Wilhelm Meyer-Förster
Lena S.
Wilhelm Meyer-Förster

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Siebentes Kapitel

Als im Klub die Rede darauf kam, daß Schwerin eine ältere Dame suche, die mit Lena zusammenwohnen und an ihr gewissermaßen Mutterstelle vertreten könne, zog ihn der alte Herzog von Sohrau beiseite und empfahl ihm Frau v. Pauly: »Eine Dame, mein lieber, guter Schwerin, die viel Unglück gehabt hat. Ihr Gemahl stand als Arzt in Sohrau beim Regiment, sie ist Anno 80 verwitwet und hat später ihr ganzes Vermögen verloren. Sie lebt hier in Schöneberg, und Sie würden, auf mein Wort, ein gutes Werk tun.«

Der Major hatte keinen Anlaß, diesen freundlichen und in jedem Falle gutgemeinten Hinweis des Herzogs außer acht zu lassen, und so ließ er sich von dem Diener im Schreibzimmer des Klubs Papier geben und verfertigte einen seiner mühseligen Briefe, in dem er mit Hinweis auf Sr. Durchlaucht Empfehlung Frau Doktor v. Pauly um eine Unterredung bat.

Sie kam noch am selben Tage. Als sie den Major, mit dessen Lebensgewohnheiten natürlich unbekannt, zu Hause vergebens gesucht hatte, gab sie ihre Karte im Klub ab, eine kleine altmodische Karte aus Glanzpapier, die der vornehme Portier von der kleinen, hageren, schwarz und gleichfalls altmodisch gekleideten Dame mit einer herablassenden Handbewegung entgegennahm. – Er setzte seinen Kneifer auf und las die Inschrift, dann wurde er höflicher und nahm den Kneifer wieder ab und sagte: »Nein, Herr v. Schwerin ist nicht im Klub. Sie werden ihn,« – er sah nach seiner goldenen Uhr, – »um diese Zeit wahrscheinlich im Hotel de Rome finden. Befehlen gnädige Frau eine Droschke?«

Aber sie winkte ängstlich ab: »Nein, nein,« – und ohne zu wissen, wo dieses Hotel de Rome etwa liegen könnte, entfernte sie sich mit kleinen, eiligen Schritten, die etwas Gleitendes, Schleifendes hatten, wie bei Damen, welche selten ausgehen und die meiste Zeit ihres Lebens Pantoffeln ohne Absätze tragen.

Sie lebte seit bald zwölf Jahren in Berlin oder vielmehr in Schöneberg vor dem südlichen Tore, aber die große Stadt hatte für sie etwas Furchterweckendes, und als sie jetzt über die Linden huschte, sann sie einen Moment darüber nach, ob sie seit zwei, drei oder gar noch mehr Jahren nicht mehr hier gewesen sei.

Natürlich traf sie, wie es bei solchen ängstlichen, schicksalbedeutenden Irrfahrten fast immer der Fall ist, Schwerin weder im Hotel de Rome noch in zwei andern Häusern gleichen Ranges, in die man sie weiterschickte, aber mit der zähen Ausdauer jemandes, der endlich einmal einen ganz kleinen Hoffnungsstern leuchten sieht, setzte sie ihren Rundgang fort, bis sie spät abends, – es war fast zehn, und sie hatte keinen Hausschlüssel und erwog bereits die Eventualität, daß sie diese Nacht im Freien werde kampieren müssen, – wieder im Klub landete und dann wirklich endlich die Mitteilung erhielt:

»Ja, Herr v. Schwerin ist anwesend; er sitzt oben; er spielt Karten, Ob Herr Major freilich gerade jetzt gestört sein will –?«

Aber sie ließ nicht nach, und mit einem bittenden, angstvollen Tone sagte sie: »Ich muß ihn sprechen, auf jeden Fall.«

Man führte sie die breite Marmortreppe hinauf, deren Stufen mit purpurrotem Sammet bedeckt sind, man ließ sie in ein Empfangszimmer treten, das ebenfalls in purpurroten Farben leuchtete, und sie saß in dem roten Sammetsessel zwischen den roten Wänden, roten Teppichen, roten Vorhängen, in all dieser unerhörten roten Pracht wie ein schwarzes verschüchtertes Nichts.

Nach einer Weile trat ein Herr herein in dunklem Gehrock, mit einem Monocle im Auge, steif, etwas eingefroren, nach Anzug und Aussehen der Typ eines sehr vornehmen, älteren, pensionierten, sehr gut gestellten hohen Militärs, vielleicht Generals.

Das war Schwerin.

Sie hatte sofort die Empfindung: alle Hoffnungen sind vergebens gewesen, – aber diese Empfindung erwies sich in den nächsten zehn Minuten als durchaus irrtümlich, Schwerin war von großer Liebenswürdigkeit, und sie wurden, – wenn das Wort zu verwenden erlaubt ist – außerordentlich schnell handelseinig.

Dann erhob sich der Major in seiner chevaleresken Art: »Sie werden keinesfalls bereits zu Nacht gespeist haben, meine Gnädige, gestatten Sie,« – und er klingelte, – aber der Gedanke, hier, jetzt, in dem roten Zimmer und Schwerins Anwesenheit, irgend etwas verzehren zu müssen, hatte für die kleine Frau etwas Erschreckendes, und hastig wehrte sie ab: »Nein wirklich nicht, wirklich nicht, – o nein, wirklich nicht!«

Er setzte ihr in seiner weit ausholenden Art die Verhältnisse auseinander: daß er für Lena eine mütterliche Freundin suche, die für das elternlose, heimatlose Mädchen ein Heim begründen könne, – und sie ihrerseits verlor ihre Befangenheit und erzählte, wie es die Situation erforderte, die kleine, ziemlich kümmerliche Geschichte ihres Lebens.

