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Tiefseefische

Fragment

Geschrieben 1908.
(War anfänglich als Kapitel V für den »Roman der XII« [Verlag Konrad W. Mecklenburg, Berlin] bestimmt)

Ein leiser Pfiff und der Fiaker hielt mitten in der dunkeln Straße. Aus dem Häuserschatten trat vorsichtig ein vierschrötiger Mann an den Wagen heran und spähte durch die Scheibe.

Im nächsten Augenblick öffnete er, ein Aufleuchten der Befriedigung in der gemeinen Visage, den Schlag.

Umständlich quoll die Baronin Poczerewska heraus.

Man konnte ihr sulzweiches Bein im rosa Strumpf bis zum Knie sehen, wie sie vorsichtig mit der Fußspitze nach dem Trottoirrand tastete.

Endlich war auch die Frisur mit dem riesigen Hut, auf dem das ausgestopfte Vorderteil eines wirklichen Pfaues hockte, gerettet und der Vierschrötige nickte dem Kutscher zu, fortzufahren.

Die Baronin war dicht verschleiert. Wortlos hastete sie neben ihrem Begleiter in die schmale winkelige Quergasse, die in nächster Nähe aus der Straße abbog. Ein Wachmann stand unter der halb rot halb weißen Ecklaterne und musterte aufmerksam die beiden.

Diskret wandte er sich ab und zog sich aus dem Lichtschein in das Dunkel zurück, als er die plumpe Gestalt des Vierschrötigen erkannte.

»Küß' die Hand, Frau Baronin,« brach der Vierschrötige das Schweigen, als sie außer Hörweite waren, »bitt' um Verzeihung, daß ich mei Hut nicht aufhab, aber als wir den Fiaker rollen heerten, bin ich gleich raus. – – – Meine Frau hat alles vorbereitet.«

Sie waren vor einem Tor angelangt, das bisher nur angelehnt gewesen, sich jetzt weit nach innen öffnete und eine lichtbestrahlte Treppe sehen ließ, die, mit einem geblümten Sammetläufer bespannt, wie eine breite rote Zunge im Innern des Hauses herabhing und bis dicht an den Eingang reichte.

Stimmen kreischten oben auf, und im lachsrosa Seidenschlafrock, die Speckhand mit den edelsteinüberladenen Wurstfingern ängstlich auf das Geländer gestützt, mühte sich die feiste Madame des Hauses ungeschickt die Stufen herab, vor geheuchelter Freude nach Worten ringend.

»Jä, jä, die Frau Baronin jä, jä aus Berlin, jä, jä das sind mir Gäste! Schifferes, hat er auch den Wagen in der Straß' gut abgefangen? Aber so komm' doch 'erein, du werst dich verkühlen. Nu – und das Gepäck bringt wohl unser Dienstmann? Elis', nimm' sie doch der Frau Baronin die Pompadour ab. – Jä, jä, die Frau Baronin! Willkommen, willkommen in Prag! Jä, jä, das sind mir Gäste.«

»Guten Abend, Frau Schifferes,« wehrte die Poczerewska kühl ab, »kann ich ein Bad haben? Man ist so verstaubt auf Reisen. – Ach, und der gräßliche Lokomotivgestank! – – – Das ist Ihr jetziger Mann, Frau Schifferes?«

Der Vierschrötige zupfte seine Manschetten aus den Ärmeln und grinste verbindlich. »Zu dienen, schöne Frau!«

Der Madame Schifferes blieb der Mund offen stehen vor Stolz und Erstaunen ob dieser weltmännisch galanten Phrase ihres Gatten. »Was sagt man!« fuhr es ihr heraus.

Die Baronin musterte ihren Begleiter. Ein Birnenschädel ohne Halsansatz auf dem robbenähnlichen Körper, das Verbrechergesicht mit den tiefstehenden Ohren und dem gemeinen, fettgepolsterten Unterkiefer, – grausame, schiefe Baschkirenaugen, Arme und Beine kurz und dick wie Stumpfe, – und die Hände von grauenhafter Ausdrucksfähigkeit – wie unvermittelt aus dem Triebe zum Erwürgen gesprossene Organe. – Der ganze Mensch von innen bis außen das Sinnbild Fleischklumpen gewordener, selbstverständlicher Erbarmungslosigkeit.

Schifferes trug eine Uhrkette aus schuppenförmig übereinandergefädelten Fünfdukatenstücken und Armbänder an beiden Handgelenken. Er lächelte geschmeichelt in sich hinein, als er wahrnahm, daß die Baronin ihn musterte.

