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VI. Bei der Kolportage.

Es war ausgestanden. Ich kehrte heim. Es war ein stürmischer Frühlingstag, es regnete und schneite. Vater kam mir entgegen. Es fiel ihm auch dieses Mal nicht ein, mir Vorwürfe zu machen. Er hatte meine Manuskripte gelesen und meine Briefe fast auswendig gelernt. Er wußte nun, daß er in Beziehung auf meine Zukunft nichts mehr zu befürchten hatte. Er kam bei dieser Gelegenheit auch auf Münchmeyer zu sprechen und darauf, daß dieser mich aufsuchen wolle.

»Das wird vergeblich sein,« sagte ich. »Dieser Mann will Schundromane, aufregende Liebesgeschichten, weiter nichts. Solche Sachen schreibe ich nicht. Er glaubt wahrscheinlich, daß ich so ehrlos bin, ihm aus dem, was man über mich faselt, einen Kolportageroman zusammenzuflicken, der ihm allerdings viel Geld einbringen, mich aber vernichten würde. Da irrt er sich. Ich habe ganz andere Zwecke und Ziele!«

Vater gab mir recht. Als wir oberhalb der Stadt angekommen waren und sie vor uns liegen sahen, zeigte er nach dem nächsten Dorf hinüber, auf ein alleinstehendes, neugebautes Haus und fragte mich:

»Kennst du das dort?«

»Ist es nicht die Stelle, wo damals das Feuer war?«

»Ja. Einige Tage, nachdem du fort warst, kam es heraus, wer es angezündet hat. Es wurde mit dem Täter sehr rasch verfahren. Er ist noch eher in das Zuchthaus gekommen als du. Mutter wird es dir erzählen.«

»O nein! Ich will nichts wissen, gar nichts. Bitte sie, daß sie hierüber schweigen soll!«

Noch am demselben Abend erfuhr ich, daß der Ortswachtmeister in der Kneipe damit geprahlt hatte, wie scharf er mich empfangen und beaufsichtigen werde, zwei Jahre lang; er lasse mich keinen Tag lang aus den Augen! Er kam schon am andern Vormittag und warf sich derart in die Brust, daß man es wirklich keinem in dieser Weise behandelten Menschen übelnehmen kann, wenn er dadurch rückfällig wird. Er behauptete, zwei Jahre lang mein Vorgesetzter zu sein, bei dem ich mich täglich zu melden habe. Dann zog er die betreffenden Gesetzesparagraphen aus der Tasche, um mir eine Vorlesung über meine Pflichten zu halten. Ich sagte kein Wort, sondern öffnete die Tür und gab ihm einen Wink, sich zu entfernen. Als er das nicht sofort tat, tat ich es. Ich ging zum Bürgermeister und machte kurzen Prozeß. Ich forderte einen Auslandspaß, und als mir die Auskunft wurde, daß dies nicht so ohne Weiteres möglich sei, war ich schon am nächsten Tage ohne Paß unterwegs.

Im Zuge saß ich in einem sonst leeren Coupé. Es ging über die Grenze. Da begann es plötzlich in mir laut zu wüten und zu toben, zu schreien und zu brüllen wie in einem Dorfwirtshause, in dem die Bauernknechte mit Stuhlbeinen aufeinander schlagen. Hunderte von Gestalten und Hunderte von Stimmen waren es, von denen das kam. Früher hätte es mich entsetzt; heut aber ließ es mich kalt. Diese Sumpfreminiszenzen, die mich nicht hergeben wollten, hatten ihre Macht über mich verloren. Ich reagierte nicht darauf, und so sollte es nach und nach ganz von selber still werden.

Wohin diese Reise ging und wie sie verlief, soll der zweite Band berichten. Inzwischen kam Münchmeyer, um nach mir zu fragen. Ich war schon fort. Da zahlte er das Honorar und ging unverrichteter Sache wieder heim. Ungefähr dreiviertel Jahre später erschien er wieder, und zwar nicht allein, sondern mit seinem Bruder. Dieses Mal fand er mich daheim, denn ich war wieder da, um meine »Geographischen Predigten« zu schreiben und in Druck zu geben. Sein Bruder war Schneider gewesen und dann auch Kolporteur geworden. Das Geschäft war bisher gut gegangen, sogar außerordentlich gut; nun aber stand es in Gefahr, ganz plötzlich zusammenzubrechen. Man brauchte einen Retter, und der sollte ich sein, ausgerechnet ich! Das war mir unbegreiflich, weil ich mit Münchmeyer noch nie etwas zu tun gehabt hatte, auch gar nichts mit ihm zu tun haben wollte und weder ihn, noch seine Lage kannte. Er erklärte sie mir. Er war ein klug berechnender, sehr beredter Mann, und sein Bruder sekundierte ihm in so vortrefflicher Weise, daß ich beide nicht kurzer Hand abwies, sondern sie aussprechen ließ. Aber als sie das getan hatten, war ich – - –eingefangen, obgleich ich es nie für möglich gehalten hätte, daß ich jemals zu der »Kolportage« in irgend eine Geschäftsbeziehung treten könne.

Münchmeyer hatte es zu einer nicht unbedeutenden Druckerei mit Setzersaal, Stereotypie usw. gebracht. Was er herausgab, war allerdings die niedrigste Kolportage. Er sprach von einem sogenannten »Schwarzen Buch« mit lauter Verbrechergeschichten, von einem sogenannten »Venustempel«, der eine wahre Goldgrube sei, und von einigen andern Werken gleicher Art. Für heut aber handle es sich um ein Wochenblatt, welches er unter dem Titel »Der Beobachter an der Elbe« herausgebe. Gründer und Redakteur dieses Blattes sei ein aus Berlin stammender Schriftsteller namens Otto Freytag, ein sehr geschickter, tatkräftiger, aber in geschäftlicher Beziehung höchst gefährlicher Mensch. Dieser habe sich mit ihm überworfen, sei plötzlich aus der Redaktion gelaufen, habe alle Manuskripte mitgenommen und wolle nun ein ganz ähnliches Blatt wie den »Beobachter an der Elbe« herausgeben, um ihn tot zu machen. »Wenn ich nicht sofort einen andern Redakteur bekomme, der diesem Menschen über ist und es mit ihm aufzunehmen versteht, bin ich verloren!« schloß Münchmeyer seinen Bericht.

»Aber wie kommen Sie da grad auf mich?« erkundigte ich mich. »Ich bin weder Redakteur noch in irgend einer Weise bewährt!«

»Das lassen Sie meine Sorge sein! Ich habe viel von Ihnen gehört und, vor allen Dingen, ich habe Ihre Manuskripte gelesen. Ich kenne mich aus. Sie sind der, den ich brauche!«

»Aber ich habe ganz andere Sachen vor, und zur Kolportage wird mich niemand bringen!«

»Weil Sie sie nicht kennen. Man kann doch auch Gutes mit ihr leisten. Was haben Sie denn vor?«

Ich erklärte ihm meine Pläne. Da fing er Feuer; er begeisterte sich für sie. Er gehörte zu jenen Leuten, die gern vom Hohen schwärmen, aber doch vom Niedrigen leben.

