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Fortsetzung 59

»Sie brauchen keine Sorge zu haben, Monsieur Belmonte. Ich garantire Ihnen dafür, daß meine Schilderung treffend ist,« versicherte die Fremde.

»Und worin besteht diese Garantie, Madame?«

Ihr Händchen zuckte durch die Perlfransen ihres Kleides, und es währte eine Weile, ehe sie sich näher um die verlangte Garantie erkundigte:

»Wie denken Sie sich dieselbe?«

»Recht kaufmännisch: Was ich nicht finden würde, müßte ich mir von Ihnen fordern.«

»Gut. Darauf gehe ich ein. Hier meine Hand.«

Sie reichte ihm die Hand, welche er in der seinigen festhielt. Es war ihm, als ob er einen warmen Druck dieses Händchens verspüre.

»Also Sie stellen sich mir zur Disposition?« fragte sie dann.

»Ja. Befehlen Sie über mich. Aber die Zeit?«

»Heut Abend neun Uhr.«

»Ich werde bereit sein.«

»Ich selbst werde Sie im Wagen abholen. Von einem gewissen Punkte an aber müssen Sie es sich gefallen lassen, daß ich Ihnen die Augen verbinde.«

»Ganz so, als ob wir in der Zeit der Inquisition lebten; doch ich liebe die Romantik und gehe die Bedingung ein.«

Sie erhob sich, während er noch immer ihre Hand in der seinigen hielt. Sie machte auch jetzt noch nicht den Versuch, sie ihm zu entziehen. Er stand hart vor ihr und fragte:

»Und was Ihre eigene Person betrifft, Madame, muß auch diese in ein so strenges Dunkel gehüllt sein?«

»Ja, Monsieur. Sie dürfen nicht wissen, wer ich bin.«

»Ich will auch auf dieses Eine verzichten, aber auf ein Zweites werde ich desto fester beharren.«

Er sah sie dabei mit einem eigenthümlich forschenden Blicke an, den sie mit der in halblautem verheißungsvollem Tone ausgesprochenen Frage beantwortete:

»Nun, und was ist dieses Zweite?«

»Darf ich nicht wissen, wer sie sind, so will ich wenigstens Ihr Angesicht sehen und dabei erfahren, ob die Garantie, welche Sie mir geboten haben, eine süße und freiwillige ist.«

Er legte den linken Arm um ihre Taille und erhob dabei blitzschnell die rechte Hand, um ihren Schleier zurück zu legen. Ein schönes, etwas erschrockenes Gesicht blickte ihm entgegen.

»Monsieur, was thun Sie!« ertönte es aus ihrem allerliebsten, schwellenden Munde.

»Ich bringe der Schönheit den Tribut, welchen ich ihr schuldig bin.«

Dabei drückte er sie an sich und legte seine Lippen auf die ihrigen.

»Nein, nein! Das dürfen Sie ja nicht!« wehrte sie sich.

»Wenn ich das nicht darf, dann glaube ich auch nicht an die Aufrichtigkeit Ihrer Garantie.«

»Sie ist aufrichtig!« betheuerte sie, indem sie sich noch immer bemühte, ihm ihren Mund zu entziehen.

»Nein. So lange Sie mir den Beweis verwehren, glaube ich nicht an die Aufrichtigkeit Ihres Versprechens!«

»Nun, was verlangen Sie denn von mir, Sie kühner, stürmischer Mann?«

»Einen Kuß, einen freiwilligen Kuß.«

»Und wenn ich Ihnen denselben verwehre?«

Sie drohte ihm mit der Hand und sagte:

»Sie stellen Bedingungen, während Sie froh sein sollten, daß Ihnen von so exquisiter Seite ein Stündchen der Liebe und Erhörung geboten wird? Sie sind höchst anspruchsvoll!«

»Nun gut! Nennen wir es nicht eine Bedingung, welche ich stelle, sondern einen Tribut, welchen ich Ihnen bringe. Also bitte, meine Gnädige: einen Kuß.«

»Ich sehe, daß ich nachgeben muß. Hier, nehmen Sie sich ihn.

Sie reichte ihm den Mund entgegen: er aber schüttelte den Kopf und antwortete:

»Nein, nicht so! Nicht nehmen, sondern empfangen will ich ihn.«

»Sie fordern fast zu viel! Aber es ist wahr, ich habe Ihnen Garantie versprochen, und nun muß ich Ihnen beweisen, daß ich wirklich gesonnen bin, sie Ihnen zu gewähren. Kommen Sie.«

Sie legte ihm die Arme um den Hals, zog ihn an sich und küßte ihn mit einer Innigkeit, welche man nur dem Geliebten, dem Bräutigam oder Manne gegenüber zu zeigen pflegt. Dann fragte sie:

»So! Sind Sie nun zufrieden gestellt?«

»Vollständig. Ich danke Ihnen, Madame.«

»Sie werden also Wort halten und heute Abend mitkommen?«

»Ja, gewiß!«

»So sehen wir uns also um neun Uhr wieder. Wird es nöthig sein, daß ich Sie hier im Zimmer abhole?«

»Nein. Sobald ich den Wagen halten sehe, werde ich kommen und einsteigen.«

»Das ist mir angenehm. Also adieu, Monsieur.«

»Adieu.«

Sie reichte ihm die Hand, welche er an die Lippen führte. Dann legte sie den Schleier wieder vor das Gesicht und entfernte sich, von ihm bis an den Wagen begleitet. Er bemerkte, daß es nicht eine ihr gehörige, sondern jedenfalls nur eine gemiethete Equipage sei. Sie war vorsichtig gewesen.

Als er nach oben zurückkehrte und in das Vorzimmer trat, ließ Martin ein halblautes, ironisches Husten hören.

»Hm! Bist Du krank?« fragte Arthur.

»Sehr!«

»Was fehlt Dir?«

»Ein Mittel gegen den Husten – etwas Süßes ungefähr.«

»Lauf schnell in die Apotheke!«

»Daß ich dumm wäre! Die Süßigkeit, welche mich retten kann, ist dort nicht zu finden. Oder soll ich etwa von dem Provisor einen – hm! – verlangen?«

»Was denn – hm?«

»Na, einen Kuß!«

»Kerl, ich glaube gar, Du hast gehorcht!«

»Fällt mir gar nicht ein! Ich brauchte eine Feder. Das Kästchen steht drin im Zimmer. Als ich dort eintrat, hörte ich, was Sie für einen sonderbaren Appetit hatten. Ich an Ihrer Stelle hätte das der Dame etwas weniger laut gesagt!«

»Du bist ein großer Taugenichts! Doch weil es nicht mit Absicht geschehen ist, soll es Dir vergeben sein. Hast Du denn auch gehört, daß ich den Kuß wirklich erhalten habe?«

»Nein. Als ich hörte, wonach Sie sich so außerordentlich sehnten, wurde es mir so schlimm zu Muthe, daß ich sofort ausgerissen bin. Ich hielt diese Dame für etwas Feines; nun aber sehe ich, daß ich mich geirrt habe. Wer dem ersten besten Weinagenten einen Kuß verabreicht, der – – hm!«

»Und doch irrst Du! Diese Dame ist – – nun rathe einmal?«

»Nun, was Anders als eine Grisette oder Lorette oder, wenn es sehr hoch kommt, eine Friseuse?«

»Fehl geschossen! Diese Dame ist – eine Hofdame.«

Martin sprang von seinem Stuhle empor und rief:

»Eine Hofdame?«

»Ja.«

»Die sich ohne alle Vorbereitung und Einleitung küssen läßt?«

»Nun, einige Einleitung hat es doch gekostet!«

»Wenn zehnmal! Sie müssen sich irren! Kennen Sie sie?«

»Ja. Ich habe sie in der Hofloge des Opernhauses gesehen.«

»Donnerwetter, welch' ein Glück! Ich kann diese Loge beliebäugeln so oft und so lange ich will, es kommt Keine zu mir, um sich ihr Mäulchen an meinem Schnurrbarte abzuwischen! Das muß doch eine ganz eigene Bewandtniß haben!«

»Allerdings! Es giebt ein Abenteuer, Martin, ein ganz ungewöhnliches Abenteuer. Und da Du dabei eine kleine Rolle zu spielen haben wirst, so muß ich Dir Alles mittheilen.«

»Ein Abenteuer? Und ich eine Rolle dabei? Vielleicht soll ich auch einige Küsse erhalten? Ich brenne vor Neugierde!«

»Erhalten wirst Du voraussichtlich nichts – – –«

»O weh!«

»Also diese Verschleierte kam zu mir, um mir mitzutheilen, daß eine andere Dame ein sehr großes Interesse an mir gefunden habe.«

»Ein Interesse? Also verliebt? Hm! Ein Wunder ist das allerdings nicht, denn ein verdammt hübscher Kerl sind Sie; das ist wahr!«

»Hübscher wie Du?«

»Beinahe! Fragen Sie meine Schwalbe; die muß das wissen!«

»Werden sehen! Also diese Dame wünscht mich heute Abend bei sich zu haben, und ich soll Punkt neun Uhr per Kutsche abgeholt werden.«

»Alle Teufel! Könnte nicht auch Unsereinem einmal so ein marinirter Hering geboten werden!«