Es war elf Uhr abends, als sie sich trennten. Schwerin ging selbst ohne Hut und Paletot die große Treppe mit hinunter und gab, in dem offenen, zugigen Portal stehend, allen widersprechenden Bitten der Dame entgegen, Ordre, eine Droschke erster Klasse herbeizuholen.

»Auf Wiedersehen, morgen, meine Gnädige!«

Sie hatte ihm gefallen, in der Tat. Sie trug das Haar mit Wasser glatt gestrichen, was er nicht leiden konnte, – sie war klein, hager, mit einem trübseligen Munde, was er alles dreies gleichfalls gemeinhin nicht leiden konnte, – aber für diesen besonderen Fall schien sie vortrefflich zu passen. Sie zählte nach Schwerins Taxe mindestens fünfzig Jahre, aber die Augen blickten im Widerspruch zu allen Gesichtszügen bisweilen ganz heiter, und die Stimme hatte den weichen, gutlautenden Ton, der auf ein liebenswürdiges und friedfertiges Wesen schließen läßt. Und vor allem, sie war eine Dame!

In derselben Nacht spielte Schwerin bis zwei Uhr mit dem Herzog Piquet. Er verlor dabei eine runde Summe, aber er blieb guter Laune und schüttelte beim Abschiede dem alten Herzog die Hand: »Ich glaube, ich habe da einen guten Griff getan. Diese Sache mit dem Engagement hat mir viel Sorgen gemacht.«

– Und so kam es, daß »die Dame, die viel Unglück gehabt hatte«, in Schwerins Leben trat und dasselbe fortan in einer Weise beeinflußte, an die Schwerin nicht im Traume gedacht hatte.

*

Es gab in den nächsten Tagen für den Major ziemlich viel zu tun. Man besichtigte Wohnungen, was in der Art geschah, daß Frau v. Pauly aus der Wohnungszeitung eine lange Liste zusammenstellte, daß man von Haus zu Haus fuhr und daß Schwerin so lange in der Droschke sitzen blieb, bis die »gnädige Frau« die betreffenden Zimmer oben angesehen hatte. Kam sie herunter und sagte: »Es ist nichts«, so fuhr man weiter, – hielt sie aber die Wohnung aus irgend einem Grunde für besichtigenswert, so half Clemens seinem Herrn aus der Droschke und schob ihn mit Aufwendung einer nicht geringen Mühe die Treppen hinauf.

Alle Stufen zusammenaddiert, die Schwerin an diesem ersten Tage emporstieg, hätten vielleicht die Höhe des Eiffelturmes ergeben, und einzig die Rücksicht auf seine unermüdlich eifrige Begleiterin hielt ihn ab, seiner schließlich sehr schlechten Stimmung Ausdruck zu geben.

Sie fuhren noch einen zweiten und einen dritten Tag, und als es der Zufall einmal wollte, daß sie am Nollendorfplatz wieder eine Treppe erstiegen hatten und eine übertrieben große, acht Zimmer umfassende Wohnung mit bemerkenswert schöner Aussicht betrachteten, benutzte die »gnädige Frau« Schwerins große Ermattung zu einer ganz eigenartigen Attacke, die vielleicht lange vorher strategisch vorbereitet war, vielleicht aber auch nur einer augenblicklichen Eingebung entsprang:

»Wäre es nicht das beste, Herr Major, wenn Sie sich um Lenas willen zu einem großen und wirklich entscheidenden Schritt entschließen wollten? Stellen Sie sich vor, Sie würden Ihre kleine Junggesellen-Wohnung inmitten der großen geräuschvollen Stadt aufgeben und mit Lena hierher ziehen. Sie wären dann immer in Lenas Nähe, dann erst könnten Sie wirklich an ihr Vaterstelle vertreten. Wie glücklich würde Lena sein, und wie lieb würde sie alles daran wenden, Ihnen das Leben zu verschönen! Eine solche Wohnung! Acht Zimmer! Wie könnte man das alles einrichten! Hier die beiden Zimmer für Sie, Herr Major, daneben Ihr Schlafzimmer, drüben Lenas Zimmer und meines, dort der Salon, das letzte Zimmer rechts als Eßzimmer, – den ganzen Tag Lena bei Ihnen, um Sie besorgt, wie ein Töchterchen, das wieder einen Vater hätte!«

Sie war aufgeregt, sie ging hin und her, maß die Breite der Fenster und die Höhe der Stuben, sie deutete hinaus: »Diese Fernsicht, der blaue Himmel, und die frische Luft von den Feldern draußen! Wie behaglich könnte man das alles einrichten! – und die Küche! Sie haben die Küche noch nicht gesehen, Herr Major?«

»Nein,« sagte Schwerin und wehrte matt ab, denn trübe, ängstliche Zweifel stiegen in ihm auf, aber sie führte ihn durch den Korridor in die große helle Küche mit dem breiten schneeweißen Herd, und die Phantasie der kleinen Dame, die zwölf Jahre in Schöneberg mit einem Petroleumkocher hatte wirtschaften müssen, sah über lichtem Feuer große eiserne Töpfe brodeln, in denen des Majors Lieblingsspeisen zubereitet wurden.

Er wehrte sich immer noch mit einer dunklen Ahnung kommenden Unheils, aber sie malte in feinen und bewegten Farben, und als sie darauf zu sprechen kam, daß die verwaiste kleine Lena zum ersten Male eine Heimat finden und abends neben dem Major sitzen und ihm vorlesen und mit ihm plaudern und ihm dann gute Nacht sagen würde, wurden ihre Augen feucht, und eine Pause trat ein, und dieser unglückliche Schwerin, der in dem leeren Zimmer auf dem einzigen dort befindlichen Rohrstuhle saß, fühlte, daß seine Augen gleichfalls naß wurden.