»Das ist ja vortrefflich, ganz vortrefflich!« rief er aus. »Und das können Sie Alles bei mir erreichen, am besten und schnellsten bei mir!«

»Wieso?«

»Sie geben diese Sachen bei mir in Druck und machen diesen Freytag und sein neues Blatt damit tot!«

»Das wäre allerdings bequem. Aber wenn mir Ihr ›Beobachter an der Elbe‹ nicht gefällt? Ich kenne ihn ja nicht.«

»So lassen wir ihn eingehen, und Sie gründen ein neues Blatt an seiner Stelle!«

»Was für eines?«

»Ganz nach Ihrem Belieben, wie es für Ihre Zwecke paßt!«

Ich gestehe, daß er mich durch dieses Versprechen schon mehr als halb gewann. Das klang in Beziehung auf meine Pläne ja fast wie ein Himmelsgeschenk! Er fügte noch weitere Versprechungen hinzu, durch welche er es mir leicht machte, auf seine Wünsche einzugehen. Hierzu kamen meine eigenen Erwägungen. Es wurde mir hier ganz unerwartet die prächtigste Gelegenheit geboten, den Buchdruck, die Schriftsetzerei, die Stereotypie und alles noch hierher Gehörige in bequemster Weise kennen zu lernen. Das hatte für mich als Schriftsteller sehr hohen Wert und wurde mir wahrscheinlich nie wieder geboten. Der Gehalt, den Münchmeyer mir zahlen konnte, war zwar nicht bedeutend, aber es flossen mir ja außerdem derartige Honorare zu, daß ich ihn eigentlich gar nicht brauchte. Und ich war gar nicht gebunden. Er bot mir vierteljährige Kündigung an. Ich konnte also alle drei Monate gehen, wenn es mir nicht gefiel.

»Versuchen Sie es! Sagen Sie ja!« forderte er mich auf, indem er mir einen Monatsgehalt hinzählte.

»Wann hätte ich anzutreten?« fragte ich.

»Spätestens übermorgen. Es eilt. Dieser Freytag darf uns nicht vorauskommen.«

»Aber Sie wissen doch, daß ich bestraft bin!«

»Ich weiß Alles. Das tut aber nichts.«

»Und ich stehe sogar auch unter Polizeiaufsicht!«

»Das habe ich nicht gewußt; aber auch das tut nichts. Grad weil dies so ist, sind Sie mir der Allerliebste! Schlagen Sie ein!«

Das klang gradezu rührend. Er hielt mir die Hand hin; Vater und Mutter nickten mir bittend zu; da gab ich ihm den Handschlag; ich war – – – Redakteur.

Als ich nach Dresden kam, nahm ich mir zunächst ein möbliertes Logis, doch stellte mir Münchmeyer sehr bald mehrere Zimmer als Redaktionswohnung zu Verfügung, und ich kaufte mir die Möbel dazu. Ich fand den Verlag ganz ungemein häßlich. Das »Schwarze Buch« war geradezu empörend verbrecherisch. Der »Venustempel« zeigte sich als ein scheußliches, auf die niedrigste Sinnenlust berechnetes Unternehmen mit zotenhaften Beschreibungen und entsetzlich nackten, aufregenden Abbildungen. Beigegeben war eine Hausapotheke für Geschlechtskrankheiten, an welcher Summen verdient wurden, die mir fast unglaublich erschienen. Diese schamlosen Hefte und Bilder lagen überall umher. Die Arbeiter und Arbeiterinnen nahmen sie mit heim. Die vier Töchter Münchmeyers, damals noch im Schul- und Kindesalter, lasen und spielten mit ihnen, und als ich Frau Münchmeyer vor den Folgen warnte, antwortete sie: »Was denken Sie! Das ist unser bestes Buch! Das bringt eine Masse Geld!« Ich nahm mir vor, dies müsse entweder anders werden oder ich würde ohne Kündigung wieder fortgehen. Was den »Beobachter an der Elbe« betrifft, dessen Redaktion ich übernommen hatte, so sah ich gleich mit dem ersten Blick, daß er verschwinden müsse. Münchmeyer war so vernünftig, dies zuzugeben. Wir ließen das Blatt eingehen, und ich gründete drei andere an seiner Stelle, nämlich zwei anständige Unterhaltungsblätter, welche »Deutsches Familienblatt« und »Feierstunden« betitelt waren, und ein Fach- und Unterhaltungsblatt für Berg-, Hütten- und Eisenarbeiter, dem ich die Ueberschrift »Schacht und Hütte« gab. Diese drei Blätter waren darauf berechnet, besonders die seelischen Bedürfnisse der Leser zu befriedigen und Sonnenschein in ihre Häuser und Herzen zu bringen. In Beziehung auf »Schacht und Hütte« bereiste ich Deutschland und Oesterreich, um die großen Firmen z. B. Hartmann, Krupp, Borsig usw. dafür zu interessieren, und da ein solches Blatt damals Bedürfnis war, so erzielte ich Erfolge, über die ich selbst erstaunte. Unsere Blätter stiegen so, daß Münchmeyer mir zu Weihnacht ein Klavier schenkte. Sein Konkurrent Freytag gab sich alle Mühe, hatte zwar anfänglich auch Erfolg, mußte sein Blatt aber schon nach kurzer Zeit eingehen lassen.

In dieser Zeit der Entwicklung war es, daß Münchmeyer von auswärtigen Behörden wegen der Verbreitung des »Venustempels« angezeigt wurde. Verfasser dieses Schand- und Schundwerkes war eben jener Otto Freytag, der nur deshalb mit Münchmeyer gebrochen hatte, weil dieser ihn an dem Gewinn, den das Werk brachte, nicht partizipieren ließ. Das Buch enthielt eine lüstern geschriebene Abteilung über »die Prostitution«, die zu Polizeianzeigen allerdings direkt herausforderte. Es wurde Münchmeyer von irgend einer Seite verraten, von welcher, daß weiß ich nicht, daß eine Haussuchung nach dem »Venustempel« stattfinden werde. Sofort begann eine fieberhafte Rührigkeit, die Verluste, die hier drohten, zu verhüten. Jedermann, dem man traute, mußte helfen; mir aber sagte man kein Wort; man schämte sich. Es lagen Tausende von gedruckten Exemplaren da. Man versteckte ganze Stöße, die bis zur Decke reichten, hinter andern Werken. Man füllte den Lift damit aus. Man benutzte jede verborgene Stelle. Man schaffte eine Menge der gefährdeten Bücher in die Privatwohnungen und verbarg sie sogar unter den Betten der Kinder. Das ging so schnell und gelang so gut, daß die Polizei, als sie sich einstellte, kaum eine ganz geringe Nachlese fand, und noch lange hat man sich im Münchmeyerschen Hause des Schnippchens gerühmt, welches damals der sonst so findigen Dresdener Behörde geschlagen worden sei. Ich erfuhr erst später, viel später hiervon und zog meine Konsequenzen. Meines Bleibens war hier nicht. Ich wollte aus dem Abgrund heraus, nicht aber wieder hinunter!