»Dein Hering ist Deine Schwalbe! Ich soll nicht wissen, wer diese Dame ist – –«

»Jedenfalls auch eine Hofdame!«

»Voraussichtlich! Man will mir, damit sie incognito bleiben kann, unterwegs die Augen verbinden.«

»Hm! Das gefällt mir nicht!«

»Mir auch nicht.«

»Wer weiß, was man beabsichtigt, mein bester Herr Belmonte. Man kann Sie in irgend eine gefährliche Lage locken wollen.«

»Das sage ich mir auch. Es ist sehr leicht möglich, daß man ahnt, wer oder was ich bin, und daß man mir eine Falle stellen will. Ich werde also vorsichtig sein und Dich beauftragen, Acht zu geben, daß sich diese Falle nicht hinter mir verschließt.«

»Schön! Ich bin bereit. Was habe ich zu thun?«

»Du besorgst Dir ein Pferd und bringst es hinunter in den Hof. Sobald ich eingestiegen bin und die Kutsche sich in Bewegung setzt, besteigst Du den Gaul und reitest uns nach, um zu sehen, wo ich abgeladen werde. Das Uebrige ist dann Deine Sache.«

»Schön! Ich werde eine volle Stunde warten. Sind Sie dann noch nicht zurück, so stürme ich die Festung, um Sie zu befreien.«

»Eine Stunde ist zu wenig.«

»Hm! Ja! Schäferstunden pflegen länger zu dauern als sechzig Minuten. Also wie lange denn?«

»Diese Frage ist schwierig zu beantworten.«

»Sehr wahr! Am Besten wird es sein, Sie geben sich mit der Geschichte gar nicht ab. Wer sich in Gefahr begiebt, der kommt darin um. Meinen Sie nicht?«

»Das habe ich mir natürlich bereits selbst gesagt. Eines Liebesabenteuers wegen würde ich ein solches Wagniß gar nicht unternehmen. Aber es ist leicht möglich, für unsere Aufgabe dabei Etwas zu provitiren. Eine gewöhnliche Dame ist es auf keinen Fall, zu der man mich bringen will. Es ahnt mir, als ob dieses Abenteuer Vortheil bringen werde. Ich will es auf jeden Fall bestehen, lieber Martin.«

»Na, wie Sie wollen. Nehmen Sie wenigstens eine Waffe mit.«

»Ich werde einen Revolver und den Todtschläger einstecken. Vielleicht ist es auch gerathen, die Laterne mitzunehmen.«

»Thun Sie das. Es ist ja möglich, daß Sie mir mit derselben ein Zeichen geben können.«

»Richtig! Wir können das ja gleich bestimmen. Man wird mich in ein Zimmer bringen, welches jedenfalls ein Fenster hat. Ist es nicht erleuchtet, so gebe ich das Zeichen mit der Laterne, ist es aber erhellt, so gebe ich es mit der Lampe oder der Gasflamme.«

»Und worin soll es bestehen?«

»Ich lasse das Licht dreimal aufblitzen und wieder verschwinden. Das ist das Zeichen, daß Du keine Sorge zu haben brauchst.«

»Gut. Wenn ich das Zeichen sehe, so brenne ich mir eine Cigarre an: das ist der Beweis, daß ich Sie richtig verstanden habe, daß etwas nicht zu befürchten ist.«

»Gut.«

»Aber wenn Sie das Zeichen nicht geben?«

»So wartest Du bis zum Morgengrauen und thust dann, was Du für das Angemessenste hältst. Doch hoffe ich nicht, daß dieser Fall eintreten wird. Eine Hofdame erwartet ihren Seladon nicht an einem obscuren, gefährlichen Orte.«

»Das sollte ich allerdings denken!« meinte Martin. Und unter einem verschlagenen Augenzwinkern fügte er hinzu: »Sobald ich bemerke, daß Sie sich in Gefahr befinden, werde ich schleunigst Succurs holen.«

»Du meinst, Polizei?«

»Nein; das fällt mir nicht ein!«

»Wen denn?«

»Eine gewisse Dame, welche Sie in der Hofoper kennen gelernt haben.«

»Unsinn!«

»Natürlich. Sie muß doch erfahren, daß andere Damen ganz denselben Geschmack besitzen wie sie und daß Sie ein – hm! -ein Freund und Bewunderer von Hofdamen sind. Uebrigens war es von Ihnen sehr klug, die Perrücke abzunehmen, als wir bei Vater Main den Coup ausführten. Comtesse de Latreau hätte sonst leicht hinter das Geheimniß kommen können, daß Sie mehrere Rollen spielen. Sie fielen in Ohnmacht, und der Arzt, welcher gerufen wurde, hätte bemerken müssen, daß Haar und Bart falsch seien. Haben Sie jetzt noch Etwas zu befehlen?«

»Nein. Bist Du mit der Reinschrift zu Ende?«

»In einer Viertelstunde.«

»Dann bin ich auch mit meinen Briefen fertig. Horch! Man klingelt.«

Martin begab sich in den Vorsaal und kehrte mit einem Polizeisergeanten zurück, welcher bemerkte, daß er vom General Latreau komme, und sich erkundigte, ob hier der Monsieur Belmonte sei. Arthur bejahte diese letztere Frage.

»Sie sind der Herr, welcher die Comtesse befreit hat?«

»Ja.«

»So habe ich Ihnen diesen Zettel zu übergeben.«

Der Zettel enthielt eine Vorladung auf das Stadthaus, wo Belmonte nebst Martin nach Verlauf von einer Stunde zu erscheinen hatten, um sich über ihr gestriges Erlebniß vernehmen zu lassen. Als der Sergeant sich entfernt hatte, meinte Martin:

»Das ist unangenehm! Das hätte man uns ersparen sollen.«

»Warum?«

»Weil wir Unannehmlichkeiten haben werden.«

»Pah! Ich habe gute Legitimationen.«

»Das reicht nicht aus. Man wird fragen, was wir in der berüchtigten Taverne zu thun hatten.«

»Ich als Weinhändler muß auch solche Orte besuchen.«

»Man wird uns wiederholt bestellen!«

»Ich werde sagen, daß wir morgen abreisen müssen.«

»Ist das wirklich ernsthaft gemeint?«

»Ja. Wir haben hier in Paris mehr erfahren, als wir zu erfahren möglich hielten. Ein längerer Aufenthalt könnte unserm Incognito gefährlich werden.«

»Aber noch gestern sagten Sie, daß wir hier noch drei Tage zu arbeiten hätten, um unsere Beute zu Papier zu bringen.«

»Das können wir auch in Metz thun. Ich glaube sehr gern, daß es Dir schwer wird, Dich von Deinem Schwälbchen zu trennen.«

»Pah! Wie lange wird es dauern, so komme ich wieder geflogen! Aber Abschied zu nehmen, das werden Sie mir wohl erlauben.«

»Das versteht sich ganz von selbst.«

»Wann?«

»Wann es Dir beliebt.«

»Hm! Heut Abend paßt es nicht, weil ich da für Ihre Sicherheit zu sorgen habe. Wie wäre es nach dem Verhöre?«

»Das wird das Beste sein. Sobald Du jetzt den Bericht fertig hast, besorge ich ihn zum Courier; dann treffen wir uns im Stadthause, und nachher suchst Du die Schwalbe auf. Ich wünsche Euch angenehme Schnäbelei.«

»Danke. Mit Hofdamen läßt es sich wenigstens ebenso angenehm schnäbeln, obgleich ich nicht glaube, daß Ihre Unbekannte es an Liebenswürdigkeit mit Alice aufnehmen kann.«

»Oho! Ist sie gar so hübsch?«

»Gewiß!« nickte Martin. »Wollen Sie sich überzeugen?«

»Danke: Ich will nicht stören.«

»Das würde keine Störung sein. Ich bin im Gegentheile überzeugt, daß Alice sich sehr freuen und sich sehr geehrt fühlen würde, wenn ein gewisser Monsieur Belmonte die Güte haben wollte, einmal bei ihr vorzusprechen.«

»Meinst Du wirklich?«

»Gewiß. Wollen Sie?«

»Gut! Ich werde kommen. Ich will auch gern gestehen, daß ich neugierig bin, den Fisch zu sehen, welcher den Angler in das Wasser hinabgezogen hat. Also arbeiten wir jetzt!«

Nachdem Belmonte seine Briefe und Martin das Mundum angefertigt hatten, gingen sie Beide fort. Der Erstere besorgte die Scripturen zum Courier und auf die Post, und der Letztere trollte langsam durch die Straßen, um nach dem Stadthause zu gelangen. Er hatte noch Zeit, und so kam ihm der Gedanke, die Taverne des Vater Main aufzusuchen, um einmal zu sehen, welche Veränderung dort eingetreten sei.

Er fand vor der Thür einen Polizisten, welcher Wache stand.

»Was wollen Sie?« fragte dieser.