Er war besiegt. Besiegt vielleicht durch die rein äußerliche Erschöpfung des endlosen Suchens. Er sah wie der Wanderer in der Wüste eine Fata Morgana aufsteigen, und schwach, widerstandslos fand er nicht mehr die Kraft, das Wahngebilde mittels der Macht eines ruhig denkenden Verstandes zu zertrümmern.

*

Nichts wunderlicher als die dreifache Wohnungseinrichtung, die im Laufe der nächsten Wochen in den acht Zimmern am Nollendorfplatz zur Aufstellung kam. Mit seiner opulenten Freigebigkeit hatte Schwerin für Lena zwei sehr reizende Zimmer gekauft, den kleinen Salon ganz in Blau, das Schlafzimmerchen in Weiß und Lila, – beide freilich nur in dem Geschmacke eines erstklassigen Tapezierers ohne irgend welchen individuellen Zug, – aber kein größerer Gegensatz als zwischen dieser Schmetterlingseinrichtung und den uralten, altmodischen, verbrauchten, geschonten, gestickten Dingen, die in einem einspännigen Möbelwagen von Schöneberg anlangten und die zwei für die Frau Doktor v. Pauly reservierten Zimmer füllten. Schwerin hatte beim ersten Anblick dieser niederträchtigen, jeden künstlerischen Eindruck verpfuschenden Möbel die Absicht, ein Machtwort zu sprechen, den ganzen Kram auf die Straße zu setzen und die Eigentümerin durch eine solide Einrichtung zu entschädigen – aber er fand sie mit solchem Eifer beschäftigt, die miserablen, verschlissenen Dinge gut zu plazieren, daß er es nicht über das Herz brachte, das Gerümpel ihr zu verleiden.

Und wieder im Gegensatz zu der Frau Doktor Stuben und zu Lenas zierlichen Räumen standen Schwerins drei Zimmer, in denen das ganze Raffinement einer vierzigjährigen Junggesellenwirtschaft sich breit machte. Freilich blieben drei große Kisten, die den Umzug aus der Dorotheenstraße mitgemacht hatten, für alle Zeiten verschlossen, drei Kisten mit Gegenständen gefüllt, die in der Dorotheenstraße paradiert und Schwerins Wohnung vielleicht den eigentlichen Charakter gegeben hatten. Aber alle jene Dinge, Bilder, Statuetten, Bücher hatten in dem neuen Familienheim keine Existenzberechtigung.

Alles änderte sich. Dieser Clemens, der bisher ein angenehmes und behagliches Dasein geführt hatte, wurde notwendigerweise zu häuslichen Arbeiten herangezogen, man mietete eine Köchin, hundert Haushaltungsfragen mußten erwogen werden, deren Dasein bis dato dem Major unbekannt gewesen war. Es gab mit Umzug, Einrichtung und so weiter soviel zu tun, daß Schwerin volle drei Wochen hindurch positiv keine Zeit fand, in den Klub zu gehen. Dann eines Tages besann er sich. Es war hübsch, das alles, es gefiel ihm sogar. Der Kontrast gegen seine bisherige Lebensweise war so stark, daß er ihn förmlich jung machte.

Aber man kann schließlich nicht alle Fäden zerschneiden, die man während der Dauer eines ganzen Lebens geknüpft hat, und so teilte Schwerin am Schluß der dritten Woche seinen Damen mit: »Morgen abend gehe ich in den Klub.«

Dieser Abend im Klub war außerordentlich nett, vielleicht schon deshalb, weil er nach so langer Zeit wieder eine Abwechslung bedeutete. Es sind immer die Gegensätze, die das Leben heiter gestalten. Schwerin wurde viel befragt, nach Lena, nach seinem neuen Haushalt, – man lobte ihn und fand den kompletten Wechsel seiner Lebensweise höchst bemerkenswert. Er war doch ein Teufelskerl, der Schwerin, der mit sechzig Jahren noch im stande war, alle Traditionen umzuwerfen und wie ein ganz junger Mensch neue Wege zu wandeln! Und die alten Junggesellen im Klub, die mittags mit gefüllter Zigarrentasche kommen und spät nachts mit leerer Zigarrentasche wieder in ihr einsames Quartier gehen, beneideten ihn. Dieser alte Dragoner, der wie sie alle seinerzeit den Anschluß verspaßt hatte, war im Handumdrehen ein glücklicher, versorgter Mann geworden, um den zwei Damen, eine junge und eine alte, sich daheim mit einer Sorgfalt mühten, die sonst nur Familienvätern nach einem entsagungsreichen Dasein als später Lohn am Abend des Lebens zu teil wird.

Er trank eine Flasche mehr als sonst und kam in so guter, angeheiterter Stimmung nach Hause wie selten zuvor.

Ganz leise öffnete er die Türen und schloß sie wieder, ganz leise auf den Zehen ging er über den Korridor in das Wohnzimmer, ein Streichholz in der Hand, – da fuhr er erschreckt zusammen! Dicht vor ihm im hellerleuchteten Zimmer saß die Frau Doktor, die sogleich aufstand und ihm liebenswürdig entgegenkam.

