der kleine Arnold vernahm die Mitteilung, daß er nun bald aus dem Hause solle, ohne besondere Bewegung; es war ja vorerst eben nur eine Ankündigung, und das Ferne wirkt nicht auf Kinder. Auch als an einem schönen Herbstmorgen die zwei Braunen, an ein nettes Wägelchen gespannt, im Hofe ungeduldig scharrten und die Mutter von Tränen überquoll, wurde Arnold nicht sehr unruhig; denn der Vater stand ja auch schon reisefertig neben ihm und wollte ihn selbst in die Stadt bringen. Mit einem eigenen Wehgefühl lag er dann an der Brust der Mutter, die ihn unter fortwährendem Schluchzen herzte und küßte und gar nicht von sich lassen wollte; aber er weinte doch nicht. Er glaubte zu träumen. Der Vater beruhigte seine Ehehälfte, hob Arnold in den Wagen, sprang rasch nach, und in lebhaftem Trabe ging es vorwärts. – Es war eine einsilbige Reise. Der Vater mochte manches bei sich überdenken, und der Sohn lauschte gespannt und doch gedankenlos in die Zukunft, etwa so wie er oft, wenn im Städtchen durchziehende Jongleurs spielten, auf seinem Sitze den Beginn der Vorstellung erwartete. – Wundersam mächtig wirkte es auf den stillen, weltscheuen Knaben, als vor seinen Blicken plötzlich die Häusermenge der ziemlich ausgedehnten Stadt da lag, aus welcher die zahlreichen Kirchtürme, mit ihren Spitzen im Sonnenscheine glitzernd, hoch emporragten. Jetzt erst ward es ihm, trotz seiner Überraschung und wachsenden Neugierde, so recht bang, als schlüge das Große und Erstaunliche, das sich vor ihm plötzlich aufgetan, mit seinen Wogen beklemmend an seine Brust. Er vergaß in diesem Augenblicke auch den Vater, der neben ihm saß, und wollte sich schier mit den Händen an seinem Sitze festhalten. Aber wie er näher kam und sich sein Blick verengte, verlor sich all das Gewaltige immer mehr, und er fuhr endlich in ein Gäßchen ein, das nicht viel anders aussah als die Gassen seines Heimatsortes.

Zuerst ließ der Vater bei einem Gasthause halten, um nach eingenommenem Mahle seinem Kinde die Schönheiten der Stadt zu zeigen. Dann pochte er bei einem stattlichen Hause an, über dessen Tor die Aufschrift prangte: »Erziehungsanstalt für Knaben«. Da drinnen sah es für Arnold gar wunderlich aus. Lange Gänge nach allen Richtungen, aus welchen numerierte Türen in Zimmer und Säle führten. In einem dieser Zimmer sollte er mit noch vielen Schulgenossen seine Schlafstelle erhalten. Alles war reinlich, nett und zum Staunen ordentlich. Für jede Tageszeit war ein eigener Ort mit eigener Einrichtung bestimmt, an welchem nur eines und nichts anderes getan werden durfte. Das machte aber auf Arnold einen frostigen Eindruck. Als der Vater nach einigen guten Lehren und Aufmunterungen sich von ihm getrennt hatte, da war es ihm, als sollte er sich zu Boden werfen und weinen, nichts als weinen. Die Tränen quollen ihm auch aus den Augen, während er sich scheu in eine Ecke des Zimmers drückte. Endlich trat ein freundlicher alter Herr zu ihm und suchte ihn zu beruhigen. Er wies ihm die Lustigkeit der andern Knaben und sagte ihm, er solle sich nur unter sie mischen und mit ihnen spielen. Aber Arnold war das gar nicht gewohnt.