Ich darf wohl sagen, daß ich in jener Zeit fleißig gewesen bin und mir ehrliche Mühe gegeben habe, die Münchmeyersche Kolportage in einen anständigen Verlag zu verwandeln. Münchmeyer befreundete sich so mit mir, daß wir wie Brüder verkehrten. Das war mir ganz lieb, so lange er tat, was ich für richtig hielt. Ich begann gleich in den ersten Nummern der drei neugegründeten Blätter mit der Ausführung meiner literarischen Pläne. Ich habe bereits gesagt, daß ich in dieser Beziehung mein Augenmerk auf die Bewohner zweier Erdhälften, nämlich auf die Indianer und auf die islamitischen Völker richten wollte. Das tat ich nun hier. Ich bestimmte das »Deutsche Familienblatt« für die Indianer und die »Feierstunden« für den Orient. Im ersteren Blatte begann ich sofort mit »Winnetou«, nannte ihn aber einem andern Indianerdialekt gemäß einstweilen noch In-nu-woh. Ich war überzeugt, daß diese beiden Blätter eine Zukunft hätten, und ich bildete mir ein, für eine ganze Reihe von Jahrgängen Redakteur bleiben zu können. Da gab es Raum und Zeit genug für das, was ich wollte. Ganz selbstverständlich schrieb ich auch für andere Firmen, die ich wohl nicht zu nennen brauche, doch ohne die Absicht, mich bei ihnen festzusetzen. Leider stellte sich meinen guten, weit ausschauenden Absichten ganz plötzlich ein unerwartetes Hindernis entgegen, welches eigentlich gar nicht bestimmt war, ein Hindernis zu sein; es sollte vielmehr eine Anerkennung, eine Förderung bedeuten. Man machte mir nämlich, um mich an die Firma zu binden, den Vorschlag, die Schwester der Frau Münchmeyer zu heiraten. Man lud, um dies zu erreichen, meinen Vater nach Dresden ein. Er durfte zwei Wochen lang als Gast bei Münchmeyers wohnen und bekam vom Vater der Frau Münchmeyer die Brüderschaft angetragen. Das bewirkte grad das Gegenteil. Ich sagte »nein« und kündigte, denn nun verstand es sich ganz von selbst, daß ich nicht bleiben konnte, zumal es um diese Zeit war, daß ich über jenen Streich, den man der Dresdener Polizei gespielt hatte, das Nähere erfuhr. Nun hatten meine Pläne einstweilen zu schweigen, doch gab ich sie nicht auf. Als das Vierteljahr vorüber war, zog ich von Münchmeyers fort, doch nicht von Dresden. Die Trennung von der Kolportage tat mir nicht im geringsten wehe. Ich war wieder frei, schrieb einige notwendige Manuskripte und ging sodann auf Reisen. Hierbei meine Vaterstadt berührend, wurde ich als Zeuge auf das dortige Amtsgericht geladen und erfuhr, daß Freytag, der Verfasser, und Münchmeyer, der Verleger des »Venustempels«, wegen dieses Schandwerkes kürzlich bestraft worden seien. Das hatte man mir verschwiegen. Wie froh war ich, nicht in den Bezirk dieses Venustempels hineingeheiratet zu haben!

Nach der Heimkehr von der soeben erwähnten Reise hatte ich Veranlassung, eine meiner Schwestern, die in Hohenstein verheiratet war, aufzusuchen. Ich wohnte einige Tage bei ihr und lernte da ein Mädchen kennen, welches einen ganz eigenartigen Eindruck auf mich machte. Ich habe am Anfange dieses meines Buches gesagt, daß ich die sonderbare Eigentümlichkeit besitze, die Menschen mehr seelisch als körperlich vor mir zu sehen. Ob das ein Vorzug oder ein Nachteil ist, kann nicht ich entscheiden; aber infolge dieser meiner Eigenheit kommt es nicht selten vor, daß ich eine häßliche Person schön und eine schöne häßlich finde. Die interessantesten Wesen sind mir die, deren seelische Gestalt mir rätselhaft erscheint, deren Konturen ich nicht erkennen kann oder deren Kolorit ich nicht begreife. Solche Personen ziehen mich an, selbst wenn sie abstoßend wirken; ich kann nicht dafür. Und mit dem Mädchen, von dem ich hier spreche, hatte es noch eine andere, ganz eigentümliche Bewandtnis. Nämlich als ich, vierzehn Jahre alt, Proseminarist in Waldenburg war, ging ich eines Novembertages von dort nach Ernstthal zu den Eltern, um meine Wäsche zu holen. Auf dem Rückwege kam ich über den Hohensteiner Markt. Da wurde gesungen. Die Kurrende stand vor einem Hause. Es war da eine Leiche, die beerdigt werden sollte. Ich kannte das Haus. Unten wohnte ein Mehlhändler und oben eine von fremdher zugezogene Persönlichkeit, die man bald als Barbier, bald als Feldscheer, Chirurg oder Arzt bezeichnete. Er barbierte nicht Jedermann, und es war bekannt, daß er noch weit mehr konnte als das. Sein Name war Pollmer. Er hatte eine Tochter, die man für das schönste Mädchen der beiden Städte hielt; das wußte ich. Die sollte jetzt begraben werden. Darum blieb ich stehen. Zwei Frauen, die auch zuhören und zusehen wollten, stellten sich hinter mich. Eine dritte kam hinzu, die war vom Dorfe, sie fragte, was das für eine Leiche sei.

»Pollmers Tochter,« antwortete eine der beiden ersten Frauen.

»Ach?! Dem Zahndoktor seine? Woran ist denn die gestorben?«

»An ihrem eigenen Kinde. Besser wäre es, dieses wäre tot, sie aber lebte noch. Auf so einem Kinde, an dem die Mutter stirbt, kann niemals Segen ruhen; das bringt Jedermann nur Unheil.«

»Was ist denn der Vater?«

»Der? Es hat ja keinen!«

»Du lieber Gott! Auch das noch? Da wäre es freilich besser, der Nickel könnte gleich mitbegraben werden!«

Jetzt hörte der Gesang auf. Man brachte den Sarg heraus. Der Leichenzug bildete sich. Droben am offenen Fenster der Wohnstube erschien eine weibliche Person, welche etwas auf den Armen trug. Das war das Kind, der »Nickel«, der seine eigene Mutter getötet hatte und Jedermann Unheil brachte! Ich verstand von dem allem nichts. Was weiß ein vierzehnjähriger Junge von den Vorurteilen dieser Art von Menschen! Aber als der Leichenzug an mir vorüber war, und ich meinen Weg fortsetzte, nahm ich Etwas mit, was mich später noch oft beschäftigte, nämlich die Frage, warum man sich vor einem Kinde, welches keinen Vater hat und schuld an dem Tode seiner Mutter ist, in Acht nehmen muß. Ich glaubte infolge meiner Jugend und Unerfahrenheit an das, was die alten Weiber gesagt hatten, und fühlte eine Art von Grauen, so oft ich an dieses Leichenbegängnis und an den unglückseligen »Nickel« dachte. Sobald ich später über den Hohensteiner Markt kam, schaute ich ganz unwillkürlich nach dem betreffenden Fenster in der Oberstube des Mehlhändlerhauses. Nach Verlauf einer Reihe von Jahren sah ich einmal den Kopf eines Kindes, eines Mädchens, herausschauen. Ich blieb für einen Augenblick stehen, um das Gesicht zu betrachten. Es war nichtssagend und hatte weder etwas Wohlthuendes, noch etwas Fürchterliches an sich. Später begegnete ich einmal auf der Gasse einem stark gebauten, hochgewachsenen Manne, der ein ungefähr zwölfjähriges Mädchen au der Hand führte. Das war der alte Pollmer mit seinem »Nickel«. Der Alte sah sehr ernst, das Kind aber recht munter und freundlich aus; es hatte gar nichts an sich, was verriet, »daß seine Mutter an ihm gestorben war«. Dann habe ich es noch verschiedene Male gesehen, als angehenden Backfisch, bleich, lang aufgeschossen, überaus schmal, ganz uninteressant, ein vollständig gleichgültiges Wesen. Nie hätte ich gedacht, daß dieses Mädchen jemals in meinem Leben eine wenn auch nur unbedeutende Rolle spielen könne. Und nun ich jetzt bei meiner Schwester wohnte, wurden mir bei einer ihrer Freundinnen einige junge Mädchen vorgestellt, unter denen sich auch ein »Fräulein Pollmer« befand. Das war der »Nickel«; aber er sah ganz anders aus als früher. Er saß so still und bescheiden am Tisch, beschäftigte sich sehr eifrig mit einer Häkelei und sprach fast gar kein Wort. Das gefiel mir. Dieses Gesicht errötete leicht. Es hatte einen ganz eigenartigen, geheimnisvollen Augenaufschlag. Und wenn ein Wort über die Lippen kam, so klang es vorsichtig, erwägend, gar nicht wie bei andern Mädchen, die Alles grad so herausschwatzen, wie es ihnen auf die Zunge läuft. Das gefiel mir sehr. Ich erfuhr, daß ihr Großvater, nämlich Pollmer, meine »Geographischen Predigten« gelesen hatte und sie immer wieder las. Das gefiel mir noch mehr. Sie erschien mir von ihren Freundinnen ganz verschieden. Hinter den Gestalten der Letzteren sah ich keine Spur von Geist und nur einen Hauch von Seele. Hinter der Pollmer aber lag psychologisches Land, ob Hoch- oder Niederland, ob Wüste oder Fruchtbarkeit, das konnte ich nicht unterscheiden, aber Land war da; das sah ich deutlich, und es entstand der Wunsch in mir, dieses Land kennen zu lernen. Daß sie nicht aus einer wohlhabenden oder gar vornehmen Familie stammte, konnte mich nicht verhindern, ich war ja selbst auch nur ein armer Webersohn und eigentlich noch viel weniger als das.