Oben trat jetzt etwas weiß Schimmerndes an das Treppengeländer. Ein etwa 18 jähriges, geschminktes Mädchen mit blondem Zopf, in hemdartigem Bébékleid lehnte sich vornüber und blickte neugierig auf die Heraufkommenden.

»Fritzka,« kreischte die Madame wütend hinauf und nahm einen schwerfälligen Anlauf über die nächsten drei Stufen, »was erlaubt sie sich das! Fritzka! Kusch! Fritz – – Mist – –,« sie wollte noch etwas sagen, aber die Atemnot verschlug ihr die Stimme.

Man hörte leichte Schritte weglaufen, die Klänge eines Klaviers tönten auf und verstummten von einer sich öffnenden und schließenden Tür befreit und wieder erstickt.

»Seien Frau Baronin unbesorgt,« entschuldigte sich Schifferes, »Sie werden nicht gesehen. Mir haben erst halber zehn, es sind noch gor kane Gäste da.« – –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –

Es war fast Mitternacht. Die Poczerewska hatte das Souper abgelehnt und ein heißes Bad genommen. Ihr weißer, wanstiger Körper dampfte noch, wie sie ganz nackt in dem mattbelichteten, mit Goldgeschnörkel übersäten Boudoir stand und ihr rotes Haar aufsteckte.

Sie schien sich für unendlich schön zu halten und blickte wohlgefällig auf ihr Bild, das ihr die mit Spiegeln statt Tapeten bedeckten Wände und Plafondfacetten zurückwarfen. Plötzlich hielt sie inne und lauschte.

Sie glaubte ein Schloß zufallen und Schritte kommen gehört zu haben, und es erweckte ihr einen aufregenden Kitzel, sich so splitternackt an die Türe zu stellen, eine Ritze weit zu öffnen und hinab in das hellbeleuchtete Stiegenhaus zu horchen, wo ganz ganz von weitem in den untern Zimmern sich Walzertöne in leises Brummen von Männerstimmen mischten.

Ein merkwürdiges mattes Geruchgemisch wie von Ailanthus, Puder, Schminke lag im ganzen Haus, schien aus jeder Wand, aus jedem Möbel zu dringen. So völlig verschieden von dem Geruch, der Zimmern und Räumen, in denen viel und ungeniert geraucht wird, sonst anzuhaften pflegt. Die Baronin sog den erregenden Duft, der das Stiegenhaus noch viel stärker als die Zimmer zu durchströmen schien, mit begehrlichen Nüstern ein. In dieser Atmosphäre fühlte sie sich wahrhaft glücklich.

Da, – wieder ein Geräusch! – Im dritten Stock. – – Ein leises Sporenklirren, verhaltene Worte, – Kratzen an einer Zündholzschachtel.

Schritte kamen die Stufen herab und machten dicht vor der Türe der Baronin Halt.

Der Poczerewska schlug das Herz bis zum Halse hinauf.

Das bloße Gefühl, sich als Dame, die sonst in guter Gesellschaft zu leben pflegte, in diesem Hause zu befinden, vollkommen nackt hier etwas zu belauschen mit angehaltenem Atem, etwas versteckt mit anhören zu können, sei es was immer, – wenn es nur Heimlichkeit in irgend einem Sinne bedeutete –, versetzte sie in einen neuartigen, lang entbehrten Rausch, – so daß ihr die Knie zitterten. Die Zeiträume genossener unbehinderter Ausschweifung in ihrem Leben waren vergessen, aus ihrer Seele wie ausgestrichen. An ihrer Stelle bäumte sich voll übermächtiger Deutlichkeit und Gegenwart das Gefühl der würgenden, lähmenden Sinnlichkeit der Jahre vom vierzehnten bis sechzehnten auf.

Die Baronin sah durch die Türritze draußen einen jungen Reitlehrer stehen, – an den Aufschlägen mit Firmabuchstaben als solcher kenntlich, – den Mantel berechnet malerisch über die Schultern geworfen, die pomadisierten Sechser sorgfältig von den Schläfen ins Gesicht gekämmt.

Ein schmächtiges, junges Mädchen in tiefem Negligé hatte die Arme leidenschaftlich um seinen Nacken geschlungen.

Die großen blauen Augen in dem süßen unschuldigen Madonnengesichtchen glänzten tränenfeucht.

Sie flüsterten miteinander.

