Wilhelm Meyer-Förster
Lena S.
Wilhelm Meyer-Förster

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Neuntes Kapitel

Die Fahrt nach Harzburg blieb Schwerins letzte Reise. Es dauerte noch eine geraume Weile von Jahren, ehe er die große und allerletzte Reise antrat, – in diesem irdischen Jammertal aber gab der Major Kutschern, Eisenbahnen und allen Leuten, die sich mit der Beförderung von Passagieren beschäftigen, nie mehr etwas zu verdienen.

Als er im Laufe des Herbstes im Klub nicht mehr erschien, und als der Winter ins Land zog und Schwerin immer noch unsichtbar blieb, kam eines Tages der Herzog selbst mit dem grün gekleideten Jäger auf dem Bock am Nollendorfplatz vorgefahren, um sich nach dem Major zu erkundigen. Er war betrübt, den Freund in einem Zustande anzutreffen, der Schwerins Klub-Mitgliedschaft für alle Zukunft nur noch als leere Formel erscheinen ließ, – er verabsäumte es nicht, im Laufe des Winters und Frühjahrs noch einigemal sich persönlich nach des Majors ›Wohlergehen‹ zu erkundigen, – aber derartige Besuche werden, wie die Erfahrung lehrt, immer spärlicher, bis sie eines Tages ganz aufhören und die Leute anfangen, den Mann im Hintergrunde zu vergessen. Wenn sie nach einer Reihe von Jahren in den Zeitungen lesen, daß der alte Freund gestorben sei, machen sie sich Vorwürfe, daß sie ihn so lange vernachlässigten, und reden sich ein, sie hätten geglaubt, er sei schon lange aus dem großen Register der Lebenden gestrichen.

Der einzige, der in dem ganzen langen Jahre Schwerins Einsamkeit teilte, war George. Er kam freilich in erster Linie um Lenas willen, aber der Major hatte doch den Vorteil davon, und als es im Laufe des Jahres um den alten Herrn einsamer wurde, saß Schwerin mittags bisweilen mit der Uhr in der Hand und wurde ungeduldig, wenn George sich verspätete.

An dem Sommertage, an dem ›Lena S.‹ gegen die zweijährigen Altersgenossen draußen in Hoppegarten ihr erstes, von Lena mit fieberhafter Spannung erwartetes Rennen bestreiten sollte, kam George schon zeitig vormittags, um Lena und Frau v. Pauly abzuholen. Aber er traf sie nicht mehr zu Hause.

»Und wenn du eine Stunde eher gekommen wärst,« sagte Schwerin, »so würdest du sie auch nicht mehr vorgefunden haben. Die beiden Frauenzimmer waren nicht mehr im Hause zu halten. Du wirst sie draußen auf der Rennbahn treffen. Setz dich, mein Junge, du hast noch Zeit.«

Er nannte ihn ›du‹, und wenn zwischen zwei Menschen von so verschiedenem Alter noch von Freundschaft die Rede sein konnte, so waren die beiden in ihrer Art wirkliche Freunde geworden:

»Nimm eine Zigarre, mein Junge, nicht die, – die, – die auch nicht, nimm eine von diesen.«

Er hatte einen kleinen Berg von Zigarrenkisten um seinen Lehnsessel aufgestapelt, flache, breite Kisten, in denen alle großen Sorten von ›Garcia‹, ›Clay‹ etc. zu finden waren. Das war jetzt sein einziger Luxus. Man hatte ihm ungefähr alles verboten, was dem Major vierzig Jahre hindurch das Leben schön und angenehm gestaltet hatte, und vielleicht war es nur ein Zufall, daß der Doktor in die Liste verbotener Genüsse nicht auch die Zigarren einbezogen hatte. Die dunkeln schweren Tabake konnten Schwerin unmöglich zuträglich sein, aber mit einer peinlichen Angst vermied er es, jemals dem Doktor gegenüber die Zigarrenfrage zu berühren. Es war höchst wahrscheinlich, daß bei der leisesten Andeutung ihm auch dieser Genuß entzogen werden würde, und so wurde der Doktor stets in dem frisch ausgelüfteten Wohnzimmer empfangen, wo nichts an die ungeheuren Rauchwolken erinnerte, die jenseits der Tür Schwerins Zimmer füllten.

