Gustav Meyrink
Der weiße Dominikaner
Gustav Meyrink

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Die Bank im Garten

In der Stadt geht das Gerücht, der Drechslermeister Mutschelknaus sei wahnsinnig geworden.

Frau Aglajas Miene ist kummervoll. Frühmorgens geht sie mit einem kleinen Handkörbchen auf den Markt selber einkaufen, denn ihre Bedienerin hat sie entlassen. Von Tag zu Tag wird ihr Kleid schmutziger und verwahrloster; die Absätze ihrer Schuhe sind abgetreten. Wie jemand, der vor Sorgen nicht mehr aus und ein weiß, bleibt sie auf der Straße zuweilen stehen und spricht halblaut mit sich selbst.

Wenn ich ihr begegne, blickt sie weg, oder erkennt sie mich nicht mehr? Den Leuten, die sie nach ihrer Tochter fragen, sagt sie kurz und mürrisch: sie ist in Amerika.

Der Spätsommer, der Herbst und der Winter sind vergangen, und ich habe den Drechslermeister nicht ein einzigesmal mehr zu Gesicht bekommen. Ich weiß nicht mehr, ob Jahre seitdem verflossen sind, ob die Zeit stillstand oder ob ein einziger Winter mir so unendlich lang schien? –

Ich fühle nur: es muß wieder Frühling sein, denn die Luft ist schwer vom Dufte der Dolden, die Wege sind beschneit von Blüten nach den Gewittern, die jungen Mädchen haben weiße Kleider und Blumen im Haar.

Es ist ein Singen in der Luft.

Über die Ufermauern hängen die Zweige wilder Kletterrosen bis ins Wasser hinab, und der Fluß trägt den zarten, blaßroten Schaum ihrer Sträuße spielend von Quader zu Quader bis zu den Pfeilern der Brücke, wo er die morschen Stämme schmückt, daß sie aussehen, als trieben sie neues Leben.

Im Garten, der Rasen vor der Bank leuchtet wie ein Smaragd.

Oft, wenn ich hingehe, sehe ich an allerlei winzigen Veränderungen, daß jemand vor mir dort gewesen sein muß; einmal liegen kleine Steinchen auf der Bank, in Kreuzform oder in Kreise gelegt, als habe ein Kind mit ihnen gespielt, dann wieder sind Blumen umhergestreut.

Eines Abends, als ich durch den Durchlaß ging, kam mir der alte Drechslermeister vom Gärtchen her entgegen und ich erriet, daß er es sein mußte, der auf der Bank, wenn ich fort war, zu sitzen pflegte.

Ich grüßte, aber er schien mich nicht zu bemerken, obgleich sein Arm den meinen streifte.

Er blickte, ein frohes Lächeln im Gesicht, geistesabwesend vor sich hin.

Bald darauf ergab es sich, daß wir uns im Gärtchen trafen. Er setzte sich stumm neben mich und fing an, mit seinem Stock den Namen Ophelia in den weißen Sandstreifen zu zeichnen.

So saßen wir eine lange Zeit, und ich war sehr verwundert; dann fing er mit einem Male leise an zu murmeln, anfangs so, als spräche er mit sich selbst oder mit jemand Unsichtbarem; allmählich erst wurden seine Worte mir verständlich:

"Ich bin froh, daß nur du und ich herkommen! Es ist gut, daß niemand von dieser Bank weiß?"

Ich horchte erstaunt auf. Er nannte mich du? –

Verwechselte er mich mit einem andern? Oder war sein Geist verwirrt? Hatte er vergessen, mit welch unnatürlicher Devotheit er früher mit mir verkehrt hatte? Was wollte er mit seinen Worten sagen: "Es ist gut, daß niemand von dieser Bank weiß?"

Die Nähe Ophelias wurde mir plötzlich so deutlich, als sei sie vor uns hingetreten.

Auch den Alten ergriff es, denn er hob schnell den Kopf, und ein Strahl des Glücks leuchtete in seinen Mienen auf.

"Weißt du, hier ist sie immer! Von hier begleitet sie mich ein Stück nach Haus und geht dann wieder zurück", murmelte er, "sie hat mir gesagt, sie wartet hier auf dich. Sie hat dich lieb, hat sie gesagt!" Er legte mir freundlich die Hand auf den Arm, sah mir lange glücklich in die Augen und setzte leise hinzu:

"Ich bin froh, daß sie dich lieb hat."

Ich wußte nicht gleich, was ich erwidern sollte; stockend bringe ich endlich heraus:

"Aber Ihre Tochter ist doch – ist doch in Amerika?"

Der Alte bringt seine Lippen dicht an mein Ohr und flüstert geheimnisvoll: "Pst! Nein! Das glauben nur die Leute und meine Frau. Sie ist gestorben! Aber das wissen nur wir zwei: du und ich! Sie hat mir gesagt, daß du es auch weißt: nicht einmal der Herr Paris weiß es" – er sieht mein Staunen, nickt und wiederholt eifrig: "Ja, sie ist gestorben! Aber sie ist nicht tot; der Sohn Gottes, der weiße Dominikaner, hat sich unser erbarmt, daß sie bei uns sein darf!"

Ich verstehe, daß der seltsame geistige Zustand, den die wilden Völker den heiligen Wahnsinn nennen, Besitz ergriffen hat von dem Alten. Er ist ein Kind geworden, spielt mit Steinchen wie ein Kind, spricht einfach und klar wie ein Kind, aber sein Denken ist Hellsehen.