»Ba! Schatz! – und komm' bald wieder und grüß mir den Rudi.«

»Servus Ida! und daß du mir treu bleibst, hörst?! Und morgen schreibst' mir fein ein rosa Brieferl! Unter Chiffre ›flotter Reiter‹, hörst! Und jetzt ba!«

Sie küßten sich wieder und wieder.

Endlich riß sich der Stallmeister los und schritt männlich mit Sporengeklirr die Treppe hinab.

Ida sah ihm nach. Plötzlich schien ihr etwas durch den Kopf zu schießen. – Sie bückte sich, nestelte an ihrem Strumpfband und zog eine klein zusammengefaltete Fünfkronennote hervor.

Mit einem Satz war sie wieder bei ihm. »Bubi, da, – nimm! – – – Geh' sei net fad.« Sein schwaches Sträuben war bald besiegt. »Es sieht's doch niemand; – – ein Reitlehrer hat nie kein Geld nicht.« – – –

Die Baronin warf in fieberhafter Hast ihren Spitzenschlafrock über und zog sich an, so schnell es gehen wollte. – Nicht eine Minute mehr versäumen; – – hinunter in den »Salon« und aus nächster Nähe die magnetische Ausstrahlung dieses Lebens trinken. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Das Zimmerchen, in dem Schifferes und seine Frau, die Poczerewska und Ella, die geschminkte Haushälterin mit den Mandelaugen und dem großen Schlüsselbund, bei offener Türe und doch durch Rollwände vor den Blicken der Vorübergehenden verborgen, saßen, stieß im rechten Winkel an den großen Salon.

Durch einen Blick in den langen Wandspiegel war nebenan alles leicht zu übersehen. Rote Sofas an den Wänden, Plüschfauteuils, runde Tische mit Marmorplatten, ein Salonflügel, ein Lüster mit Prismen, – das war im großen Ganzen die Fülle des Saales.

Ein Gemälde in Goldrahmen, der Gründer des städtischen Versatzamtes in Lebensgröße, – im Jubiläumsornat, – die herrschgewohnte Rechte auf eine Lehne gestützt, die durchgeistigten Züge in überraschender Lebenswahrheit geradeaussehend, – daneben ein kleinerer Öldruck, den leider allzu früh dahingegangenen unvergeßlichen Schätzer des Amtes mit der charakteristischen, in die Stirn herabgekämmten Frisur darstellend, verrieten die unwandelbare Hochachtung vor Finanzgenies, die in dem Hause eingeführt war.

Etwa fünfzehn junge Mädchen in Bébékleidchen oder in großer Toilette gingen auf und ab oder tranken in Gesellschaft der anwesenden Gäste Weißwein und Himbeerlimonade an den Tischchen.

An dem Flügel im Eck des Salons lehnte ein uralter Mann mit ehrwürdigem Silberbarte. – Ein Patriarch in Haltung und Gebärde.

Die weißen toten Augen, weit aufgerissen auf den Prismenlüster gerichtet, starrten zufällig und ahnungslos gerade auf den glitzerndsten Punkt im Zimmer und verrieten durch ihre Empfindungslosigkeit jene furchtbare Blindheit, die die Nerven auch den grellsten Lichtschein nicht einmal mehr ahnen läßt.

Die blondzöpfige »Fritzka« hüpfte zu dem Greise hin und legte eine Münze aufs Klavier.

»Gengan's Herr Schaffranek, spülln S' – Heut' is mein Namenstag wissen S', und mein Bräutigam, der Herr Doktor, zahlt alles;« – mit einem Glutblick sah sie sich nach einem englisch karrierten Kommis um.

In den Patriarchen kam Leben. Zoll für Zoll schoben sich seine Plattfüße um den Flügel herum, bis er den Sessel gefunden hatte.

Der schnellfüßige Nephtali wurde er genannt von einer pietätlosen Jugend.

»Dö Deutschmeister,« rief befehlend der Kommis, und schon donnerten die Tasten.

»Die Deutschmeist–eer,
Die Deutschmeisteer,
Ja die Deutsch–mei–steer san do
Halloh!«

sang man allgemein. Rhythmik schwang in aller Herzen.

Märsche und Walzer wechselten mit Niggersongs und Csardas, – routiniert braute Nephtali Schaffranek sein Liedgemengsel.