»Guten Abend, Herr Major.«

»Sie –, Sie haben gewartet –? –?«

»Das war doch selbstverständlich, Herr Major.«

»Nein, das war wirklich nicht nötig,« sagte er, aber sie nahm ihm seinen Mantel ab und sagte herzlich, gütig: »O ich habe gern gewartet, das verstand sich ja ganz von selbst. Ich habe so viele Nächte an meines armen Mannes Krankenlager gewacht. Ich bin es gewöhnt.«

Schwerin stammelte ein paar Worte, – ganz unklar hatte er die Empfindung, daß dieser Vergleich mit dem Krankenlager eines längst Verstorbenen für ihn etwas Beängstigendes hatte, dann ließ er sich unsicher, tastend auf einen Stuhl nieder.

»Sie werden gewiß noch eine Tasse Tee trinken wollen, Herr Major?«

»Nein. Durchaus nicht, danke.«

Aber sie ging trotzdem eilig in die Küche und brachte ihm nach einigen Minuten wirklich Tee.

Das alles war wirklich sehr nett, sehr zuvorkommend, nur daß es ihn beklemmte, ängstigte, und daß es ihm ganz deutlich auffiel, welche Mühe es ihm verursachte, mit der schweren Zunge vernünftig zu reden.

Sie holte seine Pantoffeln und den seidenen Schlafrock, sie ging selbst in das behaglich durchwärmte Schlafzimmer und schloß das Fenster, sie war so aufmerksam und besorgt, daß er immerfort nur sagen konnte: »O das ist zu viel, das ist wirklich zu gütig, da – das – –«

Dann kam ihm ein Gedanke: weshalb war dieser Esel von Clemens nicht anwesend?! Wie konnte sich dieser Schurke erlauben, zu Bett zu gehen und statt seiner die Dame wachen zu lassen –?!

Als er in einer gezwungen-höflichen Fassung diesem Gedanken Worte lieh, fiel sie ihm in die Rede: »Aber ich bitte Sie, Herr Major, das ist doch schließlich meine Pflicht. Wenn man müde nach Hause kommt, will man die kleinen Handreichungen nicht von einem bezahlten Diener entgegennehmen. Ich bin ganz glücklich, daß ich das tun darf. Ich bin Ihnen zu so großem und herzlichem Danke verpflichtet. Das wird immer, so oft Sie ausgehen, meine kleine Pflicht bleiben, die werde ich mir nie nehmen lassen.«

›Nie nehmen lassen‹ – ging es Schwerin durch den Kopf. Mit diesem ›nie nehmen lassen‹ verabschiedete er sich, und mit diesem ›nie nehmen lassen‹ legte er sich schlafen. Er löschte das Licht aus, aber nach einer Weile zündete er es wieder an und sah nach der Uhr: ›½ 4‹.

Also bis ½ 4 hatte sie auf ihn gewartet, und würde in Zukunft warten, wenn es auch später würde, ½ 5, – 5, – ½ 6, – 6, oder eventuell noch später! Stets würde er im Klub den ganzen Abend hindurch an sein Nachhausekommen denken müssen, immer würde er mit der Uhr in der Hand sitzen und immer würde, und wenn es noch so spät werden sollte, der Refrain der kleinen, hageren Dame, ›die das viele Unglück gehabt hatte‹, lauten: »O ich habe gern gewartet. Ich bin es ja gewöhnt, ich habe so viele Nächte an meines Mannes Krankenlager gewacht.«

*

Lena und Frau v. Pauly blieben einander fremd. Die vielen kleinen Beziehungen, die ein gemeinsamer Haushalt mit sich bringt, führten Schwerin und die Frau Doktor viel näher zusammen, als die beiden Frauen. Vielleicht daß Lena in dieser Zeit der Trauer und tiefsten seelischen Erschütterung überhaupt nicht fähig war, sich an irgend jemand, der ihren Weg kreuzte, anzuschließen, aber auch sonst hatten beide in ihrem Wesen so wenig Gemeinsames, daß eine intimere Annäherung schwerlich je zu erwarten war.

Schwerin äußerte irgend wann einmal den Wunsch, daß Lena sich mit den häuslichen Pflichten vertraut machen möchte, sie fügte sich auch ohne Widerspruch, aber nach einigen Tagen schlief der schüchterne Versuch wieder ein.

Wenn Lena die tote Einsamkeit nicht mehr zu ertragen vermochte, so flüchtete sie nie zu der fremden Frau, sondern immer zu Schwerin. Sie duckte sich auf seinem türkischen Diwan zusammen und unterhielt sich mit ihm. Sie hatten so vieles Gemeinsame erlebt, daß es lange Zeit an einem Thema für ihre Gespräche nicht mangelte.

Aber später stockte bisweilen die Unterhaltung; abends in der Dämmerung wurden die Pausen länger und länger, und wenn der Major von seinem Platze am Fenster aus nach dem Diwan hinüberschaute, auf dem Lena in der dunklen Ecke bewegungslos kauerte, so hatte er die Empfindung: sie ist eingeschlafen. Ganz leise ging er dann näher, sobald er aber dicht herangekommen war, schauten ihm Lenas Augen aus dem Dunkel groß und weit entgegen, so daß er regelmäßig eine Art von Schreck bekam. Er setzte sich dann wohl neben sie und nahm ihre Hand, und ohne daß er selbst recht wußte weshalb, wurde er in diesen Stunden traurig und schwermütig.

Wie jemand, der in einer dumpfen Luft dicht vor dem Ersticken noch rechtzeitig sich emporreißt und die Fenster öffnet, so sprang er dann auf und begann loszuwettern: »Zum Kuckuck, Lena, das geht so nicht länger! Man soll nichts übertreiben! Auch die Trauer nicht! Sei vernünftig! – – Du!!«

Sie stand auf und versuchte zu lächeln.

