Johannes Richard zur Megede
Das Blinkfeuer von Brüsterort
Johannes Richard zur Megede

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Der Flut folgt die Ebbe unerbittlich. Auf die große Aufregung senkte sich wie Meltau der kleine Klatsch des ganzen Badeortes. Diesmal hieß die Parole: Westrem – Dühling. Man hatte die beiden wohl in der Nacht zusammen gesehen, vielleicht ein Wort erlauscht. Natürlich mußte es ein Rendezvous sein, eine abgekartete Sache. Und Edeldenkende überlegten schon einen anonymen Warnungsbrief an den betrogenen Ehegatten. Die Tugend wittert ja überall das Laster. Nur der Schnurrbart war noch ein Hindernis, der weiße Schnurrbart! Es war doch kaum denkbar ... aber man kennt ja die perversen Neigungen großer Damen. So ging ein böses, feiges Wispern durch den Zauberwald. Die beiden Sünder ahnten nichts. Sie hatten sich fast eine Woche nicht gesehen.

Sie war erkältet, hütete das Bett. Er erkundigte sich täglich nach ihrem Befinden, auch Blumen schickte er einmal. Sie dankte und blieb unsichtbar. Er verstand das so gut. Sie schämte sich, und niemals sind junge Frauen reizender als in der Scham. Und jetzt fehlte ihm die Frau immer. Nun, da er sie zu kennen glaubte, kam sie ihm vor wie ein Stück von ihm selbst. Und wenn sie, gesund geworden, heimlich ging? Sie beschäftigte ihn mehr, als er sich selber gegenüber wahrhaben mochte. Wenn eine Frau noch so jung ist, so leidenschaftlich und so schnöde verkannt ... Eine verkannte schöne Frau! Es umfließt sie ein starker, geheimnisvoller Duft. Sagen zu können: ich kenne dich allein! Es ist wie bei den geschiedenen Frauen. Sie heiraten fast stets wieder. Der andre fand eben den Schlüssel zu diesem Herzen nicht, und den Schlüssel finden zu können, der einzige vielleicht, der ihn überhaupt finden kann, welcher Reiz! Nach dem Schlüssel suchte Georg von Dühling freilich nicht. Er hatte den seinen ja in einem andern Herzen stecken lassen, und der rechte Schlüssel schließt immer zwei Herzen, doch nur die zwei.

Als er eines Nachmittags am Strande lag, nicht weit von neuangekommenen Kurgästen aus dem Dorf, – er erkannte sie nicht, aber der Ostwind trug ihm beinahe jedes laute Wort zu, und er wollte darum schon weggehen, – hörte er folgende Unterhaltung:

»Nun hat ja die Dünenvilla glücklich auch ihren Roman!«

»Königsberger?«

»Na, so beinahe ... Es soll die rothaarige Baronin sein, die Frau von dem schönen Rittmeister.«

»Und er? Ja, das soll so ein alter Krauter aus Berlin sein, der es aber doch verflucht gut verstehen muß.«

Sie lachten und erzählten sich, leiser plaudernd, wohl die intimeren Details. Dühling stand auf. Der Hauptsprecher war ein grauer, alter Philister mit einer Brille und einem Bauch. Um diesen Schwätzer zu züchtigen, hätte er schon zum Stock greifen müssen, und das widerstrebte ihm. Bei groben Skandalen um eine Dame wird auch der reinsten das Kleid beschmutzt. Mit seinesgleichen schießt man sich, aber das Prügeln macht immer gemein. Er ging also, ohne sich noch einmal umzusehen. Der Klatsch war so sinnlos, und doch ärgerte er ihn. »Das beste, vernünftigste wäre wohl, ich reiste ab. Aber wohin? Jedenfalls will ich ihr alles erzählen, und sie soll entscheiden.«

