Prosper Mérimée
Lokis
Prosper Mérimée

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II.

Die Nacht war warm. Ich hatte das Fenster nach dem Park hin offengelassen. Als mein Brief geschrieben war und ich noch keinerlei Schlaflust verspürte, fing ich an, die unregelmäßigen lithauischen Verben noch mal durchzugehen und im Sanskrit den Gründen ihrer verschiedenen Unregelmäßigkeiten nachzuforschen. Inmitten dieser mich in Anspruch nehmenden Arbeit wurde ein ziemlich dicht an meinem Fenster stehender Baum heftig bewegt. Ich hörte das Knacken der abgestorbenen Äste und mich däuchte, irgendein sehr schweres Tier versuche an ihm hochzuklettern. Dem Kopf noch ganz voll von den Bärengeschichten, die mir der Doktor aufgetischt hatte, erhob ich mich, nicht ohne eine gewisse Erregung, und sah einige Fuß von meinem Fenster entfernt im Laubwerk des Baumes einen von meinem Lampenlicht vollbeleuchteten Menschenkopf. Die Erscheinung währte nur einen Moment, doch der seltsame Glanz der Augen, die meinem Blicke begegneten, erschreckte mich mehr, als ich sagen kann. Unwillkürlich fuhr mein Körper zurück, dann lief ich uns Fenster und fragte mit strengem Tone den Eindringling, was er wolle, währenddem stieg er in voller Hast hinab und, einen starken Ast zwischen seine Hände nehmend, ließ er sich erst daran hängen, dann auf die Erde fallen, und verschwand sofort. Ich schellte; ein Diener trat ein. Ich erzählte ihm, was eben geschehen war.

»Herr Professor werden sich zweifelsohne getäuscht haben.«

»Was ich sage, weiß ich gewiß,« erwiderte ich. »Ich fürchte, ein Dieb ist im Park.«

»Unmöglich, mein Herr.«

»So ist's also jemand aus dem Hause?«

Der Diener riß die Augen auf, ohne mir zu antworten. Schließlich fragte er, ob ich ihm Befehle zu erteilen hätte. Ich ließ ihn die Fenster zumachen und legte mich zu Bett.

Sehr gut schlief ich, ohne von Bären und Dieben zu träumen. Morgens, ich vollendete meinen Anzug gerade, klopfte es an meine Tür. Ich öffnete und sah mich einem sehr großen und schönen jungen Manne in einem bocharischen Schlafrocke gegenüber, der eine lange Türkenpfeife in der Hand hielt.

»Ich möchte Sie um Verzeihung bitten, Herr Professor,« sagte er, »einen Gast wie Sie so schlecht empfangen zu haben. Ich bin Graf Szemioth.«

Ich beeilte mich, zu antworten, daß ich ihm im Gegenteil ergebenst für seine großartige Gastfreundschaft zu danken habe, und fragte ihn, ob er von seiner Migräne befreit sei.

»Beinahe,« sagte er, »bis zu einem neuen Anfall,« fügte er mit traurigem Ausdruck hinzu. »Fühlen Sie sich erträglich hier? Wollen Sie bitte daran denken, daß Sie bei Barbaren sind. In Samogitien darf man keine großen Ansprüche stellen.«

Ich versicherte ihn, daß ich mich außerordentlich wohl fühle, während ich mit ihm sprach, konnte ich nicht umhin, ihn mit einer Neugierde zu betrachten, die ich selber unverschämt fand. Sein Blick hatte etwas Seltsames, das mich wider meinen Willen an den des Mannes erinnerte, den ich am Vorabend auf dem Baume gesehen hatte ...

»Doch wie kann es möglich sein,« sagte ich zu mir, »daß Graf Szemioth nachts auf Bäume klettert!«

Er hatte eine stolze und gut herausgearbeitete, wenn auch etwas niedrige Stirn. Seine Gesichtszüge waren ganz regelmäßig, nur standen seine Augen zu dicht aneinander und die Entfernung von einer Tränendrüse zur anderen schien mir nicht von Augenlänge zu sein, wie es die Satzung der griechischen Bildhauer heischt. Sein Blick war durchdringend. Wider unsern Willen begegneten sich unsere Augen mehrmals, und mit gewisser Verwirrung wandten wir sie von einander ab. Plötzlich brach der Graf in ein Gelächter aus und rief:

»Sie haben mich wiedererkannt!« »Wiedererkannt?«

»Ja, Sie haben mich gestern bei meinen Gassenbubenstreichen überrascht!«

»Oh! Herr Graf!« ...