Es kamen nun für den Kleinen schwere Tage. Das Heimweh erfaßte ihn übermächtig. Wenn er im Lehrsaal saß, hörte er kein Wort von dem, was der Vortragende sprach; er weinte nur mit verhaltenem Schluchzen in sein Taschentuch hinein, während seine Gedanken heimwärts flogen. Indessen besserte sich dieser Zustand doch von Tag zu Tage. Er gewöhnte sich allgemach an seine neue Umgebung, die Menschen waren gegen ihn freundlich und aufmunternd, und mindestens jeden Monat einmal kam auch entweder der Vater oder die Mutter, um ihn zu sehen. Wenn er da im Anfange beim Abschiede immer hatte mit fortwollen nach Hause, so faßte er sich endlich und blieb zuletzt gern. Er lernte jetzt auch im ganzen fleißig und nahm besonders mit großer Lust am Musikunterrichte teil. Es schien, als sollte er hier ein ganz außerordentliches Talent entfalten, das freilich niemand ernster beachtete. Neben dem Klavier, auf welchem er bald recht gefällig klimperte, erwählte er als sein Lieblingsinstrument die Violine, und er spielte sie für seine Jahre mit erstaunlichem Verständnis und wärmster Empfindung. Die Beschäftigung mit der Musik erfüllte ihn bald so mächtig, daß ihm schon deshalb der Aufenthalt im Institute lieb wurde. Im übrigen blieb er in sich gekehrt und verschüchtert. Er schloß keine Kameradschaften, aber seine Schulgenossen liebten ihn doch, und wenn er, was oft genug geschah, vom Hause allerlei Süßigkeiten und Näschereien zugesandt erhielt, so verteilte er immer gleich alles. Mit einem einzigen Zögling schloß er Freundschaft. In der Jugend werden ja die Menschen oft wie durch einen Genius zusammengeführt; da findet man sich, ohne sich zu suchen. Es ergab sich wie von selbst, daß die beiden, während sich die anderen Zöglinge auf dem großen Spielplatze im Institutsgarten tummelten, abseits auf und ab wandelten, und wie von selbst geschah es auch, daß eines Tages bei einem solchen Spaziergange Arnolds Freund ein Gedicht herzusagen begann, das er selbst gemacht hatte und worin er an dem Faden einer Rittergeschichte alles, was nur die Seele rühren und erschüttern konnte, dem Zuhörer vorführte. Wie hatte er damit Arnolds Neigung getroffen! Dieser lauschte aufmerksam und sagte zuletzt, das sei schon und gut. – Der Freund des jungen Frank war ihm geistig verwandt, dabei aber doch viel beweglicher und lauter als dieser: er mied keineswegs immer die Gesellschaft der anderen Knaben, ja, er übte auf sie sogar einen großen Einfluß, welchen er sich besonders durch seinen Mut und seine Körperkraft verschaffte. Das kam nun auch dem weichen, ängstlichen Arnold zu statten, denn wenn sich manchmal einer doch eine Neckerei gegen ihn erlaubte, schritt sein Freund sogleich hilfreich als Befreier ein. Dafür ward dieser wieder bei seinen Deklamationen von Arnold durch andächtiges Zuhören und eifriges Lob reichlich belohnt. Einmal, da der fruchtbare Poet wieder ein Gedicht zum besten gegeben hatte, sagte Arnold: »Weißt du was? Das will ich in Musik setzen.« Der andere gab ihm das Manuskript, das er bei sich in der Tasche trug, mit den Worten: »Aber laß es niemand lesen.« – Das hätte er ihm nun gar nicht zu sagen brauchen, und eine kleine Szene, zu welcher eben dieser Kompositionsversuch den Anlaß gab, sollte zeigen, mit welcher Scham Arnold ihre künstlerischen Übungen geheim hielt und zu welcher verzweifelten Entschlossenheit er sich unter Umständen aufraffen konnte. – Er hatte seine Arbeit fertig gebracht und schrieb sie, mit dem einen Arm möglichst das Papier verdeckend, im Lehrsaal während der Repetitionsstunde zierlich ins Reine. Da kam ein mutwilliger Junge und riß ihm, gerade durch sein Heimlichtun herausgefordert, mit dem Rufe: »Was hast du denn da?« das Papier unter den Händen weg. Arnolds Freund war nicht da, um als Retter herbei zu eilen. Aber der Bedrängte rief ihn auch nicht und besann sich nicht; er sprang mit einem jähen Satze empor, erfaßte noch glücklich das eine Ende des ziemlich steifen Papiers und rang, am ganzen Leibe zitternd und durch seine verzweifelte Angst doppelt stark, auf das Hartnäckigste mit dem Räuber, welcher der Ältere und Stärkere war. Die anderen Zöglinge bildeten einen gespannten Zuschauerkreis. Arnold hielt sich so tapfer, daß von allen Seiten staunende Zurufe ertönten, und er rettete auch, was zu retten war: den Teil, welchen er in Händen hatte, konnte ihm der andere trotz aller Anstrengung nicht entreißen, und jener gab endlich den Kampf auf. Wie fühlte sich Arnold entlastet, da er sah, daß die Hauptsache noch sein war: das Titelblatt. Dort standen ja neben dem Namen des Gedichts und des Verfassers auch die Worte: »Musik von Arnold Frank.«

Die Zeit ging dahin und Arnold ward ein immer stattlicherer Junge. In seinen Studien ragte er nicht hervor. Er war noch immer sprunghaft, in manchem vorzüglich, in anderem völlig zurück, im ganzen zur Not befriedigend. Zu den Ferien ward er immer nach Hause abgeholt. Das war eine große Freude für die Eltern. Ihr Sohn erschien in allem so vorteilhaft, so bescheiden und wohlgesittet, daß sie ihn hätten jedem zeigen mögen, damit er sehe, wie ein Junge aussieht, der im Institute erzogen wird. Und wenn der Institutsdirektor in seinen Berichten auch manches tadelte, unterließ er doch nicht, Arnolds Vorzüge immer ins rechte Licht zu setzen. So war alles gut, und Vater und Mutter bereuten nicht, ihr schweres Geld für ihr Kind ausgegeben zu haben.

Da traf den alten Frank ein harter Schlag: sein Weib ward von einer plötzlichen Krankheit in wenigen Wochen dahin gerafft. Als sie auf dem Sterbebette lag, wollte sie noch ihren Arnold sehen. Man holte ihn rasch aus dem Institute und führte ihn, nachdem ihn die Mutter unter heißen Tränen gesegnet, wieder zurück. Dann erhielt er die Nachricht von ihrem erfolgten Tode, und der gebeugte Vater knüpfte an diese Trauerkunde die Mahnung, daß nun, wie er selbst, so auch Arnold eine große Stütze verloren habe und sich beide doppelt zusammennehmen müßten. Alles das zog nur wie ein wandelndes Wolkenbild dem Traumleben des Knaben vorbei.