»Ein Glas Wein trinken.«

»Hier wird heute nicht geschänkt. Ah, haben wir uns nicht bereits gesehen, Monsieur?«

»Möglich. Wo?«

»Gestern Abend. Sie kamen, um die Anzeige zu machen, daß Sie die Comtesse de Latreau gerettet hätten.«

»Richtig; das bin ich gewesen.«

»Ah, so können Sie eintreten. Sie werden vielleicht die Güte haben, uns das Abenteuer zu erzählen. Wir wissen noch nicht das Mindeste über dasselbe.«

Er öffnete die Thür, und nun bemerkte Martin, daß sich mehrere Männer in der Kneipe befanden, welche sich als verkleidete Polizisten entpuppten. Er erzählte ihnen den Hergang der Sache nach seiner Weise und erfuhr sodann von ihnen, daß man die beiden Leichen aufgehoben, von Denen, welche arretirt worden waren, aber gar nichts erfahren habe.

Eben wollte er sich wieder entfernen, als die Thür aufgestoßen wurde. Es trat ein Mann ein, welcher in schwarzen Frack, Cylinder und graue Gamaschen gekleidet war und unter dem Arme ein Instrument trug, welches die Gestalt und das Aeußere eines riesigen Regenschirmes hatte.

» Good day!« grüßte er. »Hat hier Vater Main gewohnt?«

»Ja,« antwortete einer der Polizisten. »Was wollen Sie?«

»Das Haus ansehen.«

»Das ist jetzt nicht gestattet. Wer sind Sie?«

»Ich bin Master Nathanael Robinson, Reporter of the Lloyds Weekly London Newspapers

»Ah, ein Reporter. Sie wollen wohl einen Bericht des hier Geschehenen nach London senden?«

»Yes.«

»Gehen Sie nach dem Stadthause! Dort erfahren Sie das Nähere, und dort werden Sie auch die schriftliche Erlaubniß erhalten, sich dieses verrufene Haus anzusehen.«

» Well! Habe sie schon.«

»Wo?«

»Hier!«

Er langte in die Tasche und zog ein Papier hervor, welches er dem Polizisten zu lesen gab.

»Es ist in Ordnung,« sagte dieser. »Sie können sich hier bewegen, wie es Ihnen beliebt.«

»Beliebt? Schön! Werde mich setzen und fragen.«

Er machte Miene, sich auf eine der Bänke niederzulassen, zog aber, als er den Schmutz derselben bemerkte, ein erschrockenes Gesicht und rief:

» Heigh-ho, welch ein Dreck! Werde mich nicht darauf setzen.«

Er nahm den Regenschirm unter dem Arme hervor. Martin hatte den sonderbaren Mann mit erstauntem Blicke gemustert.

Jetzt, als derselbe gar die Absicht zu haben schien, im Zimmer seinen Regenschirm aufzuspannen, fragte er ihn:

»Was ist das für ein Ding?«

»Das ist mein Umbrella-, musik- and Smoking-chair,« antwortete der Engländer, indem er das complicirte Ding aufspannte und sich dann auf dem Sitze niederließ. Sofort ließ sich die englische Nationalhymne hören. Master Robinson aber zog sein Notizbuch und den Bleistift hervor, wendete sein Gesicht dem Polizisten zu und sagte das eine Wort:

»Erzählen!«

Der Angeredete schüttelte lächelnd den Kopf und antwortete:

»Sie wünschen zu wissen, was gestern hier geschehen ist?«

»Yes.«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Warum?«

»Weil ich nicht dabei gewesen bin. Dieser Monsieur aber hat die Dame gerettet. Er ist im Stande, Ihnen Alles mitzutheilen.«

Da zog der Engländer seinen Krimstecher aus dem Futterale, hielt ihn an die Augen und betrachtete sich Martin mit der Sorgfalt eines Fleischbeschauers, welcher nach Trichinen sucht.

»Dieser Mann hier?« fragte er. »Ah. Wunderbar!«

Er nahm die Gläser von den Augen fort, schüttelte den Kopf und fragte dann Martin:

»Wer seid Ihr, Master?«

Es juckte den Telegraphisten in allen Gliedern. Er kam ganz auf denselben Gedanken, auf welchen auch sein Herr gekommen war.

»Reporter,« antwortete er.

»Reporter? Ah. O! Für welche Zeitung?«

»Für eine brasilianische.«

»Donnerwetter! Ihr sucht in Paris nach Neuigkeiten?«

»Natürlich!«

»Und Ihr wollt es sein, welcher die Dame gerettet hat?«

»Ja.«

»Das ist nicht wahr, Master.«

»Oho! Wollen Sie mich beleidigen?«

»Ja. Wer mich belügt, dem sage ich meine Meinung. Wollt Ihr Euch etwa mit mir boxen? Ich stehe zur Verfügung!«

Er erhob sich in kampfbereite Stellung und hatte in Zeit von zwei Augenblicken den Frack ausgezogen.

»Danke!« lachte Martin. »Sie sind nicht der Mann, dem ich den Hals brechen möchte. Sagen Sie mir lieber, warum Sie mich für einen Lügner halten?«

»Ich habe den Retter bereits gesehen und mit ihm gesprochen.«

»Wo?«

»Beim General Latreau.«

»Heut?«

»Ja, am Vormittage.«

»Das stimmt. Sie meinen doch den Weinagenten Belmonte?«

»Nein. Ich meine den türkischen Reporter.«

Da ging dem guten Martin ein Licht auf. Er ahnte, daß er mit seinem Herrn den gleichen Gedanken gehabt habe und antwortete:

»Richtig. Jetzt weiß ich, daß Sie an der rechten Quelle gewesen sind. Und dennoch habe ich Ihnen keine Lüge gesagt.

Ich und der Türke, wir Beide haben die Dame gerettet.«

»Ihr und der Türke? Donnerwetter. Ist's wahr?«

»Ja.«

»Dachte es mir! Habe hier bei Euch nur auf den Strauch geschlagen. Der Kerl wollte nicht mit der Sprache heraus; bin aber klug genug das Richtige zu finden. Also, erzählt, Master Brasilianer.«

»Das ist sehr leicht erzählt. Wir hörten, daß die Dame geraubt worden sei: wir wußten, daß sie sich in diesem Hause befand, und wir holten sie, um sie zu ihrem Vater zu bringen.«

Der Engländer sperrte den Mund erstaunt auf und fragte: »Das ist Alles?«

»Ja, Alles.«

»Kein Abenteuer dabei?«

»Nein.«

»Kein Mord und Todtschlag, kein Kampf?«

»Genug.«

»So erzählet!«

»Habe keine Zeit. Adieu, Master Nathanael Robinson.«

Damit war Martin zur Thür hinaus. Der Engländer starrte diese Letztere an und sagte ärgerlich:

»Verdammte Kerle! Keiner sagt ein Wort. Aber ich werde doch noch Alles erfahren, Alles.«

Er klappte seinen »Schirm-, Musik- und Rauchstuhl« zusammen und stieg nun die Treppen auf und ab, um sich das Innere des Hauses anzusehen; dann entfernte er sich, nachdem er noch gehört hatte, daß der eigentliche Thäter, nämlich der Wirth, noch nicht ergriffen worden sei.

Die Polizei hatte sich die äußerste Mühe gegeben, Vater Mains habhaft zu werden. An allen Bahnhöfen und Stadtausgängen waren Posten aufgestellt; in allen obscuren Wirthschaften und Winkeln wurde gesucht, doch vergeblich. Man hätte nicht in den Höhlen der Armuth suchen sollen.

Auf der Rue de Nazaire nämlich stand ein hohes, palastähnliches Gebäude, dessen Besitzer Lemartel hieß, aber allgemein unter dem Namen Roi des chiffoniers, der Lumpenkönig bekannt war. Man erzählte sich von ihm, daß er als Knabe Lumpensammler gewesen sei und es durch Fleiß und Sparsamkeit, sowie später durch eine reiche Heirath, zum Besitze von Millionen gebracht habe. Er besaß mehrere große Papierfabriken und hatte in seinem Dienste viele Hunderte von armen Teufeln, welche Tag und Nacht Paris durchwanderten, um nach Lumpen und anderen Abfällen zu suchen.

Hinter dem herrlichen Garten seines Palastes zog sich eine enge, schmutzige Gasse hin. In derselben lagen einige Häuser, welche ihm gehörten und ihm als Lagerräume für die angesammelten Abfälle verschiedener Art dienten.

Seine Lumpensammler kannten ihn persönlich; sonst aber gab es wenige Menschen, welche sich rühmen konnten, mit ihm in nähere Berührung gekommen zu sein. Zwar fuhr er fast täglich in einer glänzenden Equipage spazieren; aber er hatte sich stets so weit in die Polster zurückgelegt, daß man sein Gesicht nur schwer zu erkennen vermochte. Dann saß allemal eine junge Dame von außerordentlicher Schönheit an seiner Seite, von welcher man sagte, daß sie seine leibliche Tochter sei. Ihre Mutter, seine Frau, sei gestorben.

In der letzt vergangenen Nacht hatte in dem engen Lumpengäßchen, wie alle Nächte, ein reges Leben geherrscht. Der Lumpensammler von Paris arbeitet am Liebsten während der Nacht, beim Scheine seiner kleinen Laterne. Er ist da keinem Passanten im Wege; die Straßenkehrer haben, sobald die Hauptstadt sich zur Ruhe gelegt hat, ihr Werk begonnen, in Folge dessen in gewissen Entfernungen Kehrichthaufen liegen, die nun von den Lumpensammlern mit Gier durchsucht werden.

