Gustav Meyrink
Der weiße Dominikaner
Gustav Meyrink

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Ophelia

Die Erinnerungen meines Lebens sind mir zu Kleinodien geworden; ich hole sie hervor aus den Wassertiefen der Vergangenheit, wenn die Stunde, sie zu betrachten, schlägt und ich eine Menschenhand, sie niederzuschreiben, gefunden habe, die sich mir willfährig zeigt.

Dann, wenn sich Wort an Wort reiht und ich ihnen lausche wie der Rede eines Erzählers, ist mir's als glitten sie, zugleich ein Spiel mit funkelnden Juwelen geworden, durch meine liebkosenden Finger, und Vergangenheit wird wieder Gegenwart.

Schimmernd sind sie alle für mich, die blinden wie die leuchtenden, die dunklen und die hellen; ich kann sie betrachten mit lächelndem Sinn; – bin ich doch für immer "losgelöst mit Leichnam und Schwert".

Aber ein Edelmann ist unter ihnen, über den habe ich nur zitternde Gewalt.

Nicht wie mit den andern kann ich mit ihm spielen; die süße, betörende Macht der Mutter Erde geht von ihm aus und zielt nach meinem Herzen.

Er ist wie der Edelstein Alexandrit, der dunkelgrün am Tage, plötzlich rot erglüht, wenn du in stiller Nacht in seine Tiefe starrst.

Als Tropfen Herzblut zu Kristall geronnen, trage ich ihn bei mir, stets voll Bangigkeit, er möchte wieder flüssig werden und mich versengen, erwärmte ich ihn zu lange in meiner Brust.

Darum habe ich die Erinnerung an die Spanne Zeit, die für mich Ophelia heißt und einen kurzen Frühling und einen langen Herbst bedeutet, gleichsam in eine gläserne Kugel gebannt, darinnen verschlossen der Knabe, halb Kind halb Jüngling, lebt, der ich einst gewesen war.

Ich sehe durch die Wandung des Glases hindurch mich selbst; aber es ist ein Bild wie in einem Guckkasten – es kann mich nicht mehr verstricken mit seinem Zauber.

Und so wie dieses Bild vor mir steht, in dem Glase erwacht, sich wandelt und erlischt, will ich – ein abgeschiedener Berichterstatter – es schildern.

Alle Fenster in der Stadt stehen offen, die Simse sind rot von den blühenden Geranien; weißer, lebendiger, duftender Frühlingskerzenschmuck blüht auf den Kastanienbäumen, die die Ufer des Flusses umsäumen.

Laue, unbewegliche Luft unter dem blaßblauen, wolkenlosen Himmel. Die gelben Zitronenfalter und bunten Schmetterlinge flattern über den Wiesen, als spiele ein leiser Wind mit tausend bunten Fetzen Seidenpapiers.

In den hellen Mondnächten glühen die Augen der fauchenden und in Liebespein schreienden und miauenden Katzen auf den silberglitzernden Dächern.

Ich sitze im Treppenhaus auf dem Geländer und horche hinüber zum offenen Fenster des dritten Stockes, wo hinter Gardinen, die mir den Anblick des Zimmers verhüllen, zwei Stimmen, eine tiefe, pathetische, männliche, die ich hasse, und die leise, schüchterne eines Mädchens ein seltsames, mir unverständliches Gespräch führen:

"Soin oder nicht soin, das ist hier die Frage. O Nümpfe, schlüß in dein Gebet all meine Sünden ein."

"Mein Prinz, wie geht es Euch seit soviel Tagen?" haucht die schüchterne Stimme.

"Göh in ein Kloster, Ophelia!"

Ich bin sehr gespannt, was weiter kommt, aber plötzlich verfällt die männliche Stimme ohne mir erkennbaren Grund, als habe sich der Sprecher in ein Uhrwerk verwandelt, dessen Feder abschnurrt, in ein halblautes, sich überstürzendes Geschnatter, aus dem ich nur wenige sinnlose Sätze auffischen kann: "Warum wolltest du die Kinder zur Welt bringen, ich bin selbst leidlich tugendhaft; wenn du heiratest, so gebe ich dir diesen Fluch zur Aussteuer; sei so keusch wie Eis, so rein wie Schnee oder nimm einen Narren zum Mann, und das schleunig, leb' wohl!"