Ohne bemerkenswerte Ereignisse verflossen die nächsten Jahre, und es nahte nun schon der Zeitpunkt, wo Arnold aus dem Institute treten sollte. Da ward denn sein sprunghaftes, zerstreutes Wesen dem Direktor, der den Jungen sonst sehr liebte, doch etwas bedenklich. Um seine Studien stand es recht schlimm, und es mußte alles aufgeboten werden, damit er sich zuletzt nur ein genügendes Zeugnis herausschlage. So verließ Arnold, nicht ohne einen schweren Abschied von seinem poetischen Freund, das Institut, um zunächst nach Hause zurückzukehren. Der Direktor gab ihm eine lange Epistel an den Vater mit. Er setzte darin auseinander, daß der Jüngling das trefflichste Herz habe, auch sehr begabt und keineswegs träge sei, daß es aber trotzdem sehr schwer halte, ihn zu einer gleichmäßigen, ernsten Tätigkeit anzuspannen. Besonders fehle ihm jeder Sinn für das Praktische. Er werde vielleicht noch sehr viel lernen, aber kaum je der Mann sein, das Gelernte zusammenzufassen und in einem gewählten Berufe fruchtbar anzuwenden; denn dazu gehöre Sammlung in einem Punkte und beharrliche Ausdauer. Da nun, wie er zu wissen glaube, das Vermögen des Vaters doch nicht so groß sei, daß der Sohn bloß seinen Neigungen leben könne, sondern dieser vielmehr sein dereinstiges Erbe durch Arbeit erhalten müsse, so scheine es ihm fast am besten, alle weitergehenden Pläne für Arnold aufzugeben und ihn nach und nach in das Geschäft des Vaters einzuführen, das, da es ja schon im besten Gange sei und nur der Überwachung bedürfe, dem Sohne vielleicht noch den geringsten Zwang auferlegen werde. Auch könne der Vater wohl noch in Arnold durch konsequentes Anhalten zur Arbeit – und zwar gerade zur möglichst materiellen Arbeit – eine günstige Wandlung hervorbringen. – Diese Winke, so schonend sie vorgetragen wurden und so oft zwischendurch immer wieder ein Lob für Arnold abfiel, waren dem Vater doch wie ein Guß kalten Wassers. Also deshalb hatte er gespart und geknausert, damit nun Arnold wie jeder andere Lehrjunge im Gewölbe hantieren sollte? Nein! seine Gedanken waren andere. Er kam sich in diesem Augenblicke wie geprellt vor, und noch mehr: er war mit seinem Kinde beleidigt. So geriet er gegen den Institutsdirektor in einen wahrhaften Zorn. Warum auch diese Ratschläge? Arnold hatte ja im ganzen doch entsprochen und sein gutes Zeugnis in der Tasche. Sollte er sich das nun etwa bloß als Erinnerung in einem schönen Rahmen aufheben? Nein! und hundertmal nein! rief es in ihm, und es erschien ihm als eine geradezu tolle Zumutung, daß er ohne jeden zwingenden Grund alle Hoffnungen für die Zukunft seines Sohnes aufgeben solle.

Ähnliche Gedanken regten den alten Frank auf, während Arnold die Sommermonate vor Beginn des neuen Schuljahres zu Hause zubrachte. Was dem Vater nun am meisten Sorge machte, war die stille, gleichgültige Haltung seines Sohnes. Arnold selbst sagte nie, was er werden und wohin er sich wenden wolle; er schien ruhig die Entschlüsse des Vaters abzuwarten; ohne sich weiter mit dem Kommenden zu beschäftigen. Das war immerhin nach den Auseinandersetzungen des Institutsdirektors etwas beunruhigend. Indessen faßte sich der Vater und überlegte für den Sohn. Aber er kam nicht leicht ans Ziel. Zur Theologie zeigte Arnold keine Neigung; er mochte nicht Geistlicher werden. In der Medizin graute ihm vor der Zergliederung der Leichen. Wie war es mit den juridischen Studien? Diese schwebten Arnold ganz unbestimmt vor, und er sagte dazu ja. Der alte Frank hatte in der Residenz mehrere Geschäftsverbindungen; er schrieb nun, da er nicht selbst vom Hause abkommen konnte, an einen seiner Freunde und knüpfte an die Bitte, für Arnold eine Wohnung zu mieten, das dringende Anliegen, sich überhaupt um den Jungen, wenn er zu seinen Universitätsstudien eintreffe, sorglich anzunehmen.