"Wie ist es denn nur gekommen, daß Sie alles das erfahren haben?" fragte ich.

"Ich hab an der Drehbank gearbeitet in der Nacht", erzählt er, "da ist das Wasserrad plötzlich stillgestanden, und ich hab's nimmer in Bewegung setzen können. Dann bin ich am Tisch eingeschlafen. Im Traum hab' ich meine Ophelia gesehen. Sie hat gesagt: 'Vater, ich will nicht, daß du arbeitest. Ich bin tot. Der Strom weigert sich, das Wasserrad zu treiben, und so muß ich es tun, wenn du nicht aufhörst zu arbeiten. Hör auf, ich bitte dich! Sonst muß ich immer draußen am Fluß sein und kann nicht zu dir herein.' Wie ich dann aufgewacht bin, bin ich gleich, noch in der Nacht, in die Marienkirche gelaufen. Es war stockfinster und totenstill. Drin aber hat die Orgel gespielt. Ich hab' mir gedacht, die Kirche ist doch versperrt, man kann nicht hinein. Aber dann hab' ich mir gedacht, wenn ich daran zweifel, kann ich freilich nicht hinein, und hab' nicht mehr gezweifelt. Drin war's ganz dunkel, aber weil das Priesterkleid des Dominikaners so schneeweiß war, hab' ich alles sehen können von meinem Platz aus unter dem Standbild des Propheten Jonas. Ophelia hat neben mir gesessen und hat mir alles erklärt, was der Heilige, der große Weiße, gemacht hat.

Zuerst ist er vor dem Altar getreten und hat mit ausgebreiteten Armen wie ein großes Kreuz dort gestanden, und die Statuen aller Heiligen und Propheten haben es ihm nachgemacht, einer dem andern, bis die Kirche ganz voll war mit lauter lebendigen Kreuzen. Dann ist er zu dem gläsernen Reliquienschrein gegangen und hat etwas hineingelegt, das hat ausgesehen wie ein kleiner, schwarzer Kieselstein.

'Es ist dein armes Hirn, Vater', hat meine Tochter Ophelia gesagt; 'jetzt hat er es in seine Schatzkammer gesperrt, denn er will nicht, daß du es um meinetwillen noch länger zermarterst. Wenn du es dereinst zurückerhältst, wird es ein Edelstein sein.' Am nächsten Morgen hat's mich herausgetrieben, hierher zur Bank, aber ich hab' nicht gewußt, warum. Hier sehe ich Ophelia täglich. Immer erzählt sie mir, wie glücklich sie ist und wie schön es drüben ist im Land der Seligen. Mein Vater, der Sargtischler, ist auch dort, und er hat mir alles verziehen. Er ist mir nicht einmal bös, daß ich ihm als Bub den Leim hab' anbrennen lassen.

Wenn's im Paradies Abend wird, sagt sie, dann ist dort Theater, sagt sie, und die Engel schauen zu, wie sie die Ophelia spielt in dem Stück 'Der König von Dänemark' und am Schluß den Kronprinzen heiratet, und sie freuen sich alle, erzählt sie, daß sie es so gut kann. 'Das hab' ich nur dir zu danken, Vater', sagt sie immer, 'denn du hast mir ermöglicht, daß ich es auf Erden gelernt habe. Es war immer mein heißester Wunsch, Schauspielerin zu sein, und den hast du mir erfüllt, Vater.'

Der Alte verstummt und blickt verzückt in den Himmel.

Ein widerwärtig bitterer Geschmack tritt mir auf die Zunge. Lügen die Toten? Oder bildet er sich all das nur ein? Warum sagt ihm Ophelia nicht die Wahrheit in milder Form, wenn sie sich ihm doch mitteilen kann?

Der furchtbare Gedanke, daß das Reich der Lüge bis ins Jenseits reichen sollte, beginnt an meinem Herzen zu nagen.

Da kommt mir die Erkenntnis; die Nähe Ophelias ergreift mich so urgewaltig, daß ich plötzlich die Wahrheit erfasse und weiß: es ist nur ihr Bild, nicht sie selbst, das er sieht und das mit ihm spricht. Es ist eine Truggeburt seiner langgehegten Wünsche; sein Herz ist nicht kalt geworden wie das meine, darum sieht es die Wahrheit verzerrt.

"Die Toten können Wunder tun, wenn Gott es erlaubt", beginnt der Alte wieder; "Sie können Fleisch und Blut werden und unter uns wandeln. Glaubst du das?!" Er fragt es mit so fester Stimme, daß es fast drohend klingt.

"Ich halte nichts für unmöglich", gebe ich ausweichend zur Antwort.

Der Alte scheint befriedigt und schweigt. Dann sieht er auf und geht. Ohne Gruß.

Einen Augenblick später kehrt er wieder um, stellt sich vor mich und sagt:

"Nein, du glaubst es nicht! Ophelia will, daß du selbst siehst und glaubst. Komm!"

Er faßt meine Hand, als wolle er mich mit sich ziehen. Zögert. Horcht in die Luft, als lausche er einer Stimme. "Nein, nicht jetzt. Heute nacht" – murmelt er geistesabwesend vor sich hin; "warte hier heute nacht auf mich!"

Er geht.

Ich blicke ihm nach, wie er schwankend wie ein Betrunkener sich an der Mauer des Hauses entlang tastet.

Ich weiß nicht, was ich mir denken soll.


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