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Fortsetzung 55

Martin hatte in seinem Verstecke Alles mit angehört.

Er ahnte, daß von seiner eigenen Depesche die Rede sei, und als er den Zettel am Boden liegen sah, war er sogar davon überzeugt. Aber es war auch von Krieg und von einem Feldzugsplane die Rede. Was war damit gemeint? Bot sich ihm hier etwa gar ein Fund, welcher von Wichtigkeit sein konnte?

Er lugte unter der Tischecke hervor. Der Schläfer regte sich nicht. Langsam und vorsichtig kroch Martin hervor und richtete sich auf. Da auf dem Tische lag das Schriftstück. Auf die Gefahr hin, ertappt zu werden, griff er darnach und schlug die erste Seite auf. Da stand in großer Fracturschrift zu lesen:

 

»Entwurf des strategischen Aufmarsches der französischen Heere im Kriege gegen Preußen und Süddeutschland.«

 

Es durchzuckte ihn, als ob er electrisirt worden sei. Er war noch jung, aber ebenso entschlossen und besonnen wie ein Alter. Diesen Entwurf durfte er nicht mitnehmen; aber wie nun, wenn es ihm gelang, eine Abschrift davon zu nehmen? Er klinkte leise an der Thür, welche nach dem Arbeitszimmer führte. Sie öffnete sich, ohne ein Geräusch zu verursachen.

Er hatte sein Laternchen mit, aber das Licht derselben reichte nicht aus. Die Lampe konnte ihm gefährlich werden, wenn sie hier stehen blieb. Ihr Schein konnte den Schläfer wecken, welcher jedenfalls ruhig weiter schlief, wenn es im Zimmer dunkel war. Er ergriff sie und den Entwurf und schlich sich mit Beiden in das Arbeitszimmer.

Hier gab es, wie er vermuthet hatte, nicht viel Möblement. Ein Schreibtisch, ein Büchergestell und einige Stühle, das war Alles, was er erblickte. Er setzte die Lampe auf den Tisch, auf welchem zehnmal mehr Papier lag, als er brauchte, und zog dann die Thür leise hinter sich zu, die er dann verriegelte, nachdem er aus Vorsicht den Schlüssel drüben abgezogen und hüben wieder angesteckt hatte.

Auch Tinte und Feder waren vorhanden. Er setzte sich und begann zunächst zu lesen. Falls er ja erwischt wurde, war es gut, wenn er wenigstens den Inhalt kannte. Als er zu Ende war, verklärte sich sein Gesicht.

»Welch ein Fund!« dachte er. »Diese Blätter sind Hunderttausende werth. Wie gut, daß ich Stenographie gelernt habe; da geht es schnell. O, Alice, verzeihe, daß ich diesen Raub begehe; aber Du bist es ja nicht, an Der ich mich versündige!«

Einige Augenblicke flog die Feder mit ungewöhnlicher Geschwindigkeit über das Papier. Viertelstunden vergingen, eine Stunde und noch eine, und als er zu Ende war, zog er die Uhr.

»Drei und eine Viertelstunde habe ich geschrieben!« murmelte er. »Das war eine Riesenarbeit; ich habe fast den Krampf in der Hand. Nun aber fort! Wo wird Alice sein? Sicher schläft sie nicht, sondern wartet auf mich!«

Er faltete seine Abschrift zusammen und steckte sie mit dem Gefühle zu sich, als ob es lauter Tausendthalerscheine seien. Sonach brachte er auf dem Schreibtische Alles in die gehörige Ordnung. Dann löschte er die Lampe aus, riegelte die Thür leise auf, steckte den Schlüssel wieder an und lauschte.

Der Betrunkene schlief noch und schnarchte leise. Martin setzte die Lampe auf den Tisch und legte den Entwurf daneben. Dann schloß und riegelte er die Thür auf, welche nach dem Salon führte und die der Secretär vor seiner Schwester verschlossen hatte. Als er hinausgetreten war und die Thüre wieder in die Klinke schob, hörte er ein leises:

»Martin?«

»Ja,« antwortete er ebenso leise.

»Gott sei Dank!«

Dabei fühlte er, daß sich zwei warme, weiche Arme um ihn legten.

»Du hast auf mich gewartet?« fragte er.

»Ja. O, was habe ich für eine Angst ausgestanden. Ich glaubte, er würde Dich entdecken.«

»Das wäre nicht schlimm gewesen. Ich hätte ihm gesagt, daß wir uns lieben und daß Du mein Weibchen werden willst.«

»Und wenn er dann gezankt hätte?«

»Keine Sorge. Ich wäre schon mit ihm verkommen. Einmal muß er es doch erfahren.«

»Wo hast Du gesteckt?«

»Unter dem Tische in seiner Schlafstube.«

»O weh, welch eine unbequeme Situation. Du armer, armer, lieber Martin.«

Sie strich ihm mit dem kleinen Händchen liebkosend über die Wange. Er drückte sie an sich und flüsterte glücklich:

»Für Dich würde ich noch viel schlimmere Situationen nicht scheuen; das darfst Du mir getrost glauben, mein gutes, süßes Schwalbenweibchen!«

»Und ich war im Schlafzimmer und habe Dich nicht bemerkt! Warum kamst Du nicht eher?«

Er sah sich gezwungen, eine Unwahrheit zu sagen:

»Es war unmöglich. Er hatte den Zettel fallen lassen, wollte ihn aufheben und fiel nun selbst hin. Da blieb er an der Thür liegen, so daß ich sie nicht öffnen konnte. Schließlich kam ich auf den Gedanken, ihn durch leise Stöße nach und nach zu wecken. Es gelang. Er raffte sich auf und legte sich auf das Bett. Dann erst konnte ich fort.«

»Mein Gott, was mußt Du denken! Er will es mir nie zur Liebe thun und weniger trinken. Kannst Du denn wirklich ein Mädchen lieb haben, dessen Bruder Du betrunken gesehen hast?«

»Warum nicht? Kannst Du dafür?«

»Er schläft also fest?«

»Ja, sehr fest.«

»So kannst Du Dich also entfernen, ohne daß er es hören wird?«

»Wir sind vollständig sicher. Nun aber hast Du, Arme, auf den Schlaf verzichten müssen.«

»Du ebenso. Aber wir werden es nachholen, und ich werde Dir sicher sagen können, daß ich von Dir geträumt habe.«

Er zog sie an sich heran, küßte sie und fragte:

»Hast Du mich denn wirklich so lieb, daß ich Dir sogar im Traume erscheinen darf?«

»O,« gestand sie ihm. »Es wäre wohl nicht das erste Mal, daß dies geschieht.«

»So hast Du bereits von mir geträumt? Ich von Dir noch nicht, leider; aber ich werde es jetzt thun, wenn ich nach Hause gekommen bin. Erlaubst Du mir, daß ich nun gehe?«

»Ja. Ich werde Dich bis zur Thür begleiten.«

Sie führte ihn hinunter bis zum Eingange des Hauses, den sie öffnete. Der Morgen begann bereits zu grauen.

