Gustav Meyrink
Der weiße Dominikaner
Gustav Meyrink

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Christopher Taubenschlags erste Kundgebung

Solange ich denken kann, behaupten die Leute in der Stadt, ich hieße Taubenschlag.

Wenn ich als kleiner Junge mit einer langen Stange, an deren Spitze ein Docht brannte, in der Abenddämmerung von Haus zu Haus trabte und die Laternen anzündete, marschierten die Kinder der Gasse vor mir her, klatschten im Takt in die Hände und sangen: Taubenschlag, Taubenschlag, Taubenschlag, Trarara Taubenschlag.

Ich ärgerte mich nicht darüber, wenn ich auch selbst nie mitsang.

Später griffen die Erwachsenen den Namen auf und redeten mich mit ihm an, wenn sie etwas von mir wollten.

Anders steht es mit dem Namen Christopher. Er hing mir, auf einem Zettel geschrieben, am Halse, als man mich als Säugling, nackt, eines Morgens vor der Türe der Marienkirche liegen fand.

Den Zettel wird wohl meine Mutter geschrieben haben, als sie mich damals ausgesetzt.

Es ist das einzige, was sie mir mitgegeben hat. Darum habe ich von je den Namen Christopher als etwas Heiliges empfunden. Er hat sich mir in den Körper eingeprägt, und ich habe ihn wie einen Taufschein – ausgestellt im Reiche des Ewigen –, wie ein Dokument, das niemand rauben kann, durchs Leben getragen. Beständig wuchs und wuchs er wie ein Keim aus der Finsternis empor, bis er als der wieder erschien, der er von Anbeginn an gewesen, sich mit mir verschmolz und mich geleitete in die Welt der Unverweslichkeit. So, wie da geschrieben steht: es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich.

Jesus wurde als erwachsener Mensch bei vollem Bewußtsein dessen, was geschah, getauft: der Name, der sein Ich war, senkte sich auf die Erde herab; die Heutigen werden als Säuglinge getauft; wie könnte es sein, daß sie erfassen, was sich mit ihnen begeben hat! Sie irren durchs Leben dem Grabe zu wie Schwaden, die der Windhauch in den Sumpf zurücktreibt; ihre Leiber verfaulen, und an dem, der aufersteht – ihr Name –, haben sie kein Teil. Ich aber weiß, soweit ein Mensch von sich sagen darf, er wisse, daß ich Christopher heiße.

In der Stadt geht die Sage, ein Dominikanermönch, Raimund de Pennaforte, habe die Marienkirche gebaut aus Gaben, die ihm aus aller Herren Länder unbekannte Spender zugesandt.

Über dem Altar steht die Inschrift: "Flos florum – so werde ich offenbar nach dreihundert Jahren." Sie haben ein farbiges Brett darübergenagelt, aber es fällt immer wieder herab. Jedes Jahr am selben Marientag.

Es heißt, in gewissen Nächten am Neumond, wenn es so finster ist, daß man die Hand nicht vor Augen sieht, werfe die Kirche einen weißen Schatten auf den schwarzen Marktplatz. Das sei die Gestalt des weißen Dominikaners Pennaforte.

Wenn wir Kinder des Findel- und Waisenhauses zwölf Jahre alt wurden, mußten wir zum erstenmal zur Beichte gehen.

"Warum warst du nicht beichten?" herrschte mich am nächsten Morgen der Kaplan an.

"Ich war beichten, Hochwürden."

"Du lügst!"

Da erzählte ich, was sich begeben hatte: "Ich stand in der Kirche und wartete, daß man rufe, da winkte mir eine Hand, und als ich an die Beichtzelle trat, saß ein weißer Mönch darin und fragte mich dreimal, wie ich heiße. Beim erstenmal wußte ich es nicht, beim zweitenmal wußte ich es wohl, aber ich hatte es vergessen, ehe ich es aussprechen konnte; beim drittenmal trat mir kalter Schweiß auf die Stirn, und meine Zunge war lahm, ich konnte nicht reden, aber jemand in meiner Brust schrie: 'Christopher' – – Der weiße Mönch hat es wohl hören müssen, denn er schrieb den Namen in ein Buch und deutete darauf und hat gesagt: 'So bist du hinfort eingetragen in das Buch des Lebens.' Dann hat er mich gesegnet und hat gesagt: 'Ich vergebe dir deine Sünden – die vergangenen und die zukünftigen.'"

Bei meinen letzten Worten, die ich ganz leise gesprochen hatte, damit keiner meiner Kameraden sie hören sollte, denn ich fürchtete mich, trat der Kaplan wie in wildem Entsetzen einen Schritt zurück und schlug das Kreuz.

Noch in derselben Nacht geschah es zum erstenmal, daß ich auf unbegreifliche Weise das Haus verließ, ohne daß ich mir hätte erklären können, wie ich wieder heimgekommen bin.