»Den ganzen Tag hatte ich recht leidend, in meinem Kabinette eingeschlossen, zugebracht. Als ich mich Abends besser fühlte, bin ich im Garten spazieren gegangen. Ich habe Licht bei Ihnen gesehn und einer Neugierregung nachgegeben ... Hätte meinen Namen nennen und mich vorstellen sollen, die Situation aber war so lächerlich ... Habe mich geschämt und bin geflohn ... Verzeihen Sie mir, Sie so mitten in der Arbeit gestört zu haben?«

All das ward in einem Tone gesagt, der scherzhaft sein sollte; aber er errötete und war sichtlich verlegen. Was von mir abhing, tat ich, ihn zu überzeugen, daß ich von dieser ersten Begegnung keinen peinlichen Eindruck zurückbehalten hätte; und um die Gespräche in eine andere Bahn zu lenken, fragte ich ihn, ob es wahr sei, daß er den Samogitischen Katechismus Pater Lawickis besitze.

»'s kann sein; doch, aufrichtig gesagt, kenne ich meines Vaters Bibliothek zu wenig. Er liebte alte Bücher und Seltenheiten, ich aber lese nur moderne Bücher. Doch wir wollen nachsehen, Herr Professor. Sie wünschen also, wir sollen das Evangelium shmudisch lesen ?«

»Meinen Sie nicht, Herr Graf, daß eine Übersetzung der Bibel in die Landessprache sehr wünschenswert wäre?«

»Sicherlich; dennoch, wenn Sie mir eine kleine Einwendung gestatten wollen, möchte ich Ihnen sagen, daß von den Leuten, die nur shmudisch sprechen, kaum ein einziger zu lesen versteht.«

»Mag sein; aber ich bitte Eure ExzellenzSialelstwo, Euer lichtvoller Glanz; der Titel, den man einem Grafen gibt. darauf aufmerksam machen zu dürfen, daß die größte Schwierigkeit, das Lesen zu lernen, im Büchermangel besteht, wenn die samogitischen Länder erst einen gedruckten Text haben, wollen sie ihn auch lesen, und werden lesen lernen. So ist's schon bei vielen wilden Völkern gewesen, ... nicht aber, daß ich diese Bezeichnung den hiesigen Bewohnern gegenüber anwenden will ....«

»Ist es nicht überhaupt beklagenswert,« fügte ich hinzu, »daß eine Sprache verschwindet, ohne Spuren zu hinterlassen? Seit über dreißig Jahren ist das preußische eine tote Sprache. Die letzte Person, welche Cornisch sprechen konnte, ist neulich gestorben...«

»Traurig!« unterbrach mich der Graf. »Alexander von Humboldt erzählte meinem Vater, in Amerika einen Papagei gesehen zu haben, der als Einziger einige Wörter eines durch Blattern völlig vernichteten Stammes konnte. Gestatten Sie, daß man den Tee hierherbringt?«

Während wir Tee tranken, drehte sich die Unterhaltung um die shmudische Sprache.

Der Graf tadelte, wie die Deutschen das Lithauische gedruckt haben, und er hatte Recht.

»Ihr Alphabet,« sagte er, »paßt nicht für unsere Sprache. Sie haben weder unser J noch unser L, noch unser Y, noch unser E. Ich besitze eine im vergangenen Jahre in Königsberg veröffentlichte Sammlung Dainos und es kostet mich die erdenklichste Mühe, die Worte zu erraten, so fremdartig sind sie geschrieben.«

»Eure Exzellenz sprechen sicherlich von den Leßnerschen Dainos?«

»Ja; das ist recht platte Poesie, nicht wahr?«

»Vielleicht hätte er Besseres finden können. So wie die Sammlung vorliegt, hat sie zugestandenermaßen lediglich philologisches Interesse; doch, glaube ich, bei besserem Suchen würde man schließlich süßere Blüten unter Ihren Volksdichtungen pflücken können.«

»Ach, trotz all meines Patriotismus' zweifle ich sehr daran!«

»Vor einigen Wochen hat man mir in Kowno eine wirklich schöne Ballade geschenkt, eine ganz historische.... Die Dichtung ist bemerkenswert. würden Sie mir gestatten, sie Ihnen vorzulesen? Ich hab' sie in meiner Brieftasche.«

»Sehr gern!«

Er lehnte sich, nachdem er mich um die Erlaubnis gebeten hatte, zu rauchen, tief in seinen Sessel zurück.