Gäste kamen und gingen wie schwärmende Bienen; – mit glühendem Interesse beobachtete die Baronin in dem Wandspiegel jede Kleinigkeit. – Von Zeit zu Zeit zählte sie, wieviel Mädchen noch im Salon anwesend seien, und wenn es nur sehr wenige mehr waren, bemächtigte sich ihrer wieder die gewisse würgende Erregung.

Und es gab Viertelstunden, wo der Salon fast leer stand, – wo die einzig Zurückgebliebene immer und immer wieder dieselbe alternde geschminkte, im rotseidenen schäbigen Kostüm einer Fastnachtszigeunerin ruhelos auf- und abschreitende Kroatin war, – der den ganzen Abend noch kein Gast Aufmerksamkeit geschenkt hatte, – und deren kranke ausgemergelten Züge von Stunde zu Stunde sorgengequälter schienen.

Am Klavier lehnte dann wiederum unbeweglich der Patriarch, starrte zur Decke und ließ an seiner Seele die Bilder seines versunkenen Lebens vorbeischleichen, wo er selbst ein solches Institut sein eigen genannt, – herrlicher und schöner noch als dieses – und in frohem Erwerbsfleiß, stets im Einklang mit der Sittenpolizei, Gold gehäuft hatte. Im Geiste lebte er die Zeit wieder durch, wo das neidische Schicksal – seiner Verdienste spottend, die er als Konfident und allzeit getreu den strengen Vorschriften geleistet, trotzdem keiner ihm je etwas hätte beweisen können, trotzdem sein Detektiveid, wenn nötig, vor Gericht als zwei Eide galt, – mit tückischer Hand sein Leben vernichtete.

Unmerklich ankriechend, nächtlich still, unaufhaltsam, wachsend wie der weißliche, zerstörende Rasen des Hausschwammes hatte damals eine unbegreifliche, krüppelhafte Leidenschaft sein Hirn befallen, hatte sich in sein Wesen eingefressen wie eine Zecke.

Erst in Kreuzern, Sechsern und Gulden, dann in Hunderter- und Tausender-Banknoten hatte er sein in gewissenhaft kaufmännischer Obsorge Erworbenes in das »kleine Lotto« getragen.

Als ob alles, was er berühre, Quecksilber werden müsse, war es zugegangen! Wie unter einem klebrigen Belag von dunkelgrauer, fettiger Salbe erschien ihm jetzt alles, was mit dem Damals zusammenhing.

Und dann! – Dann, als all das herrliche Geld zerronnen war, hatte sich der stinkende Aasgeier der Liebespest auf seinen pflichttreuen Leib niedergelassen, hatte seine grausamen Fänge eingeschlagen da und dort und ihm beide Augen ausgehackt!

Was war er jetzt? – Er, Nephtali Schaffranek, der einst in der Gemeinde angesehene Realitätenbesitzer: ein simpler Klavierspieler im Hause – – eines andern! Ein alter Mann bereits mußte er sich noch zur – Kunst erniedrigen, bloß um das nackte Leben zu fristen! Bloß um das nackte Leben zu fristen!!

– – Die Kroatin hatte sich erschöpft auf das Sofa gesetzt, ein kleines Kartenspiel aus dem Strumpfe gezogen und legte sich eine Patience. – Jetzt war alles still und tot im Salon.

Das pulsierende Leben schien sich auf die übrigen Zimmer des Hauses verteilt zu haben. Elektrisches leises Klingeln zirpte bald oben, bald unten in den Stockwerken aus allen Gemächern wie eine rätselhafte, wortlose Verständigung.

– – – – »Gnädigste Frau Baronin,« sprach Schifferes treuherzig und wies mit dem zerbissenen Zeigefingernagel auf eine Zahlenreihe in dem Hauptbuche, das er vor die Poczerewska hingelegt hatte, »Sie kennen mich doch, ich bin e ehrlicher Mensch und kenn' mich in den Geschäft, wahrhaftigen Gott, aus, aber die Spesen sind heinte kaum mehr zun derschwingen. Was soll ich Ihnen sagen, der Herr Sittendoktor allein hat heier zehntausend Gulden mehr bezogen als im vorigen, und dabei is der Export um geschlagene dreißig Prozent zurückgegangen! Ich hab die stärksten Befürchtungen, Frau Baronin, ich sag's wie es is, Ihr werter Geschäftsanteil wird diesmal mit ein bedeintend geringern Gewinnsaldo abschließen. Ihnen gesagt, es war ein Pechjahr! – Was die schwitzigen Monate z. B. waren, – bitte, überzeungen Sie sich selbst – – –«