Ich hatte mich entkleidet niedergelegt und erwachte des Morgens im Bette völlig angezogen und mit staubigen Stiefeln. In der Tasche hatte ich Bergblumen, die ich wohl auf dem Höhen gepflückt haben mußte.

So ging es später noch oft, bis die Vorsteher des Waisenhauses dahinter kamen und mich schlugen, weil ich nie sagen konnte, wo ich gewesen war.

Eines Tages wurde ich ins Kloster zum Kaplan gerufen. Er stand mit dem alten Herrn, der mich später an Kindes Statt annahm, mitten in der Stube, und ich erriet, daß sie über mein Wandern gesprochen hatten.

"Dein Körper ist noch zu unreif. Er darf nicht mitgehen. Ich werde dich anbinden", sagte der alte Herr, als er, mich an der Hand führend und bei jedem Satz seltsam nach Luft schnappend, seinem Hause zuschritt.

Mir bebte das Herz vor Angst, denn ich begriff nicht, was er meinte.

An der mit großen Nägeln verzierten eisernen Haustüre des alten Herrn stand in Metall gehämmert: Bartholomäus Freiherr von Jöcher, ehrenamtlich bestallter Laternenanzünder.

Ich verstand nicht, wieso ein Adliger ein Laternenanzünder sein könne; mir war, als ich es las, als falle all das kümmerliche Wissen, das sie mir in der Schule beigebracht, wie Papierfetzen von mir ab, so sehr zweifelte ich in jenem Augenblick daran, ich sei überhaupt fähig klar zu denken.

Später erfuhr ich, daß des Barons erster Ahnherr ein schlichter Laternenanzünder gewesen war, den man geadelt hatte wegen etwas, das er nicht weiß. Seitdem zeigt das Wappen derer von Jöcher neben anderen Emblemen eine Öllampe, eine Hand und einen Stab, und die Barone beziehen von Geschlecht zu Geschlecht alljährlich eine kleine Rente von der Stadt, gleichgültig, ob sie ihr Amt, die Laterne in den Straßen anzuzünden, ausüben oder nicht.

Schon tags darauf mußte ich auf das Geheiß des Barons das Amt antreten. "Deine Hand soll lernen, was später dein Geist ausüben wird", sagte er. "Es sei ein Beruf noch so gering, geadelt wird er, wenn dereinst der Geist ihn übernehmen kann. Eine Arbeit, die die Seele zu erben sich weigert, ist nicht wert, daß der Leib sie vollbringt."

Ich sah den alten Herrn an und schwieg, denn ich verstand damals noch nicht, was er meinte.

"Oder möchtest du lieber ein Kaufmann werden?" setzte er mit freundlichem Spott hinzu.

"Soll ich früh morgens die Laternen wieder auslöschen?" fragte ich schüchtern.

Der Baron streichelte mir die Wange: "Freilich, wenn die Sonne kommt, brauchen die Menschen kein anderes Licht."

Zuweilen, wenn der Baron mit mir sprach, hatte er eine merkwürdig verstohlene Art mich anzublicken; in seinen Augen schien die stumme Frage zu liegen: "Verstehst du endlich?", oder wollte er damit sagen: "Ich bin voll Unruhe, du könntest erraten haben?"

In solchen Fällen fühlte ich oft ein heißes Brennen in meiner Brust, als gäbe jene Stimme, die damals bei meiner Beichte vor dem weißen Mönch den Namen Christopher geschrieben hatte, eine mir unhörbare Antwort.

Der Baron war verunstaltet durch einen ungeheuren Kropf an der linken Seite, so daß der Kragen seines Rockes bis zur Schulter aufgeschnitten sein mußte, um den Hals an der Bewegung nicht zu hindern.

Nachts, wenn der Rock über den Lehnstuhl gehängt war und aussah wie der Rumpf eines Geköpften, flößte er mir oft ein unbeschreibliches Grauen ein; ich konnte mich nur davon befreien, wenn ich mir vorstellte, welch überaus liebenswürdiger Einfluß im Leben von dem Baron ausging. Trotz seinem Gebreste und dem beinahe lächerlichen Anblick, den es bot, wenn der graue Bart wie ein gesträubter Besen vom Kropf abstand, hatte mein Pflegevater etwas ungemein Feines und Zartes an sich, etwas hilflos Kindliches, ein Niemand-verletzen-Können, das noch gehoben wurde, wenn er sich zuweilen drohend gab und einen durch die scharfen Brenngläser seines altmodischen Nasenkneifers streng anblickte.

In solchen Momenten kam er mir immer vor wie eine große Elster, die sich dicht vor einen hinpflanzt, als wolle sie einen zum Kampfe herausfordern, derweilen ihr Auge, wachsam bis zum äußersten, kaum die Angst verhehlen kann: "Du wirst dich doch nicht etwa unterstehen, mich fangen zu wollen!?"

