Johannes Richard zur Megede
Das Blinkfeuer von Brüsterort
Johannes Richard zur Megede

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Doch Mitternacht legte sich der Sturm. Dühling erwachte von der plötzlichen Ruhe und horchte. Nur von fern klang noch das dumpfe Aufschlagen der Brandung – so ein schwerer, unheimlicher Ton. Er ging ans Fenster. Der Himmel war klar, und der unbewegte Zauberwald schwamm im weißen Mondlicht. Von der See her zuckten die Wogenkämme undeutlich auf und nieder. Er dachte an Esther. Wo war sie wohl jetzt? Er sah die Schlaflose, wie sie im Gang am Fenster des sausenden Zuges lehnte und sehnsüchtig den fliehenden Osten suchte. Das zärtliche Beschützergefühl erwachte. Wenn er doch bei ihr hätte sein können, auch ungesehen! Es war ihm wider die Natur, daß eine geliebte Frau dem schwersten Schritt ihres Lebens allein entgegenfahren mußte. Er berechnete die Stunden, bis sie zurück sein konnte. Sie kam ja so sicher zurück! Aber schlafen konnte er nicht mehr. Die Empfindung irgendeines ungeahnten, unentrinnbaren Unglücks ließ ihn nicht. Es war eine dumpfe Empfindung; sie war grundlos, und doch scheuchte sie die Vernunft nicht. Schließlich ärgerte er sich über solch unbotmäßige Nerven.

Aber als er nach einem kurzen, bleiernen Morgenschlaf wie zerschlagen erwachte, vermißte er das wilde Klagen des Windes. Der monotone Wogenschlag allein hatte für ihn etwas Schweres, so was vom Schicksal ... Andere Laute! – Menschenstimmen – irgend etwas! Heute suchte er das flache Pensionsgespräch, das er sonst mied. Unten im Eßzimmer standen junge Mädchen um eine kleine freundliche Dame, die den Aufhorchenden das Schicksal aus der Hand las.

»Die Lebenslinie ist bei Ihnen allen recht hübsch lang, meine Damen. Sie sind ja auch so jung! ... Frau von Westrem habe ich übrigens auch mal in Königsberg das Horoskop gestellt: die Lebenslinie ist bei der erstaunlich kurz. Als wenn sie jeden Tag, heute oder morgen, sterben könnte. Ich hab's ihr natürlich nicht gesagt. Sonst hat sie eine fabelhaft interessante Hand.« .... Als sie Dühling erblickte, verstummte sie plötzlich und schlug dann lachend die jungen Hände weg, die sich ihr neugierig entgegenstreckten. »Ach, meine Damen, das ist ja alles Unsinn! Man muß um Gottes willen nicht an diese Wissenschaft glauben.« ...

Dühling trat in den Kreis. »Soll ich vielleicht auch wahrsagen, Herr Rittmeister?« fragte sie liebenswürdig.

Dühling hielt ihr die Hand hin – eine schlanke, weiße Aristokratenhand, auf die er ein wenig eitel war.

Sie las. »Oh, Herr Rittmeister, Sie werden uralt werden! Die Lebenslinie hört bei Ihnen überhaupt gar nicht auf. Und nachdem Sie Schweres erlebt haben, werden Sie gar nichts mehr erleben. Das verläuft bei Ihnen alles so ruhig! ... Und das trifft ein, Herr von Dühling, passen Sie auf!« schloß sie gutherzig.

Dühling dankte. Diese Zukunft war ganz nach seinem Geschmack. Den Vormittag blieb er mit der Jugend zusammen. Seine hübsche Freundin mied ihn zwar scheu, aber sie brachte ihm doch noch einen letzten Gruß von Esther, die sie auf der Bahn getroffen. Es war ein harmlos vergnügter Vormittag. Nach elf Uhr kam der Briefbote. Die Gesellschaftsdame breitete die Post auf einer Tischecke aus. »Für Sie, Herr Rittmeister, ist heute ausnahmsweise viel. Drei Briefe!« Sie reichte sie ihm liebenswürdig und dienstbereit wie immer.

Dühling sah nur den ersten und öffnete ihn sofort. Es war ihre Hand. Drei flüchtige Zeilen, im Wartesaal noch rasch hingeworfen – aber es lag so viel Wärme drin, so viel mutiger Glaube. Wieder fiel ihm die scharfe, freie Linienführung auf. Keine Furcht, keine Reue! Die Schrift war wie sie selbst. Dann griff er zu den beiden andern. Ein schwarzgeränderter Brief und ein rosa Billett. Er zuckte leicht zusammen. Er öffnete sie nicht, obgleich er die Schrift gut kannte – die glatte, hübsche Schrift einer viel korrespondierenden Frau. Der schwarzgeränderte hatte viele Irrfahrten gemacht, bis er in das abgelegene Seebad gelangte. Das rosa Kuvert trug die richtige Adresse und war erst einen Tag alt.