Am nächsten Tage kam ihr Großvater zu mir. Sie hatte ihm von mir erzählt und in ihm den Wunsch erweckt, mich nach der Lektüre meiner »Predigten« nun auch persönlich kennen zu lernen. Er schien von mir befriedigt zu sein, denn er forderte mich auf, nun auch ihn zu besuchen. Ich tat es. Es entwickelte sich ein Verkehr zwischen uns, der dann, als ich meinen Besuch beendet hatte und wieder nach Dresden ging, sich aus einem persönlichen in einen schriftlichen verwandelte. Aber Pollmer schrieb nicht gern. Die Briefe, die ich bekam, waren von der Hand seiner Enkeltochter. Wer hätte jemals gedacht, daß ich mit dem »Nickel«, der Einem »nur Unheil bringt«, in Korrespondenz treten würde!

Ihre Zuschriften machten einen außerordentlich guten Eindruck. Sie sprach da von meinem »schönen, hochwichtigen Beruf«, von meinen »herrlichen Aufgaben«, von meinen »edeln Zielen und Idealen«. Sie zitierte Stellen aus meinen »Geographischen Predigten« und knüpfte Gedanken daran, deren Trefflichkeit mich erstaunte. Welch eine Veranlagung zur Schriftstellersfrau! Zwar kam es mir zuweilen so vor, als ob nur ein männlicher Verfasser, und zwar ein sehr gebildeter, solche Briefe schreiben könne, aber es war mir nicht möglich, sie eines solchen Betruges für fähig zu halten. Meine Schwester schrieb mir auch. Sie floß vom Lobe »Fräulein Pollmers« über und lud mich für die Weihnachtsferien ein, sie wieder zu besuchen. Ich tat es. Ich vergaß, daß grad die Weihnachtszeit mir selten freundlich gesinnt gewesen ist, und daß ich vor der Stelle, an der ich geboren wurde, gewarnt worden bin. Diese Weihnacht entschied über mich, wenn ich mich auch nicht sofort verlobte. Ich hatte ja Zeit. Diese Zeit verbrachte ich meist auf Reisen, bis ich mich zu Pfingsten wieder in der Heimat einstellte, um das Seelenstudium des »Nickels«, der nun »mein Nickel« werden sollte, weiter fortzusetzen. Aber es kam nicht zu dieser Fortsetzung, sondern gleich zu einer Entscheidung, wie sie sonst nur auf der Bühne üblich zu sein pflegt. Nämlich als Pollmer erfuhr, daß ich wieder da sei, besuchte er mich und lud mich zu sich zum Mittagessen ein. Er war längst Witwer, und seine Familie bestand nur aus ihm und seiner Enkeltochter. Ich wußte, daß er sich überall nur höchst lobend über mich aussprach, und daß meine Vorstrafen ihn ganz und gar nicht hinderten, mich für einen guten, vertrauenswürdigen Menschen zu halten. Aber ich wußte auch, daß er sein Enkelkind für das schönste und wertvollste Wesen der ganzen Umgegend hielt, und daß er ganz märchenhafte Gedanken in Beziehung auf dessen Verheiratung hatte. Er war der Ansicht, daß solche strahlenden Beautés der größte Reichtum ihrer Familie seien und nur möglichst reich und vornehm verheiratet werden dürfen. Ganz selbstverständlich konnte diese seine Meinung nicht ohne Einfluß auf seine Enkeltochter geblieben sein; das bemerkte ich sehr wohl; und vielleicht war es die höchste Zeit, sie diesem Einflusse zu entziehen. Ich antwortete darum, als er mich bat, heut bei ihm zu Mittag zu essen:

»Sehr gern», doch nur unter der Bedingung, daß ich nicht nur Ihretwegen, sondern auch um Ihrer Tochter willen kommen darf.«

Er horchte überrascht auf.

»Um Emmas willen?« fragte er.

»Ja.«

»Wie meinen Sie das? Haben Sie Absichten auf sie? Wollen Sie sie etwa heiraten?«

»Allerdings.«

»Alle Wetter! Davon weiß ich kein Wort! Das ist aber doch wohl nur Ihre Absicht! Was sagt denn sie dazu?«

»Sie ist einverstanden.«

Da sprang er von dem Stuhle auf, wurde tiefrot im Gesicht und rief aus:

»Daraus wird nichts, nichts, nichts! Meine Tochter ist nicht dazu geboren und nicht dazu erzogen, daß sie sich mit einem armen Teufel durch das Leben schindet! Die kann andere Männer kriegen. Die soll mir keinen Schriftsteller heiraten, der, wenn es gut geht, nur von seiner Berühmtheit und nur vom Hunger lebt!«

»Denken Sie dabei etwa auch mit an meine Vorstrafen?« fragte ich. »Das würde ich gelten lassen!«

»Unsinn! Das kümmert mich nicht. Es laufen Hunderttausende in der Freiheit herum, die in das Zuchthaus gehören! Nein, das ist es nicht. Ich habe ganz andere Gründe. Sie bekommen meine Tochter nicht!«

Er rief das sehr laut aus.

»Oho!« antwortete ich.