Die Baronin schnitt ein gereiztes Gesicht und stieß das Buch heftig zurück. »Das schrieben Sie uns bisher jedes Jahr, – immer dieselbe Litanei. Der Sittenarzt müßte doch schon Großgrundbesitzer sein – –« »Is er auch,« warf Schifferes ein – –. »Kommen Sie uns nur ja nicht etwa mit der faulen Ausrede, die ›Liga zur Bekämpfung usw.‹ gäbe so viel zu schaffen oder hätte hemmend auf das Geschäft gewirkt; jetzt, wo ich selbst Komiteedame bin, lasse ich mir keine Bären mehr aufbinden. – Übrigens, lassen wir das, soll sich mein Mann selbst um die Abrechnung kümmern; – deswegen bin ich auch nicht hergekommen; sagen Sie mir lieber, wie steht die Angelegenheit mit der Karen Holmsen!?«

Schifferes kämpfte den Glanz triumphierender Befriedigung in seinen Mienen nieder. Selbstgefällig warf er sich in die Brust. »Sie kennen doch Schifferes! Gnädigste werden zufrieden sein. Alles ist aufs beste vorbereintet.«

Er sah sich scheu um, beugte sich nieder und flüsterte der Poczerewska ins Ohr: » Der Herr Sittenarzt hat sich selbst bemüht!«

Madame Schifferes nickte bestätigend und erging sich in einem Schwall von Beteuerungen, wie unendlich schwer und vor allem kostspielig es diesmal gewesen sei, den heiklen Auftrag gefahrlos durchzuführen.

Die Baronin hörte nur mit halbem Ohr hin. Ihre Aufmerksamkeit war wieder auf den Wandspiegel gerichtet, in dem sie einen Vorgang nebenan neugierig verfolgte.

Mehrere der Damen waren bereits wieder in den Salon zurückgekehrt und Ella, die Haushälterin, hatte alle Hände voll zu tun, Getränke für die neuen Besucher zu bringen und auf die Tische zu stellen. Es ging jetzt weniger steif zu und die meisten Mädchen – die Kroatin hatte sich kummervoll in die Ecke gedrückt – saßen in fröhlicher Laune den Gästen auf dem Schoß – in allen Ehren natürlich –, tranken Limonade und rauchten Zigaretten.

Aller Blicke hingen heimlich an einem dicken Viehhändler, der in ordinärem Landanzug, ein silbernes Pferd und einen baumelnden Klumpen Schweinszähne an der Weste, breit hingeflackt in einem der Sammetfauteuils saß und mit seinen haarigen Fäusten bestrebt war, die zarte Ida mit dem schmachtenden Madonnengesichtchen an sich zu ziehen.

Sein rotes, finniges Gesicht schwitzte vor Eifer und über den schmalen, schmierigen Kragen mit dem spitzigen Beinknopf quoll in Speckfalten der feiste Nacken.

Endlich hatte er das Mädchen an den Handgelenken erwischt und zog die sich heftig Sträubende auf seine Kniee, gereizt und halblaut in sie hinein schimpfend.

Verhaltenes Kichern tönte vom Sofa her. Mit einem Satz war Fritzka bei dem Patriarchen und flüsterte ihm etwas ins Ohr; – sofort schlug der Rakoczimarsch in ein bekanntes Couplet um und anzüglich fiel die ganze Mädchenschar in den Refrain ein:

»Der Herr Sim-pli-zi, der liebt in-nig
Die schöne Ida vom Bal–lett,
Dododoch sie war ei-gen-sin-nig,
Denn ihr ist lie-ber ein Ka-dett.«

Voll Zorn riß sich Ida los und lief hinaus. Ein ungeheures Gelächter brach los. Der Viehhändler wurde dunkelblau im Gesicht, – wutentbrannt stürzte er hinter dem Mädchen her und brüllte nach der Madame.

Ehe er noch die Türe erreichen konnte, hörte man bereits draußen das Klatschen von Ohrfeigen, das Wimmern Idas und die schrillende Stimme der Schifferes.

»Mistviech verfluchtes. Natürlich grad was die nobelsten Stammgäste sind, möcht' sie mir vertreiben.« – Wieder klatschte eine Ohrfeige. – »Einen Geliebten haben, einen Gigerl, das passet ihr so! Was ein ordentliches G'schäftsmädel bei mir is, hat keinen Geliebten nicht! – Verstanden! Aber so eine Dürne, so eine elendige, hat halt kein Schamgefühl nicht – –«

Das donnernde Geräusch im Carrière über das Straßenpflaster jagender Pferdehufe erscholl von unten her und schnitt ihr Gekeif ab.