»Dein Unglück ist,« sagte er, »daß du nie in einer vernünftigen Schule warst, nichts gelernt hast. Wer in der Schule war, weiß sich in allen Lebenslagen irgendwie zu beschäftigen! Lies Bücher, anständige, vernünftige Bücher, die dich auf andre Gedanken bringen!« – – und er, der zeitlebens sich um die Litteratur sehr wenig gekümmert hatte, kramte aus seiner Bibliothek die Klassiker hervor, die ganz zu unterst in seinem Bücherschrank unter einem Wust von Rennkalendern, Gestütbüchern, dicken Jahrgängen eingebundener Sportzeitungen, Militärranglisten und vielleicht auch Schriften weniger harmlosen Inhaltes begraben lagen.

Mit dem nervösen Uebereifer ihres Alters und ihrer trüben Stimmungen versenkte sich Lena in die Bücher. Sie las ganze Nächte hindurch, und als sie in wenigen Wochen die langen Reihen von Bänden durchflogen hatte, begann sie, – überladen, verwirrt, von einem Durst nach Aussprache gequält – jemand zu suchen, mit dem sie über das Gelesene sprechen könnte, der manches Unverstandene erklären und für ihre übervolle Seele ein Verständnis haben würde.

Sie hatte keine Wahl, der einzige war eben wieder Schwerin, – und wie der Zauberlehrling, der die Geister entfesselt hat, sah der Major zuerst erstaunt, dann erschreckt die schweren Brigaden der Klassiker drohend heranrücken. Lena verlangte nicht, daß er jedes Wort aus den großen Bücherreihen kenne, sie wußte selbst gut genug, daß sich der Major zeitlebens mit andern Dingen vorwiegend beschäftigt hatte, aber sie war doch schmerzlich enttäuscht, als er ihr in rein nichts Rede und Antwort stehen konnte.

»Wie denkst du über Hamlet, Onkel Schwerin?« fragte sie mit einem letzten schwachen Versuch, und sie war gewiß, daß er wenigstens diesen Hamlet, von dem alle Welt spricht und der alle vierzehn Tage einmal an irgend einer Berliner Bühne zur Aufführung gelangt, einigermaßen kennen würde.

»Ja, ja, Hamlet –,« sagte er und gab sich einen verzweifelten Ruck, – »sehr richtig, – ein klassisches Werk, meine liebe Lena. Ein englisches Drama, von Shakespeare, Englands berühmtesten Dichter. Ich habe das Stück anno 68 selbst in London gesehen, ausgezeichnet. Ich kenne es nicht deutsch, nur englisch – verstehst du – ich habe früher sehr viel Englisch gelesen: Bulwer, Scott, Cooper – ja, ja diese Engländer! Sie sind in allem groß! In Pferden, im Reiten, in Gaunereien und – was natürlich nichts damit zu tun hat – in Litteratur!«

Aber er wußte sich mit dem besten Willen der Einzelheiten des Dramas nicht mehr zu entsinnen, und so schützte er eine Ausrede vor: daß er momentan keine Zeit habe, darüber zu reden, daß er aber morgen – jawohl, morgen – auf das Thema zurückkommen werde.

Und als Lena das Zimmer verlassen hatte, mit dem Buche in der Hand, klingelte er hastig dem Diener: »Du gehst sofort zum Buchhändler und holst Hamlet von Shakespeare. Du sagst niemand etwas davon. Du bringst das Buch hier in mein Zimmer und versteckst es, falls ich nicht anwesend sein sollte, dort in der Ecke. Verstanden?«

»Ja,« sagte Clemens, aber Titel und Dichter waren ihm natürlich nicht geläufig, so setzte sich der Major an den Schreibtisch und schrieb auf einen großen Bogen weißes Papier die Bestellung: ›Hamlet von Shakespeare.‹

Es war seine Absicht gewesen, in den Klub zu gehen, statt dessen saß er nun bis über Mitternacht und las das Buch. Zuerst mit einem verdrossenen Aerger, dann aufmerksamer und schließlich in einer Art von Selbstachtung. Er verstand aller Wahrscheinlichkeit nach von den dichterischen Schönheiten und dem Tiefsinn des Dramas nur das Wenigste, aber Hergang und Stoff wirkten auf ihn mit der Kraft, die nur eine naive Seele empfindet.

Auf solche Weise kam es, daß Schwerin – immer der gleichen Kriegslist folgend – über Winter eine beträchtliche Anzahl von Dramen las, und es gelang ihm gelegentlich einmal im Klub den langen Kleist bei dessen Unkenntnis von seines großen Oheims Werken so gründlich aufs Trockene zu setzen, so an die Wand zu drücken und dermaßen festzunageln, daß alle Anwesenden mit erstaunten, ängstlichen Gesichtern Schwerin beobachteten.

»Es ist ein Skandal,« sagte er, – »ein Skandal –,« und ohne daß er es sich selbst eingestand, erfüllte ihn dieser Triumph seines klassischen Wissens mit einer vielleicht größeren Genugtuung, als alle Rennbahnsiege, die er einst erfochten hatte. – –«

So ging es den Winter hindurch; als aber der Frühling kam und die Sonne an jedem Tage ein paar Minuten später unterging, wurde Schwerin unruhig, aufgeregt, und am Ostermontag erklärte er seine Absicht, heute nachmittag zum Rennen gehen zu wollen.

Die kleine Frau v. Pauly war außer sich vor Schreck:

»Bei dem Ostwind, Herr Major!! Wo Sie kaum eben den Husten überstanden haben –!! – Zum Rennen!!«

Einen Moment zögerte er selbst, – es war vielleicht wirklich ein nicht zu billigender Leichtsinn, – aber es ging ihm wie den altgewordenen Remonten, denen die Trompete ins Ohr klingt, und die dann die Ueberzeugung gewinnen, daß sie unbedingt dabei sein müssen.