»Oho? Hier gibt es kein Oho! Ich wiederhole Ihnen, Sie bekommen meine Tochter nicht!«

Er stampfte bei jedem dieser Worte, um ihren Eindruck zu verstärken, mit dem Spazierstock auf den Boden. Es juckte mir förmlich in der Hand, sie ihm auf die Achsel zu legen und ihm lachend zu sagen: »Gut, so behalten Sie sie!« Aber dagegen bäumte sich das väterliche Erbteil in mir auf, der zähe, unbedachte Zorn, der niemals das Richtige tut. Ich brauste nun auch auf:

»Wenn ich sie nicht bekomme, so nehme ich sie mir!«

»Versuchen Sie das!«

»Ich werde es nicht nur versuchen, sondern ich werde es tun, wirklich tun!«

Da lachte er.

»Sie werden sich nicht zu mir wagen. Ich verbitte mir von jetzt an jeden Besuch!«

»Das versteht sich ganz von selbst. Aber ich sage Ihnen im voraus: Sie werden seiner Zeit persönlich zu mir kommen und mich bitten, Sie zu besuchen. Jetzt aber leben Sie wohl!«

»Ich Sie bitten? Nie, nie, niemals!«

Er ging. Ich aber schrieb drei Zellen und schickte sie seiner Tochter. Die lauteten: »Entscheide zwischen mir und Deinem Großvater, Wählst Du ihn, so bleib; wählst Du mich, so komm sofort nach Dresden!« Dann reiste ich ab. Sie wählte mich; sie kam. Sie verließ den, der sie erzogen hatte und dessen einziges Gut sie war. Das schmeichelte mir. Ich fühlte mich als Sieger. Ich tat sie zu einer Pfarrerswitwe, die zwei erwachsene, hochgebildete Töchter besaß. Durch den Umgang mit diesen Damen wurde es ihr möglich, sich Alles, was sie noch nicht besaß, spielend anzueignen. Von da aus bekam sie Gelegenheit, eine selbständige Wirtschaft führen zu können. Auch ich arbeitete mit gutem, ja mit sehr gutem Erfolg. Ich wurde bekannt und bezog sehr anständige Honorare. Ich hatte mit meinen »Reiseerzählungen« begonnen, die sofort in Paris und Tours auch in französischer Sprache erschienen. Das sprach sich herum; das imponierte sogar dem »alten Pollmer«. Er hörte von Kennern, daß ich im Begriff stehe, ein wohlhabender, vielleicht gar ein reicher Mann zu werden. Da schrieb er an seine Tochter. Er verzieh ihr, daß sie ihn um meinetwillen verlassen hatte, und forderte sie auf, nach Hohenstein zu kommen, ihn zu besuchen, mich aber mitzubringen. Sie erfüllte ihm diesen Wunsch, und ich begleitete sie. Aber ich ging nicht zu ihm, sondern nach Ernstthal zu meinen Eltern. Er schickte nach mir; ich aber antwortete, er wisse wohl, was ich ihm vorausgesagt habe. Wenn er mich bei sich haben wolle, müsse er persönlich kommen, mich einzuladen. Und er kam!

Ich fühlte mich wieder als Sieger. Wie töricht von mir! Hier hatte nicht ich, sondern nur die Erwägung gesiegt, daß ich es wahrscheinlich zu einem Vermögen bringen werde, und es gab sogar die Gefahr für mich, daß diese Erwägung nicht allein vom Großvater getroffen worden war. Uebrigens bat er sie, bis zu unserer Verheiratung bei ihm in Hohenstein zu bleiben. Ich hatte nichts dagegen und gab mein Logis in Dresden auf, um bei den Eltern in Ernsttal zu wohnen. Es war damals eine Zeit ganz eigenartiger innerer und äußerer Entwickelungen für mich. Ich schrieb und machte Reisen. Von einer dieser Reisen zurückgekehrt, erfuhr ich, kaum aus dem Kupee gestiegen, daß heute nacht der »alte Pollmer« gestorben sei; der Schlag habe ihn getroffen. Ich eilte nach seiner Wohnung. Man hatte mir zu viel gesagt. Er war nicht tot; er lebte noch, konnte aber weder sprechen, noch sich bewegen. Sein Enkelkind saß in einer seitwärts liegenden Stube bei einer klingenden Beschäftigung. Sie hatte nach seinem Gelde gesucht und es gefunden. Es war nicht viel; ich glaube, kaum zweihundert Mark. Ich zog sie davon fort, zu dem Kranken hinüber. Er erkannte mich und wollte reden, brachte es aber nur zu einem unartikulierten Lallen. Aus seinem Blicke sprach eine ungeheure Angst. Da kam der behandelnde Arzt. Er hatte ihn schon gleich früh am Morgen untersucht, tat dies jetzt wieder und gab uns den Bescheid, daß alle Hoffnung vergeblich sei. Als er sich entfernt hatte, glitt die Tochter des Sterbenden vor mir nieder und bat mich, sie ja nicht zu verlassen. Ich versprach es ihr und habe Wort gehalten. Ich habe sogar noch mehr getan. Ich habe ihren Wunsch erfüllt, in Hohenstein wohnen zu bleiben. Wir mieteten uns eine Etage des oberen Marktes und hätten da unendlich glücklich leben können, wenn uns ein solches Glück beschieden gewesen wäre.

Ich schrieb damals schon einige Jahre lang für Pustet in Regensburg, in dessen »Deutschem Hausschatz« meine »Reiseerzählungen« erschienen. Die Firma Pustet ist eine katholische und der »Deutsche Hausschatz« ein katholisches Familienblatt. Aber diese konfessionelle Zugehörigkeit war mir höchst gleichgültig. Der Grund, warum ich dieser hochanständigen Firma treugeblieben bin, war kein konfessioneller, sondern ein rein geschäftlicher. Kommerzienrat Pustet ließ mir nämlich schon bei der zweiten, kurzen Erzählung durch seinen Redakteur Vinzenz Müller mitteilen, daß er bereit sei, alle meine Manuskripte zu erwerben, ich solle sie keinem andern Verlage senden. Und zahlen werde er sofort. Bei längeren Manuskripten, die ich ihm nach und nach schicken solle, gehe er sehr gern auf Teilzahlungen ein; so viel Seiten, so viel Geld! Es wird wohl selten einen Schriftsteller geben, dem ein solches Anerbieten gemacht wird. Ich ging mit Freuden darauf ein. Rund zwanzig Jahre lang ist das Honorar, wenn ich das Manuskript heute zur Post sandte, genau übermorgen eingetroffen. Ich erinnere mich keines einzigen Males, daß es später gekommen wäre. Und niemals hat es in Beziehung auf das Honorar auch nur die geringste Differenz zwischen uns gegeben. Ich habe nie mehr verlangt, als was vereinbart worden war, und als Pustet es mir plötzlich verdoppelte, tat er das aus eigenem, freien Entschlusse, ohne daß ich einen hierauf bezüglichen Wunsch geäußert hatte. Solchen Verlegern bleibt man treu, auch ohne nach ihrem Glauben und ihrer Konfession zu fragen.