Wer seinen Korb oder seine Bütte gefüllt hat, der eilt zur Niederlage, um den Vorrath abzugeben und die Arbeit von Neuem zu beginnen. Daher kommt es, daß in den abgelegenen Gäßchen, in denen die Lumpensammler zusammentreffen, ein mehr als gewöhnlicher Verkehr herrscht, während in anderen Stadttheilen das Wogen des Tages aufgehört hat.

In einem der angegebenen Häuser saß im hintersten Winkel eines niedrigen und feuchten, gewölbeartigen Raumes, welcher ganz von allerlei Abfällen gefüllt war, an einem alten Pulte ein Mann, dessen Gesicht von zahlreichen Blatternarben bedeckt war. Er hatte ein großes aufgeschlagenes Buch vor sich liegen, in welches er lange Zahlenreihen eintrug.

Durch die geöffnete Thür kamen und gingen Leute, welche ihre gefüllten Körbe ausschütteten und sich dann entfernten, ohne von diesem Manne beachtet zu werden oder ein Wort an ihn zu richten. Was sie zu reden hatten, das hatten sie bereits mit einem Beamten besprochen, welcher sich in einem Vorderraume aufhielt.

Da trat ein Mann ein, welcher weder Korb noch Bütte auf dem Rücken trug. Er schritt langsam auf den Schreibenden zu und blieb dann in der Nähe desselben stehen, um zu warten, bis er angeredet werde. Er blieb längere Zeit unbemerkt, bis endlich der am Pulte sitzende ein Blatt umzuschlagen hatte und sein Blick dabei auf den Wartenden fiel. Seine Gedanken waren so von Zahlen erfüllt, daß er zwar die Gestalt bemerkte, aber die Züge des Gesichtes nicht unterschied, obgleich der Schein der Lampe auf den Angekommenen fiel.

»Was giebt es?« fragte er kurz und mürrisch.

»Monsieur Lemartel!« antwortete der Gefragte.

»Nun ja; Monsieur Lemartel bin ich. Also, was giebt es?«

»Wollen Sie mich wirklich nicht kennen?«

Da richtete der Lumpenkönig seinen Blick schärfer auf den Andern. Seine Stirn zog sich in Falten.

»Donnerwetter!« sagte er. »Lermille! Sie? Wie kommen Sie nach Paris?«

»Aus alter Anhänglichkeit, Monsieur.«

»Doch nicht etwa Anhänglichkeit gegen mich?«

»Gewiß.«

»Ich danke. Ich denke, Sie sind bei der Truppe des Zauberers Hassan angestellt.«

»Ich war es. Meine Stieftochter starb, und da gefiel es mir nicht länger.«

»Sie ist todt? Schade ist es nicht um sie. Sie war ein höchst unartiges Subject. Was aber wollen Sie nun in Paris?«

»Ich befinde mich blos auf der Durchreise. Ich muß Ihnen sagen, daß mir leider die Mittel zur Weiterreise fehlen, und da dachte ich an unsere frühere Bekanntschaft.«

Der Lumpenkönig räusperte sich und sagte:

»Sie war, wie ich mich erinnere, sehr vorübergehend.«

»Aber doch so intim, daß wir uns Du nannten, obgleich Sie mich jetzt mit dem ehrenvollen Sie beehren.«

»Schon gut. Sie haben die verdammt üble Angewohnheit, sich stets dann, wenn Sie sich in Geldverlegenheit befinden, meiner zu erinnern. Sie können denken, daß mir das nicht sehr angenehm sein kann. Wenn Sie wünschen, daß ich Ihr Banqier sein möge, so ersuche ich Sie vor allen Dingen, eine Summe bei mir zu deponiren, über die Sie sodann verfügen können.«

»Das habe ich ja gethan!« meinte der Bajazzo spitz.

Der Lumpenmann warf einen erstaunten Blick auf ihn und fragte:

»Wie? Wann denn, und welche Summe denn?«

»Ich habe die Erinnerung bei Ihnen deponirt, und Sie werden zugeben, daß dieselbe nicht ganz werthlos ist.«

»Ihr System ist das System des Raubes, der Bedrohung, der Nöthigung. Ich habe keine Lust, länger von Ihren Verlegenheiten gelangweilt zu werden. Wie viel brauchen Sie?«

»Hm! So viel wie möglich!«

»Ja, das glaube ich Ihnen. Ich werde Ihnen zum letzten Male aushelfen. Ich gebe Ihnen heute zweihundert Franken, und zwar mit der Bedingung, daß Sie nicht wiederkommen.«

Der Bajazzo stieß ein kurzes Lachen aus und sagte:

»Zweihundert Franken? Welch eine Lappalie! Geben Sie zweitausend, so verspreche ich Ihnen, daß Sie mich nicht wieder sehen werden.«

Der Lumpenkönig drehte sich weiter zu ihm herum, warf ihm einen stechenden Blick zu und antwortete:

»Zweihundert, nicht mehr.«

»Monsieur Lemartel!«

»Schon gut. Es ist das mein letztes Wort.«

»Monsieur – – Lormelle!«

Der Bajazzo sprach diesen Namen langsam und mit Nachdruck aus. Der Mann am Pulte fuhr erschrocken zusammen.

»Was ist das für ein Name?« fragte er. »Wie kommen Sie dazu, mir denselben zu geben?«

»Weil Sie ihn einst getragen haben. Sie hießen damals Henry de Lormelle. Ich entsinne mich dessen sehr genau.«

»Unsinn. Was fällt Ihnen ein! Sie phantasiren!«

»Soll ich Ihnen einen Zeugen bringen?«

»Ah pah! Wen denn?«

»Vater Main.«

Der Mann am Pulte fuhr abermals erschrocken zusammen.

»Vater Main?« fragte er. »Wer ist das? Wer trägt diesen Namen? Was wissen Sie von dem Manne?«

Ein triumphirendes Lächeln fuhr über das versoffene Gesicht des Hanswurstes. Er näherte sich dem Pulte und flüsterte, so daß ja kein etwa unbemerkt Anwesender es hören könne:

»Vater Main ist mein Freund.«

»Wieso?«

»Wir sind alte Freunde und Verbündete. Wir haben keine Geheimnisse vor einander. Ich war gestern bei ihm. Wollen Sie den Beweis? Hören Sie.«

Er raunte dem Lumpenkönige einige Worte in das Ohr. Lemartel erblaßte. Er fuhr mit dem ganzen Oberkörper zurück, als ob er ein Gespenst vor sich sähe und zischte:

»Still, still! Der Verräther! Was hat er von dieser Sache zu sprechen! Ich werde ihn zur Rede stellen.«

»Thun Sie das meinetwegen. Was mich betrifft, so genügt es mir, zu erfahren, ob Sie mich wirklich mit nur lumpigen zweihundert Franken abspeisen wollen.«

»Nichts, gar nichts werde ich Ihnen geben.«

»Ah! Wirklich, Monsieur Henry de Lormelle? Wissen Sie, was ich in diesem Falle thun werde?«

»Ihr Thun und Lassen ist mir vollständig gleichgiltig.«

»Ah, wirklich? Wie nun, wenn ich zur Polizei gehe, um ihr eine interessante Mittheilung zu machen?«

»Das werden Sie bleiben lassen!«

»Doch wohl nicht. Ich werde vorher mit Vater Main sprechen, und dieser wird, als mein Freund, mich in den Stand – – –«

Er hielt inne und fuhr erschrocken zurück. Auch der Lumpenkönig machte eine Bewegung des Erstaunens, denn gerade neben ihnen tauchte die Gestalt Dessen auf, von dem der Bajazzo soeben gesprochen hatte, die Gestalt Vater Mains.

»Guten Abend, Monsieur Lemartel!« grüßte dieser.

»Vater Main! Wo kommen Sie her?« fragte der, welchem der Gruß gegolten hatte.

»Dort zur Thür herein. Sie Beide waren so sehr in Ihre Unterhaltung vertieft, daß Sie meine Schritte gar nicht gehört haben.«

»Und was wollen Sie?«

»Ihren Schutz, Monsieur.«

»Meinen Schutz? Alle Teufel! Ich will doch nicht etwa hoffen, daß Sie irgend eine Dummheit begangen haben, in welche Sie mich mit verwickeln wollen.«

»Von einer Dummheit kann keine Rede sein, sondern höchstens von einem Unglücke, von einem ganz verfluchten Unglücke, welches mir widerfahren ist. Ich hatte einen Streich vor, wie so klug ich noch niemals einen unternommen habe, und gerade dieser Geniestreich ist mißglückt. Die Polizei drang in mein Haus; ich mußte flüchten und bin nun gezwungen, mir ein Asyl zu suchen, wo ich für die nächsten Tage sicher bin.«

Lemartel machte eine abwehrende Handbewegung und sagte:

»Ich hoffe, daß Sie ein solches finden werden.«

»Gewiß, Monsieur. Ich bin sogar überzeugt, es bereits gefunden zu haben.«

»Meinen Sie etwa, hier bei mir?«

»Gewiß!«

»Sie irren sich. Lassen Sie mich vor allen Dingen den Geniestreich wissen, welcher Ihnen verunglückt ist.«

»Das ist gar nicht nöthig. Sprechen wir nicht darüber.«

Da ergriff der Bajazzo das Wort, indem er den Wirth fragte:

»Du meinst wohl die Geschichte mit der Generalstochter?«

»Ja, freilich!«

»Alle Teufel! Der Coup ist nicht gelungen?«

»Er war gelungen. Wir bekamen sie gestern Abend in unsere Gewalt: morgen Vormittag wollte ihr Vater hunderttausend Franken bezahlen; da aber kam heute ein Mensch, welcher im heimlichen Einvernehmen mit der Sally gesteckt hat. Sie lockten mich in den Keller, wo ich einen Schlag gegen den Kopf erhielt, welcher mich besinnungslos machte. Dann befreiten sie die Gefangene und tödteten dabei Brecheisen und Dietrich, welche sich bei ihr befanden. Als ich wieder zu mir kam, war die Polizei bereits so nahe, daß mir kaum die Zeit zur Flucht übrig blieb.«

Der Lumpenkrösus hatte diesem Berichte mit allen Zeichen des Schreckens zugehört. Jetzt fragte er:

»Was? Sie sind es gewesen? Sie haben den Raub ausgeführt, von welchem alle Journale erzählten?«

»Ja, ich bin es gewesen,« antwortete Vater Main mit sichtbarem Stolze.