»Nein, nein, ich muß,« sagte er, – »ich, ich –« und er begann zu lügen, – »ich habe da Verpflichtungen, sehr wichtige, es ist unmöglich – absolut –«

Und so ging er wirklich.

Es war Ostwind, allerdings, in allem übrigen aber der allerschönste Frühlingstag, und als Schwerin nun in seiner Droschke in dem schwarzen Menschenstrom fuhr, der nach Charlottenburg hinauspilgerte – und als er dann draußen stand in diesem tollen, lustigen Wind, der über die Höhen von Westend und das junge Frühlingsgras fegte, da war es ihm, als ob er aus einem wüsten Traum erwache.

›Ich habe mich einsperren lassen‹, dachte er, ›total! Ich war in diesem Winter nahe daran, einzuschlafen. Weiß dieser und der, was in mich gefahren ist, aber ich glaube wirklich, es hätte nicht viel gefehlt und ich säße heute zu Hause in Filzpantoffeln!‹

Er sah wieder die düsteren Winterabende in der Wohnung am Nollendorfplatz, Lena in Trauerkleidern, die kleine Dame des Hauses gleichfalls in Schwarz, – er dachte an Hamlet und die Angst vor dem Ertapptwerden irgend welcher Unkenntnisse, – er erinnerte sich seiner spärlichen Versuche, den Besuch im Klub allwöchentlich wenigstens einmal aufrecht zu erhalten, und er sah wieder die Lampe, den Tee, die Pantoffeln, das hagere, kleine Gesicht, die alle vereint bei jedem Nachhausekommen ihn wie einen hilflosen alten Herrn sorglich erwartet hatten.

Pferde wieherten, allenthalben flatterten Fahnen; da schob der Major wie ein Junge beide Hände in die Hosentaschen und versuchte ein paar Töne zu pfeifen.

»Ich pfeife auf alles! Auf alles! Das muß alles ganz anders werden. Das muß alles wieder so werden wie früher. Schließlich auch mit Lena. Das Mädel geht zu Hause zu Grunde, genau wie ich selbst.«

Er schüttelte hundert Bekannten die Hand und trank ein Glas Sekt und wettete und gewann und trank noch ein Glas Sekt und gewann wieder und fuhr abends mit Otto Oettingen in dessen Dogcart via Charlottenburg nach Berlin. Er speiste wieder im Hotel, er ging mit Otto in den Wintergarten, er war bis Mitternacht und darüber hinaus der lustige Schwerin, der, wie alle Leute versicherten, bei vernünftiger und heiterer Lebensweise nie alt werden würde.

Dann fuhr er in offener Droschke nachts zwei Uhr durch den Tiergarten nach Hause und trällerte ein Lied und kam mit ganz festen Schritten in die Wohnung und sagte zu der verdutzten, wartenden, mit Pantoffeln kommenden Frau Doktor:

»Wenn wir nicht ernstliche Feinde werden wollen, meine verehrte gnädige Frau, dann muß das jetzt aufhören! Nie mehr Pantoffeln, nie mehr Tee, nie mehr dieses Gewarte! Weiß der Kuckuck, ich kann das nicht leiden! Ich bin kein Greis, meine verehrte Gnädige, ich bin ein Mann, der mit dem Leben keineswegs schon abgeschlossen hat. Wenn es Ihnen recht ist, wollen wir noch eine Flasche Sekt trinken, denn es ist noch früh am Tage.« Und als sie erschreckt, ganz starr vor Staunen und total kopflos hinausgegangen war, um die erwähnte Flasche zu holen, fand sie ihn zurückkommend am offenen Fenster stehen.

»Es ist Frühling draußen, und hier drin herrscht eine Luft wie um Weihnachten! Das muß alles anders werden, meine verehre Gnädige, – dieser ganze Haushalt muß umgekrempelt werden, – ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen. Sind wir auf der Welt, um alte verdrossene Leute zu sein?! Weiß der Teufel, nein!!«

Er öffnete selbst die Flasche und goß den Wein ein, nicht in die dünnen Kelche, die sie mit zitternder Hand herbeigeholt hatte, sondern in zwei große Wassergläser:

»Auf Ihr Wohl, meine Gnädige, und auf unser aller Wohl! Das ist das letzte Glas, das wir beide miteinander zu nachtschlafender Zeit trinken, denn von jetzt an möchte ich, – hol mich dieser und der! das ist mein fester Entschluß! – vom Klub nach Hause kommen ohne Empfang.«

Zwei große Tränen standen ihr in den Augen, aber der Major legte ihr mit Hintenansetzung jeglicher Feierlichkeit die Hand auf die Schulter und stieß derb mit den Gläsern an:

»Darum keine Feindschaft. Immer heitere Gesichter. Das ist die Hauptsache! Immer jung bleiben! Lustig!«

*

Das war für lange Zeit Schwerins letzter heiterer Tag. Er hatte sich in der offenen Nachtdroschke oder bei dem am Fenster stehen oder irgend wann in dem tückischen Ostwind einen Knacks geholt, der nach Ansicht des Arztes vielleicht nie wieder ganz und gar zu reparieren sein würde. Es wurde zunächst einmal ein wochenlanges Imbettbleiben als Basis aller künftigen medizinischen Maßnahmen verordnet, und während draußen der Ostwind in einen linden West umsprang und nun wirklich der Frühling einzog, der mit dem hinterlistigen Talmi-Frühling vom Ostermontag nichts mehr zu tun hatte, – und während dieser sonnigen Apriltage, die in einen wunderschönen Mai hinüberleiteten, lag der Major hinter verschlossenen Fenstern, in dicke Tücher verpackt, unter denen sich unangenehme, kalte Umschläge verbargen. Er durfte nicht rauchen, er durfte nicht trinken, – er bekam morgens eine Bouillon, nachmittags eine Bouillon, abends eine Bouillon, alle drei mit eingeweichten Semmeln, – er wurde nahezu vier Wochen lang nicht rasiert, – und als der Doktor mit zufriedenem Lächeln nach etwa einem Monat Schwerin gestattete, zum erstenmal ein Stündchen aufzustehen, war der Major so schwach, daß er in den Beinen zusammenknickte und ohne Clemens' und der gnädigen Frau Unterstützung unfehlbar vornüber gefallen wäre.