Dühling stand sofort auf und ging mit den beiden Briefen in der Hand hinaus. Er spürte ein merkwürdiges Zusammenziehen in der Herzgegend. Erst jetzt hatte er sein Schicksal in der Hand – er wußte das genau ... Er zog im Korridor langsam seinen Mantel an, setzte vor dem Spiegel die Strandmütze auf – er tat das alles wie sonst, nur mit einem gewissen Ernst.

Er ging den Strandweg entlang. Der kühle Septembertag machte ihn leicht frösteln. Der Herbst hatte die Bäume nun genug gezaust und zeigte ein ruhiges, nüchternes Gesicht. Dühling setzte sich auf eine Bank, den Blick nach der See. Er sah die Brandung nicht – er sah in sich hinein. Er wußte, was in dem Brief stand. Der Trauerrand sagte ihm alles. Die Exzellenz war tot, die junge Witwe frei. Sie schrieb: hier hast du mich – endlich bin ich dein! ... Sie konnte ja gar nicht anders schreiben ... Und alles kam zu spät. Bestimmung! Jetzt konnte er nicht mehr zurück und wollte auch nicht mehr zurück. Er hielt, was er hatte. Und doch tat es ihm furchtbar weh ... Wenn sie ihm doch nur einmal gesagt hätte: »warte auf mich«, er hätte gewiß keine andre Frau wieder gesucht. Wo er fühlte, war er auch treu. Statt dessen immer nur das flehende: »Vergessen Sie mich! – Leben Sie wieder! – Sie sind ja frei!« Es war die rührende Angst einer Frau vor sich selbst, einer Frau, die so fein geartet war, daß sie lieber tödlich litt, als einen wertlosen Schwur brach. Eine Märtyrerin der Pflicht, eine Heilige ... Nun kam die mit geöffneten Armen, und er mußte sie wegschicken. Sie hatten beide keine Schuld. Und doch würde eine Frau nie begreifen, daß er sich, mutlos geworden, in die Arme einer andern flüchten konnte, von der Liebe zur Liebe. Der Trauerbrief konnte noch nicht die Antwort auf seine Beichte sein – der Poststempel datierte eine Woche zurück – die war das rosa Billett, der eisige Glückwunsch eines qualvoll zuckenden, aber stolzen Herzens ... Er hätte die Worte sagen können, die in den beiden Briefen standen – er kannte die Frau ja besser als sich ... Und dennoch zauderte er noch immer mit dem Lesen. Es war nicht Schwäche. Er wollte nur mit Herz und Kopf sich erst ganz klar werden. Und beide sagten ihm auch: »Halte, was du hast!«

Endlich brach er das Siegel.

»Mein Freund!

Dieser Trauerrand sagt Ihnen wohl, welchen Verlust ich beklage. Mein Mann ist schon seit Wochen tot, wie Sie vielleicht aus den Zeitungen wissen. Und ich habe lange, lange gezögert, ob ich Ihnen überhaupt etwas anderes schicken sollte als die gedruckte Anzeige. Aber ich bin Ihnen doch wohl eine Beichte schuldig ... Wissen Sie, warum ich über ein Jahr lang schwieg? – Jetzt ahnen Sie es wahrscheinlich. Ich wollte Sie schonend wie die beste Schwester auf das vorbereiten, was ich heute sagen muß. Mein Freund, ich habe Sie noch heute sehr lieb; aber Sie sind in meinem Herzen nie etwas anderes gewesen, als was Sie jetzt noch sind: der liebste Freund ...

Verurteilen Sie mich deswegen nicht, belächeln Sie mich auch nicht, weil das Interesse für mich längst vorbei ist. Ich habe Ihnen zwar niemals direkt gesagt, daß ich Sie wieder liebte, wie Sie mich liebten, aber ich habe Sie doch getäuscht, geflissentlich getäuscht zuletzt, weil mich der Strom Ihres Gefühls vielleicht etwas mitriß und mehr noch, weil ich wußte, daß Sie die Wahrheit nicht ertragen hätten damals. Mein Freund, es war die Lüge eines guten Herzens, die mir dennoch viele Qualen bereitet hat und die ich mit tausend Tränen wohl nun genug gebüßt habe ... Solange er lebte, durfte ich Sie in dem schönen Wahn lassen. Bestärkt habe ich Sie ja nie darin! Und wenn ich Ihnen auf Ihr Drängen schrieb, daß Sie mir lieb wären wie einst, so wissen Sie nun, daß ich gewiß nicht log. Mein Gefühl für Sie bleibt dasselbe – die uneigennützigste, reinste Freundschaft für ein ganzes Leben! ... Sind Sie damit zufrieden? Ich denke, Sie könnten, Sie müßten es sein! Vielleicht scheint es Ihnen zuviel, Sie haben mich vergessen und verstehen eine Treue nicht mehr, die unentwegt auch dann noch weiter gibt, wo sie nicht verlangt wird ... Oder Sie überschütten mit bitterem Hohn eine Unglückliche, die kein anderes Unrecht begangen, als Ihr bestes Gefühl zu wecken. Ich sehe den scharfen, bösen Zug um ihre Mundwinkel zittern. Er hat mir manchmal wehe getan, doch ich wußte ja, daß er ein gutes Herz nur scheinbar verdunkelte ... Oh, Sie sind nicht tot oder vergessen, wie Sie vielleicht wähnen!