»Wann sehen wir uns wieder?« fragte sie.

»Wann wünschest Du, liebes Kind?«

»Ich würde mich freuen, wenn es heute möglich sein könnte.«

»Wann geht heute Abend Dein Bruder aus?«

»Das weiß ich nicht. Vielleicht bleibt er gar zu Hause, weil er dieses Mal so spät gekommen ist.«

»So müssen wir also leider für den Abend verzichten.«

»Am Nachmittage befindet er sich im Bureau. Da bin ich ganz allein daheim. Könntest Du da nicht vielleicht kommen?«

»Nein. Monsieur Belmonte verreist, und da bin ich gezwungen, daheim zu bleiben. Wenn etwas eingeht, muß jemand vorhanden sein. Ah, da fällt mir etwas Schönes ein.«

»Was?«

»Ich bin also am Nachmittag zu Hause.«

»So wie ich!«

»Und zwar ganz allein. Gehest Du zuweilen aus?«

»Nur um meine Einkäufe zu machen.«

»Spazieren nicht?«

»Höchst selten.«

»Aber heute möchte doch einmal eine Ausnahme stattfinden.«

»Warum?«

»Da ich nicht zu Dir kommen kann, so könntest Du mir die Freude machen, zu mir zu kommen!«

»Eine Dame auf Besuch zu einem Herrn? Das geht ja nicht!«

»Nicht eine Dame zu einem Herrn, sondern ein Schwälbchen zu ihrer Schwalbe, ein gutes Mädchen zu ihrem Verlobten, der sie so herzlich liebt und so glücklich sein würde, wenn sie zu ihm käme.«

»Ist das wahr?« fragte sie, glücklich lächelnd.

»Du darfst ganz und gar nicht daran zweifeln.«

»Und wenn ich komme, wer öffnet mir die Thür, wer wird mich ganz erstaunt mit grimmigen Augen anblicken?«

»Nun, wer?«

»Dein Monsieur Belmonte.«

»Ich versichere Dir, daß er nicht zu Hause sein wird.«

»So dürfte ich es vielleicht wagen, Dir zu Liebe natürlich, und weil ich bereits jetzt merke, daß ich große Sehnsucht nach Dir haben werde, wenn ich Dich von jetzt an bis zum Nachmittag nicht zu sehen bekomme.«

»Du gutes, gutes Schwälbchen! Ja, meine Alice, wir wollen immer so lieb und brav gegen einander sein! Also ich darf Dich sicher bei mir erwarten?«

»Ja, obgleich es gegen die Regel ist. Um wie viel Uhr?«

»Wann Du Deiner Sehnsucht nicht mehr Herr werden kannst.«

»O, da wird es sehr bei Zeiten werden. Aber ich weiß Deine Wohnung nicht genau.«

»Rue de Richelieu 12 erste Etage. Sobald Du klingelst, werde ich gesprungen kommen, um Dir zu öffnen. Gute Nacht, meine Alice, mein Leben!«

»Gute Nacht, mein Martin. Behalte mich treu und lieb.«

»Das kannst Du glauben. Ich weiß, daß ich heute bei Dir ein Glück gefunden habe, wie es größer gar keins geben kann!«

Er küßte sie innig auf die Lippen, welche sie ihm liebevoll entgegenhielt, und entfernte sich dann. Er hatte seine letzten Worte aus vollster Seele gesprochen. Der Fund, welchen er in dem Entwurfe gethan hatte, war von allerhöchstem Werthe, persönlich lieber noch aber war ihm der Schatz, welchen er so glücklich gewesen war, in dem Gemüthe dieses einfachen, unentweihten, reinen Mädchens zu entdecken.

Als er seine Wohnung erreichte, war es bereits ziemlich hell geworden, und der Portier, welcher öffnen mußte, machte darüber ein erstauntes Gesicht. Er hatte noch nicht bemerkt, daß dieser Hausbewohner ein solcher Nachtschwärmer sei.

Oben im Logis angekommen, begab er sich sofort nach dem Schlafcabinet seines Herrn. Dieser, welcher einen sehr leisen Schlaf besaß, erwachte, als er eintrat.

»Martin, Du bist es?« fragte er.

»Ja. Entschuldigung, daß ich Sie stören muß!«

»Ich lasse mich sehr gern stören, denn daß Du mich weckst, giebt mir die Ueberzeugung, daß Du mir etwas Wichtiges und Gutes mitzutheilen hast.«

»Sie haben es errathen. Nicht wahr, Sie können stenographiren?«

»Spaßest Du schon wieder! Wir haben es ja Beide zusammen gelernt und dann mit einander geübt!«

»Nun, so wollen wir diese Uebung fortsetzen!«

»Muß das sogleich sein?«

»Sogleich!«

»Dann vermuthe ich, daß Du mir ein Stenogramm zu lesen bringst. Ist es so oder nicht?«

»Es ist so. Ich will die Lampe anzünden. Es ist zwar bereits Tag, aber durch die dichten Vorhänge kann das Morgenlicht doch noch nicht herein.«

Während er dieses vornahm, erhob sich Belmonte von seinem Lager. Ueber dem Ankleiden fragte der Letztere nach der Depesche, und Martin erzählte, was er da erlebt hatte. Beide mußten herzlich darüber lachen.

»Aber woher kommst Du so spät?« fragte dann Belmonte, als er nach der Uhr gesehen hatte.