»Rauch die Zigarre nicht zu Ende, mein Junge,« sagte er, »die erste Hälfte ist immer die beste, nimm jetzt diese,« und George, der wußte, daß er mit einem bescheidenen Widerspruch den Major ärgern würde, ließ sich den Wechsel gefallen.

Sie sprachen ein paar Worte, dann saßen sie stumm nebeneinander und rauchten. So ging es immer. Eine Weile suchten beide das Gespräch im Gange zu halten, dann schlief es ein, ohne daß sie sich besondere Mühe gaben, es neu zu beginnen. Es lag ein Behagen über diesen verrauchten, verträumten Stunden, zum wenigsten für Schwerin.

Er sah heimlich nach der Uhr und dachte: ›Es wäre jetzt Zeit, daß der Junge aufbräche, er kommt schließlich noch zu spät zum Rennen, und Lena ist dann außer sich,‹ – aber in seinem Egoismus gab er diesem Gedanken eine Stunde und länger keinen Ausdruck. Bis er schließlich doch sagte: »Es wird Zeit, mein Sohn, du mußt gehen.«

Aber George ging nicht. Er hatte immer in seinem Wesen etwas Schwerfälliges gehabt, etwas Unentschlossenes, – das trat jetzt stärker hervor denn je. Die große Stadt, in der er nun seit einem Jahre lebte, hatte sein Blut nicht leichtflüssiger gemacht, und das kam nie so deutlich zum Ausdruck, als in diesen langen Stunden bei Schwerin, wo er in den Sessel zurückgelehnt saß, bisweilen ein paar Worte mit dem Major wechselte, bisweilen eine neue Zigarre nahm und dann wieder vor sich hin dämmerte.

Zwei- oder dreimal war er mit Lena draußen beim Rennen gewesen, er hatte sich Mühe gegeben, ihren Auseinandersetzungen zu folgen, ein Interesse zu zeigen, aber das alles ließ ihn im Grunde genommen gleichgültig. In diesem buntfarbigen Getriebe, in dem Lena jedesmal aufglänzte und aufblühte, ging er teilnahmslos, ohne Verständnis.

Schließlich wurde Schwerin besorgt: »Es ist die höchste Zeit, mein Junge, es geht nicht länger, du mußt fort.«

Er nahm eine Faust voll der großen ›Garcias‹ aus der Kiste und schob sie ihm in die Hand: »Da nimm mit,« als ob diese Zigarren für George auf der Fahrt zum Rennen eine Art Trost- und Beruhigungsmittel sein würden.

So ging George.

Er kam zu dem Extrazuge zu spät und mußte fast eine Stunde warten, bis der Vorortzug eintraf, mit dem er hinausfahren konnte. Als er endlich anlangte, waren die ersten zwei Rennen bereits vorüber.

Er traf Lena neben Frau v. Pauly in der Loge auf der Tribüne. Er entschuldigte sich: »Verzeih, Lena, daß es so spät geworden ist, ich hatte, – ich kam zu spät zu dem Zuge.«

Sie gab ihm ihre kleine Hand: »Du wirst immer zu spät kommen, George. Das wird nie anders werden,« aber sie war nicht böse, sie lachte nur, dann beugte sie sich wieder vor über die Brüstung, um mit Frau v. Rostotschin und den andern Damen, die sich vor der Loge drängten, zu plaudern. Immer neue Damen und Herren kamen vorbei und hielten einen Moment an, um ein paar Fragen auszutauschen:

»Wird ›Lena S.‹ gewinnen? Wer reitet sie?«

Und Lena, aufgeregt, allen antwortend, mit allen lachend, hatte zahllose Händedrücke zu wechseln.