Er blickte in den Spiegel und sah einen alten Herrn mit eingefallenem Gesicht und grauen scheußlichen Bartstoppeln, dem man um den Hals ein dickes Tuch gewickelt hatte, und der ohne Monocle aussah wie – – es war wirklich schwer zu sagen wie was. Bis ihm ein schauderhafter Vergleich einfiel:

»Ich sehe aus wie ein Verbrecher!«

Alle lachten, sogar Clemens mit einem respektwidrigen, tönenden Gewieher, sogar Lena, die zärtlich ihre Arme um des Majors Hals legte und sagte: »Du mußt dich nur schonen, Onkel Schwerin, dann wird alles bald wieder besser.«

Aber Schwerin lachte nicht.

Eine Stunde später, als man ihn rasiert, frisiert, zurechtgemacht hatte, als das graue Tuch entfernt und statt dessen ein seidener Shawl ihm um den Hals gelegt war, als er in der Fensternische saß in seinem bequemen Stuhl und das Monocle ins Auge geklemmt hatte, da endlich hatte er wieder ein menschliches Aussehen, und der fatale Vergleich von vorhin war hinfällig geworden.

Aber wenn auch kein Verbrecher, so war der arme Schwerin doch ein alter, verfallener Mann geworden, das spürte er selbst am allerbesten. Man erlaubte ihm, eine ganz leichte »Henri Clay«, aber sie schmeckte abscheulich, und er legte sie nach ein paar Zügen wieder fort. An jedem Tage brachte Lena von ihren Spaziergängen große Blumensträuße mit heim, über die er sich zu freuen vorgab, die ihm in Wahrheit aber immer einen Stich ins Herz versetzten.

Er las nicht mehr Hamlet und die Klassiker, denn es gibt Stadien im menschlichen Leben, in denen man auf die kleinen Heucheleien vergangener Zeiten verzichtet. Seine Lektüre waren wieder wie zu aller früheren Lebenszeit die Sportzeitungen, aber sie hatten auch nichts Heiteres für ihn, im Gegenteil, denn wenn draußen die Sonne schien und er sich sagen mußte: jetzt fahren sie nach Hoppegarten, morgen beginnt das Meeting zu Leipzig, – und er nachsann: ich bin nicht dabei und werde vielleicht nie wieder dabei sein, – dann kam ihm seine Lage eigentlich erst recht zum Bewußtsein.

Ganz langsam begannen seine Kräfte wieder zu erstarken, in den letzten Tagen des Mai durfte er zum erstenmal einen Spaziergang machen, zweimal um den Nollendorfplatz herum, – so oft er indessen die schüchterne Behauptung aufstellte, er fühle sich wieder ganz wohl und werde eventuell das alte Leben demnächst wieder aufnehmen, geriet seine Pflegerin in eine fast hysterische Erregung. Sie deutete an, daß sie lieber alles: Stellung, Wohlleben und die freundschaftlichen Beziehungen zu dem Major verlieren wolle, als je wieder dulden, daß Schwerin vorzeitig auf seinen Ruin ausginge. Wenn er hustete, begann sie vor Schreck zu zittern, und obwohl Schwerin mit eiserner Energie und in banger Furcht vor solcher Wirkung gegen jeden Hustenreiz ankämpfte, so ließ sich natürlich dieser Tyrann kranker Leute nicht immer unterdrücken. Dann wurden alle Türen verschlossen, alle Fenster verstopft, und die Angst vor dem Zugwind wurde in so tausend Ausrufen variiert, daß der Major schließlich selbst diesen Zugwind als seinen künftigen Mörder zu betrachten begann.

Sie besaß aus ihres Gatten Nachlaß eine ganze Anzahl von Krankenbüchern, die sie aus einem uralten, mottenzerfressenen Seehundskoffer hervorsuchte und Schwerin dringend zu lesen empfahl. Lange Zeit weigerte er sich mit dem guten Instinkt einer von Haus aus gesunden Natur auf diese Lektüre sich einzulassen, aber die Bücher lagen vor ihm, grinsten ihn an, bis er sie schließlich öffnete, um dann aus ihnen mit immer wachsendem Schrecken zu erfahren, daß der Mensch nichts als ein Wanderer zwischen zehntausend Krankheiten ist, deren irgend eine ihn über kurz oder lang mit tödlicher Sicherheit zu Fall bringen wird.

Er führte im übrigen ein ziemlich behagliches Leben, kein Mensch konnte mit mehr Liebe und Sorgfalt verhätschelt werden, und dieses Wohlleben ohne alle Sorgen und Aufregungen mit spätem Aufstehen und zeitigem Zubettgehen hatte etwas Erschlaffendes, Einlullendes, bis Schwerin in seinem Capua langsam die Welt draußen zu vergessen begann.