»Das rathen Sie nicht? Sehen Sie mich doch einmal an!«

Er stellte sich stramm vor seinen Herrn hin. Dieser blickte ihm in das lachende Gesicht, zuckte die Achsel und meinte:

»Ich ersehe mir an Dir jetzt ebenso wenig wie sonst.«

»Das möchte ich nicht glauben! Bin ich nicht auf einmal ein ganz anderer Kerl geworden? Sehe ich nicht gerade so aus wie das Männchen von einem glücklichen Schwalbenpärchen?«

»Unsinn!« antwortete Belmonte. Dann aber, sich besinnend, lachte er laut auf und sagte: »Ich glaube gar, Du hast noch fester in die Angel gebissen, so daß Du die Fliege, von welcher Du gestern Abend sprachst, vollständig verschluckt hast!«

»Getroffen!« stimmte Martin in das Lachen ein. »Du bist also der Liebste?«

»Ja, und sie ist die Liebste!«

»Ein Schwalbenpärchen habt Ihr Euch genannt?«

»Freilich! Und diesen trefflichen Vergleich hat die Schwalbin zusammengebracht!«

»Eine geistreiche Schwalbe! Gratulire! Das mag ein Gezwitscher und Gepipe gewesen sein!«

»Zum Entzücken!«

»Ich glaube es und hätte dabei sein mögen. Aber wo bleibt das Stenogramm? Wir vergessen es über diese Schwalbengeschichte sonst ganz und gar.«

»Hier!«

Er zog die zusammengefalzten Blätter aus der Tasche hervor und reichte sie ihm hin. Belmonte setzte sich zum Lesen nieder, öffnete und warf den Blick zunächst auf die Ueberschrift. Als er diese erblickte, warf er einen erstaunten Blick auf Martin.

»Dieser Titel ist ja außerordentlich!« sagte er.

»Das dachte ich auch, als ich ihn sah,« antwortete der Diener.

»Aber ob der Inhalt ihn rechtfertigen wird!«

»Vollständig! Bitte, lesen Sie nur, Monsieur Belmonte!«

Der Changeur begann zu lesen. Je weiter er kam, desto aufmerksamer wurde er, desto mehr Ausrufe des Staunens und der Verwunderung ließen sich hören. Und als er zu Ende war, sprang er erregt vom Stuhle auf und rief:

»Mensch, wo hast Du diesen Fund gemacht?«

»Sie meinen, wo ich diesen Diebstahl begangen habe!«

»Das ist mir einerlei! Antworte!«

»Bei der Schwälbin.«

»Wie? Bei diesem Mädchen? Ah, der Bruder ist ja Secretär des Grafen Rallion! Erzähle!«

Martin berichtete nun von seinem Erlebnisse. Belmonte schritt dabei im Zimmer auf und ab. Dann, als der Diener zu Ende war, blieb er vor demselben stehen und sagte:

»Kerl, Du bist ein Glückskind, ein wirklicher, wahrhaftiger Glückspilz! Dieser Fund wird Dir reiche Früchte bringen. Hier giebt es kein Säumen. Das Schriftstück muß abgeschrieben und sogleich nach Hause gesandt werden. Einer bringt zu lange zu; wir werden Beide sofort beginnen. Vorwärts, zur Feder!«

Sie theilten sich in die Blätter, und bald waren Beide in die Arbeit so vertieft, daß sie für nichts Anderes Augen hatten. Selbst als die Zeitungen kamen, wurden dieselben unbeachtet bei Seite geworfen. Sie brachten bis weit in den Vormittag hinein zu; dann wurde die Currentschrift sorgfältig eingepackt, und Belmonte trug sie selbst fort, um sie derjenigen Person zu bringen, welche für solche Fälle in Bereitschaft stand. Das Schriftstück hatte einen zu hohen Werth, als daß man es der Post hätte anvertrauen können. Es mußte durch einen sichern, zuverlässigen Courir überbracht werden.

Als Belmonte von diesem kurzen Gange zurückgekehrt war, bereitete er sich auf die Fahrt nach Meudon vor. Eben wollte er aufbrechen, als der Telegraphenbote eintrat. Er brachte bereits die Antwort auf das gestrige Telegramm. Dasselbe war in Mainz aufgegeben worden und lautete:

»Herrn Arthur Belmonte, Paris, Rue Richelieu 12.

Reichenberger Rothwein nicht gebraucht; bereits vortrefflich versorgt. Aber möglichst schnell Risparger Auslese und dann sofort Metzheimer Berg und Thal in bester Qualität.

Albrecht. Weingroßhandlung.«

Belmonte wußte, daß er dem braven Martin sein Vertrauen schenken könne. Er las ihm daher das Telegramm vor. Der Diener schüttelte den Kopf und meinte:

»Und das soll die Antwort auf unser chiffrirtes Telegramm sein?«

»Natürlich!«

»Es kommt ja aus Mainz!«

»Das ist sehr klug gehandelt. Es kommt aus Berlin, hat aber in Mainz Station gemacht, damit die hiesigen Beamten irre geleitet werden und nicht denken sollen, daß beide Depeschen im Zusammenbange stehen.«

»Nun, das ist freilich zu begreifen; aus dem Inhalte aber werde der Teufel klug, ich nicht.«

»So muß ich ihn Dir erklären. Von welcher Person handelte unser Telegramm?«

»Von dem alten Capitän Richemonte.«

»Wie würdest Du diesen Namen in's Deutsche übersetzen?«

»In das Wort Reichenberg.«

»Nun, hier steht, daß Reichenberger Rothwein nicht gebraucht werde und man bereits vortrefflich versehen sei.«

»Donnerwetter! Ich beginne, zu begreifen!«

»Was?«

»Man kennt diesen Richemonte bereits und hat vortreffliche Maßregeln getroffen. Habe ich Recht?«

»Ja. Aber nun weiter! Es wird möglichst schnell Risparger Auslese verlangt. Auslese bedeutet für uns natürlich eine Auswahl unserer Beobachtungen. Was aber soll das Wort Risparger?«

»Da steht mein Verstand am Ende der Welt!«

»So weit brauchst Du gar nicht zu gehen. Bleibe nur in Paris, wo wir uns befinden! Also Paris. Wie viel Silben?«

»Zwei.«

»Setze die erste hinter und die zweite vor!«

»Rispar – ah, Risparger Auslese! Jetzt habe ich es endlich!«

»Schön! Das dritte Wort wird Dir nicht so sehr viel zu schaffen machen wie die anderen.«