Er kam in die Pension, und die erste, die er sah, war Frau von Westrem. Sie saß in einer Laube und trank Kaffee. Er ging sofort zu ihr. »Wie geht's, gnädige Frau? Ich habe mich um Sie gesorgt. Ich fürchtete, Sie zu verlieren, ja, ich fürchtete das ganz gewiß.«

Er reichte ihr herzlich die Hand, was sie mit dem eignen flüchtigen Druck erwiderte. Ihre Hand war trocken und heiß wie bei Fieber. Sie antwortete auch nicht gleich. Sie sah ihn nur, rot geworden, etwas geniert an, als wenn sie sagen wollte: »Nicht wahr, du hast doch vergessen? Deshalb war ich nämlich krank.«

Er begriff. Aber die Klatschgeschichte erzählte er ihr doch. »Ich kann nicht anders, gnädige Frau.«

»Gewiß, gewiß«, antwortete sie zerstreut, dann schwieg sie nachdenklich. »Die Leute haben recht ... Ich sollte nicht mehr zu meinem Mann zurückgehen. Das beschäftigt mich auch jetzt jede Minute wachend und schlafend ... Und solches überlegen macht so matt.«

»Ehrlich gesagt, gnädige Frau, darin verstehe ich Sie auch nicht ganz. Es ist doch kein Losreißen für Sie. Und was man früh tun kann, soll man nicht spät tun!«

Sie lächelte bitter. »Sie reden auch, wie Sie's verstehen, Herr von Dühling! Mit dem Gedanken an die Trennung gehe ich natürlich seit Jahren um. Das heimliche Lügen, das im Bleiben liegt, liebe ich ganz gewiß nicht ... Über große Zärtlichkeit hat er sich allerdings nicht zu beklagen, und in meiner Ehe bin ich vielleicht, was ich scheine: eiskalt und kapriziös ... Er hat so gute Nerven, und er denkt nichts oder er denkt, es liegt alles daran, daß wir keine Kinder haben ... Und wenn ich morgen nach Berlin zu meinem Mann führe und ihm ruhig sagte: ›Es ist aus zwischen uns, absolut aus. Ich kann nichts dafür, du kannst nichts dafür, wir passen eben nicht zueinander?‹ – würde er erst sicher denken, ich sei verrückt geworden. Darauf brauchte ich ihn nur ruhig, ganz ruhig anzusehen; ich kann etwas im Blick haben, das alle Hitze dämpft ... Also gut! Das wäre auch überstanden ... Aber er ist schließlich ein Mann, in gewissem Sinne sehr Mann. Er wird sich sagen: ›Die Frau, mit der ich zehn Jahre zusammen gelebt habe, sieben davon für mein Gefühl wunschlos glücklich, die Frau hat mir ein anderer entführt, und diesen andern möchte ich mir gerne über das Visier einer Pistole ansehen.‹ ... Der andere existiert natürlich, aber er ahnt ihn nicht! Und er wird doch suchen unter seinen Bekannten, unter den armen Courmachern wahrscheinlich, die immer um mich herum waren, weil sie einen geschulten Instinkt für faule Ehen haben, und die ich nicht mal abfallen ließ, weil sie mir so absolut ungefährlich waren. Einen davon würde er sich wohl kaufen, vielleicht faßt er sich auch den ersten besten hübschen Leutnant, der nach unsrer Trennung mich noch freundlich anzureden wagt: ›Du bist also der Schurke! Ich hätte ihr allerdings einen besseren Geschmack zugetraut, aber das Gericht will ich euch wenigstens gründlich versalzen ...‹ Wenn nun so 'n armer Kerl dran glauben müßte? In dem Punkte traue ich ihm alles zu ... Und auf der andern Seite – mein Gefühl erklären kann ich ihm nicht, weil er es einfach nicht versteht. Er liebt mich eben noch auf seine Weise. Er freut sich kindisch über jedes gutsitzende Kleid, er bewundert täglich meine Figur. Je kälter ich, um so wärmer wird er ... Und dann tut er mir doch leid ... Er will eine junge, elegante, reiche Frau – ich bin's. Und wenn der arme Tor mit dem wenigen zufrieden ist? Ich bitte Sie! Wenn ich gehe, nehme ich ihm alles, und mir gebe ich nichts. Das weiß ich nur zu genau. Aber ich bin keine Frau, die sich mit sentimentalen Träumen begnügt; wenn ich etwas aufgebe, will ich auch etwas dafür haben. Und wenn ich eine Torheit begehe – ich begehe jetzt vielleicht die größte –, so tue ich sie doch bewußt und zittere nicht vor der Konsequenz.«