Während ich schreibe, sehe ich Sie so deutlich vor mir: das immer etwas hochmütige Gesicht, die weichen Augen, Haare und Schnurrbart so unheimlich brünett wie bei Südländern. Sie sahen immer viel jünger aus, als Sie waren, und ich erinnere mich genau des verwunderten Ausrufs einer Bekannten: ›Seit wann werden Sekondeleutnants Brigadeadjutanten!‹ ... Sie müssen noch ebenso jung aussehen wie damals, Sie können sich gar nicht verändert haben, während an einer Frau drei Jahre Seelenqual nie unbemerkt vorübergehen.

Ich denke an die unzähligen Freundlichkeiten, die Sie mir erwiesen, ich muß aufstehen, die wohlverwahrte Rose zu holen von unserem letzten Fest. Ich lege sie neben mich, ich spüre den Duft, als wäre sie erst heute gepflückt ... Ja, ich danke Ihnen von Herzen noch einmal für alles! Sie sehen, ich schwelge förmlich in traurig-schönen Erinnerungen. Vielleicht floß auch damals mir unbewußt ein anderes Gefühl mit, und Sie sahen es und nennen mich jetzt flatterhaft und treulos. Wenn je eine sündige Regung für Sie mein Herz durchbebte, sie ist dahin. Und nur die Reue blieb, jemals einem lieben Menschen so wehe getan zu haben. Wir waren in diesem Sommer an der Nordsee. Auf dem Mole stand ein Leuchtturm mit einem sogenannten Blinkfeuer. Ich sah es gern und dachte dabei viel an Sie. Das feige, rote Glimmen kam mir so vor wie die heimliche Sünde, und ich war jedesmal froh, wenn das große, helle Licht wieder flutete. Für Sie, mein Freund, glimmt nichts mehr heimlich, es leuchtet alles nur rein und offen ... Verstehen Sie mich auch? Wollen Sie mich auch verstehen? ... Mein Mann ist tot, und alle mögen denken, daß ich ihn betrog, während ich nur mich selbst betrog. Klatschereien sind mir gleichgültig. Aber, ob Sie mich nun vergessen haben oder nicht – ich muß Ihnen doch angesichts dieses Toten sagen, daß ich eine andere war, als ich schien: eine Bessere. Also keinen Groll! Ich hege ja auch keinen. Täten Sie es aber dennoch, so wäre es Ihrer nicht würdig und trübte das Bild in meinem Herzen. Aber auch dann will ich's tragen und Ihnen so herzlich zurufen wie damals: Auf Wiedersehen in besseren Tagen!

Ihre treue Maria.

P.S. Wünschen Sie es durchaus, so schreiben Sie mir zuweilen. Aber nicht oft und nicht in dem Ton, der mein Gefühl verletzt. Verzeihen Sie! Aber es war in Ihren Briefen immer etwas, vor dem ich instinktiv zurückzuckte. Das darf nicht sein! Das entwürdigt, was ich für Sie empfinde, jetzt, wo ich frei bin, erst recht ...

Ich schicke den Brief an Ihr altes Regiment. Ich weiß nicht, wo Sie sind. Herr von Westrem, der nach Ihnen unser Adjutant war und ein mir besonders sympathischer Mensch, weil er so viel Gutes von Ihnen erzählte – leider der Gatte einer maßlos hochmütigen und herzenskalten Frau, wie das beim Millionenadel für schick gilt; wegen ihres unglaublichen Benehmens mußte auch der sonst sehr fähige Offizier abgelöst werden – also Westrem meinte im Frühjahr, daß Sie in Algier oder Marokko reisten. Hoffentlich treffen Sie diese Zeilen in bester Gesundheit.«

Dühling las den Brief zu Ende und öffnete sofort den zweiten.

»Mein lieber Herr von Dühling!