Endlich kam die neue Trennung. Sie war für den Vater, der nun im Innersten doch etwas zweifelhaft geworden war und seit dem Tode seines Weibes die rechte Kraft und den rechten Halt verloren hatte, eine recht schwere. Auch sollten sie jetzt weiter voneinander getrennt sein und sich nicht so oft sehen können. »Nimm dich zusammen,« sagte der alte Frank in tiefer Bewegung, »daß du etwas Rechtes lernst und einmal etwas Rechtes wirst! Ich will unterdessen redlich fortarbeiten, damit ich dir die ersten Schritte in die Welt hinaus leichter machen kann.«

Arnold war von dem bunten Leben, dem Lärmen und Treiben der Residenz ganz verwirrt. Aber wie erstaunte er, als er auf der Universität die Vorlesungen besuchte und oft kaum ein halbes Dutzend Zuhörer neben sich sah. Einmal kam dieser, ein anderes Mal jener und manche blieben viele Wochen aus. Der Professor fragte auch gar nicht danach; er trug seinen Gegenstand mit trockener Nüchternheit vor, und wenn die Stunde vorbei war, packte er ruhig zusammen und ging. Er hatte seine Pflicht getan, um das Weitere kümmerte er sich nicht. Da war es im Erziehungsinstitute ganz anders! Dort mußte sich jeder Zögling zu den Vorträgen einfinden. So blieb einem denn auch, selbst wenn man nur mit halbem Ohre lauschte, immer etwas im Gedächtnisse hängen. Der verschüchterte Arnold, dem die Vorträge nicht das geringste Interesse erweckten, hatte im Anfange gleichwohl gar nicht den Mut, auszubleiben. Endlich wollte er's aber doch den übrigen nachtun und fragte nur erst vorsichtig einen Studenten, wie denn das die anderen anstellen werden, um am Ende gute Prüfungen zu machen. »Da heißt es, sich die Kollegienhefte verschaffen und zuletzt tüchtig büffeln. Man bringt dann alles wieder ein. Aber wer wird es denn jetzt so genau mit den Vorlesungen nehmen!« Das war die Antwort, welche zunächst zur Folge hatte, daß nun auch Arnold dann und wann ausblieb. Und eines zog ihn besonders von seinen Studien ab: er konnte hier plötzlich seiner Herzensneigung, der Musik, wie nie zuvor, leben. Die zahlreichen Konzerte, in welchen vorzügliche Tonstücke aufgeführt wurden und die er nie zu besuchen versäumte, erschlossen ihm auch auf diesem Gebiete erst eine neue Welt; denn er hatte bis jetzt das Schönste und Herrlichste gar nicht gekannt. Nun wurde ein Klavier gemietet und das Violinspiel mit doppeltem Eifer gepflegt. Auch verlegte er sich, wie er schon in früheren Jahren getan, zuweilen aufs Komponieren, und was er zustande brachte, fand unter einigen musikalischen Kommilitonen, mit welchen er kleine Aufführungen arrangierte, vielen Beifall. Trotzdem fehlte ihm auch hier jener Drang, der dem Schaffenden, ohne daß ihn kleine Eitelkeit zu erfüllen braucht, doch nie ruhen läßt, bis er das, was er vollbracht, hinausgestellt in die Welt. Er war glücklich, die Schöpfungen anderer zu genießen und schrieb wohl auch nieder, was sich, wie von selbst, aus seiner Empfindung entfaltete; aber es kam ihm gar nicht zum Bewußtsein, daß er den bewunderten Größen nachstreben und einst mit eigenen Werken in die Öffentlichkeit treten könne. – Unter diesen musikalischen Anregungen und Genüssen flossen ihm die Tage fröhlich dahin. Wenn er je einmal einen Vortrag besuchte und nach seinem seligen Schwelgen im Reiche der Töne diese abstrakten, dürren Auseinandersetzungen hörte, konnte er gar nicht begreifen, wozu ein solches Wissen nützen solle.

Es war gut, oder vielmehr schlimm, daß sein Vater nicht mehr so beweglich wie früher war und ihn nicht durch einen forschenden Besuch im sorglosen Nichtstun störte. Als er aber zu den Ferien nach Hause kam und ihn der Vater mit liebendem Ernste fragte, wie es denn mit seinen Studien stehe, da war er doch etwas verwirrt und wußte nicht gleich, was er entgegnen sollte, bis er sich mit der Antwort half: »Doch wohl nicht schlechter, als bei den meisten andern.« Er hatte ja auch die redlichste Absicht, zuletzt alles daran zu setzen, um eine gute Prüfung abzulegen, und wenn das anderen gelang, warum sollte er es nicht können!

So verflossen Arnolds Studienjahre. Auch diese Zeit war für ihn ein einsames Traumleben, das ihn mit seligem Genügen erfüllte, wenn es auch vielleicht ein anderer arm und freudlos gefunden hätte. All' die Versuchungen einer großen Stadt waren für ihn nicht da, und sein Vater, der eben in diesem Punkte von seinen Freunden stets die günstigsten Berichte erhielt, vernahm sie mit vieler Genugtuung und glaubte für die Zukunft seines Sohnes die besten Hoffnungen schöpfen zu dürfen.