»Sie haben recht, gnädige Frau ... Sie tun mir leid.« Sein Arm lag schlaff auf dem Gartentisch.

Jetzt zuckte ihre Hand jäh herüber und preßte sein Handgelenk. »Leid tun? Bitte, niemals mehr das Wort! Die Suppe, die ich mir eingebrockt habe, esse ich allein aus und wünsche niemand, der mir essen hilft ... Sie sagten eben, Sie würden mich schwer vermissen; nun noch einmal das Wort Mitleid, und ich bin in derselben Stunde weg.« Sie zog langsam die Hand zurück. Jetzt lächelte sie hochmütig. Von einem Balkon sahen zwei Damen zu und drehten sich verlegen weg, als Frau von Westrem hinaufblickte. »Ich sage Ihnen ja«, fuhr sie unbekümmert fort, »wenn ich ›das‹ hätte, was ich wollte, und wenn ich mir's vom Himmel herunterreißen könnte, ich würde über jede Leiche gehen, und kein Mitleid würde mich wankend machen.«

Dühling durchrann es seltsam. Seine eignen Gedanken, seine eignen Gefühle bei jener andern Frau; der heiße Wunsch, daß auch sie einmal über Leichen gehen könnte. –

Seitdem verkehrten die beiden wieder so harmlos, wie es zwei Wissende überhaupt noch können. Sie waren täglich zusammen. Er holte sie frühmorgens von der Villa ab. Er brachte sie abends zurück. Es war eine Sünde ohnegleichen. Und vor der Ungeheuerlichkeit verstummte fast das Wispern.

Eine Woche später, auf einem Spaziergang, sagte sie ohne Einleitung: »Ich gehe nicht mehr zu ihm zurück!«

»Warum jetzt auf einmal so entschlossen, gnädige Frau?«

»Ich will nicht mehr, vielleicht kann ich auch nicht mehr«, fügte sie fast flüsternd hinzu. Und es war doch rings kein Lauscher als der Sand und das Meer.

»Und wohin wollen Sie gehen?«

»Oh, fragen Sie nicht! Ich weiß es selbst nicht. Ich habe keine Ahnung, wo ich heut über einen Monat sein werde, nicht einmal die Vorstellung. Ich will sie auch nicht haben!« Dann lächelte sie müde. »Ach Gott! Ich bin gewiß zielbewußt und mag das wahllose Träumen nicht, aber einen schwachen Punkt haben wir alle, und da sind wir so klein und kindisch, so albern vor uns selbst. Wir wissen's genau, wir ändern uns doch nicht ... Nehmen Sie an, ich hätte einen Brief bekommen, in dem absolut nichts steht, und aus dem ich doch etwas herauslesen möchte.«

»Haben Sie wirklich einen Brief bekommen, gnädige Frau?«

»Nein.«

»Warum sagen Sie es dann?«

Sie zuckte nur die Achseln. Sie war stehengeblieben und bohrte mit dem Fuß verlegen im Sande. In dem Augenblick war sie wirklich Weib, schwach, reizend. Er hatte diese süße Schwäche mal bei einer andern Frau so heiß geliebt. Hier kam sie ihm neu, unvermittelt. Und dabei die Schwäche einer starken, leidenschaftlichen Natur. ... Er suchte ihre Augen, doch die wichen ihm aus.