Viele, viele herzliche Glückwünsche! Ihr Brief verletzte mich nicht – sind Sie doch glücklich! Sie haben den schwersten Alp von meiner Brust genommen. Ich antworte mit wendender Post. Und was ich von der Frau geschrieben habe, vergessen Sie es, bitte, bitte! Ich freue mich so herzlich, ihr unrecht getan zu haben! Meine Freundschaft für Sie bleibt natürlich unberührt. Was ich gebe, gebe ich ganz. Noch einmal viel Glück und abermals viel Glück! Stets

Ihre Maria von ...«

Es waren zwei liebe, gute Briefe. Keine barmherzige Schwester hätte schonender sein können. Ein Feingefühl, eine Zartheit! Wer sie las, mußte den Mann um solches Freundesherz beneiden.

Georg von Dühling fühlte wohl ähnlich, denn er faltete die Briefe sorgsam zusammen und barg sie in einer Brusttasche. Aber er sagte doch gleich darauf mit hartem, häßlichem Lächeln: »Also darum Räuber und Mörder – wenigstens in der Phantasie!« Er stand langsam auf und reckte sich, dann sah er gleichgültig aufs Meer. Eine mißfarbene, ölige Flut, lange Wellen mit stumpfem Glanz; der Leuchtturm auf seinem Vorgebirge ein graues, hageres Gespenst. Der Mann nickte. »Ja, ja, höhne nur noch! Du bist ausgelöscht, und ich brauche dein Licht auch nicht mehr!«

Leute kamen, die kleine Dame, die ihm geweissagt hatte, darunter. Er ging mit stummem, höflichem Gruß an ihr vorüber. Sie sah ihm verwundert nach. Er fühlte das und versuchte rascher, elastischer zu schreiten, doch die Füße wollten nicht. Er ging wie ein alter Mann. Und wenn er sich selbst hätte sehen können mit dem weißen Haar, dem scheuen Blick! Was Jahre vergebens unterminiert hatten, sank in einer kurzen halben Stunde zusammen. Georg von Dühling war wirklich alt! ... Als auf dem Strandwege wieder Leute kamen, bog er sofort in den Zauberwald ein. Derselbe Pfad, den sie gestern gegangen, an dem Kessel vorbei, wo bei jedem Tritt die Sandkörner rieselten, an der Bank vorbei, wo sie zuletzt gesessen, bis zu dem Platz zwischen Feld und Busch, wo sie am ersten Morgen liebend geruht.

Dort blieb er stehen. »Ich sie verhöhnen?« murmelte er achselzuckend. »Du lieber Gott! Was hat sie denn getan? Nichts, als was vernünftig und gut war ... Der uneigennützigste Freund! ... Wie hübsch das klingt! ... Hm ... hm ... Freilich, das habe ich nie für sie gefühlt, nie gewollt, das konnte, das mußte sie wissen. Ein wenig weniger Feingefühl und ein wenig mehr Mut! ... Ja, ja, Maria! Das wäre hübscher gewesen und hätte dir den schweren Brief erspart. Aber sie konnte sicher nicht anders ... Ich werde mich wohl absonderlich benommen haben, albern, winselnd, wie ein kranker Köter. – Da blieb also nichts anderes übrig als das Mitleid ... Mitleid von Frauen! Ich habe das immer so sehr geliebt! ...« Er schüttelte sich in Ekel. »Ich fühle einen Brechreiz, wenn ich daran denke. Mitleid von der Frau!« Er hielt wieder inne und starrte auf den Boden. »Nur nicht ungerecht, Georg! Sie glaubte ja ihr Bestes getan zu haben ... Und wenn ich sie sah, wie sie nicht war? ... Ja ... der andere ist immer unser Geschöpf, ist immer das, was wir in ihn hineintragen ... Aber sollte ich so blind gewesen sein, daß nur die reizende Gestalt, die weiche Stimme, das müde Lächeln mich verführten? Stattete ich nur einen hoffnungslos leeren Reliquienschrein mit dem Heiligsten, Besten aus – ein Verschwender ohnegleichen? Nein. Es war wohl alles da, was ich suchte – nur leider nicht für mich. Aber daß ich's nicht merkte, daß dieser Brief noch nötig war ...«

Dühling war kein Poet. Aber das Meer war so nahe, und der Vergleich kam von selbst. Kann man der kleinen, im Sonnenlicht glitzernden Welle böse sein, die den angeschwemmten Blütenzweig lachend schaukelt, flüsternd kost? Die kleine, liebe Welle! Sie meint's ja genau so ehrlich wie die große Woge, die den törichten, welken Blütenzweig aufs Ufer schleudert und einsam zurückrollt ins Meer.