»Metzheimer? Ich denke, daß hier nur die erste Silbe gilt.«

»Das ist jedenfalls das Richtige: Metz. Und Berg und Thal, was soll das bedeuten?«

»Nicht blos Stadt und Festung Metz, sondern auch Berg und Thal, die ganze Umgegend.«

»Wie würdest Du also die ganze Antwort deuten?«

»Wir sollen uns um diesen Richemonte nicht bekümmern, da man bereits vortrefflich dafür gesorgt hat, daß dieser Mann nicht mit der Nase in den Wolken hängen bleibt. Wir sollen möglichst schnell mittheilen, was wir über Paris wissen, und endlich sollen wir dann sofort nach Metz gehen, um uns dieser guten Festung nebst ihrer Umgebung liebevoll anzunehmen.«

»Ja, das ist die Instruction, welche wir zu befolgen haben. Nur in einem Stücke werde ich ein Wenig abweichen.«

»Ist diese Abweichung gefährlich?«

»Gar nicht. Ich werde mich nämlich um diesen Richemonte doch ein Wenig bekümmern.«

Martin nickte mehrere Male sehr eifrig und sagte lachend:

»Ja, ja; ich verstehe!«

»Was denn?«

»Ein gewisser Weinagent möchte sich um diesen alten Capitän ein Wenig bekümmern, weil es gestern ruchbar geworden ist, daß sich bei dem Alten ein gewisser Bernard de Lemarch befindet, welcher verlobt ist mit einer gewissen dritten Person, der die Ehre geworden ist, in der großen Oper neben dem erwähnten Weinagenten zu sitzen.«

»Schlingel!«

»O, der Wahrheit muß man die Ehre stets geben!«

»Ich leugne ja auch nicht.«

»Sie wollen also doch einen Abstecher nach Ortry machen?«

»Hm! Wenn wir von hier nach Metz reisen, ist es ja gar nicht so weit nach Ortry. Einige Stunden abseits werden uns in der Erfüllung unserer Pflichten nicht sehr hinderlich sein.

Und sodann habe ich eine Vermuthung, der ich nachgehen möchte.«

»Darf ich mitgehen?«

»Natürlich!«

»So ist es mir wohl auch erlaubt, diese Vermuthung kennen zu lernen?«

»Ich kann sie Dir immerhin mittheilen. Da man uns sagt, daß in Betreffs Richemontes vortreffliche Fürsorge getroffen worden sei, so denke ich, daß sich ein Kamerad von uns bei ihm befindet, den man auf irgend eine feine Weise dort placirt hat. Stellt sich das als richtig heraus, so wäre es vielleicht ganz vortheilhaft, mit demselben Fühlung zu nehmen.«

»Das leuchtet mir ein. Sehen wir also zu! Wann reisen wir von hier ab?«

»In kürzester Zeit. Die Hauptsache hast Du gethan. Mit Erlangung des Entwurfes sind die Karten des Feindes verrathen. Ich will mir heute nur noch die Mitrailleusen ansehen; dann sind die Berichte in höchstens drei Tagen fertig zu stellen. Nachher reisen wir ab.«

Martin schüttelte wehmüthig den Kopf, schlug die Augen gen Himmel, faltete die Hände und rief:

»In drei Tagen schon! O Schwälbchen, o Schwälbchen, wie wirst Du die Flüglein hängen lassen! Dein Schwalben nimmt Abschied von Dir!«

Belmonte machte ein ernstes, fast trübes Gesicht. Er zuckte die Achsel und sagte:

»Heute zusammengefunden und in drei Tagen bereits wieder scheiden; das ist allerdings höchst bedauerlich. Und dennoch möchte ich Dich beneiden!«

Da wurde auch Martin ernst und antwortete:

»Ich glaube es Ihnen! So eine echte, richtige Liebe ist ein wunderbares Ding. Ich habe mein Schwälbchen. Wir sind Eins geworden, und wenn wir auch für ein Weilchen auseinander fliegen, so finden wir uns doch ganz sicher wieder zusammen. Wenn aber so ein Tauber nach einer Taube girrt, die er nur von Weitem gesehen hat und welche bereits für einen Andern bestimmt ist, so mag der Teufel dreinschlagen. Aber nur Muth! Die Hilfe ist bereits unterwegs!«

»Ich weiß nichts davon!«

»Nicht? So! Wird nicht vielleicht schon bald der Tag kommen, an welchem der hiesige Boden unter den Hufen unserer Pferde erzittern wird? Als Sieger und Rittmeister oder gar Major und Oberst sitzt es sich ganz anders in der großen Oper als obscurer Weinagent, der von Weitem zusehen muß, wie bereits in frühester Jugend die Paare zusammengekoppelt werden. Monsieur Belmonte, mich zuckt es; mir zuckt es bereits in den Gliedern, daß es bei unserer Schwadron Zwei geben wird, von denen Jeder bei der Heimkehr eine schmucke Französin vor sich auf dem Sattel sitzen hat. Die Chefs d'Escadron, welche uns daran verhindern wollen, werden einfach in die Pfanne gehauen! Hurrje, wenn meine Schwalbe wußte, daß sie Gräfin wird, nämlich Tele-Grafin! Ich wollte, es ginge lieber heute als morgen los!«

Was der brave Mensch bezweckte, nämlich, den Trübsinn seines Herrn nicht aufkommen zu lassen, das erreichte er. Die Züge Belmontes heiterten sich auf und als er sich in den Wagen setzte, welcher ihn nach Meudon bringen sollte, hatte er das glücklichste Gesicht, welches es nur geben kann.

Nun erst, nachdem die Arbeit vollendet und abgeschickt worden war und Belmonte sich entfernt hatte, fand Martin Zeit, nach den Journalen zu greifen. Er pflegte nur das Politische und Wissenschaftliche zu lesen, aber bereits als er das erste Blatt aufschlug, fiel ihm eine fett gedruckte Alinea auf, welche unter der Rubrik »Polizeibericht« zu lesen war. Sein Auge flog halb unachtsam darüber hin. Da aber traf es einen Namen, der ihn frappirte.