Es war ihr großer Tag.

»Lenas Debüt,« sagte der Herzog.

George saß auf dem Stuhl hinter den beiden Damen, er neigte sich vor und gab sich Mühe, mit den andern zu lachen, wenigstens den Anschein zu erwecken, als sei er bei der Sache und höre aufmerksam zu.

Der Herzog hielt eine Rede, einen förmlichen Vortrag:

»Meine Damen, denken Sie an die Ducheß of Montrose, die mit siebzig Jahren noch einen der größten Rennställe Englands besaß! Sie war jeden Morgen im Stall, in hohen Schaftstiefeln, mein Wort darauf, ich habe sie selbst in Newmarket auf ihrem Pony gesehen, – oder denken Sie an die Königin von Neapel, deren Pferde voriges Jahr in Baden-Baden die großen Rennen gewannen! Meine Damen! Das sind Vorbilder, denen little Lena nacheifert!«

Alle Welt war darüber einig, daß ›Lena S.‹ das Rennen gewinnen werde. Die Trainer schworen darauf, die Sportzeitungen gleichfalls, und als die Schar der Damen und Herren vor der Loge sich einen Augenblick gelichtet hatte, beugte sich Lena rückwärts zu George: »Stell dir vor, George, sie haben mir vorhin 25 000 Mark für die Stute geboten! Aber natürlich, ich habe nicht angenommen,« – und ganz glücklich preßte sie seine Hand: »Mach doch ein heiteres Gesicht, George. Heute begründen wir beide unser Glück!«

Er nestelte an seinem Rock und holte aus der Tasche ein Papier hervor:

»Da ist ein Brief für dich, Lena.«

Etwas erstaunt, neugierig lächelnd sah sie auf seine Hand: »Was für ein Brief?«

»Da.«

Sie nahm den Brief und las die Ueberschrift, dann flog ein Schatten über ihr Gesicht:

»Von deiner Mutter – –?«

»Ja.«

Sie faltete den langen dünnen Briefbogen auseinander und begann zu lesen:

»Meine liebe Lena! Ich will Dich so nennen, obwohl ich Dir noch nie geschrieben und Dich noch nie so genannt habe. Es ist jetzt ein Jahr her, daß George von mir fort ist: Du hast ihn mitgenommen – – Er sagte damals, als er ging: es sei nur für ein Jahr und nicht für länger, Du selbst hättest es versprochen – Nun ist das Jahr herum! Mein liebes Kind, Du warst nur einmal bei mir, ich verstand Dich damals nicht und war so aufgeregt, daß ich Dir nicht so begegnet bin, wie es eine Mutter sollte – Ich habe nicht gewußt, damals, wie lieb George Dich hat. Jetzt habe ich's erkennen gelernt. Damals hatte George nur mich – –«

Meine liebe Lena, so will ich Dir sagen, daß ich Dich um Verzeihung bitte, wegen damals. Ich will Dir eine gute Mutter werden, und nun ist das Jahr herum, und Ihr müßt kommen. Denn ich kann nicht länger ohne meinen Jungen leben. Er hat nur dies eine Jahr fortbleiben wollen, und Du hast es ihm ja auch versprochen, daß es nicht länger dauern sollte. Lena, schreibe ein einziges Wort, dann will ich das Haus herrichten lassen und Euch die Hochzeit richten. Denn da es so sein soll, wollen wir uns lieb gewinnen. – Liebe Lena, ich wollte Dir diesen Brief schon lange schreiben, aber ich habe es nie getan. Aber nun ist das Jahr herum.« – –«

Mit matten Augen las Lena den Brief zum zweitenmal, – dann, als sie geendet hatte, hielt sie ihn noch immer vor ihr Gesicht, unfähig, sich zu George umzuwenden und zu ihm zu sprechen.