»Sie haben doch einen Brief bekommen, gnädige Frau, vorhin, und Sie wollen es jetzt nur nicht wahrhaben!«

»Sind Sie eifersüchtig auf ihn, Herr von Dühling?« spottete sie.

»Etwas, ja. Ich möchte wenigstens wissen, wer er ist, und ob er Sie verdient. Wir sind so lange zusammen und kennen uns so gut. Ich habe viel über Sie gegrübelt, wie das ja natürlich ist. Und dabei hat eine andere etwas verloren. Ich sehe ihr Bild jetzt weniger klar, der Zweifel faßt mich stärker ... Nein, ich zweifle nicht«, unterbrach er sich rasch. »Ich will nicht zweifeln! Aber man hat so seine Gedanken. Und bei jeder Frau, mit der man lange und ausschließlich zusammen war, fragt sich der betreffende Mann: ›Wenn dir die früher auf dem Lebenswege begegnet wäre?‹ Ja, gnädige Frau, wenn wir uns früher begegnet wären, viel früher, als uns beide noch nichts band, hätten wir nicht vielleicht ganz gut zueinander gepaßt?«

Sie war langsam weitergegangen. »Ich glaube auf keinen Fall, Herr von Dühling«, antwortete sie, ohne aufzusehen.

»Und ich glaube doch! Der Fabulist hat recht. Wir haben etwas Gemeinsames ... Ich war ja, wie gesagt, auch mal ein anderer, ein ganz anderer. Ich war ein zielbewußter, harter Bursche, manche sagten sogar, kalter Streber, obgleich ich zum Streber wohl immer viel zu hochmütig gewesen bin. Jedenfalls hatte ich Kraft und Jugend und wußte, was ich wollte ... Und jetzt?« Er lachte schrill auf. »Löschen Sie mir drei Jahre meines Lebens aus! Ich weiß nicht mal, ob Sie mir damit etwas Gutes täten, ich würde vielleicht wie ein Kind betteln: ›Schreibe wieder auf die schwarze Schiefertafel, was du verlöscht!‹ Ich habe von dieser Vergangenheit gelebt, ich lebe noch davon, ich vegetiere. Aber jetzt steigt mir manchmal der Wunsch auf: ich möchte von der Gegenwart leben! Und daran sind Sie etwas schuld, gnädige Frau ... Wenn ich Sie sehe in Ihrer Jugend, Ihrer Kraft, Ihrer Fähigkeit, ein schweres Schicksal stolz und ohne Wimperzucken tragen zu können, dann sage ich mir doch: ich möchte auch wieder jung sein, leben. Mit dem einen Male kann es doch nicht endgültig aus sein! Der weiße Schnurrbart allein macht doch noch nicht alt, nicht wahr?«

Der Strand war an dieser Stelle tief. Sie gingen beide schwer. Die Brandung klatschte an ein Felsstück, so daß der dumpfe Laut seine letzten Worte verschlang. Eine Holztreppe mit holperigen Stufen führte zwischen wildem Buschwerk auf die hohe, bröckelnde Küste. Frau von Westrem ging voran, rasch, elastisch; sie blieb nicht ein einziges Mal aufatmend stehen, obgleich es mehr als hundert Stiegen waren.

»Die Frau versteht dich doch nicht«, dachte er. Oben war eine Bank und ein Ausblick mit einer hölzernen Brustwehr nach der See zu. Frau von Westrem lehnte sich gegen den Querbaum und schaute sehnsüchtig hinaus. Es dämmerte schon. Im Rücken und zur Seite hochstämmiger Laubwald mit blumigem Rasen und gepflegten Parkwegen, die Warnicker Forst, der schönste Punkt an der ganzen Küste. Es war um die Glockenblumenblüte. Die hohen, schlanken Halme mit dem blauen, stummen Geläut schwankten leise im Dämmerlicht, vom Abendwind gekost. Vorn dehnte sich das Meer, blau, spielend, mit zitternden Reflexen, und rotgolden flimmerte zierliches Gewölk. Nach Brüsterort hin die im weiten Bogen ausholende Küste, steil, stumm, düster; ihre hohen Lehmwände jäh zerrissen, mit nachstürzenden Bäumen, geknicktem Geäst und angstvoll festgekralltem Buschwerk. See und Weststurm reißen wild aufjauchzend ihren Todestribut von dem wehrlosen Strand. Schlank wie ein Minarett reckte sich der Leuchtturm aus seinem Dünenbollwerk. Er lag tot.