Aber noch wertvoller als diese Pünktlichkeit war für mich der Umstand, daß alle meine Manuskripte vorausbestellt waren und sicher an- und aufgenommen wurden. Das machte es mir möglich, meine auf die »Reiseerzählungen« bezüglichen Pläne nun endlich auszuführen. Es war mir nun der nötige Spaltenraum für lange Zeit hinaus sichergestellt. Durch wen ich diese Erzählungen dann später in Buchform herausgeben würde, war eine Frage, die einstweilen noch offenbleiben konnte. Es gibt feindselige Menschen, welche behaupten, daß ich mich nur um des Geldes willen an diesen katholischen Verlag herangemacht habe. Das ist eine Unwahrheit, für deren Gewissenlosigkeit und Verwerflichkeit ich keine Worte finde. Ich habe ganz das Gegenteil von dem getan, dessen man mich da beschuldigt. Ich habe dem »Deutschen Hausschatz« und seinem Herausgeber Opfer gebracht, von deren Größe die Familie Pustet keine Ahnung hatte. Vor mir liegt ein Brief, den Professor Josef Kürschner, der bekannte, berühmte Publizist, mit dem ich sehr befreundet war, am 3. Oktober 1886 an mich schrieb. Es handelte sich um die bei Spemann in Stuttgart erscheinende Revue »Vom Fels zum Meere«, für welche ich mitgearbeitet habe. Der Brief lautet wie folgt:

 

»Sehr geehrter Herr!

Sie haben inzwischen schon wieder für andere Unternehmungen Beiträge geliefert, während Sie mich mit dem längst Versprochenen noch immer im Stiche ließen. Das ist eigentlich nicht recht, und ich bitte Sie dringend, nun Ihr Versprechen mir gegenüber wahr zu machen. Ich will diese Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne Sie zu fragen, ob Sie nicht geneigt wären, einmal einen recht packenden, fesselnden und situationsreichen Roman zu schreiben. Ich würde Ihnen in diesem Falle ein Honorar bis zu tausend Mark pro »Fels«-Bogen zusichern können, wenn Sie etwas Derartiges schreiben würden.

In vorzüglicher Hochachtung

Ihr ergebenster

Josef Kürschner.

 

Das Honorar, welches ich von Pustet bekam, war gegen diese tausend Mark so unbedeutend, daß ich mich scheue, seinen Betrag hier zu nennen. Wenn ich Pustet trotzdem vorgezogen habe, so ist das ein gewiß wohl mehr als hinreichender Beweis, daß ich für den »Hausschatz« nicht geschrieben habe, um »mehr Geld zu machen, als ich von Andern bekam«. Auch meine andern Verleger zahlten bedeutend mehr als Pustet. Das muß ich, um diesen böswilligen Ausstreuungen zu begegnen, hiermit konstatieren. Ueber den Inhalt dieser meiner Hausschatzerzählungen berichte ich an anderer Stelle. Ich habe, der Logik der Tatsachen gehorchend, mich von Pustet zurück zu Münchmeyer zu wenden.

Es war im Jahre 1882, als ich mit meiner Frau auf einer Erholungstour nach Dresden kam. Ich hatte ihr Münchmeyer so lebhaft geschildert, daß sie sich ein ganz richtiges Bild von ihm machen konnte, obgleich sie ihn noch nicht gesehen hatte. Sie wünschte aber sehr, ihn kennen zu lernen, von dem ihr auch Andere gesagt hatten, daß er ein hübscher Kerl, ein glanzvoller Unterhalter und für schöne Frauen begeistert sei. Er pflegte in dieser Jahreszeit um die Dämmerstunde in einer bestimmten Gartenrestauration zu verkehren. Als ich ihr das sagte, bat sie mich, sie hinzuführen. Ich tat es, obgleich es mir widerstrebte, ihm diejenige zu zeigen, die ich seiner Schwägerin vorgezogen hatte. Ich hatte mich nicht geirrt. Er war da. Der einzige Gast im ganzen Garten. Die Freude, mich wiederzusehen, war aufrichtig; das sah man ihm an. Aber gab es nicht vielleicht auch geschäftliche Ursachen zu dieser Freude? Er hatte gar so zusammengedrückt und niedergeschlagen dagesessen, den Kopf in beide Hände gelegt. Nun aber war er plötzlich froh und munter. Er strahlte vor Vergnügen. Er machte mir in seiner Kolportageweise die unmöglichsten Komplimente, eine so schöne Frau zu haben, und meiner Frau gratulierte er in denselben Ausdrücken zu dem Glück, einen so schnell berühmt gewordenen Mann zu besitzen. Er kannte meine Erfolge, übertrieb sie aber, um uns beiden zu schmeicheln. Er machte Eindruck auf meine Frau, und sie ebenso auf ihn. Er begann, zu schwärmen, und er begann, aufrichtig zu werden. Sie sei schön wie ein Engel, und sie solle sein Rettungsengel werden, ja, sein Rettungsengel, den er brauche in seiner jetzigen großen Not. Sie könne ihn retten, indem sie mich bitte, einen Roman für ihn zu schreiben. Und nun erzählte er:

Als ich aus seinem Geschäft getreten war, hatte er keinen passenden Redakteur für die von mir gegründeten Blätter gefunden. Er selbst verstand nicht, zu redigieren. Sie verloren sehr schnell ihren Wert; die Abonnenten fielen ab; sie gingen ein. Dabei blieb es aber nicht. Es wollte überhaupt nichts mehr gelingen. Verlust folgte auf Verlust, und jetzt stand es so, daß er die Hamletfrage Sein oder Nichtsein nicht länger von sich weisen konnte. Er habe soeben, in diesem Augenblick, darüber nachgedacht, durch wen oder was er Rettung finden könne, doch vergeblich. Da seien wir beide gekommen, grad wie vom Himmel geschickt. Und nun wisse er, daß er gerettet werde, nämlich durch mich, durch einen Roman von mir, durch meine schöne, junge, liebe, gute Herzensfrau, die mir keine Ruhe lassen werde, bis dieser Roman in seinen Händen sei. Der Pfiffikus hatte sich durch diese derben Lobeserhebungen der Mithilfe meiner unerfahrenen Frau vollständig versichert. Er drang in mich, ihm seinen Wunsch zu erfüllen, und sie bat mit. Er stellte mir klugerweise vor, daß eigentlich nur ich schuld an seiner jetzigen schlimmen Lage sei. Vor sechs Jahren habe alles außerordentlich gut gestanden; aber daß ich seine Schwägerin nicht habe heiraten wollen und aus der Redaktion gegangen sei, das habe alles in das Gegenteil verwandelt. Um das wieder gut zu machen, sei ich also moralisch geradezu verpflichtet, ihm jetzt unter die Arme zu greifen.

Was diesen letzteren Gedanken betraf, so fühlte ich gar wohl, daß etwas Wahres daran sei. Man hatte damals meine Bereitwilligkeit, die Schwester der Frau Münchmeyer zu heiraten, für so selbstverständlich gehalten, daß überall davon gesprochen worden war. Dadurch, daß ich den Plan zurückwies, hatte nicht nur dieses Mädchen, sondern auch die ganze Familie eine beinahe öffentliche Zurücksetzung erlitten, an der ich zwar nicht die Schuld trug, die mich aber geneigt machte, Münchmeyer als Ersatz dafür irgend eine Liebe zu erweisen. Hierzu kam, daß wir uns nicht gezankt hatten, sondern als Freunde auseinander gegangen waren. Es konnte also wohl einen geschäftlichen, nicht aber einen persönlichen Grund geben, seinen Wunsch zurückzuweisen. Aber auch in geschäftlicher Beziehung lag kein zwingender Grund vor, mich zu weigern. Zeit hatte ich; ich brauchte sie mir nur zu nehmen. In dem Umstand, daß Münchmeyer Kolportageverleger war, lag kein Zwang für mich, ihm nun auch meinerseits nichts Anderes als nur einen Schund- und Kolportageroman zu schreiben. Es konnte etwas Besseres sein, eine organische Folge von Reiseerzählungen, wie ich sie Pustet und andern Verlegern lieferte. Tat ich das, so war damit zugleich auch meinem Lebenswerke gedient, und ich konnte das, was ich für Münchmeyer schrieb, ganz ebenso später für mich in Bänden erscheinen lassen, wie das für meine Hausschatzerzählungen bestimmt worden war.