Nach einer langen Weile beugte er sich über ihre Schulter: »Lena –?«

Eine seltsame Empfindung stieg in ihr auf, etwas wie Haß. Wie kam er dazu, ihr diesen Brief jetzt zu geben?! – – In dieser Stunde – –? Es war eine Taktlosigkeit, die ihr Blut in Wallung brachte.

Schroff reichte sie ihm das Blatt: »Da ist der Brief. Steck ihn ein.« Sie wandte sich wieder ab und sah starren Blickes geradeaus auf das weite Feld der Rennbahn. Die Musik spielte, – allenthalben Lachen, lustige Gesichter.

›Meine liebe Lena‹ – – es summte ihr im Ohr, – – ja, jetzt war sie die ›liebe Lena‹, ja jetzt! Nun man endlich einzusehen gelernt hatte, wem George gehörte! Daß George nie heimkommen würde, wenn die ›liebe Lena‹ nicht wollte!

Aber da war das ›verzeih mir‹, das gequält und geängstigt aus jeder Zeile des Briefes klang, dieses ›verzeih mir‹, das die alte Frau dem jungen Mädchen schrieb – zwei Worte, gegen die es keinen Widerstand gab – – –«

›Nun ist das Jahr herum – –‹

Ja, nun war das Jahr herum. Ganz recht.

Das eine Jahr, das sie sich ausbedungen hatte.

Zeit, die Koffer zu packen.

Zurück nach Oldeslo.

Dem allen hier Lebewohl sagen. Auf Nimmerwiedersehen.

Wenn George auf seinen Schein bestand, so war er im Recht, selbstverständlich. Er hatte lange genug gewartet, er hatte sich ja nie Mühe gegeben, ihr zu zeigen, wie er sich heimsehnte.

Vielleicht hatte er seiner Mutter das alles geschrieben, und dieser herzliche Brief mit ›meine liebe Lena‹ war wohl nur das Echo, das gehorsam antwortete.

George begriff, was in ihr vorging. Er beugte sich vor und leise, – so leise, daß Frau v. Pauly, die dicht neben ihr saß, kein Wort hörte, – begann er zu sprechen. Immer auf die weite grüne Fläche blickend und auf die weißen Wolken, die sich am blauen Himmel vorbeischoben, hörte Lena zu. – – –«

– Es war lange her, daß er nicht mehr so mit ihr geredet hatte. Er fand alle die Worte wieder von einst, die lieben, klingenden Worte, die Lena glücklich gemacht hatten. Er sprach von Oldeslo, von der Hochzeit, von dem kleinen Hause und dem Garten, – von dem Hardisberge. – –«

– Dicht vor der Tribüne in einem Kreise von Damen lehnte Szatek an der Barriere.

Während Georges Worte in ihr Ohr tönten, heftete sich Lenas Blick auf diesen Kreis. Man drängte zu Szatek heran, man huldigte ihm, immer noch stand er im Zenit seiner Erfolge. Aber er sah blaß aus, verfallen, und während George weiter sprach, irrten Lenas Gedanken seitab. Etwas wie ein triumphierendes Lächeln glitt über ihren Mund: ›Da stand Szatek, beneidet! Und ging doch zu Grunde! An ihr!‹ Wo immer und wann sie ihn sah, bohrten sich seine Blicke in ihr Gesicht!

Wie sie sich um ihn her drängten, und wie gleichgültig er zwischen ihnen stand! Als ob er alles, was gesprochen wurde, nur halb höre. –«

Er machte eine Wendung und blickte hinüber zu der Tribüne. Er ließ seinen Blick apathisch die Reihen entlang gehen, bis er plötzlich auf ihr haften blieb und im selben Moment Leben gewann.

Zum erstenmal hielt sie diesen Blick aus, wandte sie ihre Augen nicht ab.