Worauf die Mädchenstimme schüchtern antwortet:

"Oh, welch ein edler Geist ist hier zerstört! Himmlische Mächte, stellt ihn wieder her."

Dann schwiegen beide, und ich hörte ein dünnes Händeklatschen.

Nach einer halben Stunde Totenstille, während welcher ferner Bratengeruch aus dem Fenster dringt, fliegt gewöhnlich ein noch glimmender, zerkauter Zigarrenstummel zwischen den Gardinen hervor, prallt funkenstiebend von der Mauer unseres Hauses ab und fällt hinunter auf das Pflaster des Durchlasses.

Bis zum späten Nachmittag sitze ich und starre hinüber.

Jedesmal klopft mir das Herz vor freudigem Schreck, wenn sich die Vorhänge bewegen: Wird Ophelia ans Fenster kommen? Was, wenn sie es wirklich ist, soll ich dann aus meinem Versteck auftauchen?

Ich habe eine rote Rose gepflückt; werde ich mich getrauen, sie ihr hinüberzuwerfen? Ich müßte doch etwas dazu sagen? Was nur?

Aber es kommt nicht dazu.

Die Rose in meiner heißen Hand fängt an welk zu werden, und drüben ist noch immer alles wie ausgestorben. Nur der Geruch von gebranntem Kaffee hat den Bratengeruch abgelöst ...

Da endlich: Frauenhände schieben die Gardinen zur Seite. Einen Augenblick dreht sich alles vor mir, dann beiße ich die Zähne zusammen und werfe entschlossen die Rose in das offene Fenster hinein. Ein leiser Aufschrei der Überraschung und – Frau Aglaja Mutschelknaus steht im Rahmen.

Ich kann nicht so schnell untertauchen; sie hat mich bereits entdeckt.

Ich werde blaß, denn jetzt ist alles verraten!

Doch das Schicksal will es anders. Frau Mutschelknaus zieht süßlich die Mundwinkel in die Höhe, legt die Rose auf ihren Busen wie auf ein Postament und schlägt verwirrt die Augen nieder; dann, als sie sie seelenvoll wieder aufschlägt und erkennt, daß nur ich es war, verzerrt sich ihr Gesicht ein wenig. Aber sie dankt mir durch ein Neigen des Hauptes und entblößt dabei freundlich einen Eckzahn.

Mir wird, als habe mich ein Totenkopf angelächelt; dennoch bin ich froh! Wenn sie erraten hätte, wem die Blume gegolten hat, wäre ja alles aus gewesen! Eine Stunde später freue ich mich sogar, daß alles so gekommen ist. kann ich doch von jetzt an ruhig wagen, jeden Morgen Ophelia einen ganzen Strauß aufs Fenstersims zu legen; ihre Mutter wird es ja nur auf sich beziehen.

Vielleicht wird sie glauben, die Blumen kämen von meinem Pflegevater, dem Baron Jöcher!

Ja, ja, das Leben macht klug.

Einen Moment lang habe ich einen häßlichen Geschmack im Mund, als habe mich der heimtückische Gedanke vergiftet, doch zugleich darauf ist es wieder weg, und ich lege mir zurecht, ob es nicht am gescheitesten wäre, ich ginge sofort auf den Friedhof, neue Rosen stehlen. Später kommen Leute hin, um auf den Gräbern zu beten, und abends sind die Gitter geschlossen.

Unten auf der Bäckerzeile begegne ich dem Schauspieler Paris, wie er mit knarrenden Stiefeln aus dem Durchlaß kommt.

Er weiß, wer ich bin, das sehe ich ihm an.

Er ist ein dicker, alter, glattrasierter Herr mit Hängebacken und einer Schnapsnase, die ihm bei jedem Schritt zittert.

Er hat ein Barett auf, eine Nadel mit silbernem Lorbeerkranz in der Halsbinde und auf dem Schmerbauch eine Uhrkette, aus blonden Frauenhaaren geflochten. Sein Rock und seine Weste sind aus braunem Sammet; seine flaschengrünen Hosen schließen ganz eng um die dünnen Beine und sind so lang, daß sie unten lauter Falten haben wie eine Ziehharmonika.