»Um Gotteswillen! Dann habe ich keinen Theil an Ihnen!«

»Das heißt, daß Sie mich von sich weisen?«

»Ja.«

»Das wäre eine Unvorsichtigkeit, welche ich Ihnen nicht zutraue. Ich brauche ein solches Versteck und Sie können mir ein solches gewähren. Zeigen Sie mir die Thür, so werde ich gefangen, und dann habe ich auch keine Verpflichtung, länger über Das zu schweigen, was ich von Ihnen weiß!«

»Sie haben das Schweigen bereits gebrochen.«

»Ich? Gegen wen?«

»Gegen diesen Menschen hier. Er kam, um mir eine Summe Geldes abzupressen und glaubte, dies mit Hilfe des Geheimnisses zu erreichen, welches Sie ihm mitgetheilt haben.«

»Der Bajazzo? Ah, der ist ein Freund von mir. Wir brauchen einander nichts zu verschweigen. Uebrigens darf ich in meiner gegenwärtigen Lage durch unnütze Unterhandlungen keine Zeit verlieren. Geben Sie mir ein Asyl oder nicht?«

»Nein.«

»Gut. So wird ein gewisses, kleines Kästchen noch heute in die Hände der Polizei gelangen.«

Lemartel entfärbte sich, doch nahm er sich schnell zusammen und sagte im Tone des Unglaubens und der Ueberlegenheit:

»Drohen Sie mir doch nicht mit Dingen, welche gar nicht geschehen können. Sie haben Hals über Kopf fliehen müssen. Es ist Ihnen doch nicht möglich gewesen, das Kästchen zu retten.«

Da warf der Wirth einen Blick, welcher heimlich sein und als Wink gelten sollte, auf den Bajazzo und sagte:

»Sie befinden sich sehr im Irrthum, wenn Sie glauben, daß das Kästchen sich in meinem Gewahrsam befindet. Ich habe es an einem viel sicheren Ort deponirt. Nicht wahr, Bajazzo?«

»Ja; ich selbst war mit dabei,« antwortete der Gefragte.

Aber Lemartel hatte den Wink recht gut bemerkt; er wußte so ziemlich sicher, daß man ihn täuschen wolle. Er beschloß, den Klugen zu spielen und scheinbar nachzugeben. Darum sagte er:

»Welch eine Unvorsichtigkeit! Sie haben das Kästchen nicht mehr bei sich?«

»Nein,« antwortete der Wirth, indem er dem Bajazzo einen befriedigten Blick zuwarf.

»Wo aber befindet es sich jetzt?«

»Das ist unser Geheimniß. Geben Sie mir für einige Tage ein Versteck, so sollen Sie als Belohnung das Kästchen zurückerhalten.«

»Hm! Darf ich diesem Versprechen glauben?«

»Ich schwöre es Ihnen zu.«

»Gut, so werde ich Sie beherbergen, obgleich ich mich dadurch in die allergrößte Gefahr begebe. Aber, was wollen Sie denn beginnen? In Paris dürfen Sie sich nie wieder sehen lassen.«

Der Wirth dachte einen Augenblick nach und antwortete dann:

»Es ist bereits beschlossen, was ich thun werde; nämlich ich gehe unter die Franctireurs.«

Dieser Gedanke frappirte den Lumpenkönig.

»Unter die Franctireurs?« fragte er. »Ich habe zwar gehört, was auch Andere hören; ich weiß, daß man im Stillen Freicorps rüstet, aber ob Sie Annahme finden werden, das ist denn doch wohl zu bezweifeln. Man wird nach der Legitimation fragen.«

»Das fällt dem alten Capitän sicherlich nicht ein.«

»Dem alten Capitän? Wer ist dieser Mann?«

»Haben Sie von ihm noch nichts gehört? Er scheint eine Hauptrolle in der Organisation der Franctireurs zu spielen. Er heißt Albin Richemonte, war Capitän der alten Kaisergarde und wohnt auf Schloß Ortry in der Nähe von Thionville. Zu ihm gehe ich.«

Es war ein eigenthümlicher Ausdruck, welcher sich jetzt auf dem blatternarbigen Gesichte des Lumpenhändlers zeigte. Er war vorhin von dem Bajazzo Henry de Lormelle genannt worden und diesen Namen hatte ja jener Diener Richemonte's und des Grafen Rallion angenommen gehabt, welcher die Familie Königsaus um die Kaufsumme ihrer Besitzung beraubt hatte. Er beherrschte seine innere Aufregung und sagte:

»Der Mann ist mir unbekannt. Wenn er Sie aufnehmen will, so mag es mir recht sein. Haben Sie denn Reisegeld?«

»Leider nein. Ich denke, daß Sie mich mit einer kleinen Summe versehen werden.«

»Gerade so wie mich,« fiel der Bajazzo ein.

Der Lumpenkönig schien mürbe gemacht worden zu sein. Er meinte:

»Gut, ich will einmal Rücksicht haben. Ich zahle zweitausend Franken, wenn ich das Kästchen erhalte.«

»Sie erhalten es.«

»Wann?«

»In der Stunde, in welcher ich das Asyl verlasse, welches ich bei Ihnen finden werde, Monsieur Lemartel.«

»Warum nicht eher?«

»Weil ich gern sicher gehe. Ich will mich nicht der Gefahr aussetzen, daß Sie mir das Versteck kündigen, nachdem ich Ihnen das Kästchen zurückgegeben habe.«

»Das ist ein sehr ungerechtfertigtes Mißtrauen. Ich habe noch nie mein Wort gebrochen. Also Sie, Vater Main, werden bei mir bleiben. Was aber thun Sie, Bajazzo?«

»Ich bleibe auch,« antwortete der Gefragte.

»Oho! Bedürfen auch Sie eines Versteckes?«

»Vielleicht! Jedenfalls aber kann es mir nicht einfallen, über das Kästchen während meiner Abwesenheit verfügen zu lassen. Ich bleibe bei Vater Main, so lange er sich bei Ihnen befindet.«

Lemartel that, als ob ihm das höchst unangenehm sei. Er machte eine sehr verdrießliche Miene und bemerkte:

»Sie konnten bleiben, wo Sie waren, oder wenigstens doch jetzt sich wieder dorthin begeben, woher Sie gekommen sind. Aber ich will mich nicht noch weiter aufregen. Kommen Sie. Es ist dunkel und man wird Sie nicht sehen.«

Neben dem Pulte befand sich eine Thür, welche nach einem kleinen Hofe führte. Sie traten hinaus. Dort öffnete Lemartel eine Pforte, welche sich in der Mauer befand. Durch dieselbe gelangten sie in den Garten, welcher zu seinem Palais gehörte.

Es war hier allerdings so dunkel, daß man kaum drei Schritte weit zu sehen vermochte. Die Beiden folgten ihm auf dem Fuße, bis sie die hintere Fronte des Gebäudes erreichten. Er vermied den Haupteingang und öffnete eine Seitenthür. Von hieraus führte eine unerleuchtete Treppe nach oben. Sie stiegen dieselbe empor. Er öffnete eine Thür; sie befanden sich in einem Zimmer, vor dessen Fenster er zunächst die Jalousien zusammen zog, so daß kein Lichtschein nach Außen dringen konnte. Dann brannte er eine von der Decke herabhängende Lampe an.

Das Zimmer war sehr hübsch möblirt; es schien dem Wirth zu gefallen, denn er fragte:

»Hm. Ist das etwa mein Asyl?«

»Ja. Ist's gut genug?«

»Ich bin zufrieden.«

»Und wo wohne ich?« fragte der Bajazzo.

»Auch hier,« lautete die Antwort. »Zwei Zimmer kann ich nicht zur Verfügung stellen; das würde die Aufmerksamkeit der Dienerschaft erregen. Ich muß Sie übrigens ersuchen, sich so still wie möglich zu verhalten. Speise und Trank werde ich jetzt besorgen; um zu schlafen, haben Sie das Bett und das Sopha. Die Thüre werde ich natürlich verschließen und den Schlüssel bei mir tragen. Das geschieht zu Ihrer und auch meiner eignen Sicherheit.«

Er entfernte sich und brachte nach kurzer Zeit einen Vorrath von Lebensmitteln. Dann schloß er sie ein.