Ueber sein Gesicht ging ein Staunen, fast ein Erschrecken, er starrte sie an, als ob er nicht begriff, was sie wollte – dann war es, als ob er zusammenzitterte, – er trat mitten aus dem Kreise heraus einen Schritt vorwärts, – und in diesem Moment erst hob sie langsam den Blick und sah über ihn fort.

*

Im Nu waren die Pferde heran, im Nu vorbei, und aufgeregt, wie in ihrem Leben nicht, fiel Frau v. Pauly Lena um den Hals:

»Sie hat gewonnen! Grün-weiß war die allererste!«

Auch George war erregt: »Sie hat gewonnen, Lena! Sie hat gewonnen!«

Aber Lena sah mit glanzlosen Augen hinter den Pferden her: »– Nein.«

Ihre Stimme hatte einen heiseren Klang, sie stand aufrecht in der Loge, das Gesicht schneeweiß, beide Hände auf die Brüstung gestützt. Sie blickte wie alle andern rings um sie her nach der Richterloge hinüber, wo eine kleine schwarze Nummer an dem Ziffernbrett, das den Sieger verkündet, in die Höhe flog.

»Nummer 18.«

Jeder auf den Tribünen und jeder auf dem Sattel-Platz wiederholte die Nummer und rief sie seinem Nachbar zu, jeder war erstaunt, fast jeder enttäuscht.

»Nummer 18.« Man suchte auf dem Programm: Wer war das? und man las einander vor: »Nr. 18. Georgette, Herrn Reinhards Georgette.« Ein Pferd, an das niemand gedacht hatte!

Alle Welt war außer sich, man wollte darauf schwören, daß ›Lena S.‹, die Favoritin, den Kopf vorn gehabt habe, aber niemand war so außer sich und so aufgeregt wie die kleine Frau v. Pauly: »Grün-weiß war die erste, ich habe es deutlich gesehen. – Ich habe es deutlich gesehen, – mein Gott, ich habe es doch deutlich gesehen!!«

Auch George war empört, er glaubte an ein Mißverständnis, an eine der betrügerischen Manipulationen, die der Laie allenthalben auf dem Rennplatz wittert, – nur Lena sagte kein Wort, sie hatte mit ihrem geübten Blick besser gesehen als die andern, und in diesem Augenblick, wo die Entscheidung des Richters ihr sagte, daß ihr Blick sie nicht getäuscht habe und ›Lena S.‹ geschlagen sei, kam eine wunderliche Ruhe über sie.

Das Publikum strömte von den Tribünen hinab zum Sattelplatz, und dieselben Leute, die sich vorhin so eifrig mit Lena unterhalten hatten, eilten vorbei mit einem hastigen Gruß und einem flüchtigem Nicken:

»Schade! Wer das gedacht hätte! So knapp geschlagen!«

Lena lächelte – »Man muß sich darein finden.«

Auch der Herzog kam heran und drückte ihr die Hand: »Nicht den Mut verlieren, Lena. Sie wird ein andres Mal gewinnen. Daß die kleine Stute laufen kann, hat sie gezeigt. Also kein trauriges Gesicht.«

– – »Wir wollen hinuntergehen« sagte Lena zu George und ihrer Begleiterin. Sie wunderte sich über sich selbst, wie ruhig sie das sagte, und mit wie gleichgültigen Schritten sie jetzt unten auf dem Platze durch die Leute ging.