»Dichtung kann ich nur beim Rauchen genießen,« sagte er.

»Sie heißt: die drei Söhne Budrys'.«

»Die drei Söhne Budrys ?« rief der Graf mit einer Bewegung des Erstaunens.

»Ja. Budrys ist, wie Eure Exzellenz besser wissen als ich, eine historische Persönlichkeit.«

Mit seinem merkwürdigen Blicke sah mich der Graf fest an. Etwas Unerklärliches, Furchtsames und Wildes zugleich lag darin, das, wenn man nicht daran gewöhnt war, einen fast peinlichen Eindruck machte. Um ihm zu entrinnen, fing ich schnell zu lesen an.

Die drei Söhne Budrys.

In seinem Schloßhofe ruft der alte Budrys seine drei Söhne, drei echte Lithauer wie er. Er sagt zu ihnen:

»Kinder, lasset eure Streitrosse fressen, macht eure Sättel zurecht; schärfet eure Säbel und eure kleinen Wurfspieße. In Wilna, heißt es, ist der Krieg erklärt worden nach den drei Enden der Welt hin. Olgerd soll gegen die Russen ziehen, Skirghello gegen unsere Nachbarn, die Polen; Keystut soll über die Teutonen (gemeint ist der deutsche Ritterorden) herfallen. Ihr seid jung, tapfer, kühn, zieht in den Kampf; die Götter Lithauens mögen euch beschützen! Dieses Jahr werde ich keinen Kampf auf mich nehmen; euch aber will ich einen Rat geben: ihr seid drei; drei Wege tun sich euch auf.

Einer von euch begleite Olgerd nach Rußland an die Ufer des Ilmensees, unter die Mauern Nowgorods. Hermelinfelle, gewirkte Stoffe gibt es dort in Fülle. Bei den Kaufherrn soviel Rubel wie Eisschollen im Strome.

Der zweite folge Keystut bei seinem Einfalle. In Stücke haue er das kreuzgezeichnete Lumpenpack! Ambra ist dort ihr Meeressand; um ihres Glanzes und ihrer Farbe willen sind ihre Stoffe ohne gleichen. Rubinen gibt es auf ihrer Priester Gewändern.

Der dritte möge mit Skirghello über den Niemen ziehen. Auf dem anderen Ufer wird er elendes Pfluggerät finden. Dafür kann er gute Lanzen, starke Schilde wählen und soll mir eine Schwieger von dort heimbringen.

Die Töchter Polens, Kinder, sind die schönsten unserer Gefangenen. Mutwillig wie Katzen, weiß wie Rahm! Unter ihren schwarzen Brauen strahlen ihre Augen wie zwei Sterne. Als ich jung war, vor einem halben Jahrhundert, habe ich aus Polen eine schöne Gefangene heimgebracht, die mein Weib wurde. Seit langem ist sie nicht mehr, ich aber kann nicht nach der Herdseite sehen, ohne ihrer zu gedenken!«

Seinen Segen gibt er den jungen Leuten, die schon gewappnet sind und im Sattel. Sie reiten ab; der Herbst kommt, dann der Winter ... Sie kehren nicht zurück. Schon hält der alte Budrys sie für tot.

Kommt ein Schneesturm; ein Reiter naht, mit seiner schwarzen Burka irgend eine köstliche Last bedeckend.

»'s ist ein Sack,« sagt Budrys. »Ist er voll der Rubel Nowgorods?« ...

»Nein, Vater. Ich bringe euch eine Schwieger aus Polen.«

Inmitten eines Schneesturms nähert sich ein Reiter und seine Burka bläht sich über einer köstlichen Last.

»Was ist's, Kind? Bernstein Deutschlands?«

»Nein, Vater. Ich bringe Euch eine Schwieger aus Polen.«

Der Schnee treibt im Winde; ein Reiter nähert sich, unter seiner Burka eine köstliche Last bergend ... Bevor er seine Beute noch gezeigt, hat Budrys seine Freunde zu einer dritten Hochzeit geladen.«

»Bravo, Herr Professor,« rief der Graf, »prachtvoll sprechen Sie shmudisch. Wer aber hat Ihnen diese hübsche Daina mitgeteilt?«

»Eine junge Dame, die ich die Ehre gehabt habe, in Wilna bei der Fürstin Katazyna Pac kennen gelernt zu haben.«