Ob er errät, daß ich auf den Friedhof gehe? Und warum ich dort Rosen stehlen will? Und für wen? Ach was, was weiß doch nur ich allein! Ich blicke ihm trotzig ins Gesicht, grüße ihn absichtlich nicht, aber mir stockt der Herzschlag, als ich bemerke, daß er mich unter halbgeschlossenen Lidern fest, beinahe lauernd anschaut, stehen bleibt, nachdenklich an seiner Zigarre saugt und dann die Augen schließt, wie jemand, dem ein sonderbarer Einfall gekommen ist.

Ich gehe so schnell wie möglich an ihm vorbei, da höre ich ihn laut und unnatürlich hinter mir räuspern, als wolle er beginnen, eine Rolle zu deklamieren: "Hem-m-, -mhm, hemm."

Mich packt ein eiskalter Schreck, und ich fange an zu laufen – ich kann nicht anders, ich muß! Trotzdem mir eine Ahnung sagt: Tu's nicht! Du verrätst dich selber!

Ich habe in der Morgendämmerung die Laternen ausgelöscht und mich wieder auf das Geländer gesetzt, obwohl ich weiß, es werden Stunden vergehen, bis Ophelia kommt und drüben das Fenster öffnet. Aber ich fürchte mich, ich könnte verschlafen, wenn ich mich statt zu warten nochmals ins Bett lege.

Ich habe ihr drei weiße Rosen aufs Brett gelegt und war so aufgeregt gewesen, daß ich dabei fast den Durchlaß hinabgestürzt wäre.

Jetzt spiele ich mit dem Gedanken, ich läge unten mit zerschmetterten Gliedern, man trüge mich ins Zimmer, Ophelia erführe es, erriete den Zusammenhang, käme an mein Krankenlager und küßte mich voll Rührung und Liebe.

So rede ich mich in einen kindlich sentimentalen Traum hinein: dann wieder schäme ich mich und werde innerlich rot, daß ich so albern bin; aber die Vorstellung, Ophelias wegen Schmerzen zu leiden, ist mir so süß.

Gewaltsam reiße ich mich los von dem Bild: Ophelia ist neunzehn Jahre und eine junge Dame, und ich bin nur siebzehn; obwohl ich ein wenig größer bin als sie. Sie würde mich nur küssen, wie man ein Kind küßt, das sich verletzt hat. Und ich will doch ein erwachsener Mann sein, und für einen solchen ziemt es sich nicht, hilflos im Bett zu liegen und sich von ihr pflegen zu lassen. Es ist knabenhaft und weibisch!

So träume ich mir ein anderes Phantasiegebilde zurecht: es ist Nacht, die Stadt schläft, da fällt Feuerschein in mein Fenster, ein Schrei läuft plötzlich durch die Straßen: das Nachbarhaus steht in Flammen! Keine Rettung ist mehr möglich, denn herabfallende glimmende Balken versperren die Bäckerzeile.

Drüben im Zimmer brennen die Gardinen lichterloh; aber ich springe hinüber aus dem Fenster unseres Treppenhauses und rette meine bewußtlose Geliebte, die halberstickt, wie tot, auf dem Boden liegt im Nachtgewand, aus Glut und Rauch.

Das Herz klopft mir bis zum Zerspringen vor Freude und Begeisterung: ich fühle ihre bloßen Arme um meinen Hals gelegt, wie ich sie, die Ohnmächtige, in meinen Armen trage, und die Kühle ihrer regungslosen Lippen, wie ich sie mit Küssen bedecke. So lebhaft stelle ich mir alles vor.

Immer wieder und wieder von neuem wandert das Bild durch mein Blut, als habe in all seinen betörend süßen Einzelheiten es ein Kreislauf mitgerissen, so daß ich nie mehr davon werde loskommen können. Ich freue mich, daß ich heute nacht wirklich und lebendig davon träumen werde. Aber wie weit ist noch bis dahin!

Ich beugte mich aus dem Fenster und spähe nach dem Himmel: es will nicht Morgen werden. Ein ganzer langer Tag trennt mich noch von der Nacht. Fast fürchte ich mich davor, daß der Morgen früher kommen muß als die Nacht, denn er kann mir ja alles zerstören, worauf ich hoffe! Die Rosen können herunterfallen, wenn Ophelia das Fenster öffnet, und sie sieht sie dann gar nicht. Oder sie sieht sie und – nimmt sie, was dann? Werde ich auch den Mut haben, mich sofort zu verstecken? Mir wird eisig kalt, denn ich weiß, ich werde bestimmt den Mut nicht haben. Aber ich tröste mich damit, daß sie erraten könnte, von wem die Rosen sind.