Er ging durch den Garten nach dem alten Hause zurück, in welchem er sich vorher befunden hatte. Bei seinem Pulte angekommen, stieß er einen Pfiff aus und sofort eilte der Mann herbei, welcher im vorderen Raume die ein- und auspassirenden Lumpensammler zu beaufsichtigen hatte. Er war klein und verwachsen, hatte aber recht treue und ehrliche Gesichtszüge.

»Schläft Deine Tochter?« fragte sein Herr.

»Nein. Sie ist noch wach,« war die Antwort.

»Rufe sie. Ich habe mit ihr zu sprechen.«

Der Mann entfernte sich, und nach einiger Zeit trat ein Mädchen ein, welches sich dem Pulte näherte und in wartender Stellung vor demselben stehen blieb. Sie war nicht schön, aber auch nicht häßlich. Ihre üppigen Formen waren von dem Nachtgewande nur nothdürftig verhüllt.

»Ich habe Dich rufen lassen, um eine Frage an Dich zu richten,« sagte Lemartel. »Bist Du auf Vater Main noch bös?«

Die Augen des Mädchens blitzten grimmig auf.

»Diesen Menschen vergesse ich im ganzen Leben nicht,« sagte sie. »Wären Sie damals nicht gekommen, so hätte ich ihn ermordet. Ihnen verdanke ich das Leben, denn man hätte mir als Mörderin den Proceß gemacht.«

»Das mag richtig sein. Er hatte Dich gemiethet; Du dachtest, eine gute Stelle zu bekommen und wurdest verführt. Na, das ist jetzt vorüber. Ich interessirte mich für Dich und gab auch Deinem Vater Stellung. Ich denke, daß Du mir ein wenig dankbar sein kannst.«

»Monsieur Lemartel, ich würde alles Mögliche thun, um Ihnen zu zeigen, daß ich Ihnen danken will.«

»Alles Mögliche? Und doch hast Du mir gerade Das, was ich am Meisten wünsche, abgeschlagen.«

»Ah, das mit dem Verstecke?«

»Ja.«

»Das geht nicht; das darf ich nicht. Er zeigte mir einst, um mich zu verblenden, sein Geld und seine Kostbarkeiten; ich mußte schwören, niemals ein Wort davon einem Anderen mitzutheilen. Sie sehen ein, daß ich das Heil meiner Seele nicht verscherzen darf.«

»Hm! Das sehe ich ein. Aber höre einmal, Du hast geschworen, nie davon zu sprechen?«

»Ja.«

»Hast Du auch geschworen, das Versteck nie Jemandem zu zeigen?«

»Allerdings nicht. Es war ja nur vom Sprechen die Rede.«

»Nun, so bringst Du Deine Seligkeit ja gar nicht in Gefahr, wenn Du den Ort Jemandem zeigst, wenn Du nur nicht dabei redest.«

Sie dachte eine kleine Weile nach und sagte dann:

»Das mag richtig sein, Monsieur, aber es nützt dennoch nichts.«

»Warum?«

»Weil ich das Versteck Niemandem zeigen kann, ich bin ja nicht dort.«

»Wie nun, wenn ich Dich hinführte?«

»O, Vater Main wird Sie doch nicht in den Keller lassen.«

»Er muß es dulden, denn er ist heute gar nicht daheim.«

»So sind die Kellnerinnen da und er hat den hinteren Keller jedenfalls verschlossen.«

»Die Kellnerinnen werden uns gar nicht sehen. Ich kenne einen geheimen Weg, auf dem wir nach dem Keller kommen können. Ich will dem Vater Main nicht Etwas stehlen, sondern ich will nur sehen, ob er Etwas hat, was mir vor längerer Zeit gestohlen worden ist.«

»Ah, ist es so. Er macht den Hehler. Warum wenden Sie sich nicht an die Polizei?«

»Weiß die Polizei den Ort?«

»Das ist wahr. Und ich darf ja nicht davon sprechen. Meinen Sie, daß es den Vater Main sehr ärgern würde, wenn Sie den Gegenstand finden, der Ihnen abhanden gekommen ist?«

»Natürlich! Er würde sich ungeheuer ärgern, denn er müßte ihn mir natürlich wiedergeben.«

»Dann hätte ich beinahe Lust, Ihnen den Ort zu verrathen, vorausgesetzt, daß ich es nicht durch Worte zu thun brauche.«

»Wenn Du es thust, so werde ich Dich reichlich belohnen.«

»Ist irgend eine Gefahr dabei?«

»Nicht die geringste. Ich gebe Dir volle fünfhundert Francs.

Sie schlug die Hände zusammen und sagte:

»Fünfhundert Francs! Da kann ich ja das Schneidern oder das Putzmachen lernen! Ist das Ihr Ernst, Monsieur?«

»Ich gebe Dir mein Wort, daß Du die Summe bekommst.«

»Gut, so werde ich Ihnen den Willen thun.«

»Das freut mich, auch um Deiner selbst willen. Aber vorher mußt Du mir schwören, den Weg, welchen wir gehen werden, keinem Menschen jemals zu verrathen, weder durch Worte noch auf eine andere Weise.«

»Ich schwöre es Ihnen zu, Monsieur.«

»Ich glaube Dir. Du bist ein ehrliches Mädchen, obgleich Du bei Vater Main in Dienst gestanden hast. Gehe jetzt hinauf in Eure Wohnung und lege einen alten Anzug Deines Vaters an.«

»Warum das?« fragte sie, nicht wenig verwundert.

»Weil der Weg, welchen wir einschlagen werden, in Frauenkleidern nicht gut zu passiren ist. Gehe gleich hier zu dieser Thür hinaus und komme auch da wieder herein, damit Dich kein Unberufener sieht.«

Sie ging. Als sie nach einiger Zeit zurückkehrte, war sie als Mann gekleidet. Vater Main hatte gar keinen so üblen Geschmack gehabt, als er das Mädchen zur Bedienung seiner Gäste und vielleicht auch zu seiner eigenen Unterhaltung engagirte. Sie blickte einigermaßen verschämt zu Lemartel auf.

»Hat Dich Jemand gesehen?« fragte er.

»Kein Mensch; nicht einmal mein Vater.«

»So komm!«

Er führte sie nach einer andern Ecke der Niederlage, wo eine Thür in ein Seitengewölbe führte. Dort war es finster, als er die Thür hinter sich zugezogen hatte; aber er brannte eine Lampe an, welche auf einem Tische stand.

Auch hier gab es Lumpen, nichts als Lumpen. In einem Winkel erblickte man eine Fallthür, welche nach abwärts führte. Ueber ihr war an der Mauer ein kleines Schränkchen befestigt. Er öffnete es und nahm zwei kleine Laternen und einen mehrfach zusammengefalteten Papierbogen heraus. An der Mauer lehnte ein alter Stockdegen.

»Jetzt muß ich Dich zunächst fragen, ob Du Dich vielleicht vor Ratten fürchtest,« bemerkte er.

»Ja, im Dunkeln und wenn ich allein bin.«

»Nun, wir haben zwei Laternen und ich bin bei Dir.«

»Giebt es denn diese Thiere auf dem Wege, welchen wir einschlagen werden, Monsieur Lemartel?«

»Nicht nur wenige, sondern sogar in Masse. Hast Du vielleicht einmal davon gehört, daß es unter gewissen Stadttheilen von Paris Katakomben giebt?«

»Das weiß ja jedes Kind!«

»Nun, ein solcher Stadttheil ist der unserige. Diese Fallthür führt in das Labirinth der unterirdischen Gänge hinab. Sie sind so verzweigt und ineinander gewirrt, daß man sich darin verirren kann. Es hat sich schon Mancher nicht wieder herausgefunden. Später wurde sein Skelett entdeckt. Er war elend verhungert und vielleicht gar bei lebendigem Leibe von den Ratten aufgefressen worden.«

»Herrgott!« sagte das Mädchen schaudernd. »Und da hinab wollen wir vielleicht steigen?«

»Ja. Das Haus des Vater Main ist fünf Querstraßen weit von hier. Sein Keller liegt ebenso wie der meinige über den Katakomben und ich weiß, daß er auch so eine Fallthür besitzt.«

»Das stimmt. Ich habe die Thür damals gesehen.«

»Also richtig. Ich will offen sein und Dir sagen, daß ich Grund gehabt habe, den Wirth heimlich zu beobachten. Ich bin sehr oft, ohne daß er es ahnte, in seinem Keller gewesen. Nur das Versteck konnte ich nicht entdecken. Heute wirst Du es mir zeigen.«

»Das würde ich gern thun, Monsieur, denn ich habe Ihnen ja sehr viel zu verdanken; aber wie nun, wenn wir den Weg nicht zurückfinden und dann auch verhungern!«

»Ich kenne den Weg sehr genau, und übrigens habe ich für unvorhergesehene Fälle dieses Papier. Es ist der Plan der Katakomben, über denen wir wohnen. Willst Du Dich mir anvertrauen?«

Sie zögerte eine Weile und antwortete dann in entschlossenem Tone:

»Gut, ich gehe mit! Sie werden sich doch nicht selbst in eine Gefahr begeben, die Sie nicht kennen.«

»Sicherlich nicht. Vorher aber noch eins! Ich befand mich nämlich in den Katakomben unter dem Keller, als Vater Main Dir sein Versteck zeigte, um Dich zu bethören. Ich hörte jedes Wort, welches zwischen Euch gesprochen wurde; aber es fiel kein einziges, aus dem ich hätte schließen können, welcher Ort das Versteck sei. Von dieser Stunde an war es beschlossen, Dich von ihm fortzunehmen, um mit Deiner Hilfe das Gesuchte zu finden. Jetzt weißt Du nun Alles und wir können den Weg antreten.«

Er kehrte zur Thür zurück und verschloß sie, um nicht beobachtet zu werden. Dann brannte er die beiden Laternen an, von denen das Mädchen eine erhielt. Das Licht wurde verlöscht. Sodann öffnete er die Fallthür. Aus der schwarz empor gähnenden Oeffnung stieg ein moderiger Geruch empor und unten hörte man die Stimmen der Ratten, welche durch das Geräusch aufgeschreckt worden waren. Längs der Mauer hin lag eine Leiter. Er nahm dieselbe und ließ sie in das Loch hinab.