»Eine Equipasch',« stieß Schifferes erregt hervor und stürzte aus dem kleinen Zimmer.

Wie Schafe zusammengedrängt standen im Augenblick die Mädchen in der offenen Salontüre und horchten mit vorgestreckten Hälsen ebenfalls die Treppe hinab.

Richtig, der Wagen hielt vor dem Tore.

Ein heftiges Klingelreißen.

Das Knallen zurückfahrender Riegel.

Schifferes beugte sich weit über das Stiegengeländer und – zuckte zusammen.

»Der Herr Zentralgüterdirektor,« zischte er, »haltet 's die Tür zu, daß kei' Gast 'erausschaut.«

Lähmendes Entsetzen malte sich plötzlich in den Gesichtern der Mädchen; instinktiv machten einige den Versuch, zurück in den Salon zu fliehen, andere lehnten sich zitternd, – halb ohnmächtig – an die Wand.

Unten hörte man jetzt eine schnarrende Männerstimme halblaut Worte mit der Türsteherin wechseln, dann gellte »Elis'« hinauf:

»Sletschna Sletschna, (böhmisch) – Fräulein. Viktora, Sletschna Viktora!«

– – – »Eiskugerl,« rang sich ein Stoßseufzer der Erleichterung von den Lippen der Mädchen, – »Eiskugerl!«

Eiskugerl – der Spitzname der Kroatin!

Im Nu waren alle in den Salon zurückgefahren, die Türe vor der in Entsetzen aufstöhnenden »Viktora« erbarmungslos zudrückend.

Verzweifelt, die Lippen fahl wie eine Leiche, zerkratzte sich die Unglückliche die Finger an dem Holz, fuhr dann plötzlich mit den Armen in der Luft herum, als wolle sie – von Sinnen wie ein gemartertes Tier – die Wand hinaufklettern, um zu entkommen.

Dann warf sie sich vor Schifferes auf die Kniee. Die Augen standen ihr vor namenlosem Grauen weit offen, und unfähig, auch nur eine Silbe hervorzubringen, stieß sie ein röchelndes Gurgeln aus, die Hände flehentlich gefaltet.

Schifferes riß sie – außer sich vor Wut – an einem Arm in die Höhe und schleuderte sie stumm an die Wand. Blitzschnell verschwand er in dem Schatten einer Seitentür und tauchte im nächsten Augenblick, – wohl mit dem ersten besten Gegenstand, der ihm in die Hand gefallen: – einer ungeheuren Beißzange – wieder auf.

– – – Den Mantelkragen hochgeschlagen, das Taschentuch, um nicht erkannt zu werden vor dem Mund, wurde der Besuch soeben an dem Geländer sichtbar.

Die Kroatin wehrte sich nicht mehr, – mit schlotternden Knieen wankte sie, dem »Gast« voraus – die Treppe in das zweite Stockwerk hinauf.

Schifferes stand wie erstarrt in tiefster Verbeugung. Erst als die Schritte oben verhallten, richtete er sich mit verklärter Miene auf.

Die Beißzange warf er befriedigt in die Kammer zurück und wollte in das kleine Beobachtungszimmer zurückkehren, da kam ihm schon die Baronin entgegen.

Sie war ängstlich und erregt.

»Schifferes, was ist hier vorgegangen?! Ich habe jemand stöhnen hören! – Was ist geschehen?! Ihre Frau und die Haushälterin wollen nicht mit der Sprache heraus. – – Sie haben die Kroatin geschlagen! – Sagen Sie es! Ich will es wissen. Hören Sie?! – Ich sehe es Ihnen an, es ist etwas vorgefallen!«

Schifferes drängte sich barsch in das Zimmer zurück.

»Das verstehen Sie nicht! Das sind so Sachen!« Seine Stimme bebte ein wenig. Er sah seine Frau an und setzte stolz hinzu: »Kühn muß man sein!«

Madame Schifferes zuckte die Achseln.