Nun sollte Arnold endlich an seine Prüfungen denken. Die Gewissensbisse regten sich immer lebhafter. Er verschaffte sich alles, was er brauchte; ein großer Haufen von Heften und Büchern lag vor ihm. Ach, wo anfangen? War es nur möglich, damit zu Ende kommen? Arnold machte sein Klavier zu und sperrte seine Violine in den Kasten. Er wollte jetzt lernen, fleißig lernen, nicht um seinetwillen, sondern des Vaters wegen, dem er ja nicht das geringste Leid antun durfte. Er nahm ein Heft vor und begann. Es ging immer schwerer, er konnte das Gelesene nicht behalten, seine Gedanken flogen immer ab von der Sache. Der Angstschweiß trat ihm auf die Stirne. Konnte ihm denn das nicht erlassen bleiben? War es zu seinem Fortkommen, zu seiner Wohlfahrt unumgänglich notwendig? – Immer wieder versuchte er sich zu sammeln, er zwang sich, verließ tagelang nicht das Haus: vergebens! Da packte er in seiner verzweifelten Stimmung seine Siebensachen zusammen und erschien eines Tages unversehens bei seinem Vater. »Verzeihe mir!« sagte er, und das war ihm vielleicht bis jetzt der bangste Augenblick seines Lebens, »aber ich kann nicht weiter studieren, es ist umsonst!« Und er setzte seinem Vater auseinander, wie er durch unglückliche Versäumnisse, die aber durchaus Regel seien, dahin gekommen, die Masse, welche vor ihm liege, nicht mehr bewältigen zu können, – Der Vater sagte nicht viel, aber er machte ein gar trauriges Gesicht. Seine teuerste Lebenshoffnung war dahin. Ach, sein Sohn war ja doch so gescheit, lenksam und alles versprechend! Wie ungebärdig, mutwillig und voll von Fehlern sah er die Söhne anderer, und sie kamen doch weiter und wurden zuletzt noch ganze Männer, die ihren Eltern Freude machten. Was war das nur mit seinem Arnold? Er begriff es nicht, aber er liebte ihn darum doch nicht weniger als früher und klagte zuletzt am meisten die üblen Einrichtungen der Universität an.

Und was jetzt beginnen? Gottlob! Arnold hatte doch eins, was in der Welt immer seltener wird: ein gutes, braves Herz, auf das man bauen konnte. Das war am Ende die Hauptsache. So schwer der alte Frank seine stolzen Entwürfe fahren ließ, allmählich tröstete er sich, und zuletzt erschien es ihm gar als das Vernünftigste, daß auch Arnold Kaufmann werde, um nicht etwa das so einträgliche Gewölbe und die schöne Wirtschaft einmal tief unter dem Werte verschleudern zu müssen. Ja, er wollte ihn in das Geschäft nehmen; aber als Übergang nur an den Schreibtisch, nicht offenkundig vor den Leuten, die über die neue Laufbahn seines Sohnes doch nur spotten würden.

Die Folge davon war, daß Arnold in der nächsten Zeit, wenn er auch ab und zu für seinen Vater eine Rechnung oder einen Brief schrieb, eigentlich nichts Rechtes tat und nach seiner Neigung weiterlebte. Bald blieb er, Musik treibend, tagelang im Zimmer, bald schweifte er wieder hinaus und suchte namentlich gern ein in der Nähe gelegenes, halb verfallenes Schloß auf. Dort durchstöberte er dann alle Winkel und vertiefte sich in die Enträtselung alter Inschriften, die er hie und da am Mauerwerk entdeckte. Die Bewohner des Städtchens, welche im Anfange nicht wußten, was sie aus ihm machen sollten und glaubten, er erwarte noch irgend eine Anstellung, schüttelten über seinen Müßiggang immer mehr den Kopf, bis sie sich endlich in manchen hämischen Tadelreden ausließen. Dem alten Frank wurde dergleichen natürlich sogleich zugetragen; aber so sehr es auf ihn wirkte, er warf sich doch gewaltsam in die Brust und sagte: »Was kümmert das die Leute? Sie sollen vor ihren Türen kehren. Mein Arnold ist doch was Besseres als sie alle. Und auch kein armer Schlucker!« Dahin war der alternde, vielgeprüfte Mann gekommen, der mit solcher Verblendung an seinem Kinde hing. –

Sommer und Winter wechselten wiederholt, ohne daß Arnold eine größere Lust zum Geschäfte zeigte. Da wurde sein Vater wieder recht unruhig. Ein inneres heimliches Wehe nagte fortwährend an ihm, matt und abgezehrt schlich er umher. War er schon, seitdem er sein Weib verloren, ein anderer geworden, so drückte ihn nun die Sorge um den Sohn vollends nieder. Er fühlte, daß sein letztes Stündlein bald schlagen könnte und hielt endlich Arnold strenger zur Arbeit an, damit er nicht plötzlich unvorbereitet sein Erbe antrete. Dieser folgte ihm auch willig und gewann einen gewissen Überblick; aber wievieles, das, so unbedeutend es scheint, für eine Geschäftsführung doch höchst wichtig ist, lernt man nur durch eine lange Erfahrung!

Und jetzt war's versäumt. Der alte Frank starb. Als Arnold eines Tages zu ihm ins Zimmer trat, fand er ihn im Lehnstuhl zusammengesunken tot. Entsetzt warf sich der Sohn, den dieses Unglück völlig überraschte, auf die Leiche und vergoß in fassungslosem Schmerze die heißesten Tränen. – Endlich suchte er sich zu sammeln, aber da empfand er auch den Verlust der Mutter erst so recht; er sah sich plötzlich allein in der weiten Welt, allein und verlassen.