Jetzt zuckte das erste Licht auf.

»Ihr Blinkfeuer«, sagte er.

»Ja, mein Blinkfeuer«, wiederholte sie. »Kennen Sie den Mechanismus?« fragte sie nach einer Weile.

»Ja und nein. Jedenfalls nicht besser als Sie. Es ist intermittierendes Licht. Einmal flammt's hell wie eine Bogenlampe, und dann glimmt's wieder heimlich wie ein Glühwurm.«

»Soll ich wieder einmal töricht sein?«

»Ja gewiß ... Das ist doch das Beste am ganzen Leben!«

»Jetzt glimmt's gerade«, sagte sie. »Zählen Sie bis drei, langsam oder schnell, wie Sie wollen!«

Er zählte: »Eins ... zwei ...«

»Ha, es flammt!« rief sie triumphierend.

»Was soll das?«

»Daß ich mich heute dem Zufall wieder mit geschlossenen Augen hingegeben habe. Ich dachte mir, wenn bis drei das starke Licht umspringt, werde ich im Leben noch einmal haben, was ich erfleht.« Sie hatte sich zu ihm gewandt, in den blassen Augen ein tiefes, heißes Leuchten.

Ein vages Gefühl durchzuckte ihn wie eine Ahnung. Er scheuchte sie fort. Die Augen leuchteten ganz sicher einem anderen.

Sie wandte sich gleich wieder zur See. Das Glühwürmchen gleißte jetzt matt. »Wie kurz, wie furchtbar kurz!« meinte sie kopfschüttelnd. »Sonst flammte es doch viel länger.«

»Es kam mir auch so vor. Vielleicht ist etwas am Mechanismus entzwei.«

»Nein, nein!« unterbrach sie rasch. »Es ist schon richtig. Das Glück ist immer kurz, so lang es auch sein mag.«

Darauf schwieg er und dachte an die andere Frau. Dann gingen sie noch in dem Waldpark spazieren. Es war so feierlich stumm. Die Nacht streute leise ihre dunkeln Schatten. Sie sprachen fast nichts. Sie strich mit der Hand über das hohe Waldgras am Wege, und ihm deuchte, es sei eine zitternde Sand. Durch das Grün blinkten die Signallichter eines Bahnhofes. Es kam ein schmaler Heckenpfad. Sie mußten hintereinander gehen. Der Schwarzdorn duftete, das rote Haar leuchtete. Eine Sommernacht und eine rätselhafte Frau ... Aus dem Waldwirtshaus strömten die Passanten. Es war Mittwoch, und der letzte Zug ging bald. Auf dem schlecht gepflasterten Wege zur Station begegnete den beiden ein schluchzender Junge. »Was hast du?« fragte Dühling.

»Ich habe meine Eltern verloren!«

Und Frau von Westrem erinnerte sich jetzt eines Paares, das am Heckenwege unschlüssig gestanden und jeden Vorübergehenden nach seinem verlorenen Jungen fragte, – dicke, gutmütige Leute, die ihr Kind sicher herzlich liebhatten.

»Die stehen dort drüben, mein Junge. Lauf, ehe sie wieder in den Wald zurückgehen!« Dühling zeigte nach der Richtung. Der Junge sprang glückselig und ohne Dank von dannen.