»Gräfin Ella von Latreau?« sagte er vor sich hin. »Das ist ja die heimlich Angeschmachtete meines Ritt – – wollte sagen meines famosen Herrn Weinagenten! Was ist mit der? Das muß ich lesen!«

Aber kaum hatte er die letzte Zeile verschlungen, so fuhr er empor, schlug mit der Faust auf den Tisch und rief:

»Höllenteufelschockmillionenhagelwett – – ist das wahr, oder ist das nicht wahr? Hier mitten in dem großen Dorfe, welches sie die Metropole der Intelligenz nennen, wird eine Dame, eine Comtesse, eine Generalsenkelin, eine heimlich Geliebte von uns aus der Equipage gerissen, in eine Droschke geworfen, welche die Nummer 996 hat, und irgend wohin geschleppt, vielleicht gar in die Unterwelt? Und diese Polizei will der Herkules sein, der den Cerberus todtbeißt? Steht es denn auch in den anderen Journalen? Ich muß doch sofort nachsehen!«

Er schlug nach und fand ganz denselben Bericht, nur dem Wortlaute nach verändert, in allen anderen Blättern.

»Es ist wahr!« rief er. »Sie ist fort, sie ist futsch! Sie wird nicht mehr in der großen Oper zu sehen sein! Und diese Polizei, was hat sie herausgebracht? Daß die betreffende Droschke eine gefälschte Nummer gehabt hat; die richtige Nummer hat nachgewiesen, daß sie sich um die betreffende Zeit in einem ganz anderen Stadttheile mit dem Transporte von zwei alten Mamsellen abgewürgt hat. Der Diener der Equipage hat, als er von seinem Sitze herabgeschleudert worden war und an der Erde lag, die Nummer 996 ganz deutlich am Schlage des Fiakers gesehen. Ist das Alles? Ja! Die Polizei ist in allgemeiner Bewegung, heißt es. Das bedeutet, daß diese Herren entsetzlich lange Beine machen, durch alle Straßen jagen, an allen Ecken zusammenrennen und heute Abend schweißtriefend sich zu Bette legen werden. Und unterdessen geht die geraubte Gräfin zu Grunde oder sie wird zu einer Ehe mit irgend einem Menschen gezwungen oder auf irgend eine andere Weise abgemurkst. Der Teufel soll mich holen, wenn ich da ruhig zusehe! Da muß ich auch dabei sein! Ich muß meinen Senf auch mit dazubringen! Ich mache mich auch auf die Beine! Finde ich eine Spur, so reiße ich die Comtesse vom Himmel herunter, wenn man sie etwa da hinauf gehängt hat. Und finde ich nichts, so kann ich doch wenigstens mit der Polizei um die Wette rennen und zu meinem Herrn, wenn er von Meudon kommt, sagen, daß ich nicht die Beine müßig in den Schooß gelegt habe.«

Er machte sich zum Ausgehen fertig, aber mitten in der Eile, mit welcher er das that, hielt er plötzlich inne und blickte nachdenklich vor sich nieder.

»Aber die Alice, die Schwalb?« fragte er sich. »Die will doch kommen! Was wird sie denken, wenn ich nicht zu Hause bin! Vielleicht kommt sie in ihrer Angst gar auf die Idee, daß man mich auch in einer Droschke 996 fortgeschleppt hat! Da muß ich vorbeugen. Ich werde eine Karte in die Thürritze stecken, worauf geschrieben steht: Ich lebe, aber ich bin nicht da, oder: Ich bin einstweilen in die Wicken, aber ich komme bald wieder!«

Trotz seiner Aufregung doch bei Humor, nahm er wirklich eine Karte und schrieb auf die Rückseite derselben die Worte: »Mein Schwälbchen, verzeihe! Ich konnte nicht warten, aber ich komme heute Abend zu Dir geflogen.«

Diese Karte steckte er, als er ging, in die Thürritze, so, daß sie von Dem, welcher klingeln wollte, unbedingt bemerkt werden mußte. Dann eilte er von dannen.

Der Vormittag verging, auch der Nachmittag zur Hälfte; da kam Alice. Sie klingelte, und als nicht geöffnet wurde, zog sie die Karte hervor, um zu sehen, was darauf geschrieben stand. Sie las die Worte und ging dann nachdenklich von dannen.

Es dunkelte bereits, als Martin wiederkehrte. Er sah, daß die Karte verschwunden war und sagte zu sich:

»Nun weiß sie wenigstens, woran sie ist. Ich will – ah, da kommt ein Wagen gerasselt. Er hält unten vor der Thür, sollte es mein Herr sein?«

Er hatte richtig gerathen. Belmonte kam die Treppe herauf, sah ihn vor der Vorsaalthüre stehen und rief ihm bereits von Weitem zu:

»Spät zurück! Nicht wahr? Aber es war dafür auch ein sehr glücklicher Ausflug.«

Er sah ganz so aus, als ob er mit dem Ergebnisse seiner Tour ganz und gar zufrieden sei. Sie traten ein und nun erst, als sie im Zimmer standen, fragte Martin:

»Haben Sie den Director angetroffen?«

»Ja. Wir haben tüchtig geprobt und getrunken. Darüber ging ihm das Herz auf und ich kehre mit reicher Ausbeute zurück. Ich wollte heute wieder in die Oper, aber das muß ich bleiben lassen, da ich zu Papier bringen muß, was ich mir in Gegenwart Anderer nicht notiren durfte.«

»Hm! Aus der Oper wäre auf keinen Fall etwas geworden.«

»Wieso? Was für ein Gesicht machst Du? Du siehst ja aus, als ob ein Unglück geschehen sei!«

»Das ist auch wirklich der Fall!«

»Was denn? Was denn? So rede doch!«

»Wissen Sie wirklich noch nichts?«

»Nein.«

»So lesen Sie hier!«

Belmonte las. Er wurde bleich wie der Tod und fuhr sich mit beiden Armen nach den Schläfen. Dann schlug er sich vor die Stirn und schritt fieberhaft erregt hin und her. Endlich sagte er:

»Hunderttausend Franken wird er bezahlen, um sie wieder zu bekommen – Fiakerkutscher – Nummer aufgeklebt!«

Er wiederholte einen Theil dessen, was er gestern bei Vater Main von der heimlichen Unterredung erlauscht hatte. Martin dachte, er phantasire vor Schreck.