Arnold war jetzt vierundzwanzig Jahre alt und ein großer, wohlgestalteter, schöner Mann. Das ovale, von dunklem Haar umrahmte Gesicht mit der breiten Stirne und der schön geschwungenen Adlernase erhielt durch seine Augen den mächtigsten Ausdruck; denn aus diesen braunen seelenvollen Augen sprach selbst im größten Schmerze etwas wundersam Mildes, Träumerisches; es war, als wollten sie sagen: Was soll das alles? Und so stand es auch um sein innerstes Herz. Noch begriff er den bangen Ernst des Lebens nicht, wie er selbst kein Arg kannte, und diese Natur erschien in ihrer kindlichen Weltfremdheit und dabei alles hingebenden, unendlichen Güte so rührend, daß ihr selbst der Nüchternste die Fehler verziehen hätte, die sie bis jetzt zu keinem festen, kräftigen Wachstum kommen ließen.

Die Tage nach dem Tode des alten Frank waren für Arnold gar bange. Und noch voll seines Schmerzes, mit nassen Augen, sollte er gleich an hundert kleine Dinge denken und emsig tätig sein; denn der Betrieb eines Geschäftes erfordert eine fortwährende Überwachung und Anspannung. Wer möchte ihn zu hart tadeln, daß er in dieser Stimmung das meiste seinem ersten Kommis überließ? Dieser übertraf ihn ja auch an Geschick und Erfahrung; der Vater selbst hatte ihn in dieser Hinsicht gegen Arnold gelobt, wenn er auch beifügte, daß er ihm im Geldpunkte nicht allzu verläßlich scheine. Nun, Arnold war überhaupt froh, in seiner Bedrängnis eine Stütze zu haben. Der Kommis merkte das sehr gut; er sah, wie abhängig sein Herr von ihm war, und maßte sich, ohne von Arnold eingeschränkt zu werden, eine immer größere Herrschaft an. Im Anfange ging auch alles vortrefflich; aber eines Tages war der Mann, der Arnold schon fortwährend im kleinen bestohlen hatte, mit dem Inhalte der Geldkasse verschwunden. Man griff ihn bald auf, allein Arnold erhielt nur einen geringen Teil seines Gutes zurück. Was war zu machen? Materielle Verluste vermochten über Arnold am wenigsten. Die Verpflichtungen, zu deren Deckung jenes Geld hätte dienen sollen, glich er nun mit den ererbten Ersparnissen seiner Eltern aus, und so blieb alles im geordneten Gange. – Aber der Kommis, welchen er jetzt aufnahm, wenn er vielleicht der ehrlichste war, bedurfte wieder selbst noch der Unterweisung durch seinen Herrn. Arnold nahm sich auch zusammen. Er blieb den ganzen Tag über im Geschäfte, hantierte selbst und bekümmerte sich noch um das Geringfügigste. Da faßte er es vielleicht wieder nicht richtig an; denn er mochte das Größere über das Kleinere versäumen. Und jetzt – jetzt! Alles ging für ihn unter: die Liebe ergriff zum ersten Male sein Herz.

Hart neben seinem Hause, an den dahinterliegenden Hügel angebaut, stand eine kleine Hütte, welche vor kurzem der neue Gemeindediener des Ortes gekauft und mit seiner etwa neunzehnjährigen Tochter bezogen hatte. Der Mann war ehemals als Soldat viel in der Welt umhergekommen, und auch Johanna, so hieß sein Kind, hatte schon in der Residenz als Kammerjungfer in einem vornehmen Hause gedient. Nun setzte er sich mit seinen Ersparnissen in seiner Heimat fest und wollte hier, durch das Einkommen seines ruhigen Amtes unterstützt, seine Tage beschließen. So schlicht und arm diese Leute waren, so hatte ihnen der Verkehr mit der Welt doch einen besseren Anstrich gegeben, und sie erhoben sich in ihrer ganzen Weise über viele, die im Städtchen ihrer Stellung oder ihrem Besitze nach für vornehmer gelten wollten. Was im besonderen Johanna betrifft, ein strotzend frisches, prächtiges Mädchen mit hellen Augen, lebhaften Zügen und anmutigen Formen, so war sie eine eigene, gar aufgeweckte, rasche Natur, und die Männerwelt des Städtchens, unter welcher sie gleich eine ziemliche Aufregung hervorbrachte, wußte mit ihr nicht zurechtzukommen. Wiewohl sie bald hierhin, bald dorthin ihre Blicke warf und manchen an sich herankommen ließ, so hatte sie bis jetzt noch keinem ihre Gunst geschenkt. Sie schien sich eben erst den Rechten aussuchen zu wollen, und rasch entschlossen, wie sie war, scheute sie sich nicht, ein schon halb geknüpftes Band zu zerreißen, wenn ihr Werber (was bis nun immer der Fall gewesen sein mochte) plötzlich eine garstige Seite seines Wesens offenbarte. Dadurch ward sie gefürchtet, und mancher, der sie gerne heimgeführt hätte, hielt sich ihr doch ferne. Aber sie war ein schönes, in allem gewandtes und fleißiges Mädchen, dem niemand etwas anhaben konnte; das wußte sie gar gut, und sie wußte auch, daß es zuletzt nur von ihr abhing, den, welchen sie wollte, heranzuziehen und festzuhalten.