Aber wie er sich so sah als das, was er war: ein armer, betörter, verschwendender Tor, brannte ihn die Röte der Scham. Er warf sich unter dem Busch nieder: »Herr Gott, warum mußte es so kommen, warum muß ich so enden? Das Beste vergeudet um nichts, um eine billige Freundschaftsphrase! ... Denn der Brief ist dürr und vernünftig, ein Hohlspiegel, der klein und mißgestaltet das Große, Schöne zurückgibt, das er nicht anders fassen kann!« ... Er war ungerecht, er wollte es sein. Das letzte Aufbäumen seiner Persönlichkeit, das letzte Aufflackern eines großen Gefühls ... Die Scham, so klein bewertet zu sein mit seinem besten Golde! ...Er wollte der Frau sofort schreiben, seine Briefe zurückverlangen, die ihr nichts anderes sein konnten als peinlich, zudringlich, eine schmutzig heiße Flut, vor der man den Kleidersaum hebt. Der Freundesbrief in seiner Tasche sengte ihm die Haut ... Eine Heilige angebetete, die nur vernünftig war, einen Feuerstrom verschwendet an einen glatten Block! ... Was war er der Frau, was mußte er ihr immer gewesen sein? – Ein Wahnsinniger, den man beizeiten abschiebt, weil man seine Tobsucht fürchtet, ein Tier, das man streichelt, damit es nicht beißt ... Und Dühling lachte laut auf, um dann wieder achselzuckend zu denken: Du bist noch immer der Narr! – Er wußte ja so genau, daß jeder Brief nach der quälenden Lektüre verbrannt war, weil er kompromittieren konnte, weil er wirklich häßlich war, und daß sie nur die welke Rose behalten, weil die nichts sagte – aus einer gewissen Frauensentimentalität heraus, einem gewissen Mitleid ... »O Georg, so tief bist du 'runtergekommen – und das erkennen erst als alter Kerl, wo es kein Zurück mehr gibt!«

Er dachte kaum an die andere, die Bessere, die Stärkere, die ihn wieder jung gemacht, die ihm neues Leben eingehaucht. Wie einem Sterbenden, so zog ihm noch einmal alles vorüber, was er für die erste gefühlt, gelitten. Oh, die drei Jahre waren schrecklich lang! Die alte Wunde riß noch einmal ganz, ein unreiner Strom ergoß sich – Blut, Eiter, ätzendes Gift. Der alte Mensch biß sich die Lippen blutig, weil er das Brennen kaum ertragen konnte. Er konnte nicht verstehen, daß man an solchen Enttäuschungen nicht stirbt. Nein, er starb nicht! Die Wunde zuckte, schloß sich – sie schloß sich über einem leeren Raum.

Er mochte Stunden im Kampf auf derselben Stelle gelegen haben, wo er einst so glücklich gewesen war. Als er aufstand, war er ruhig, fast kalt. Der Krater war ausgebrannt, der Lavastrom versiegt. Der Mann sah wieder ganz klar, was ihm noch zu tun übrigblieb. Er würde noch heute an Esther schreiben, noch heute abreisen.

Es war kein Undank, kein Verrat. Es war der einzige Weg, die einzige Pflicht. Er wußte so gut, was er verließ – die letzte Jugend, die letzte Hoffnung, sich selbst. Der Schiffbrüchige stieß dennoch entschlossen die Planke zurück, die sich ihm bot. Vorhin, im letzten Moment des Ringens, da, wo er das Zucken der Wunde am brennendsten spürte, hatte sie ihm allein vorgeschwebt, die heiße Heilige, die sündigt, weil sie liebt. Er hatte sie erkannt, er hatte zu ihr gefleht. Sie hatte sich liebend zu ihm geneigt, im Leuchten ihrer Augen wollte die alte Kraft erwachen. Es war, als wenn eine starke, schöne Hand die Wundränder zusammenpreßte, er fühlte die heilende Nähe, das Fächeln des Glücks ... Die Wunde schloß sich auch, er wurde geheilt – aber um welchen Preis!

Er ging ruhig nach Hause und schrieb sofort seinen Brief.

»Meine liebe, liebe Esther!

Noch einmal fliehe ich zu Dir.

Anbei die zwei Briefe von der anderen. Lies sie zuerst! – Du wirst diese letzte Indiskretion nicht ungeheuerlich finden. Es gilt ja nur der Sache, nicht der Person. Es ist die Quittung über ein sinnlos verschwendetes Vermögen. Eine Heilige überreicht sie mir – sanft, liebevoll. Sie hat keine Ahnung, daß ich damit entmündigt bin, auf das karge Jahrgeld gesetzt, von dem der Durchschnitt vielleicht noch sehr gut lebt, von dem ich aber gerade noch vegetieren kann. Lies und versteh!