»Haben Sie als Kind leicht geweint, gnädige Frau?«

»Nein, höchstens aus Wut, wenn man mich schlug. Aber auch das ist schon lange her. Später erinnere ich mich keines einzigen Males mehr ... Doch, einmal noch! Aber das hat niemand gesehen ... Ich mag auch die leicht fließenden Tränen nicht. Sie sind so ein sentimentaler, schwächlicher Appell an das Schicksal ... Aber wenn es mir doch noch einmal passieren sollte im Leben, dann müßte mein Herz so übervoll sein, daß auch andere weinen müßten an meiner Statt.«

Sie kamen auf den Bahnhof. Am winzigen Schalter drängten sich die Eisenbahnfiebernden. Es war noch so viel Zeit. Sie gingen den langen Zug ab. An der Lokomotive suchte Dühling interessiert nach der Nummer. Er hatte ein gutes Zahlengedächtnis, und aus Zufall bewahrte er noch die Maschinennummer vom Eröffnungstage. Es war dieselbe. Da deutete er lachend auf das kleine, schwarze, prustende Ungetüm. »Dem verdanke ich, daß wir uns überhaupt noch kennenlernten, gnädige Frau.« Er schlug mit dem Stock im Scherz nach dem Radreifen und sagte: »Du hast's gut gemeint, rußiges Scheusal!« Und er erzählte ihr von dem großen Tage damals, und wie er und der Schriftsteller sich in der Unterhaltung über sie verspätet hätten, und wie merkwürdig der Zufall dann in der Begegnung und in dem Telegramm gespielt.

Bei der Heimfahrt saßen sie eingepfercht. Bestaubte Stiefel, Kindergeschrei und Kurgäste, die überlegten, ob das Abendbrot nicht schon endgültig von den Pensionstafeln abgetragen worden sei. In ihrem kleinen Badeort waren die beiden die letzten, die ausstiegen. Als hinter dem Hexenwald der Teich leuchtete, treibende Seerosen im silberigen Flimmer, blieben sie stehen. Das Stranddorf lag drüben wie illuminiert, und von den Uferhäusern schwankte rotverschwommen der Widerschein freundlicher Lichter auf dem Wasser.

»Denken Sie noch an unsere Begegnung hier in der Mittagsglut, gnädige Frau?«

»Gewiß!«

»Und tun Ihnen die vertraulichen Mitteilungen nicht doch manchmal leid?«

»Nie! Im Gegenteil, Herr von Dühling. Das mußte wohl auch mal runter vom Herzen. Und für das Heute danke ich Ihnen. Sie sind doch ein Freund!« Sie hielt ihm die Hand hin, die schmale, energische Hand. Im Gehen warm geworden, hatte sie das dänische Leder vorgestreift, bis über das Gelenk. Dühling nahm die Hand und küßte die unbeschützte Stelle. Sie ließ es geschehen. Darauf fiel der Arm wie leblos zurück. An dem kleinen Laden im Dorfe verabschiedeten sie sich. Sie wünschte wieder allein nach ihrer abgelegenen Villa zu gehen. Der Laden war noch auf, und die niedlichen Badespielereien im Schaufenster schauten lustig aus. Frau von Westrem sah sie an und lächelte auch.

»Ich sehe Sie so gern lächeln, gnädige Frau, aber Sie tun es nur selten, und es steht Ihnen doch so gut!«

Da wurde sie wieder ernst. »Ich bin wohl zu leichtsinnig für mein Schicksal? Und doch habe ich vielleicht zum erstenmal ein Recht, es zu sein, denn mir ist heute klar geworden, daß ich über ein Jahr entweder wunschlos bin – oder ...«

»Oder?« wiederholte er bittend. »Sagen Sie doch, gnädige Frau!«

Aber sie war schon weg und rief ihm nur noch ein helles »Gute Nacht!« zu.