Arnold sah seine Nachbarin, und ihr Anblick traf ihn im Innersten. Doppelt gerne suchte er jetzt sein Plätzchen im Garten auf, wo er schon als kleiner Knabe immer träumend gelegen hatte. Dort weilte er nun wieder stundenlang und schaute nach dem Hofe des Hüttchens hinüber, der von ihm nur durch einen leichten Lattenzaun getrennt war und wo Johanna oft geschäftig hin und her wandelte. Diese ersten Tage seines erwachenden Gefühls, dessen er sich noch gar nicht bewußt wurde, brachten Arnold ein unnennbares Glück. Wie er sich immer gerne der Macht der Töne hingab, so war jetzt alles in ihm Musik, es wogte sanft und melodisch in seiner Brust, jede Schranke seines Wesens fiel, und er schwamm, selig aufgelöst, dahin in das All. Es war der tiefste Genuß in der größten Selbstentäußerung; alles Schöne der weiten Welt gehörte ihm, und nichts, was er besaß, hätte er nicht freudig den Mitbrüdern dahingegeben. – Johanna versah mit bewundernswertem Fleiße ihre kleine Wirtschaft, alles war immer reinlich und nett, nicht ein welkes Blatt durfte in dem stets sorglich gekehrten Hofraum liegen bleiben. Sie bemerkte Wohl auch ihren Bewunderer, tat aber nicht viel dergleichen, wenngleich sie, wie es die Sitte des Städtchens erheischte, als armes Mädchen den wohlhabenden, angesehenen Bürger zuerst mit einem »Guten Morgen!« oder »Guten Tag!« begrüßte. – Arnold hätte sie nun endlich doch gerne angesprochen, aber er traute sich nicht und pries zuletzt immer noch sein Geschick, daß er – es war Sommerszeit – seine Nachbarin wenigstens fast täglich von ferne belauschen konnte. – Johanna machte sich manchmal hart am Zaun mit den aufrankenden Bohnen zu tun, wobei sie ihn, leise lächelnd, mit einem flüchtigen Blicke streifte; aber er ergriff doch nie die Gelegenheit, sich ihr zu nähern. Da schritt sie eines Tages durch die kleine Gattertüre, welche aus ihrem Hofe ins Freie führte, über die anstoßende Wiese auf die Türe in Arnolds Hofzaune zu. Sie schlug das Häkchen zurück und stand plötzlich mit einem Kruge am Arm auf Arnolds Grund und Boden. »Unser Brunnen ist verdorben – darf ich wohl ein bißchen Wasser holen?« sagte sie mit lieblicher Stimme. Arnold konnte, ganz in ihrem Anschaun verloren, nur zustimmend von seinem Platze nicken. Schlicht, doch gefällig angetan, das Kleid ein wenig aufgeschürzt, wandelte das schlanke Mädchen, sich leicht in den Hüften wiegend, weiter zum Brunnen und schöpfte den Krug voll. Dann wandte sie sich wieder nach Hause und dankte Arnold mit einer anmutigen Verbeugung, während ein eigenes schalkhaftes Lächeln ihre Lippen umspielte. Er fühlte sich ganz in dem Banne dieses Mädchens, er hätte ihr nachstürzen und zurufen mögen: »Nimm mich hin! Nimm alles, was ich besitze!« – Über die heilige Schüchternheit eines in erster Liebe aufzitternden Herzens siegt zuletzt doch immer der allmächtige Drang der Sehnsucht: Arnold faßte jetzt den festen Entschluß, sobald er Johanna wieder sehe, zu ihr zu treten und mit ihr zu sprechen. Und als sie den andern Tag erschien, stürzte er, im tiefsten Innern bebend, mit einem gewaltsamen Sprung auf den Hofzaun zu, ohne eigentlich eine Silbe von dem zu wissen, was er ihr sagen wollte. So stand er jetzt, die Arme an die Lattenspitzen stemmend, da, und Johanna blickte von der Arbeit auf. Er brachte nichts hervor. Ach, welche Erlösung wär' es für ihn gewesen, wenn sie mit dem ersten Worte begonnen hätte! Nach einer Pause des Wartens half sie ihm auch. »Es sind nur Rüben, die ich einsäe; es ist gerade noch Zeit,« sagte sie ganz unbefangen, wie voraussetzend, daß ihn nur die Neugierde hieher getrieben. »Bei Ihnen ist das anders,« fuhr sie fort, da er noch immer stumm blieb, »Sie brauchen nicht jedes kleinste Fleckchen zu benützen und sich knapp vor die Türe die wenig schöne Pflanze hinzusetzen.« – »Und möchte es Ihnen bei mir gefallen?« stammelte er mit überwogendem Herzen. – »Ich weiß kein schöner Stück Land,« entgegnete sie und neigte sich wieder nieder, um ihre Arbeit fortzusetzen, »aber schelten Sie mich nicht, daß ich so frischweg rede: wenn es mein wäre, müßte es doch anders aussehen.« – »O, wenn Sie nur wollen, es soll alles Ihnen gehören!« rief er und hätte über das Gatter setzen mögen. Johanna blickte jetzt wieder auf, und statt des verstohlenen Mutwillens von früher blitzte es wie freudige Rührung aus ihrem Auge, und ihr ganzes Antlitz war in sonnenhafte Helle getaucht. Arnold erkannte auch diesen Strahl sogleich; er war nun fortgerissen, beflügelt, er hatte nichts mehr scheu zu verhehlen, er hätte Johanna gleich umarmen, in sein Haus führen und ihr sagen mögen: Es ist dein! Und nun bleibe da und seien wir zusammen selig ohne Ende, in alle Zukunft hinein! Aber er sagte zu dem hold errötenden Mädchen, das jetzt in all seiner Heiterkeit ernst geworden und knapp zu ihm getreten war, doch nur die Worte: »Johanna! ich rede noch heute mit deinem Vater.« Ihre Hände fanden sich zwischen den Gatterlücken, Johanna neigte ihr Haupt über die roten und weißen Bohnenblüten zu ihm und Lippe drückte sich an Lippe; es war eine Sekunde Ewigkeit, in welcher ihre Seelen ineinander wogten.