Ich reise noch heute ab, und wir sehen uns nie wieder. Es war also doch unser letzter Tag ... Was mir dabei durch die Seele geht, verstehst Du allein. Der Fall war zu tief, als daß ich mich noch einmal erheben könnte. Ich will auch nicht mehr – ich bin müde, alt. Ich habe an der Riesenenttäuschung genug, als daß ich noch stufenweise all die kleinen erleben möchte ... Sie konnte mir alles schreiben – das nicht! Der Bettler sieht sein ärmlich Bild darin zu klar. Eine Welt voll Gefühl für eine dürre, unanfechtbare Phrase! Wer mehr daraus lesen will, der muß eben weniger dabei fühlen. Ich grolle ihr nicht etwa. Sie kann doch nicht geben, was sie für mich nicht hat. Ich bedauere sie mehr – denn so liebenswürdig korrekte Naturen sind doch keines starken Gefühls fähig. Sie finden schon das warme Kaminfeuer, an dessen milder Flamme sie das Leben hindämmern, freundlich gebend, freundlich empfangend. Temperierte Gefühle sind ja die Garantie des Glücks. – Aber seit gestern habe ich ein Grauen vor diesen temperierten Gefühlen! Sie mögen ja das Beste für den Durchschnitt sein, zu dem ich auch heute noch nicht gehöre.

Wenn ein Mann von einem hohen Turm plötzlich herunterstürzt, wird er nicht gleich seelenvergnügt weiterlaufen, so weiche Teppiche auch unten für ihn ausgebreitet sind. Er bricht sich das Genick oder bleibt zeitlebens Krüppel. Den letzteren Vorzug habe ich. Und den kümmerlichen Rest von einem ganzen Menschen möchte ich Dir nicht anbieten. Ich könnte es – und das Mittelmaß wird meinen Eigensinn unbegreiflich finden –, aber ich will's nicht, ich will's um Deinetwillen nicht, Esther. Nur um Deinetwillen! Dem siechen, alten Menschen läge es wohl nahe, das müde Haupt in Deinen weichen Schoß zu betten und zu sagen: ›Heile mich!‹ Der Rekonvaleszent aus schwerer Krankheit nahm den heißen Lebenstrank gern, den Du ihm botest – der Krüppel müßte sich an ihm verbrennen. Ich will Dir den Krüppel aber nicht zumuten. Darum gehe ich, ohne die wiedergesehen zu haben, nach der ich mich doch allein sehne. Ich fürchte meine Schwäche und Dein Mitleid. Nichts Halbes! Nicht wahr? Der alte Pakt besteht noch und soll bestehen. Was ich auch rette, was auch wiederkommt, nach gestern wird es nie genug sein, um auch Dir genug zu tun. Mein Leben dünkte mich ein großer Roman, und es war nur eine kleine Novelle.

Aber was ich Dir noch sagen muß, geliebte Frau: wo alles um mich sank, Dein Bild blieb unberührt. Du bist im Grunde doch das einzig große Gefühl meines Lebens. Heute, wo ich Dich nicht mehr habe, fühle ich das stärker als gestern, wo ich Dich noch besaß. Ich verwechselte nur die Personen und gab einer Maske, was ich dem Menschen, einer Freundin, was ich der Geliebten hätte geben sollen ... Daß ich gehe, zeigt nur, wie hoch Du stehst! Zu einer gleichgültigen Frau könnte ich auch heute noch fliehen – zu einer geliebten nicht.

Ich werde nicht etwa einen Verzweiflungsschritt tun, das muß man aus der jungen Kraft der Empörung heraus tun, nicht aus der müden Erkenntnis eines verfehlten Lebens.

Ich weiß nicht, was Du tun wirst. Oder weiß ich es doch? ... Aber tue, was Dir gut scheint – gleichgültig, was. Ich sage nicht: Lebe! Ich sage nicht: Stirb! – Aber Dein Schicksal ist das meine, und wir werden uns immer verstehen. Lebend oder tot wird Dein schönes, blasses Haupt der heiße Heiligenschein umflammen. Die tiefe Glut läßt mich wieder den Gott ahnen, den ich der andern wegen leichtfertig verließ. Ich küsse noch einmal Deine schmalen, stolzen Lippen.

Leb wohl, Esther, leb wohl – und vergiß mich nicht!

Georg.