Abends nach Tisch legte er Patience, die seine Pflegerin ihn gelehrt hatte, – ein toller Gegensatz zu Schwerins früheren Kartenspielen! Bisweilen spielten sie auch sechsundsechzig, die Partie um zehn Pfennig, was aber Frau v. Pauly so sehr aufregte, daß sie, namentlich wenn sie im Verlust war, des Herzklopfens wegen aufhören mußte.

Lena saß stumm dabei, ohne je mitzuspielen. Es war eine Lethargie über sie gekommen. Sie fühlte sich nicht unglücklich, nur eingeengt und müde. Sie dachte an Oldeslo und daß es dort eigentlich sehr fröhlich gewesen sei, – sie hatte da Freundinnen gehabt, – George, – aber sie fühlte nicht einmal eine rechte Kraft der Sehnsucht. Fast an jedem Tage kamen Briefe von George, in denen von seinen Arbeiten und dem gut bestandenen Doktorexamen die Rede war. Sie sehnte sich nach ihm, gewiß, aber auch das ohne eine leidenschaftliche Kraft.

Auf die junge Liebe war der Mehltau gefallen, zu sehr, – sie hatte oft den Eindruck, als ob sie beide, George so gut wie sie selbst, sich in ihren Briefen Mühe geben müßten, im Beginne und am Schlusse warme Worte zu finden.

– – An einem Sommerabend traf sie von einem Spaziergang heimkehrend Schwerin auf dem Balkon, wo er die Blumen begoß, – er stellte, sobald er Lena sah, die Blechkanne beiseite, ging mit Lena in das Zimmer zurück, schloß die Türen und begann in einer sonderbaren Erregung auf sie einzureden:

»Uebermorgen ist in Harzburg die große Auktion! Da lies, es werden achtzehn Jährlinge versteigert. Lena, ich war jedes Jahr in Harzburg, du weißt, es war immer einer der lustigsten Tage im ganzen Jahre, und weißt du, ich möchte, – ich möchte wirklich noch einmal hin.«

Sie sah ihn etwas erstaunt an: »Ja, weshalb nicht?«

»Es ist,« sagte er, – »ja, wie soll ich mich ausdrücken, – es ist, – weißt du, Lena, wenn du mich begleiten würdest, dann ginge es vielleicht. Sie wird mich nicht so allein reisen lassen wollen, das heißt – und natürlich hat sie auch vielleicht recht – denn es ist immerhin eine Reise, eine ganze Ecke, und natürlich muß ich mich noch schonen, – aber wenn du mitreisen würdest, dann wäre alles anders, das ist klar, – und deshalb, Lena, du tätest mir einen großen Gefallen, wenn du selbst mit ihr das – wenn du es mit ihr besprechen wolltest, jetzt gleich.«

Lena verstand vielleicht nicht ganz sein sehnsüchtiges Verlangen, sie war so müde und gleichgültig, daß Schwerins plötzliches Projekt sie mehr überraschte als erfreute, – als er aber aus ihren Mienen die Teilnamlosigkeit las, verdoppelte sich sein Eifer. Und wie aus der Pistole geschossen kam ihm ein rettender Gedanke: »Du könntest dann an – an George schreiben, daß er auch hinkäme, daß er dich – uns – in Harzburg träfe.« –

Sie sah ihn völlig verdutzt an, zum erstenmal war dieses Wort »George« zwischen ihnen gefallen, nie hatte Schwerin seiner Erwähnung getan, – es zuckte in ihrem Herzen, als ob ein feiner Stich sie verwundet hätte.

Er merkte, daß er in seine Attacke wieder einmal unsinnig rasch draufgegangen war, daß mit diesem vehement ins Treffen gebrachten »George« wahrscheinlich der ganze Plan vernichtet sei, und seine Züge nahmen einen so ängstlichen Ausdruck an, so hoffnungslos, daß Lena – von tausend Gefühlen durchstürmt und erwachend aus einem dumpfen Hindämmern – sich plötzlich an seine Brust warf und ihr Gesicht verbarg.

Schwerin war erschreckt, er deutete diese Erregung wiederum falsch, und in dem Schuldbewußtsein, Lena gekränkt, beleidigt, verwundet zu haben, sagte er hastig:

»Nein, Lena, wir wollen ja auch nicht hin, ich will ja gar nicht, es ist ja alles Unsinn.«

Da beugte sie den Kopf zurück und sah ihn an:

»Doch! Doch!!«

Ihr Gesicht strahlte: »Wann werden wir fahren? Erst morgen?! Nein, heute schon! Ich werde George depeschieren.« – Ganz außer sich vor Glück tat sie ein paar Schritte, als gelte es schon, die Sachen zusammen zu suchen, und strich über das Kleid mit diesem ersten Gedanken: ›Was werde ich anziehen –?‹ – dann lief sie mit ausgebreiteten Armen wieder zu ihm: »Lieber, lieber Onkel Schwerin!«

– Stark, gewaltig trat der Major in den Vorplatz und rief mit seiner alten, lange nicht mehr gehörten Donnerstimme:

»Clemens! Die Koffer her! Wir packen! Wir fahren nach Harzburg!«

Clemens stürzte herein, die Frau Doktor stürzte herein, – sie sahen, wie Schwerin den rechten Pantoffel vom Fuße weg gegen den Ofen schleuderte: »Meine Stiefel her! Ich bin noch nicht altes Eisen! Noch lange nicht rheumatisches, verrostetes Eisen!« – Und als Clemens ihn ungläubig anschaute und ganz dumm, hoffnungsvoll, entzückt fragte:

»Werden Herr Major in Harzburg – Herr Major wieder Pferde kaufen –?« schlug Schwerin ihn auf die Schulter, jugendfrisch, lustig:

»Das wird sich finden, Clemens! Sich finden!!«


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