»Monsieur Belmonte,« sagte er, »es ist wohl noch nicht Alles verloren! Zwar bin auch ich umsonst hin und her gerannt, um eine Spur oder einen guten Gedanken zu finden, aber – – –«

»Unsinn!« unterbrach ihn sein Herr. »Lade unsere Revolver und mache Dich fertig zum Ausgehen! Ich weiß, wo die Comtesse steckt und werde sie befreien. Ich eile jetzt zum Generale, ihrem Großvater, mit dem ich vorher sprechen muß; dann werden wir sofort aufbrechen!«

Er hatte bereits die Klinke in der Hand und war mit den letzten Worten zur Thüre hinaus. Martin aber stand inmitten des Zimmers und wußte nicht, was er denken solle.

Woher konnte sein Herr wissen, wer die Dame geraubt und wohin man sie geschafft hatte?

»Na, zerbrechen wir uns den Kopf nicht!« murmelte er. »Dieser sogenannte Weinagent Belmonte ist in allen Ecken und Winkeln von Paris herumgekrochen. Vielleicht kennt er Orte, an denen man so hübsche Vögels einzusperren und zu zähmen pflegt, und will nun da nach der Comtesse suchen. Alle Teufel! Die Revolver soll ich laden! Vier Stück haben wir, zwei Todtschläger auch. Er hat sie angeschafft, weil gewisse Kneipen, in denen wir aus- und eingehen, ganz allerliebst verrufen sind. Da ist so eine Waffe zuweilen ganz nützlich. Ich werde also die Revolver laden und auch die Todtschläger hervorsuchen. Ich muß sagen, daß es heute Abend hübsch zu werden scheint. Anstatt mein Schwälbchen beim Kopf nehmen zu können, habe ich vielleicht etwelche Spitzbuben bei der Parabel zu packen. Dieses Paris ist eine höchst sonderbare Gegend; aber da ich einmal Naturfreund bin, so muß ich sie genießen, wie sie eben ist.«

Nach diesem Selbstgespräche machte er sich daran, die Waffen in Stand zu setzen.

Der Changeur hatte unterdessen seinen Gang angetreten. Er schritt in höchster Eile der Straße zu, in welcher, wie er wußte, der alte General de Latreau wohnte. Das Hotel desselben war ein palastähnliches Gebäude; unter dem geöffneten Thore stand der Portier, den Stock mit dem üblichen großen, vergoldeten Knaufe in der Hand.

»Ist Se. Excellenz, der Herr General daheim?« fragte er ihn.

Der Portier musterte ihn mit mißtrauischen Blicken, doch schien das elegante Aeußere des Changeurs seine Besorgniß zu zerstreuen. Er antwortete durch die Gegenfrage:

»Was wollen Sie?«

»Ich habe mit ihm zu sprechen.«

»Das wird schwer gehen. Nach dem Unglücke, welches unserem Hause widerfahren ist, sind wir gezwungen, in Beziehung der Annahme von Besuchen sehr vorsichtig zu sein.«

»Ah! Halten Sie mich vielleicht für einen Straßenräuber?«

»Nein. Wenigstens sehen Sie nicht wie ein solcher aus. Gehen Sie eine Treppe hoch und melden Sie sich durch den Kammerdiener!«

Belmonte folgte dieser Aufforderung. Auch der Kammerdiener machte Schwierigkeiten; da jedoch der Changeur erklärte, daß die Ursache seines Besuches von höchster Wichtigkeit sei, so wurde die Karte, welche er überreichte, endlich angenommen. Der Diener las den Namen, zuckte die Achsel und meinte:

»Ein Weinkauf ist niemals von solcher Wichtigkeit, wie Sie es darzustellen suchen.«

»Es handelt sich nicht um Wein und Aehnliches. Ich habe auch keine Zeit, Ihnen eine lange Erklärung zu geben. Melden Sie mich, oder ich bin gezwungen, mir den Zutritt selbst zu suchen.«

»Sie scheinen ein sehr energischer Mann zu sein. Ich werde versuchen, ob der Herr General geneigt ist, Sie zu empfangen.«

Er ging und kehrte nach einiger Zeit mit der Weisung zurück, daß Belmonte eintreten könne. Er führte den Letzteren durch einige Zimmer und öffnete dann eine Thür. Sie führte in das Cabinet des Grafen.

Dieser saß vor einem Tische, welcher fast ganz mit Geldrollen bedeckt war. Diese hatten jedenfalls die Bestimmung in ein offenes Köfferchen zu wandern, welches neben dem Tische stand. Der General war ein schöner Greis, dessen Züge allerdings durch das Ereigniß des gestrigen Abends verdüstert worden waren. Er musterte den Eintretenden, erwiderte die tiefe Verbeugung desselben mit einem einfachen Kopfnicken und fragte dann:

»Sie sind Weinhändler, wie ich sehe. Was wünschen Sie, Monsieur?«

Bellemonte wiederholte seine Verbeugung, allerdings etwas weniger tief als vorher, und antwortete dann:

»Zunächst, Excellenz, habe ich meinen Dank auszusprechen für die Güte, mit welcher Sie geneigt gewesen sind, einen Unbekannten zu empfangen. Sodann beeile ich mich, zu erklären, daß mich nicht die Absicht, ein Geschäft mit Ihnen abzuschließen, zu meinem Besuche veranlaßt hat. Es ist vielmehr eine ungleich wichtigere Angelegenheit, welche mich zu Ihnen führt.«

Der General zog die Brauen zusammen, ließ seinen Blick abermals sehr scharf an Belmonte herabgleiten, nickte dann langsam mit dem Kopfe und sagte:

»Ich beginne, zu verstehen. Sprechen Sie, Monsieur!«

»Sie haben gestern Ihr einziges Kind verloren –«

»Allerdings. Doch hoffe ich nicht, für immer,« fiel der General schnell und beinahe in scharfem Tone ein.

»Ich hoffe dies ebenso. Darf ich mir vielleicht die Frage gestatten, in welcher Weise Sie die gnädige Comtesse aus der Lage, in welcher sie sich befindet, befreien wollen?«

Jetzt nahm das Gesicht des Grafen einen wirklich finsteren Ausdruck an. Er sagte:

»Monsieur, eigentlich sollte ich Sie sofort festnehmen lassen; aber da ich meine Enkeltochter zu sehr liebe, um sie einer Verschlimmerung ihrer jedenfalls bereits genug unglückseligen Lage auszusetzen, so will ich mich doch zur Ruhe zwingen.«

Jetzt kam Belmonte eine Ahnung, wie die Worte und das Benehmen des Grafen zu verstehen seien. Er machte eine energische Handbewegung und antwortete schnell und in abweisendem Tone:

»Excellenz, Sie halten mich für einen der Thäter?«

»Aufrichtig gestanden, ja.«

»Der die Kühnheit oder vielmehr Frechheit besitzt, auf diese Weise erfahren zu wollen, welche Maßregeln zu ergreifen Sie beabsichtigen?«

»Natürlich!«

»Sie irren sich ganz und gar.«

»Wirklich?« fragte der General, beinahe höhnisch.