P.S. Verbrenne die beiden Briefe sofort! ... Auch keinen Groll für sie! Sie verdient ihn nicht. Sie hat es in ihrer Weise ja herzensgut mit mir gemeint. Es war eben nur das vernünftigere Genre, die andere Gesichtswelt.«

Dühling siegelte den Brief, ohne ihn noch einmal durchzulesen, und brachte ihn selbst nach der abgelegenen Villa. Dann depeschierte er an seinen Gutsinspektor wegen eines Wagens zum Nachtzuge, packte sorgsam und verabschiedete sich liebenswürdig von allen Menschen der Pension. Sie lächelten und wünschten ihm Glück. Er fuhr ja doch einer angebeteten Frau entgegen!

Als er um sechs Uhr abends, vom Schriftsteller begleitet, nach der Bahn ging, wunderte er sich, daß der so schweigsam neben ihm hertrottete. Nur zum Abschied sagte er: »Leben Sie wohl, Herr von Dühling ... Nun weiß ich auch, wie mein Roman enden muß: Litauen und Herbst.«

Dühling lächelte müde: »Sie könnten recht haben. Aber schreiben Sie lieber eine Novelle.«

In dem schmalen Rauchkupee saß der Gnom. Es war wie eine letzte Ironie des Schicksals. Er und der fade Bursche reisten zugleich ab. Doch die Gesellschaft irritierte ihn nicht. Er grüßte höflich, und der Gnom dankte verwundert. Dühling blieb an dem offenen Fenster stehen. Er sah noch einmal fern das graue, kalte Meer schadenfroh gleißen, von einem frostigen Abendrot überhaucht. Er stand und schaute, bis das Samland in Dämmerung versank. Dann setzte er sich und versuchte zu schlafen – er schlief auch.

Als um Mitternacht an der kleinen Station der alte Kutscher die Tressenmütze lüftete, sagte Dühling freundlich: »Nun bleiben wir wirklich im Lande, Friedrich, und bauen unsern Kohl, wie der selige Herr auch.«

Der alte Mann lächelte, die Jucker zogen an. Die weite litauische Ebene tat sich auf. Melancholische Weiden, herbstlicher Wald. Es wehte eisig. Der Majoratsherr auf Berten wickelte sich in seine Reisedecke, und während auf holprigen Lehmwegen die Tiere schnaubend heimwärts drängten, dachte er immerfort: »Ob sie mich wohl verstehen wird?« – –

Und sie verstand so gut!

Am nächsten Mittag war sie gekommen, von der schwersten Sorge frei. Ihr Mann willigte in die Scheidung. Und den Vorwand für das Gesetz wollte sie schon finden. Sie war sofort nach ihrer Villa gegangen, mit einem Umweg über die Düne, weil sie den Geliebten ja doch treffen mußte, und sie war etwas verwundert, als sie ihn nicht traf.

Zu Hause fand sie den Brief. Sie las und saß wie erstarrt. Plötzlich sprang sie auf: »Das kann nicht sein! Ich will ihm nach, ich muß ihn finden!« Das war aber nur ein Moment. Nachdem sie noch einmal sorgfältig gelesen, sagte sie ruhig:

»Ich wußte es ja. Sie hat ihn nie geliebt! Auch er hat recht, er konnte gar nicht anders handeln ... Er hat mich gewiß geliebt – und blieb der vornehme Mensch, der er immer war. Aber ich weiß auch, was ich zu tun habe. Nur nicht den Tag überleben!« – Wem die Sonne einmal so hell geleuchtet wie ihr, der verträgt ein ewiges Grau nicht mehr. Sie überlegte nicht lange, sie schwankte nicht, der Entschluß zum Tode war unentrinntbar. Nur das Wie. – Es durfte kein häßlicher Selbstmord sein – ein unglücklicher Zufall, ein fataler Sturz ... Wo ein Wille ist, ist ja auch ein Weg. Noch im Mantel, den Reisehut auf dem Kopf, schrieb sie ihm die paar aufklärenden Zeilen, daß sie ihn immer geliebt habe und lieben werde, daß sie wahllos treu sei auch jetzt. »Und darum gehe ich, Geliebter, ich bin unnütz hier. Du hast recht in allem. Ich danke Dir ... Ich werde Dich auch da drüben nicht vergessen! ... Adieu.«

Sie trug den Brief selbst zur Post. Im Dorfe begegnete ihr das junge Mädchen, Dühlings Freundin. Sie gingen eine Strecke zusammen: »Sie sind nicht mehr wie sonst, Fräulein Melitta.«

»Ja, gnädige Frau.« Sie wurde rot und druckste über einer Antwort. Endlich sagte sie fast hart:

»Es schickt sich zwar nicht für mich, und die Frage ist mir schrecklich – aber ist es wahr, daß Sie mit Herrn von Dühling ein Verhältnis haben?«