Sie traf Mr. Calder, den Trainer, und wandte sich flüchtig zu George: »Verzeih ein paar Minuten, ich möchte mit ihm sprechen.«

Sie ging neben dem Engländer her, der ihr den Verlauf des Rennens kurz auseinander setzte, genau so, wie sie selbst diesen Verlauf beobachtet hatte: »Die Stute hatte einen guten Start, Miß Lena, es gibt da gar keine Entschuldigung. Sie hätte gewinnen müssen, und über tausend Meter hatte sie auch wirklich gewonnen. Ueber die letzten zweihundert Meter fiel sie dann ab. Die andre kam und schlug sie sehr sicher. Die Leute reden dummes Zeug, wenn sie behaupten, unsre Stute hätte gewonnen. Sayres gewann auf Georgette mit zehn Pfund in der Hand.«

Lena nickte nur, und der Engländer, in der dunklen Empfindung, daß er nach dieser geschäftsmäßig kalten Darstellung die Pflicht habe, dem Mädchen ein paar Trostworte zu sagen, fügte hinzu:

»Uebrigens, Miß Lena, man kann immerhin zufrieden sein; sie lief nicht schlecht und wird kleinere Rennen sicher gewinnen.«

Der Stallbursche kam mit der Stute hinter ihnen her, ein zweiter Junge lief mit Eimer und Bürsten herbei, nun begann der Trainer die Stute abzureiben und ihr die Decken aufzulegen. Lena lehnte an der Holzeinfriedigung vor den offenen Stallungen und schaute zu. – – –«

Die Hoffnungen waren nun zu Ende. – Kein schlechtes Pferd, sicher nicht, sogar ein leidlich gutes Pferd, mit dessen Besitz mancher zufrieden sein würde, und das wohl immer noch ein hübsches Stück Geld wert war, – aber auch nicht mehr. Keine Heldin der Rennbahn, die, wie Lena erhofft und wie sie noch eine Viertelstunde vorher bestimmt erwartet hatte, von Sieg zu Sieg eilen und ihre Herrin reich und frei machen würde. –«

– Frei! – – –«

– – Sie wird ihre Rennen gewinnen, gewiß. Ein paar leidliche Erfolge, die das Pferd und die Futterkosten und die Trainingkosten bezahlt machen, – aber weiter auch nichts.

»Lena S.«

Das Pferd trug ihren Namen und hatte ihr Schicksal getragen und war, – wenn man so wollte – das Bild ihrer eignen Vergangenheit und Zukunft. Alle Welt hatte das schöne Pferd bisher angestaunt und bewundert, und in dem ersten großen Moment, wo es etwas leisten sollte, hatte sein Können versagt.

Der kurze Ruhm war vorbei, wie Lenas eigner kurzer Ruhm vorbei war.

Der gute alte Herzog würde sich hüten, in Zukunft vor Herren und Damen phantastische Vergleiche anzustellen mit den großen Sportladies von Epsom und Chantilly, und die Herren und Damen würden fortan etwas geringschätzig lächeln: »Diese Lena, die sich vordrängen und etwas ganz Besonderes erreichen wollte!«

Die kleine Stute, die dicht vor ihr stand, schmiegte ihr den Kopf entgegen mit einer fast zärtlichen Bewegung, und Lena strich leicht über das feuchte Haar des Kopfes und die feinen Nüstern, die sich immer noch nach dem Rennen hastig bewegten.

Ein Jahr, und vielleicht noch ein Jahr wird die Stute ihr Brot auf der Rennbahn verdienen, dann wird sie irgendwo in Vergessenheit untertauchen, vielleicht in die behagliche Weltferne eines kleinen Gestüts, vielleicht auch in die jammervolle Laufbahn eines ausrangierten Rennpferdes, das sein Brot in harter Arbeit und in rohen Händen kümmerlich verdienen muß.

Wie alle, die nicht zur rechten Zeit im stande sind, den Platz in der vordersten Reihe zu erkämpfen.

– Sie suchte in der Tasche nach dem Briefe und fand ihn nicht, dann erinnerte sie sich, daß sie ihn George wiedergegeben hatte.

Ja, Oldeslo. Der Brief war heute zur rechten Zeit gekommen. – – –«

– – Jemand trat neben sie, und als sie gleichgültig nach ihm hinschaute, sah sie Szatek. Einen Moment trafen sich ihre Augen, dann wandte sie sich wieder ab und blickte nach dem Pferde.

Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber er biß sich auf die Lippen und schwieg.

So lehnten sie nebeneinander an den Holzbalken wie zwei Fremde, die nichts voneinander wissen.

In nervöser Hast sann er nach über irgend ein einleitendes Wort, – vielleicht konnte er zunächst über das Rennen sprechen und daß Lenas Mißgeschick ihm leid tue – oder –«

– Es war das erste Mal seit einem Jahre, daß er sie allein traf –, wenn er diese Gelegenheit verpaßte – –«

Schließlich begann er mit einem erzwungenen Lachen und einer banalen Wendung:

»Fräulein Lena, wie wäre es, wenn wir tauschten –?«

Sie antwortete nicht.

»Siebzig Pferde für eins –? Alle meine Pferde für dieses eine?«

Er versuchte wieder zu lächeln, aber er empfand deutlich die ganze Albernheit seiner Redensarten, und nur um keine Pause eintreten zu lassen, fuhr er in demselben Tone fort: »Man sagt, man soll auf der Rennbahn alle sieben Jahre die Farben wechseln. Es ist Aberglaube, aber wir sind alle abergläubisch. Grün-weiß ist hübscher als Blau-rot, – ich möchte Grün-weiß als künftige Farbe.«

Sie atmete erregt und starrte immer geradeaus auf das Pferd. Sie fühlte, wie er nach ihrer Hand tastete, willenlos ließ sie ihm die Hand.

Dann hörte sie andre Worte, flüsternde Worte, die er schon damals gesprochen hatte, die aber anders klangen als damals, – Worte aus einem vertrockneten Gaumen, der sich verdurstend nach der Quelle beugte.

Wie durch einen Nebel sah sie drüben auf der Wiese Menschen gehen, sie unterschied den einen und andern –: da spazierte Bernstorff mit der Prinzessin von Wartenberg – da John Cannon im blauen Dreß – da standen ganz fern drüben an der Eiche zwei Offiziere und gestikulierten lachend – – –«

Und da!

Sie zuckte zusammen – – –«

Ja, da kam George!

Gerade auf sie zu. Mit seinem breiten, schweren Gange.

Immer näher – – –«

Er ging in demselben Nebel, der vor ihren Augen flimmerte, und wurde im Näherkommen größer – größer –«

Nun stand er vor ihr – breitschultrig –«

Er lächelte: »Lena –?«

Er sah auf Szatek, der zusammengezuckt war und sich aufrichtete –«

Und sah wieder auf Lena und lächelte immer noch –«

»Was – was heißt das – Lena –?«

– Dann zog er Szatek am Rock über der Brust dicht zu sich heran und schmetterte ihn rückwärts gegen die Holzbalken.

Sie schrie auf: ›George!!‹

Sie warf sich gegen Szatek, der, außer sich, vorwärts sprang, und umklammerte seine Arme: »Nein! Nein!!«

Er wollte sich losmachen, einen Moment rang er mit ihr, – dann glitt über seine blutunterlaufenen Augen ein Schatten.

Er beugte sich nieder und hob den Hut vom Boden auf.

Ganz langsam wendete er und sah auf seinen Gegner mit einem seltsamen Blick, in dem keine Erregung mehr lag, sondern nur noch eine eisige Kälte.

Er ging. – –«

Lenas Augen irrten nach den Seiten: kein Fremder hatte die Scene gesehen. Drüben standen Gruppen von Leuten, von denen niemand herschaute. Nur die zwei Stallburschen blickten mit aufgesperrtem Munde George an. Und mit kreideweißem Gesicht stand die kleine Frau v. Pauly neben ihr.

– Sie gingen zum Tore der Rennbahn hinaus, Lena zwischen den beiden, – der Lärm der Menschen blieb langsam hinter ihnen zurück, nur ein verlorener Ton der Musik kam noch einmal herüber.

Es war Lena, ob hinter ihr die Welt verhallte, versank.


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