»Jetzt werde ich voransteigen und Du folgst mir,« sagte er.

»Du brauchst ganz und gar nicht bange zu sein. Es wird Dir nichts Böses geschehen.«

Er zog den Degen aus dem Stocke, nahm ihn in die Rechte und die Laterne in die Linke und begann hinab zu steigen. Sie zögerte einige Augenblicke und folgte ihm dann vorsichtig.

Unten angekommen, befanden sie sich in einem gewölbten Gange, von dessen Mauern das Wasser sickerte. Es sammelte sich am Boden, wo es durch unsichtbare Ritzen verschwand. Einzelne Ratten huschten an ihnen vorüber. Die Masse dieser Thiere hatte sich vor dem Scheine der Laternen geflüchtet.

»Nun, findest Du es vielleicht zu grausig hier unten?« fragte er.

»Nein,« antwortete sie. »Allein aber möchte ich auf keinen Fall und um keinen Preis hier sein.«

»Weißt Du, wozu diese Katakomben früher gedient haben?«

»Man sagt, daß die Todten da aufbewahrt worden sind.«

»Das ist wahr. Wir werden an einigen Stellen vorüberkommen, wo Schädel und Knochen aufgespeichert liegen. Du brauchst Dich jedoch nicht zu fürchten. Komm, gieb mir Deinen Arm!«

Er führte sie. Er fühlte, daß sie bebte. Sie war doch nicht so muthig, wie sie sich den Anschein gab. Und als sie, in mehrere Nebengänge einbiegend, immer ganze Schaaren von Ratten fliehen sahen und hörten, stieß sie zuweilen einen lauten Ruf des Schreckens aus.

Nach einer Weile kamen sie durch ein breiteres Gewölbe, an dessen beiden Seiten zahlreiche Ueberreste von Leichen aufgestapelt waren. Da drängte sie sich furchtsam an ihren Führer und beeilte ihre Schritte, so daß er ihr kaum zu folgen vermochte.

Endlich, endlich blieb er halten. Es waren in die Mauer Stufen gehauen und oben in der Decke erblickte man eine Fallthür, ganz ähnlich derjenigen, durch welche sie vorher herabgestiegen waren.

»Wir sind am Ziele,« sagte er.

»Ueber uns ist der Keller des Vater Main?« fragte sie.

»Ja. Der Schlaukopf scheint auch zuweilen hier unten seine Entdeckungsfahrten unternommen zu haben; denn diese Stufen sind sicher nur von ihm in den Stein gehauen worden. Er kann da die Leiter entbehren. Ich werde einmal horchen, ob sich Jemand im Keller befindet. Hier hast Du den Stockdegen, um Dich der Ratten zu erwehren, wenn sie Dich belästigen sollten.

Er stieg empor, bis sein Kopf an die Fallthür stieß und lauschte eine kurze Zeit. Dann hob er die Thür empor, hielt die Laterne in die Höhe und blickte in den Keller. Er konnte nach dem, was er erfahren hatte, sich denken, daß das Haus von der Polizei besetzt sei. Daher war Vorsicht geboten. Glücklicher Weise bemerkte er, daß in dieser hinteren Abtheilung von einem Menschen keine Spur zu sehen sei.

»Es ist Niemand da,« flüsterte er ihr zu. »Komm herauf.«

Er selbst stieg vollends empor und sie folgte ihm.

»Nun, wo ist das Versteck?« fragte er. »Du kannst es mir zeigen, ohne ein Wort zu sprechen; dann hast Du Deinen Schwur gehalten.«

Natürlich sprach er so leise wie möglich. Er war fieberhaft erregt, ließ es sich aber nicht merken. Das Mädchen trat einige Schritte vor, bückte sich dann fast bis zum Boden nieder und deutete auf einen Mauerstein, welcher ganz fest zwischen den andern zu stecken schien. Ein Eisenring war an ihm angebracht. Lemartel erfaßte den Ring und zog. Der Stein folgte dieser Anstrengung und nach ihm auch die rechts und links von ihm befindlichen. Dadurch wurde eine Oeffnung sichtbar, welche eine ziemliche Tiefe besaß. Der Lumpenkönig leuchtete in dieselbe hinein und mußte sich beherrschen, nicht einen lauten Ruf des Erstaunens auszustoßen.

Er erblickte Geldrollen und Packete, welche jedenfalls Papiergeld enthielten, Ringe, Ketten, Armbänder und allerlei ähnliche Schmuckgegenstände. Und ganz hinten – ah, er langte hinter und zog ein kleines Kästchen hervor, welches er genau betrachtete. Es war verschlossen und kein Schlüssel steckte im Loche.

»Das ist es!« sagte er, indem sein Auge aufleuchtete.

»Dieses Kästchen wurde Ihnen gestohlen?« fragte sie.

»Ja. Ich werde der Polizei Meldung machen.«

»Warum denn, Monsieur?«

»Damit ich es wieder bekomme.«

»Dazu ist ja gar keine Meldung nöthig! Wenn es Ihnen gehört, so können Sie es ja behalten. Das ist keine Sünde und auch kein Verbrechen.«

Natürlich hatte er sich nur den Anschein gegeben, als ob er Anzeige machen wolle. Er nahm eine nachdenkliche Miene an und meinte flüsternd:

»Du hast eigentlich ganz Recht. Melde ich es der Polizei, so wird das Kästchen confiscirt, obgleich es mein Eigenthum ist, und ich kann Monate lang warten, ehe ich es erhalte. Also Du meinst, daß ich es mitnehmen soll?«

»Ja. Was ist drin?«

»Nichts gerade Werthvolles. Nur Scheine und Zeugnisse, welche ich vielleicht noch einmal gebrauchen werde. Die Diebe haben das Kästchen jedenfalls nur deshalb mitgenommen, weil die Elfenbeinarbeit daran eine werthvolle ist. Stecken wir die Steine wieder an ihren Platz!«

Er verschloß das Versteck wieder, wie es erst gewesen war, und nahm das kleine Kästchen an sich. Dann stiegen sie wieder hinab, wobei er die Fallthür über sich niederließ. Unten im Gewölbe angekommen, sagte das Mädchen:

»Nun sind Sie also vollständig zufriedengestellt, Monsieur?«

»Ja.«

»Das ist uns leichter geworden, als ich dachte. Ich werde darum die Belohnung, welche Sie mir versprochen haben, wohl gar nicht annehmen können.«

»Du wirst sie erhalten und annehmen, denn Du hast sie verdient. Komm, laß uns zurückkehren.«

Sie gelangten auf demselben Wege, den sie gekommen waren, und in ganz derselben Weise in die Lumpenniederlage Lemartels zurück. Dort öffnete er sein Pult und zahlte ihr die Summe aus. Sie konnte es gar nicht fassen, plötzlich so reich geworden zu sein, und zog im Uebermaße ihres Glückes seine Hand an ihre Lippen. Dann entfernte sie sich.

Kaum aber war sie fort, so trat er den Gang zum zweiten Male an. Während er die Katakomben durchschritt, murmelte er vor sich hin:

»Soll ich etwa den Schatz liegen lassen, den dieser Spitzbube da aufgespeichert hat! Ich würde der größte Thor der Erde sein. Habe ich mir kein Gewissen daraus gemacht, damals die Familie Königsau nebst Graf Rallion und den Capitän um ihr Geld zu betrügen, so brauche ich jetzt erst recht kein Bedenken zu hegen!«

Unter der Fallthür angekommen, lauschte er. Er bemerkte, daß Jemand im Keller sei. Es wurde geklopft und gehämmert.

»Donnerwetter!« dachte er. »Sollte man ahnen, daß der Alte hier ein heimliches Versteck hat, und nach demselben suchen? Das wäre fatal! Ich muß warten.«

Er wartete lange Zeit; aber die Bewegung, welche im Keller herrschte, wollte nicht aufhören. Darum kehrte er endlich zurück und beschloß, den Weg am Tage nochmals zu unternehmen.