Diese Erwägungen gingen mir durch den Kopf, während Münchmeyer und meine Frau auf mich einsprachen. Ich erklärte schließlich, daß ich mich vielleicht entschließen könne, den gewünschten Roman zu schreiben, doch nur unter der Bedingung, daß er nach einer bestimmten Zeit mit sämtlichen Rechten wieder an mich zurückfalle. Es dürfte an meinem Manuskripte absolut kein Wort geändert werden; das wisse er ja von früher her. Münchmeyer erklärte, hieraus einzugehen, doch möge ich ihn mit dem Honorar nicht drücken. Er sei in Not und könne nicht viel zahlen. Später, wenn mein Roman gut einschlage, könne er das durch eine »feine Gratifikation« ausgleichen. Das klang ja gut. Er bat, ihm keine Zeit zu setzen, an welcher der Roman wieder an mich zurückzufallen habe, sondern lieber eine Abonnentenzahl, nach welcher, sobald sie erreicht worden sei, er aufzuhören und mir meine Rechte wiederzugeben habe. Er berechnete, daß er mit sechs- bis siebentausend Abonnenten auf seine Rechnung komme; was darüber hinausgehe, sei Verdienst. Darum schlug ich vor, im Falle, daß ich den Roman schreiben werde, solle Münchmeyer bis zum zwanzigtausendsten Abonnenten gehen dürfen, weiter nicht; dann habe er mir eine »feine Gratifikation« zu zahlen, und der Roman falle mit allen Rechten an mich zurück. Ob ich ihn dann gegen das entsprechende Honorar bei ihm oder bei einem andern Verleger weiter erscheinen lasse, sei lediglich meine Sache. Hierauf ging Münchmeyer sofort ein, ich aber gab meine Zusage noch nicht definitiv; ich erklärte, mir die Sache erst noch reiflich überlegen und meine Entscheidung dann morgen geben zu wollen.

Münchmeyer kam schon am folgenden Morgen in unser Hotel, um sich meinen Bescheid zu holen. Ich sagte ja, halb freiwillig und halb gezwungen. Meine Frau hatte nicht nachgelassen, bis ich ihr das Versprechen gab, ihm seinen Wunsch zu erfüllen. Er bekam den Roman zu den erwähnten Bedingungen, nämlich nur bis zum zwanzigtausendsten Abonnenten. Dafür hatte er für die Nummer 35 Mark zu bezahlen und beim Schluß eine »feine Gratifikation«. Er gab den Handschlag. Unser Kontrakt war also kein schriftlicher, sondern ein mündlicher. Er sagte, wir seien beide ehrliche Männer und würden einander nie betrügen. Es klinge für ihn wie eine Beleidigung, von ihm eine Unterschrift zu verlangen. Ich ging aus zwei guten Gründen hierauf ein. Nämlich erstens durften nach damaligem sächsischen Gesetz bei Mangel eines Kontraktes überhaupt nur tausend Exemplare gedruckt werden; Münchmeyer hätte sich also, wenn er unehrlich sein wollte, nur selbst betrogen; so dachte ich. Und zweitens konnte ich mir den fehlenden schriftlichen Kontrakt sehr leicht und unauffällig durch Briefe verschaffen. Ich brauchte meine Geschäftsbriefe an Münchmeyer sehr einfach nur so einzurichten, daß seine Antworten nach und nach Alles enthielten, was zwischen uns ausgemacht worden war. Das habe ich denn auch getan und seine Antworten mir heilig aufgehoben.

Er wünschte sehr, daß ich mit dem Roman sofort beginne. Ich tat ihm diesen Gefallen und kehrte schleunigst nach Hohenstein zurück, um unverweilt anzufangen. Meine Frau trieb fast noch mehr als Münchmeyer selbst. Er hatte eine persönliche Vorliebe für den nichtssagenden Titel »Das Waldröschen«. Ich ging auch hierauf ein, hütete mich aber, ihm sonst noch irgendwelche Konzessionen zu machen. Schon nach einigen Wochen kamen günstige Nachrichten. Der Roman »ging«. Dieses »ging« ist ein Fachausdruck, welcher einen nicht gewöhnlichen Erfolg bedeutet. Ich bekam weder Korrektur noch Revision zu lesen, und das war mir ganz lieb, denn ich hatte keine Zeit dazu. Beleghefte gingen mir nicht zu, weil sie mich verzettelt hätten. Ich sollte meine Freiexemplare nach Vollendung des Romans gleich komplett bekommen. Damit war ich einverstanden. Freilich bekam ich dadurch keine Gelegenheit, mein Originalmanuskript mit dem Druck zu vergleichen, aber das machte mir keine Sorge. Es war ja bestimmt worden, daß mir kein Wort geändert werden dürfe und ich besaß damals die Vertrauensseligkeit, dies für genügend zu halten.

Der Erfolg des »Waldröschens« schien nicht nur ein guter, sondern ein ungewöhnlicher zu werden. Münchmeyer zeigte sich in seinen Briefen sehr zufrieden. Er schrieb wiederholt, daß er sich schon jetzt, nach so kurzer Zeit, für gerettet halte, denn er hoffe doch, daß der Roman so zugkräftig bleibe, wie er bis jetzt gewesen sei. Er regte den Gedanken an, daß wir nicht in Hohenstein bleiben, sondern nach Dresden ziehen möchten, da er mich in seiner Nähe haben wolle. Meine Frau griff diesen Gedanken mit Begeisterung auf und sorgte dafür, daß er so schnell wie möglich ausgeführt wurde. Ich sträubte mich keineswegs. Hatte ich doch während der Hohensteiner Zeit mehr und mehr an jene Warnung denken müssen, welche in dem Buche des Katecheten zu lesen gewesen war. Ich hatte, dieser Warnung zum Trotz, mich nicht nur an der Stelle, an der ich geboren worden war, seßhaft niedergelassen, sondern mir auch eine Frau von dort genommen. Ich war für einige Zeit geneigt gewesen, den Inhalt dieser Buchstelle als Aberglauben zu betrachten, sah sie aber gar bald wieder mit dem Auge des Psychologen an und wurde sodann durch die Schwere der Tatsachen gezwungen, einzusehen, daß ein einzelner Schwimmer unbedingt leichter über trübe Gewässer hinübergelangt, als wenn er eine zweite Person mitzunehmen hat, die weder schwimmen kann noch schwimmen will. Darum war mir diese Ortsveränderung ganz recht, doch zog ich aus Vorsicht nicht nach Dresden selbst, sondern nach Blasewitz, um mir Ellbogenfreiheit zu sichern. Münchmeyer stellte sich auch da sofort ein, und zwar wöchentlich mehrere Male. Es entwickelte sich ein anfangs ganz förderlicher Verkehr zwischen ihm und uns. Ich arbeitete so, daß ich mir fast keine Ruhe gönnte. Der Roman schritt sehr schnell vorwärts, und sein Erfolg wuchs derart, daß Münchmeyer mich bat, noch einen zweiten und wo möglich noch ewige weitere zu schreiben. Ich ahnte nicht, daß meine Entscheidung über diesen seinen Wunsch eine für mich hochwichtige sei, und daß sie mir, falls sie bejahend ausfallen sollte, zu einer Quelle unsagbaren Elendes und unaussprechlicher Qual werden könne. Ich betrachtete nur die angeblichen Vorteile, sah aber nicht die Gefahr.