»Ja. Es ist eine Folge meiner Art des Geschäftsbetriebes, daß ich mich zuweilen auch in obscure Restaurationen, ja sogar Speluncen bemühe, um dort eine Quantität meiner Waare abzusetzen. Ich war gestern an einem solchen Orte. Es verkehrten vorzugsweise Verbrecher dort. Ich hatte Gelegenheit, abgerissene Worte einer sehr eigenthümlichen Unterhaltung zu erlauschen. Heute war ich von Paris entfernt. Soeben kehrte ich zurück und erfuhr, was gestern nach dem Schlusse der Oper geschehen ist. Das, was ich gestern erlauschte, stimmt so genau zu der ruchlosen That, daß ich überzeugt bin, den Ort zu kennen, an welchen man die Comtesse gebracht hat.«

»Sie sprechen sehr gut, aber Sie erreichen Ihren Zweck doch nicht. Sie wollen mich prüfen, und ich gehe darauf ein, indem ich Ihnen erkläre, daß Sie unbesorgt sein können. Ich habe völlig davon abgesehen, die Hilfe der Polizei in Anspruch zu nehmen. Ich will nicht auch das Leben meines Kindes in Gefahr bringen. Sie sehen, hier steht bereits das Köfferchen, in welches ich soeben die hunderttausend Franken zählen werde.«

»Hunderttausend Franken!« rief Belmonte. »Ein solches Lösegeld hat man von Ihnen verlangt?«

»Pah! Sie wissen das ganz ebenso gut, wie ich! Ich werde mich in eigener Person zur bestimmten Zeit an dem Orte einstellen, welcher im Briefe angegeben ist.«

»Ah! Einen Brief hat man Ihnen geschrieben!«

»Monsieur, geben Sie sich keine Mühe, mich zu täuschen. Wollen wir denken, daß es sich einfach um ein Tauschgeschäft handelt, dessen Abschluß ich so bald wie möglich erreichen möchte. Bringen Sie mir mein Kind noch heute Abend und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort als Edelmann und Offizier, daß ich Ihnen noch fünftausend Franken über die stipulirte Summe auszahlen und dann in Zukunft Ihre Sicherheit niemals in irgend eine Gefahr bringen werde.«

Da trat Belmonte einen Schritt näher und sagte:

»Excellenz, ich bitte Sie um des Himmels willen, mir zu glauben, daß Ihre Ansicht über mich eine irrige ist. Ich habe erlauscht, daß eine Dame geraubt werden soll und daß man ein Lösegeld verlangen will; das ist Alles.«

»Warum haben Sie nicht sofort Anzeige gemacht? Sie haben das unterlassen, ein Umstand, welcher nicht geeignet ist, Ihnen mein Vertrauen zu schenken.«

»Die einzelnen, abgerissenen Worte, welche ich vernahm, waren so zusammenhangslos, daß ich ihren Sinn unmöglich erfassen konnte.«

»Aber jetzt verstehen Sie diesen Sinn?«

»Nachdem die That geschehen ist: erst da konnte er mir klar werden.«

»Ich glaube Ihnen nicht!«

»Und dennoch bitte ich Sie inständigst, mir Ihr Vertrauen nicht vorzuenthalten. Ich kenne die Personen, welche die Comtesse raubten, und ebenso ist mir der Ort bekannt, an welchem sie sich befindet. Es ist sehr wahrscheinlich, daß ich mich nicht irre.«

Der General schüttelte den Kopf und fragte:

»Und wenn ich nun bereit wäre, auf Ihre Intentionen einzugehen, was würden Sie mir da rathen?«

»Geben Sie mir eine genügende Anzahl Polizeisergeanten mit, so hoffe ich, Ihr Kind Ihnen in Zeit von einer Stunde zurückbringen zu können.«

»Diesen Vorschlag hatte ich erwartet. Ich kann nicht auf denselben eingehen, denn in ihm besteht ja eben die Prüfung, welcher Sie mich unterwerfen wollen.«

»Ich schwöre Ihnen bei Gott und meiner Ehre zu, daß ich es aufrichtig mit Ihnen meine.«

»Hat ein Verbrecher Ehre? Glaubt ein Verbrecher an Gott?«

Das war eine harte Probe für die Geduld des Weinhändlers. Seine Augen leuchteten zornig auf, doch beherrschte er sich und fragte:

»Darf ich fragen von wessen Hand der Brief geschrieben ist, welchen Sie bekommen haben?«

»Meine Tochter hat ihn geschrieben. Das wissen Sie natürlich ganz genau.«

»Ich weiß ganz und gar nichts. Ist es nicht möglich, ihn lesen zu dürfen?«

»Sie haben ihn bereits gelesen und können es also auch zum zweiten Male thun. Hier ist er.«

Der Brief lag bei den Geldrollen auf dem Tische. Er nahm ihn weg und gab ihn an Belmonte. Dieser las ihn. Das Schreiben war in herzzerreißenden, angstvollen Worten abgefaßt, und besonders bat Ella von Latreau ihren Großvater, ja nicht etwa eine Vergrößerung der Gefahr dadurch herbei zu führen, daß er die Hilfe der Polizei in Anwendung bringe.

Der Changeur gab den Brief zurück und bemerkte:

»Aus dem Inhalte dieses Schreibens läßt sich vermuthen, daß die Verfasserin wenigstens kein größeres körperliches Leid zu erdulden hatte. Das ist beruhigend. Aber man weiß nicht, was geschehen kann. Jede Minute ist von unendlicher Wichtigkeit. Glauben Sie überhaupt, daß man Ihnen die Dame wirklich zurückgeben wird?«

»Ja, gegen die verlangte Summe natürlich.«

»Ich glaube es nicht.«

Der Graf erschrak.