»Und sie hieß?«

»Die Panna Iwinska.«

»Fräulein Julka,« rief der Graf. »Die kleine Närrin. Ich hätt's erraten müssen! Mein lieber Professor, Sie verstehen shmudisch und alle gelehrten Sprachen, Sie haben alle alten Bücher gelesen; haben sich aber von einem kleinen Mädchen anführen lassen, das nur Romane gelesen hat. Mehr oder minder korrekt hat sie eine der hübschen kleinen Balladen von Mickiewicz, die Sie nicht gelesen haben, weil sie nicht viel älter ist als ich, ins Shmudische übersetzt. Wenn Sie's wünschen, will ich sie Ihnen polnisch zeigen, oder wenn Sie eine ausgezeichnete russische Übertragung vorziehen sollten, will ich Ihnen Puschkin geben.«

Ich muß gestehn, ganz bestürzt saß ich da. Was für eine Freude für den Dorpater Professor, wenn ich die Daina der Söhne Budrys' als Original veröffentlicht hätte!

Statt sich über meine Verwirrung zu amüsieren, beeilte sich der Graf mit ausgesuchter Höflichkeit, die Unterhaltung auf ein anderes Gebiet zu lenken.

»Also,« sagte er, »Sie kennen Fräulein Julka?«

»Ich hatte die Ehre, ihr, vorgestellt zu werden.«

»Und was halten Sie von ihr? Seien Sie ehrlich.«

»Sie ist ein sehr liebenswürdiges junges Mädchen.«

»Das sagen Sie nur so.«

»Sie ist sehr hübsch.«

»Wie! Hat sie nicht die schönsten Augen von der Welt?«

»Ja...«

»Eine wirklich ungewöhnlich weiße Hautfarbe? Ich erinnere mich einer persischen Ghasele, worin ein Liebhaber seiner Liebsten seine Haut feiert:

»Wenn sie roten Wein trinkt, sagt er, sieht man ihn durch ihre Kehle rinnen.«

Bei der Panna Iwinska mußte ich an diese persischen Verse denken.« »Vielleicht sieht man dies Phänomen bei Fräulein Julka; ob sie aber Blut in den Adern hat, weiß ich nicht genau... Sie hat kein Herz... Weiß ist sie wie Schnee, aber auch so kalt wie er!« ...

Er stand auf und ging einige Zeit wortlos im Zimmer umher, wie mir schien, um seine Erregung zu verbergen; dann blieb er plötzlich stehn und sagte:

»Verzeihung, wir sprachen, glaub ich, von Volksdichtungen ...«

»Gewiß, Herr Graf.«

»Nach allem muß man zugeben, daß sie Mickiewicz hübsch übersetzt hat...

»Mutwillig wie eine Katze. Wie Rahm so weiß ...ihre Augen funkeln wie zwei Sterne...« Das ist ihr Porträt. Finden Sie nicht?«

»Gewiß, Herr Graf.«

»Und was die Eulenspiegelei anlangt ... die zweifelsohne durchaus unangebracht ist, ... das arme Kind langweilt sich bei einer alten Tante... Sie führt ein Klosterleben.«

»In Wilna ging sie unter die Leute. Habe sie auf einem Balle gesehn, der von den Offizieren veranstaltet wurde, vom Regiment ...«

»Ach, ja, junge Offiziere, das ist für sie die rechte Gesellschaft! Mit einem lachen, mit dem anderen spotten, mit allen herumkotettieren ... Wollen Sie meines Vaters Bibliothek sehn, Herr Professor?«

Ich folgte ihm in eine große Galerie, wo es sehr viele schöngebundene Bücher gab, die aber, wie sich aus dem Staube schließen ließ, der auf den Schnitten lag, selten aufgeschlagen wurden. Man kann sich meine Freude denken, als einer der ersten Bände, die ich aus einem Schranke nahm, der Catechismus Samogiticus war! Ich konnte einen Freudenruf nicht unterdrücken. Eine gewisse geheimnisvolle Anziehungskraft muß, uns unbewußt, ihren Einfluß geltend machen ... Der Graf nahm das Buch, und nachdem er oberflächlich darin geblättert hatte, schrieb er auf den Schutzumschlag: Herrn Professor Wittembach gewidmet von Michael Szemioth. Meine überschwengliche Dankesfreude wüßte ich hier nicht wiederzugeben. Innerlich versprach ich mir, das kostbare Buch solle nach meinem Tode eine Zierde der Universität werden, an welcher ich promoviert hatte.

»Wollen Sie diese Bibliothek bitte als ihr Arbeitszimmer ansehen,« fragte der Graf, »nie sollen Sie drin gestört werden.«


 << zurück weiter >>