Diese Gefahr entwickelte sich, wie schon einmal, aus meinen literarischen Plänen heraus. Münchmeyer hatte diese Pläne nicht vergessen; er kannte sie noch ganz gut. Er erinnerte mich jetzt an sie. Ich hatte sie damals nicht ausführen können, weil ich meine Stellung bei ihm aufgab. Jetzt aber war ich kein Angestellter, sondern ein freier Mann, der durch nichts verhindert werden konnte, das zu tun, was ihm beliebte. Und die Hauptsache, ich brauchte das, was ich schreiben wollte, nicht, wie bei Pustet, auf viele Jahrgänge auseinander zu dehnen, sondern ich konnte es flottweg hintereinander schreiben, um das, was jetzt als Heftroman erschien, später in Buchform herauszugeben. Das bestrickte mich. Hierzu kam das beständige Zureden meiner Frau, welche die geringen Einwände, die ich zu erheben hatte, sehr leicht zum Schweigen brachte. Kurz, ich gab meine Zustimmung, noch einige Romane zu schreiben, und zwar zu ganz denselben Bedingungen wie das »Waldröschen«. Diese Arbeiten hatten mir also auch nach dem zwanzigtausendsten Abonnenten mit allen Rechten wieder zuzufallen, und dann war mir eine »feine Gratifikation« zu zahlen. Es gab nur eine einzige Aenderung, nämlich die, daß ich für diese Romane ein Honorar von fünfzig Mark pro Heft bezog, anstatt nur fünfunddreißig bei dem »Waldröschen«.

Infolge dieser Abmachungen begann für mich von jetzt an eine Zeit, an die ich heut nicht ohne Genugtuung, zugleich aber auch nicht ohne tiefe Beschämung denken kann. Ich frage nicht, ob ich mich durch diese Aufrichtigkeit blamiere; meine Pflicht ist, die Wahrheit zu sagen, weiter nichts. Es war ein fast fieberhafter Fleiß, mit dem ich damals arbeitete. Ich brauchte nicht, wie andere Schriftsteller, mühsam nach Sujets zu suchen; ich hatte mir ja reichhaltige Verzeichnisse von ihnen angelegt, in die ich nur zu greifen brauchte, um sofort zu finden, was ich suchte. Und sie alle waren schon fertig durchdacht; ich hatte nur auszuführen; ich brauchte nur zu schreiben. Und dieses letztere tat ich mit einem Eifer, der mich weder rechts noch links schauen ließ, und grad das, das war es, was ich wollte. Ich hatte einsehen müssen, daß es für mich kein anderes Glück im Leben gab, als nur das, welches aus der Arbeit fließt. Darum arbeitete ich, so viel, und so gern, so gern! Dieser ruhelose Fleiß ermöglichte es mir, zu vergessen, daß ich mich in meinem Lebensglück geirrt hatte und noch viel, viel einsamer lebte, als es vorher jemals der Fall gewesen war. Dieses tiefe, innere Verlassensein drängte mich, um die trostlose Oede auszufüllen, zu rastlosem Fleiße und machte mich leider gleichgültig gegen die Notwendigkeit, geschäftlich vorsichtig zu sein. Es kam bei Münchmeyer so viel vor, was mich veranlassen konnte, auf der Hut zu sein, daß mehr als genugsam Grund vorlag, die Zukunft und Integrität alles dessen, was ich für ihn schrieb, so sicher wie möglich zu stellen. Daß ich hieran nicht dachte, war ein Fehler, den ich zwar entschuldigen, mir aber selbst heut noch nicht verzeihen kann.

Münchmeyer war Hausfreund bei uns geworden. Er hatte sich in Blasewitz eine Art Garçonlogis gemietet, um seine Sonnabende und Sonntage bequemer bei uns verbringen zu können. Er kam auch an Abenden der andern Tage und brachte fast immer seinen Bruder, sehr oft auch andere Personen mit. Er wünschte zwar, daß ich mich dadurch ja nicht in meiner Arbeit stören lassen möge, doch konnte mich das nicht hindern, Herr meiner Wohnung zu bleiben und dann, als mir dies nicht mehr möglich erschien, diese Wohnung aufzugeben und aus Blasewitz fort, nach der Stadt zu ziehen. Meine neue Wohnung lag in einer der stillsten abgelegensten Straßen, und mein neuer Wirt, ein sehr energischer Schloß- und Rittergutsbesitzer, duldete keinen ruhestörenden Lärm und überhaupt keine Ueberflüssigkeiten in seinem Hause. Grad das war es, was ich suchte. Ich fand da die innere und äußere Stille und die Sammlung, die ich brauchte. Münchmeyer kam noch einige Male, dann nicht mehr. Dafür aber stellten, ich wußte nicht, warum, sich Einladungen von Frau Münchmeyer ein, sie auf ihren Sonntagswanderungen durch Wald und Heide zu begleiten. Diese Wanderungen waren ihr vom Arzt geraten, der ihr tiefe Lufteinatmung verordnet hatte. Ich mußte mich wohl oder übel an ihnen beteiligen, weil dies der Wunsch meiner Frau war, deren Gründe ich leider nicht zu würdigen verstand. Sie fand sich nicht in die Abgeschiedenheit unserer jetzigen Wohnung; sie entzweite sich mit dem Wirte. Ich mußte kündigen. Wir zogen aus, nach einer Radauwohnung des amerikanischen Viertels, die über einer Kneipe lag, so daß ich nicht arbeiten konnte. Da wurde sie krank. Der Arzt riet ihr sehr frühe Spaziergänge nach dem großen Garten, dem weltbekannten Dresdener Park. Solchen ärztlichen Verordnungen hat man zu gehorchen. Es gab für mich keinen Grund, diese Spaziergänge zu verhindern, die morgens vier bis fünf Uhr begannen und ungefähr drei Stunden währten. Ich wußte nicht, daß Frau Münchmeyer auch nicht gesund war, und daß auch sie von ihrem Arzt die Weisung erhalten hatte, frühe Morgenspaziergänge nach dem Großen Garten zu machen. Erst nach langer, sehr langer Zeit erfuhr ich, was während dieser Spaziergänge geschehen war. Meine Frau war mir nicht nur seelisch, sondern auch geschäftlich verloren gegangen. Die beiden Damen saßen tagtäglich früh morgens in einer Konditorei des großen Gartens und trieben eine Hausfrauen- und Geschäftspolitik, deren Wirkungen ich erst später verspürte. Ich machte Schluß und zog von Dresden fort, nach Kötzschenbroda, dem äußersten Punkt seiner Vorortsperipherie.

Schon vorher war ich mit meinem letzten Romane für Münchmeyer fertig geworden. Ich hatte ihm fünf geschrieben, in der Zeit von nur vier Jahren. Wenn man später vor Gericht behauptet hat, daß ich für Münchmeyer nicht fleißig, sondern faul gewesen sei, so bitte ich, mir einen Verfasser zu nennen, der mehr geleistet und zugleich auch noch für andere Verleger gearbeitet hat. Hiermit sei für heut mit meiner »Kolportagezeit« abgeschlossen. – – –


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