»Aus welchem Grunde?« fragte er.

»Die Dame wird die Räuber kennen, und diese Letzteren werden sich nicht einer Gefahr aussetzen, indem sie die Geraubte wieder freigeben und von ihr früher oder später einmal gesehen und angezeigt werden.«

»Man wird uns das Ehrenwort, für immer zu schweigen, abverlangen.«

»Sie würden dieses Wort zwar geben und auch unter allen Umständen halten; aber der Verbrecher glaubt und traut einem solchen Versprechen niemals. Ich bin überzeugt, daß man unter dem Vorgeben, die Comtesse doch endlich frei zu lassen, eine Summe nach der andern von Ihnen fordern wird. Sie werden zahlen und wieder zahlen, aber Ihr Kind niemals wiedersehen.«

Der General war todesbleich geworden; er sah ein, daß diese Darstellung keineswegs aller Gründe entbehre.

»Das ist eine Eventualität,« meinte er, »welche man allerdings in das Auge fassen muß. Das, was Sie da sagen, erweckt den Schein, als ob Sie es ehrlich mit mir meinten. Wo haben Sie die Worte belauscht, von denen Sie sprachen?«

»In einem Bier- und Weinkeller der Vorstadt La Chapelle.«

»Wie heißt der Wirth?«

»Man nennt ihn Vater Main.«

»Das scheint ein Beiname zu sein. Den richtigen Namen kennen Sie nicht?«

»Nein.«

»Wer waren Diejenigen, welche Sie belauschten?«

Belmonte erzählte so viel, als er erzählen konnte. Der Graf hörte ihm aufmerksam zu und meinte dann:

»Sie können es ehrlich meinen, doch ist auch das Gegentheil denkbar. In beiden Fällen ist es gerathen, vorsichtig zu sein. Ich sehe einstweilen von allen Gewaltmaßregeln ab. Ich bin reich; zahle ich die hunderttausend Franken, so werde ich dadurch noch keineswegs arm. Warten wir also ab, wie der morgende Tag verläuft.«

»Sie wünschen also, daß Ihr Kind noch eine zweite Nacht in einer Lage zubringe, welche eine geradezu fürchterliche genannt werden muß?«

»Ist meine erste Ahnung die richtige, so könnten Sie das allerdings ändern, indem Sie mir Ella noch heute gegen die angegebene Mehrzahlung ausliefern.«

»Ihre Ahnung ist grundfalsch.«

»Nun, so muß ich mich eben bescheiden. Eine zweite Nacht in Gefangenschaft ist doch noch besser, als daß ich Gewaltmaßregeln gebrauche, welche sehr leicht verunglücken können.«

»Ist Ihnen der Wortlaut des Briefes im Gedächtnisse? Haben Sie nicht gelesen, daß der gnädigen Comtesse noch weit Schlimmeres als nur der Tod angedroht worden ist? Ich wiederhole, eine jede Minute ist kostbar.«

»Diese Gefahren sind ihr eben nur für den Fall angedroht, daß ich Polizei requirire. Sie sehen also, daß ich gerade im Interesse meines Kindes handle, wenn ich mich genau nach den Wünschen desselben richte, indem ich für heute auf die Hilfe der Polizei noch verzichte.«

»Aber die Menschen, welche in dem betreffenden Hause verkehren, sind zu Allem fähig!«

Da richtete sich der Graf hoch empor. Sein Gesicht nahm einen finster drohenden Ausdruck an.

»Monsieur,« sagte er, indem er die geballte Hand schwer auf den Tisch legte, »bekomme ich mein Kind nicht wieder, oder nicht so rein, wie es mich verlassen hat, dann wehe diesen Schurken. Ich würde mich in diesem Falle nicht an die Gerechtigkeit der Gesetze wenden, sondern die Rache in meine eigene Hand nehmen.«

»Und ich würde Ihnen helfen, wenn es mein Leben kosten sollte, Excellenz!«

Diese Worte waren in einem so tiefen Brusttone gesprochen, sie kamen so grollend, ja knirschend zwischen den Zähnen hervor, daß der Graf den Sprecher überrascht anblickte.

»Sie scheinen es doch ehrlich zu meinen!« sagte er.

»Prüfen Sie mich!« antwortete Belmonte einfach.

»Warum aber diese Theilnahme, welche sogar das Leben zu opfern im Stande ist, mit mir und meinem Kinde?«

Konnte Belmonte die Wahrheit sagen? Nein. Er antwortete:

»Excellenz, ich bin ein ehrlicher Kerl und hasse das Laster und das Verbrechen. Als Mitglied der menschlichen Gesellschaft habe ich die Pflicht, Beide zu bekämpfen.«

»Das ist allerdings eine sehr lobenswerthe Gesinnung. Vielleicht nehme ich Sie beim Worte. Für heute aber kann ich keine andere als die bereits ausgesprochene Entscheidung treffen.«

»Sie werden also die Summe wirklich bezahlen?«

»Ja.«

»Und wenn die Comtesse zurückkehrt?«

»Werde ich schweigen.«

»Wenn man Sie aber betrügt?«

»So sehe ich ein, daß Sie es ehrlich gemeint haben, und Sie werden der Erste sein, an den ich mich wende. Auf Ihrer Karte fehlt die Angabe Ihrer Wohnung, Monsieur Belmonte. Wollen Sie das nachholen! Da steht Tinte.«

Als der Changeur dieser Aufforderung nachgekommen war, fuhr Graf de Latreau fort:

»Unsere Unterhaltung ist also so weit beendet, daß Sie mir nur noch ein Versprechen zu geben haben.«

»Ich werde es geben, wenn ich es für zweckmäßig halte.«

»Immer einen Vorbehalt! Sie geben mir die Hand darauf, daß Sie von Dem, was Sie wissen, der Polizei nicht eher Etwas sagen, als bis Sie einsehen, daß ich ohne dieselbe nichts erreichen kann.«

Er hielt Belmonte die Hand entgegen.

»Gut, das kann ich versprechen,« antwortete dieser, indem er einschlug. »Ich bin überzeugt, daß Ew. Excellenz mich in kurzer Zeit nicht mehr zu Denen rechnen werden, welche die Veranlassung sind, daß ein einfacher Weinagent es wagt in diesem Hause Zutritt zu suchen.«

*


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