Georg von Dühling blieb diese Nacht sehr lange auf. Er holte die Kassette vor, – die Briefe, das Rosenblatt, das Bild. Er las alle Briefe noch einmal, obgleich ihm das immer furchtbar weh tat. Sie waren so reizend und gut, und eigentlich stand für ihn selbst so wenig drin, bis auf den einen Satz. Er küßte die Stelle, über ihrem Bild brütete er Stunden. Und das Entzücken durchrieselte ihn wieder und das Weh. Das süße, junge Gesicht mit dem müden Charme, dem unnennbaren Liebreiz! Er gehörte dieser Frau noch immer und fühlte das wohl. Es war nicht anders und konnte nicht anders sein. Wer alles hingegeben, besitzt eben nichts mehr. Ob auch der Fuß an der Kette zerrte – ein anderer Frauenkopf wollte auftauchen, ein anderes Glück, – es war doch alles vergebens. Er verschloß die Kassette und versteckte den kunstvollen Schlüssel. Er fühlte ein Zucken in den Fingern und ein schmerzhaftes Ziehen. Er hätte gern alles hinter sich geworfen. Nur einmal noch Gegenwart! Er wandelte ruhelos die ganze Nacht ... Wenn nun die andere auch ging, die mit dem starken, jungen Herzen und der großen Leidenschaft, wenn die auch ging, vielleicht ihrem Glücke entgegen, so blieb er eben wieder einsam zurück. Es war immer die alte Geschichte. Und der Gedanke an dieses trostlose Leben von der Vergangenheit allein drückte auf ihn wie ein Alp.

Der helle Mond verblaßte, in der bleichen Morgendämmerung erschauerte träumend der Wald. Der fahle Schimmer kroch durch die weißen Fenstervorhänge, und der gelbe, übernächtige Schein der Lampe wehrte sich aufknisternd gegen den Eindringling. Im Zimmer war eine heiße, stickige Luft. Der Mann zog den Mantel an. Er wollte noch einmal hinaus. Das aufgedeckte Bett lockte ihn gar nicht. Draußen wehte die feuchtmilde Morgenkühle. Die Villa lag wie verwünscht, und die bunten Illuminationslämpchen hingen grämlich und verkatert, wie nach einem wüsten Fest.

Georg von Dühling ging auf der Dünenhöhe entlang, den Morgen zu grüßen. In den Laubbüschen spiegelte sich der Tau. Das Heidekraut duftete, Vögel zwitscherten schlaftrunken. Die See blickte kalt, grau, mit ihrem gelben, leblosen Strand. Die Badebuden waren geschlossen, morsche Fischerboote lagen am Ufer. Eisig wehte es herauf. Am äußersten Horizont spielten violette Lichter, aufgleißend über den dunstigen Wassern. Die Sonne erwachte wohl grade hinter dem Hexenwalde drüben, und ihre ersten Strahlen küßten das heilige Meer. Doch nur ein silberner Schein im Morgengewölk zeichnete den Osten. Dühling war bis aufs Feld hinausgegangen. Die Dörfer schliefen noch, leblos lag der Wald. Aus dem Fließtal blickten die schwedischen Villen, fremdartig, neu. In einer glimmte noch ein Licht. Es mochte ihr Zimmer sein. Sie träumte wohl wachend von dem anderen. Und ein neidisches Gefühl stieg in ihm empor, er sagte halblaut: »Ich wollte doch, ich wäre der Mann!« Er hatte das heiße Leuchten ihrer Augen noch nicht vergessen ... Aber sofort schämte er sich der Regung. Der Frühmorgen ist nüchtern und dämpft törichtes Gefühl ... Er wandte sich nach links, das Blinkfeuer von Brüsterort zu sehen. Und in demselben Augenblicke, wo er es sah, erlosch es auch. Es war wirklich Morgen.

Er ging durch den Zauberwald zurück nach der Villa. Der Hausdiener schlich verschlafen durch den Korridor, und nie kam die Dünenvilla dem Manne spießbürgerlicher vor und die Vergangenheit grauer als nach dieser durchwachten Nacht.


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