Er kam erst gegen Mittag zur Ausführung dieses Vorhabens. Jetzt fand er den Keller des Wirthes leer. Er blickte sich um, konnte aber nichts bemerken, was ihm hätte als Fingerzeig dienen können, warum man in der Nacht hier so geklopft und gehämmert habe. Das Geräusch hatte wohl im vorderen Keller stattgefunden. Er zog die Steine heraus und fand den Schatz noch vor.

Er raffte Alles in ein Tuch zusammen, welches er mitgebracht hatte, brachte die Steine wieder in ihre Lage und zog sich dann zurück, um eine Summe bereichert, deren Höhe er jetzt noch gar nicht zu bestimmen vermochte.

Er hielt sich gar nicht in seiner Niederlage auf, sondern begab sich nach dem Palais, um den Raub dort in sicheren Gewahrsam zu bringen. Wer ihn jetzt hätte durch den Garten schreiten sehen, dem wäre es ganz gewiß nicht eingefallen, ihn für den Besitzer dieses Palastes zu halten. Er war nicht anders gekleidet als einer seiner Arbeiter.

Nachdem er das gestohlene Gut versteckt hatte, begab er sich zu den beiden Männern, welche glaubten, sich in einem sicheren Asyl bei ihm zu befinden.

»Endlich!« sagte Vater Main, als er bei ihnen eintrat. »Die Zeit wird Einem in dieser Einsamkeit verteufelt lang. Giebt es nichts Neues? Was erfährt man über unsere Affaire?«

»Sehr viel und sehr wenig,« antwortete Lemartel. »Ich bringe Euch eine Botschaft, welche für Euch von größter Wichtigkeit ist.«

»Erfreulich?«

»Nein. Wenigstens ich glaube, daß sie Euch nicht sehr angenehm sein wird.«

Aus dem Umstande, daß er Euch anstatt Ihnen sagte, hätten sie sehr leicht auf die Aenderung seiner Gesinnung schließen können. Sie beachteten das nicht. Der Bajazzo fragte:

»Was ists? Heraus mit der Sprache.«

»Hier nicht. Ich muß Euch erst an einen anderen Ort bringen. Kommt, und folgt mir!«

»Wohin?«

»Das werdet Ihr sehen!«

Er öffnete die Thür und stieg, ihnen voran, die Treppe hinab. Sie sahen sich gezwungen, ihm zu folgen, wunderten sich aber nicht wenig, als sie bemerkten, daß er sie durch den Garten nach der Lumpenniederlage hinüber führte. Jenseits der Mauer angekommen, ließ er sie warten.

Zur jetzigen Tageszeit war das Geschäft geschlossen. Er überzeugte sich dennoch, ob sich Jemand anwesend befinde und fühlte sich erst dann sicher, als er annehmen konnte, daß er völlig unbeobachtet sei. Nun brachte er die Beiden nach der Niederlage. Dieses Verhalten fiel doch den Beiden auf.

»Ist das etwa der Ort, an den Sie uns bringen wollten?« fragte Vater Main.

»Ja; er ist es.«

»Alle Teufel. Und hier, gerade hier allein können Sie mit uns reden?«

»Nur hier! Hier ist der einzige Ort für das, was ich Euch mitzutheilen habe.«

»So bin ich wirklich neugierig, es zu hören.«

»Ihr sollt es sofort erfahren, ich habe nämlich vernommen, daß man Euch an allen Ecken und Enden sucht. Findet man Euch, so seid Ihr verloren.«

»Das wissen wir, ohne daß man es uns zu sagen braucht!«

»Verloren ist aber auch Derjenige, bei dem man Euch findet, und darum muß ich Euch bitten, Euch ein anderes Asyl zu suchen!«

Sie blickten ihn erstaunt und wortlos an. Vater Main fand die Sprache zuerst wieder. Er fragte:

»Monsieur Lemartel, belieben Sie etwa zu scherzen?«

»Nein; ich spreche im Ernste.«

»Alle Teufel! Das kann ich kaum glauben. Gerade dadurch, daß Sie uns die Thür zeigen, würden Sie das Verderben über sich herauf beschwören.«

»Das klingt sehr unglaublich. Ich kann Euch nicht gebrauchen!«

»Aber wir Sie! Ich sage Ihnen: Wenn Sie uns wirklich die Thür zeigen, so befindet sich das bewußte Kästchen innerhalb einer Stunde in den Händen der Polizei.«

»Daran glaube ich nicht. Wie wollen Sie in Ihr Haus zurück, um es zu holen. Sie würden der Polizei in die Hände gerathen!«

»Ich habe Ihnen ja bereits mitgetheilt, daß ich es an einem anderen Orte deponirt habe.«

»Das ist eine Lüge, das Kästchen befindet sich in Ihrem Keller.«

Der Wirth riß die Augen auf. Er starrte den Sprecher erschrocken an, faßte sich aber rasch wieder und sagte:

»Unsinn! Sie haben kein Geschick, auf den Strauch zu schlagen.«

»Das beabsichtige ich gar nicht. Ich bin meiner Sache so sicher, daß ich Ihnen sogar sagen kann, daß das Kästchen sich in der hinteren Abtheilung Ihres Kellers befindet.«

»Vermuthung! Nichts weiter!«

»Hinter den drei Steinen, welche locker sind.«

Da fuhr der Wirth zurück, als ob er vor einem Abgrunde stehe. Er stieß einen Ruf des Schreckens aus und fragte:

»Hölle und Teufel! Was wissen Sie von drei Steinen? Was bringt Sie zu dieser unbegreiflichen Vermuthung?«

»Es hat mir geträumt; das ist die einzige Erklärung, welche ich zu geben vermag. Wollt Ihr das Kästchen der Polizei übergeben, so habe ich ganz und gar nichts dagegen. Die Lust aber, mich wegen Euch in Gefahr zu begeben, ist mir vergangen.«

Er näherte sich der Hausthür, welche von innen verschlossen war, und zog den Schlüssel hervor, um sie zu öffnen. Da trat der Bajazzo zu ihm heran und fragte:

»Reden Sie irre, oder sprechen Sie im Ernste?«

»Das Letztere ist der Fall, Monsieur Bajazzo.«

»So wollen Sie also wirklich in Ihr Verderben rennen!«

»Versuchen Sie es doch, mich zu verderben.«

»Das Kästchen wird sicher abgegeben.«

»Holt es Euch erst.«

»Ich werde erklären, daß Sie der betreffende Henry de Lormelle sind, welcher damals – – Sie wissen ja!«

»Nichts weiß ich, gar nichts! Bringt Beweise! Hier steht die Thür offen. Packt Euch hinaus.«

Er hatte die Thür aufgestoßen und deutete hinaus auf die Gasse. Das steigerte den Grimm des Bajazzo.

»Hund!« rief er. »Du sollst uns nicht umsonst hinauswerfen! Da, nimm das zum Lohne.«

Er holte zum Schlage aus; aber der Lumpensammler war auf seiner Hut gewesen. Er sprang zurück und riß einen Revolver aus der Tasche, den er dem Bajazzo entgegenhielt:

»Ah, vergreifen wollt Ihr Euch an mich?« fragte er. »Noch einen einzigen Schritt, und ich schieße Euch nieder. Wenn man Euch dann erkennt, wird man mich belohnen anstatt bestrafen. Ich sage ganz einfach, daß Ihr einen Raubanfall gegen mich unternommen habt. Also geht, oder ich schieße.«

Der Bajazzo sah sich ihm machtlos gegenüber. Er schäumte vor Wuth. Vater Main fühlte nicht weniger Grimm, aber er besaß mehr Selbstbeherrschung. Er faßte ihn beim Arm und sagte:

»Komm, Bajazzo; laß ihn! Er hat in diesem Augenblicke die Oberhand; aber er soll es büßen; dafür werden wir sorgen.«

Er zog ihn mit sich fort, auf die Gasse hinaus. Draußen blickten sie sich vorsichtig um. Sie bemerkten nichts Verdächtiges und schritten weiter.

»Diesem Hallunken will ich es gedenken!« sagte der Bajazzo. »Ich kenne eine Affaire aus seiner Vergangenheit, welche – – –«

»Still jetzt!« unterbrach ihn der Vater Main. »Wir haben in diesem Augenblicke genugsam mit uns selbst zu thun. Es ist heller Tag. Man sucht mich jedenfalls durch ganz Paris. Ich muß auf meine Sicherheit bedacht sein.«

»Wohin aber wenden wir uns?«

»Zum alten Piccard.«

»Ah, zum Trödler?«

»Ja.«

»Lebt er denn noch?«

»Der stirbt niemals. Er scheint das ewige Leben zu haben.

Er ist mir zu Dank verpflichtet, und ich bin überzeugt, daß er mir seine Hilfe nicht versagen wird. Vorwärts also!«

Er begann, rascher als bisher auszuschreiten und der Bajazzo mußte das Gleiche thun. So kamen sie glücklich durch einige Gäßchen, ohne einem Polizisten zu begegnen und endlich traten sie in den Flur eines kleinen, armseligen Häuschens, in welchem allem Anscheine nach ein Althändler zu wohnen schien.

*


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