»Wer sagt Ihnen das?«

»Es sagen's alle.«

Die Frau sah ruhig lächelnd in das etwas empörte braune Auge. »Liebe Melitta, da müßte ich Ihnen eine lange Geschichte erzählen, die Sie kaum verstehen würden. Das aber kann ich Ihnen getrost versichern, daß, wenn man nicht häßlichere Sünden auf dem Gewissen hat, man noch immer selig wird. Es kommt im Leben nicht darauf an, was man tut, sondern wie man's tut. Und wer immer er selbst bleibt, der verliert sich nie.«

»Gnädige Frau, Sie sind auf einmal so feierlich«, sagte das junge Mädchen etwas betreten. »Ich würde auch nicht etwas so Unpassendes gefragt haben, wenn's nicht überall gesprochen würde, und wenn ich Sie nicht immer so verehrt hätte ... Sind Sie mir auch nicht böse?«

»Liebes Kind ... Sie waren ja nur ehrlich ...«

Sie waren zu den Teichlinden gekommen. Das Laub gelb, das Wasser kaltblau.

»Wo wollen sie eigentlich hin, Melitta?«

»Ich wollte eigentlich nach der See. Es ist nicht besonders windig, aber eine mächtige Brandung seit heute früh.«

Die Frau sagte darauf langsam: »Man könnte auch noch mal baden.«

»Aber es ist doch so spät im Jahre.«

»Und ich werde doch baden.«

»Dann werde ich Sie oben auf der Düne erwarten, gnädige Frau.«

»Ja, warten Sie nur!«

Sie gingen nach der Düne. An der Treppe des Damenbades trennten sie sich. Esther drückte dem jungen Mädchen noch einmal die Hand: »Also vergessen Sie nicht: sich selbst treubleiben – das ist im Glück wie im Unglück der ganze Witz.«

»Oh, gnädige Frau, davon müssen wir nachher noch sprechen!«

»Vielleicht.«

Es war ein kalt grämlicher Tag. Der Strand stumpf gelb, die Badebuben trist, die Wogen rollten lang und schwer über die schwarzen Pfähle des Bades. Dahinter lag eine Sandbank. Eine riesige Brandung bäumte da weiß auf.

»Aber heute dürfen Frau Baronin nicht so weit raus – die See zieht unheimlich«, meinte gutmütig die Wartefrau.

»Oh, lassen Sie nur, ich weiß schon Bescheid.«

»Und warum gehen Frau Baronin immer mit dem Armband ins Wasser? Man verliert's so leicht.«

»O nein! Solange ich lebe, bleibt es an meinem Arm.«

Und sie ging schlank und weiß, mit ihrem anmutigen, wiegenden Schritt über den Strand in die See. Sie schauerte leicht – das Wasser war so kalt. Aber sie überwand das schnell und ging weiter, immer weiter, von den Wogen bald gedrängt, bald gezogen – dem Brandungsgürtel zu ... Jetzt ein Schrei vom Ufer – noch einer – der wütende Wassersturz erstickte sie. Esther von Westrem schloß im Augenblick die Hände über dem Kopf und tauchte in den Gischt. Jetzt war sie allein, gerettet. Es gab kein Zurück. Sie fühlte noch, wie oben die Brandung gewaltig riß und unten die See heimtückisch zog. Sie versuchte instinktiv zu schwimmen. Aber eine Woge hatte sie schon gefaßt, hob sie empor, schleuderte sie hinab: sie trieb willenlos wie das Stück Holz, das neben ihr tanzte ... Wohl rang sie – es schien ihr immer das beste, im Kampfe unterzugehen. Dann zuckten die Lichter vor ihren Augen. Eine Woge schlug ihr über den Kopf – eine zweite – eine dritte. Die Besinnung begann ihr zu schwinden. Noch einmal hob die Woge sie hoch empor, noch einmal leuchtete das rote Haar, streckte sich wie hilfesuchend der schlanke Arm mit dem Amulett. Darauf sank sie jäh. Mit dem letzten Blick hatte sie das Blinkfeuer von Brüsterort gesucht, und nur der graue Turm starrte sie leblos an. Da schloß sie die Augen – und war frei. Am Strand lief die Wartefrau mit gerungenen Händen auf und ab: »Ach Gott, ach Gott ... Warum mußte sie auch ... Aber sie war ja immer so ...« Auch das junge Mädchen kam, des Wartens müde, endlich herunter. Die Wogen rollten, die Brandung schäumte, aber das Meer gab nicht einmal die Tote zurück.

Es war ein so großes Unglück, daß selbst die Verleumdung verstummte. Bis zum Abend wallten die Scharen der Neugierigen. Sie wollten alle die interessante Stelle sehen.

Und das Blinkfeuer flammte und glimmte auf seinem düsteren Bollwerk. Es war das alte trügerische Leuchten.


 << zurück