»Ich seh' gar nicht ein, weshalb es so einem kroatischen Bauermensch nicht auch einmal gut gehen soll,« meinte sie unsicher. »Übrigens, wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen; – barmherzige Raseure machen faule Wunden.«

Die Baronin überfiel es mit einem Schlage wie Furcht und Alpdrücken. – Wohl ahnte sie gut, was sich soeben draußen mochte abgespielt haben, Sentimentalität aber war ihre schwache Seite nicht. Sie hatte sich im Leben zuviel Übung angeeignet, um nicht der eigenen Nervenschonung wegen im richtigen Moment wegsehen, die Augen schließen oder schnell an etwas anderes denken zu können.

Tatsachen allein konnten es also nicht sein, die plötzlich diese schreckhafte angstempfindende Stelle in ihrem Innern bloßgelegt hatten!

Sie fühlte dumpf, daß das Grauenhafte, das sie jetzt umfing, mit den Sprichworten des Ehepaares Schifferes seinen Eingang gefunden hatte, – vielleicht schon eine Sekunde früher aus den Abgründen des Unwägbaren, Unbestimmten emporgestiegen war.

Es lag etwas in der Luft wie die stumme Anwesenheit eines gespenstischen Geschöpfes voll lauernder, todbringender Bosheit. Jenes Wehen einer lautlosen Grausamkeit, die sich nicht mehr in die Gußformen des Gedankens zwängen läßt, – erfüllt ist von den Zeichen des Raubfischartigen, Mongolenhaften einer unsichtbaren Welt.

Schärfer kam der Poczerewska wieder der Hausgeruch nach Puder und Ailanthus zum Bewußtsein. Umsonst bemühte sie sich aus ihm, wie früher, wollüstige Erregung zu ziehen und den Alpdruck noch als Steigerungsmittel zu verwerten.

Ihre oft erprobte alchimistische Kunst im Umformen von Seelenvorgängen ließ sie im Stich.

Die schreckhafte Stelle in ihrem Innern wuchs wie zu einem Munde, der eine Flut drosselnder Ahnungen voll Hoffnungslosigkeit aushauchte.

Das Gefühl des Näher-und-näher-Schleichens eines Würgengels, eines unentrinnbaren Verhängnisses lähmte sie. – – –

Jetzt, jetzt mußte es hereintreten, – körperlich werden! Der anwesende Unsichtbare ist nur sein Vorbote, fühlte sie den Mund raunen. –

– Da! – Was war das! Mit einem Ruck schüttelte die Poczerewska ihren Schwächezustand ab und starrte entsetzt an die Wand.

Die große chinesische Porzellanpagode gegenüber auf dem Bort wackelte plötzlich heftig mit dem Kopf und bewegte Zunge und Augen; – ein Glöckchen begann silbern zu läuten.

Schifferes sprang auf: »Der Herr Sittenarzt!«

Die Baronin atmete erleichtert auf. Sie verstand: – ein elektrisches Uhrwerk meldete nur jemandes Kommen, der einen andern Weg in das Haus nahm, als gewöhnliche Besucher. Trotzdem kam keine Ruhe in ihrem Innern auf.

Ein Bild, das falsches Papiergeld aller Zeiten hinter Glas zu einem Stern geordnet zeigte, wurde zur Seite geschoben; – eine Tapetentür öffnete sich.

Der Herr Sittenarzt trat ein.

Er machte der Baronin eine tiefe Verbeugung, ohne sich vorzustellen.

Die Madame brach in Schnattern aus, wollte Champagner holen, einen Sessel herbeiziehen, ihm den Mantel abnehmen. Der Herr Sittenarzt wich schnell zurück, wichtig- und besorgttuend, wie jemand, der stets ein Attentat abzuwehren gewärtig ist.

Er mußte dabei irgend ein Zeichen gegeben haben, denn Schifferes und seine Frau verließen sofort und unvermittelt das Zimmer, die Türe hinter sich schließend.

Der Sittenarzt zwickte die Lider zusammen und zog die Oberlippe hoch. – Sein graues Gesicht bekam dadurch einen erschreckenden, drohenden Ausdruck.

Er setzte sich dicht vor die Poczerewska und starrte ihr in die Augen.

Zärtlich legte er dann seine Hand auf die ihre. Seine Stimme klang fast liebevoll, wie die eines milden Arztes.

»Das Mutterherz scheut keinen Weg, – Frau Baronin haben eine beschwerliche Reise unternommen. – Haben Sie mir auch ihr Bild mitgebracht, das Ihr Herr Gemahl mir längst versprochen?«

Die Poczerewska fühlte ein eisiges Unbehagen und wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte keine Waffe und kannte kein System der Abwehr gegenüber diesem fremdartigen, absichtlich komödiantenhaften Benehmen, das jede Fassung und jeglichen natürlichen Instinkt mit einem Schlage im Keime erstickte.