Arnold und Johanna waren Verlobte, und die Hochzeit sollte so schnell, als es nur anging, stattfinden. Diese Neuigkeit erregte im Städtchen ein gewisses Aufsehen und wurde verschieden aufgenommen. Die einen sagten, wenn jemand Arnold sein Hab und Gut fest zusammenhalten könne, so sei es Johanna; die anderen dagegen meinten, das Weib werde mit ihrer raschen, entschiedenen Art schlecht zu ihm passen, und er hätte unter so vielen wohlhabenden und ehrbaren Bürgermädchen besser wählen können. – Das Geschäft Arnolds war inzwischen ein bißchen ins Schwanken gekommen. Er war ja in diesen seligen Liebestagen am wenigsten der Mann, allem zu ängstlich nachzusehen, und sein neuer Kommis war ungeschickt und unerfahren. Die auswärtigen Lieferanten witterten auch gleich diese Veränderung, sie wurden, da sich bei den Abrechnungen kleine Unordnungen wiederholten, immer vorsichtiger und schwieriger, sie wollten alle Bestellungen immer gleich im voraus gedeckt haben, oder sie sandten schlechte Ware. Das wirkte nun wieder auf die Klienten Arnolds, und die besten blieben nach und nach aus, da sie das Gewünschte entweder gar nicht oder nur schlecht erhielten. Mit den geringeren Einnahmen machte aber Arnold wieder immer schlechtere Einkäufe, und so verschlimmerte wechselseitig eines das andere, bis das einst so wohl angesehene Geschäft bedenklich zu sinken anfing. Mit der Bewirtschaftung seiner Grundstücke hatte es ein ähnliches Bewandtnis, und die Erträgnisse wurden immer kleiner. Aber Arnold erkannte weder dort noch hier das Übel in seiner Wurzel, und der überglückliche Bräutigam zerbrach sich nicht den Kopf über die möglichen Folgen. Er dachte jetzt nur an seine bevorstehende Verbindung mit Johanna. O wonniges Hinüberträumen nach der ersehnten Stunde der Erfüllung! O süßes Ausmalen der Zukunft in traulicher Zwiesprache der Liebenden! Johanna mußte schon jetzt herüberkommen und genau das Haus ansehen. Es war, einen Stock hoch, im Innern noch schöner, als das Äußere vermuten ließ, oben mit einer Flucht heller reinlicher Zimmer, unten mit allen Kämmerchen und Räumlichkeiten, die sich nur eine rührige Hausfrau wünschen konnte. Und es hatte rückwärts prächtige Ställe und Wirtschaftsgebäude. Die Braut mußte nun ihre Wünsche sagen, in diesem oder jenem raten und anordnen. Und dann nahm sie Arnold unterm Arm und führte sie hinaus auf die Felder. Da lagen sie ausgedehnt im breiten Tale, von anmutigen Hügeln umschlossen. Johanna lachte über all diesen Herrlichkeiten das Herz im Leibe. Eine größere Wirtschaft zu leiten, das war ja immer ihr sehnlichster Wunsch; ja, wenn dieses Selbstbekenntnis in ihre Brautschaft gepaßt hätte, so würde sie sich haben sagen müssen, daß ihr Auge erst von dem schönen Besitztum Arnolds auf diesen selbst fiel, obgleich sie den Mann jetzt gewiß wahrhaft und nur um seinetwillen liebte. Die beiden hüpften dahin wie die Kinder, und da Arnold die ausgelassene Freude Johannas sah, freute nun auch er sich, wie nie früher, seines Besitzes. Sie kamen an einen Feldrain. Arnold hielt ihn für die Grenze seines Eigentums. »Nein!« rief Johanna lachend, »der Acker hier daneben gehört ja auch noch dir. Weiß der nicht einmal, was sein ist!« Und sie küßte ihn herzhaft wieder und wieder, und weiter ging es durch das herrliche Land, über welches die Sonne mit ihren hellsten, lachendsten Strahlen hinfunkelte. – Arnold verheimlichte übrigens seiner Braut nicht, daß seine Verhältnisse nicht mehr so gut wie früher standen und er schon fast all sein zurückgelegtes Geld habe dazu setzen müssen. Aber das machte ihr nicht bange. »Es wird jetzt alles anders werden!« sagte sie liebevoll ermutigend. »Sorge du dich nur um das Gewölbe, und ich will dir die Wirtschaft in Ordnung bringen, daß du staunst!«


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