Das Haus derer von Jöcher, in dem ich so viele Jahre leben sollte, war eines der ältesten in der Stadt; es hatte viele Stockwerke, in denen die Vorfahren des Barons gehaust – immer ein Geschlecht ein Geschoß höher als das vorhergegangene, als sei ihre Sehnsucht, dem Himmel näher zu sein, immer größer geworden.

Ich kann mich nicht entsinnen, daß der Baron diese alten Räume, deren Gassenfenster blind und grau geworden waren, jemals betreten hätte; er wohnte mit mir in den paar schmucklosen, weiß getünchten Zimmern dicht unter dem flachen Dach.

Anderwo wachsen die Bäume auf der Erde und die Menschen schreiten darunter hin; bei uns wächst ein Holunderbaum mit weißen, duftenden Dolden hoch oben in einem großen verrosteten Eisenkessel, der, einst zur Regentraufe bestimmt gewesen, eine mit verfaultem, angewehtem Laub und Schutterde gefüllte Röhre hinab aufs Pflaster sendet.

Tief unten strömt ein breiter, wellenloser, von Gebirgswasser grauer Fluß dicht an den uralten, rosa-, ockergelb- und hellblaufarbigen, aus kahlen Fenstern blickenden Häusern hin, auf denen die Dächer sitzen wie moosgrüne Hüte ohne Krempen. Als ein Kreis umströmt er die Stadt, die darin liegt, inselgleich, von einer Wasserschlinge gefangen; er kommt von Süden, wendet sich nach Westen, kehrt wieder zum Süden zurück, dort nur mehr durch eine schmale Landzunge, auf der unser Haus als letztes steht, getrennt von der Stelle, wo er die Stadt zu umarmen begann, – um hinter einem grünen Hügel dem Blick zu entschwinden.

Über die braune, mit mannshohen Planken eingefaßte Holzbrücke – der Boden aus rohen rindigen Stämmen, die beben, wenn der Ochsenwagen darüberfährt – kann man hinübergelangen ans andere, ans bewaldete Ufer, wo Sandbrüche ins Wasser abfallen. Von unserem Dach aus sieht man über sie hinweg weit ins Wiesenland hinein, in dessen dunkelster Ferne die Berge wie Wolken schweben und die Wolken wie Berge auf der Erde lasten.

Mitten aus der Stadt ragt ein burgartiges, langgestrecktes Gebäude auf, zu nichts mehr gut oder schlimm, als die stechende Glut der Herbstsonne aufzufangen mit feuerglimmenden lidlosen Fenstern.

In dem Eierpflaster des immer menschenleeren Marktplatzes, darauf die großen Schirme der Händler in Haufen umgestürzter Körbe wie vergessenes Riesenspielzeug stehen, wächst Gras zwischen den Ritzen der Steine.

Bisweilen an Sonntagen, wenn die Hitze die Mauern des barocken Rathauses heiß sengt, dringen die gedämpften Klänge einer Blechmusik, getragen vom kühlen Lufthauch, aus der Erde herauf, – werden lauter, das Tor der Gastschenke "zur Post, genannt beim Fletzinger" gähnt plötzlich, ein Hochzeitszug marschiert gemessen zur Kirche in alter bunter Tracht, Burschen mit farbigen Bändern schwingen feierlich Kränze, voran ein Trupp Kinder, weit an der Spitze flink wie ein Wiesel trotz seiner Krücken ein winziger, zehnjähriger, vor Fröhlichkeit halbtoller Krüppel, als gehe nur ihn allein die Freude des Festes an, während alle andern unter dem Ernste der Feier stehen.

Als ich an jenem Abend um einzuschlafen bereits im Bette lag, ging die Türe auf, und wiederum packte mich eine unbestimmte Angst, denn der Baron trat zu mir, und ich glaubte, er wolle mich anbinden, wie er gedroht hatte.

Aber er sagte nur: "Ich will dich beten lehren; – sie alle wissen nicht, wie man betet. Man betet nicht mit Worten, man betet mit den Händen. Wer mit Worten betet, der bettelt. Man bettelt nicht. Der Geist weiß schon, was dir nötig ist. Wenn sich die Handflächen berühren, ist das Linke im Menschen durch das Rechte zur Kette geschlossen.

So ist der Leib fest gebunden, und aus den Fingerspitzen, die nach oben stehen, steigt frei eine Flamme auf. – Das ist das Geheimnis des Betens, von dem in keiner Schrift geschrieben steht."

In dieser Nacht wanderte ich das erstemal, ohne daß ich am nächsten Morgen mit staubigen Stiefeln und angekleidet im Bette erwacht wäre.


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