Sie muß es erraten! Es ist doch unmöglich, daß die heißen, sehnsuchtsvollen Gedanken der Liebe, die von meinem Herzen ausgehen, an dem ihrigen abprallen sollten, wenn sie auch stumm und schüchtern sind!

Ich schließe die Augen und stelle mir vor, so lebhaft ich es vermag, daß ich drüben an ihrem Bette stehe, mich über die Schlummernde beuge und sie küsse mit dem glühenden Wunsche, sie möge von mir träumen.

So deutlich habe ich mir alles ausgemalt, daß ich eine Weile lang gar nicht mehr weiß: bin ich eingeschlafen gewesen, oder was war mit mir? Ich hatte die drei weißen Rosen drüben auf dem Sims geistesabwesend angestarrt, bis sie in dem Dämmerlicht des Morgengrauens zerflossen waren. Jetzt sind sie wieder da, aber mich quält der Gedanke, daß ich sie auf dem Friedhofe gestohlen habe.

Warum habe ich denn nicht eine rote gestohlen? Die gehören dem Leben! Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Toter, wenn er aufwacht und es fehlten rote Rosen auf dem Grabe, sie zurückfordern würde.

Endlich ist die Sonne aufgegangen. Der Raum zwischen den beiden Häusern ist erfüllt vom Licht ihrer Strahlen; mir ist, als schwebten wir hoch über den Wolken der Erde, denn unten der Durchlaß ist unsichtbar geworden; er ist verschlungen von den Nebelschleiern, die der Morgenwind vom Fluß her durch die Gassen weht.

Eine helle Gestalt bewegt sich drüben im Zimmer – ich halte den Atem an in Bangigkeit – klammere mich fest mit beiden Händen am Treppengeländer, um nicht davonzulaufen.

Ophelia!

Ich traue mich lange nicht hinzusehen. Das scheußliche Gefühl, eine unsagbare Albernheit begangen zu haben, würgt mich. Der Glanz des Traumlandes ist wie weggewischt. Ich fühle: er wird nie mehr wiederkehren, und ich werde mich auf der Stelle in die Tiefe stürzen müssen oder sonst etwas Furchtbares begehen, um die schauderhafte Lächerlichkeit, die jetzt losbrechen muß, falls es so kommt, wie ich fürchte, noch im Keim zu ersticken.

Ich mache einen letzten dummen Versuch, mich vor mir selber zu retten, indem ich krampfhaft an meinem Ärmel reibe, als sei ein Fleck dort.

Dann begegnen sich unsere Augen.

Ophelias Gesicht ist wie mit Blut übergossen; ich sehe, wie ihre feinen, weißen Hände, die die Rosen halten, zittern.

Wir wollen beide etwas sagen und können nicht; jedes sieht, daß das andere sich nicht traut.

Einen Augenblick später ist Ophelia wieder verschwunden.

Ich bin ganz klein in mich zusammengekauert, wie ich so auf der Treppenstufe sitze, und weiß nur: statt meines Ichs wohnt jetzt eine bis zum Himmel lodernde Freude in mir. Eine Freude, die ein jubelndes Gebet des Nicht-mehr-sich-fassen-Wollens ist.

Kann es denn wirklich sein?

Ophelia ist doch eine junge erwachsene Dame! Und ich?

Aber nein! Sie ist so jung wie ich; ich sehe ihre Augen wieder im Geiste – deutlicher noch als vorher in der Wirklichkeit des Sonnenlichtes. Und ich lese darin: sie ist ein Kind wie ich. So wie sie kann nur ein Kind blicken! Kinder sind wir beide noch; sie fühlt es nicht, daß ich nur ein dummer Junge bin!

Ich weiß, so wahr in mir ein Herz schlägt, das sich ihretwegen in tausend Stücke zerreißen ließe, daß wir uns heute noch begegnen werden, ohne uns suchen zu müssen; ich weiß auch, daß es nach Sonnenuntergang in dem kleinen Gärtchen am Fluß vor unserem Hause sein wird, ohne daß eines dem andern es zu sagen brauchte!


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