Der Sittenarzt änderte wieder sein Mienenspiel. Er wurde sachlich.

»Ihrem Wunsche gemäß habe ich alles veranlaßt und die Angelegenheit bis heute persönlich geleitet. – Fräulein Karen Holmsen ist in Gesellschaft von Tatjana Lewska, vulgo Regina Lewi, bereits im Automobil unterwegs und wird morgen in Prag eintreffen.«

Die Baronin sah ihn verständnislos an:

»Und dann?«

»Nun, dann wird sie sofort verhaftet.«

»Ja, auf Grund welcher Beschuldigung denn?«

»Nun, auf Grund irgend einer anonymen Anzeige, wegen unsittlichen Lebenswandels zum Beispiel.«

»Und das wird genügen, sie hierher zu schaffen? – wird man sie hier auch festhalten können?«

Der Sittenarzt lächelte zerstreut:

»Sie wird gern und freudig hier bleiben, – Schifferes wird ihr anfangs an die Hand gehen und überhaupt ihre Erziehung leiten.«

Er starrte plötzlich wieder der Poczerewska in die Augen und zog die Oberlippe empor. – Seine Worte klangen drohend und gefährlich:

»Sie wird ohne Widerrede nach und nach tun, was ihr gesagt wird, – lieber, als nach – – Rußland gehen.«

Die Baronin fuhr zusammen.

»Nach Rußland? – Wie kann sie denn gegen ihren Willen als Ausländerin nach Rußland geschickt werden; – – und – und was hätte sie in Rußland zu fürchten?«

– »Nun, kann sie denn bei einer Ausweisung von hier nicht – – irrtümlicherweise statt nach Deutschland nach – Rußland unter Bedeckung begleitet werden? – – Sie hat keine Papiere bei sich, – man kann sie leicht mit der Lewska vertauschen, die ja Polin ist. – – Und was dann geschieht? Drüben? – – Seit gestern ist sie doch – ›Mitglied‹; – die Lewska hat sie dazu verleitet. Verstehen Sie?: ›Mitglied‹; – sie auch

Die Baronin war weiß bis in die Lippen geworden. Nur Ruhe, nur Ruhe, sagte sie sich vor bei jedem Herzschlag. Er weiß es nicht, er kann es doch nicht wissen.

Der Sittenarzt legte ihr wieder liebevoll die Hand auf den Arm.

»Haben Sie keine Angst, Frau Baronin, ich weiß offiziell nichts von Ihnen. – Es war aber sehr sehr unvorsichtig von Ihnen, jemals ›Mitglied‹ zu werden. Gut. – Daran ist nichts mehr zu ändern. – – Sehen Sie nun ein, daß ich Ihr väterlicher Freund bin?« –

Er stand auf und verbiß ein Lachen.

»Und in den nächsten Tagen auf Wiedersehen!«

Die Poczerewska machte eine nervöse abwehrende Bewegung mit den Händen. Sie war einer Ohnmacht nahe.

»Nein, nein, Baronin, abreisen dürfen Sie jetzt nicht, – nicht einmal das Haus verlassen. Denken Sie nur, was geschähe, wenn es herauskäme, daß Sie auch russisches ›Mitglied‹ sind und Sie wären nicht in Sicherheit! – Das könnte ich vor meinem Gewissen und Ihrem Gatten niemals verantworten. Und hier sind Sie in Sicherheit! – In vollkommener Sicherheit! – Ich werde Schifferes noch dringendst ans Herz legen, daß er Sie gegen Ihren eigenen unvorbedachten Willen in Schutz nimmt und Sie mit keinem Schritt vors Tor läßt. – Das anstoßende kleine Nebenhaus hat einen Flügel, den Sie von diesem Zimmer aus betreten können und der den Ansprüchen auch des verwöhntesten Geschmackes entspricht.« – – – – –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –– –

Der Herr Sittenarzt war lange gegangen und noch immer saß die Poczerewska wie gelähmt in ihrem Sessel.

Wie im Traume hörte sie nebenan den Patriarchen spielen:

»Sah ein Knahab ein Röslein stehen,« – hörte die schweren Tritte des Viehhändlers aus dem zweiten Stock herabkommen und die Stimme der Madame Schifferes ihn flötend umschmeicheln: »Nu, Herr Baron, wie hat Ihnen gefallen die Erregung des schönen Kindes?«


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