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IV. Seminar- und Lehrerzeit.

Keine Pflanze zieht das, was sie in ihren Zellen und in ihren Früchten aufzuspeichern hat, aus sich selbst heraus, sondern aus dem Boden, dem sie entsprossen ist, und aus der Atmosphäre, in der sie atmet. Pflanze ist in dieser Beziehung auch der Mensch. Körperlich ist er freilich nicht angewachsen, aber geistig und seelisch wurzelt er, und zwar tief, sehr tief, tiefer als mancher Baumriese in kalifornischer Erde. Darum ist kein Mensch für das, was er in seiner Entwicklungszeit tut, in vollem Maße verantwortlich zu machen. Ihm alle seine Fehler vollauf anzurechnen, würde ebenso falsch sein wie die Behauptung, daß er alle seine Vorzüge nur allein sich selbst verdanke. Nur wer den Heimatsboden und die Jugendatmosphäre eines »Gewordenen« genau kennt und richtig zu beurteilen weiß, ist im Stande, einigermaßen nachzuweisen, welche Teile eines Lebensschicksales aus den gegebenen Verhältnissen und welche Teile aus dem rein persönlichen Willen des Betreffenden geflossen sind. Es war eine der größten Grausamkeiten der Vergangenheit, jedem armen Teufel, den die Verhältnisse zur Verletzung der Gesetze führten, zu seiner eigenen, vielleicht geringen Schuld auch noch die ganze, schwere Last dieser Verhältnisse mit aufzubürden. Es gibt leider auch heute mehr als genug Menschen, welche diese Grausamkeit sogar jetzt noch begehen, ohne zu ahnen, daß sie selbst es sind, die, wenn es hier Gesetze gäbe, mit verantwortlich gemacht werden müßten. Und gewöhnlich sind es nicht etwa die Fernstehenden, sondern grad die lieben »Nächsten«, welche Stein um Stein auf den andern werfen, obgleich die Einflüsse, denen er unterlegen ist, besonders auch von ihnen mit ausgegangen sind. Sie tragen also an der Schuld, die sie auf ihn werfen, selbst mit Schuld.

Wenn ich es hier unternehme, die Verhältnisse, aus denen ich erwuchs, einer ungefärbten Prüfung zu unterwerfen, so geschieht das nicht etwa in der Absicht, irgend welchen Teil meiner eigenen Schuld von mir ab und auf andere zu werfen, sondern nur, um einmal durch ein laut sprechendes Beispiel zu zeigen, wie vorsichtig man sein muß, wenn man sich die Aufgabe stellt, eine menschliche Existenz nach ihrer Entstehung und Entwicklung hin genau zu untersuchen.

Hohenstein und Ernsttal waren damals zwei so nahe bei einander liegende Städtchen, daß sie stellenweise ihre Gäßchen wie die Finger zweier gefalteter Hände zwischen einander hineinschoben. In Hohenstein wurde der Naturphilosoph Gotthilf Heinrich von Schubert geboren, dessen Werke zunächst unter Schellingschem Einflusse entstanden, dann aber sich dem pietistisch-asketischen Mystizismus zuwendeten. Seine Vaterstadt hat ihm ein Denkmal gesetzt. Aus Ernsttal stammt der verdienstvolle Philosoph und Publizist Pölitz, dessen Bibliothek über 30 000 Bände zählte, die er der Stadt Leipzig vermachte. Ich habe es hier weniger mit Hohenstein als vielmehr mit Ernsttal zu tun, in dem ich, wie der Hobble-Frank sich auszudrücken pflegt, »das erste Licht der Welt erblickte«. Die ersten und ältesten Eindrücke meiner Kindheit sind diejenigen einer beklagenswerten Armut, und zwar nicht nur in materieller, sondern auch in anderer Beziehung. Niemals in meinem Leben habe ich so viel geistige Anspruchslosigkeit beisammen gesehen wie damals. Der Bürgermeister war ein unstudierter Mann. Es gab zwar einen Nachtwächter, aber die Bewohner hatten sich reihum an der Nachtwache zu beteiligen. Die Hauptbeschäftigung bildete die Weberei. Der Verdienst war kärglich, ja oft überkärglich zu nennen. Zu gewissen Zeiten gab es wochen-, zuweilen sogar monatelang wenig oder gar keine Arbeit. Da sah man Frauen in den Wald gehen und Körbe voll Reisig heimschleppen, um im Winter Feuerung zu haben. Des Nachts konnte man auf einsamen Pfaden Männern begegnen, welche Baumstämme nach Hause trugen, die noch während der Nacht zu Feuerholz zersägt und zerhackt werden mußten, damit wenn die Haussuchung kam, nichts gefunden werden könne. Es galt für die armen Weber, fleißig zu sein, um den Hunger abzuwehren. Am Sonnabend war Zahltag. Da trug ein jeder sein »Stück zu Markte«. Für jeden Fehler, der sich zeigte, gab es einen bestimmten Lohnabzug. Da brachte gar mancher weniger heim, als er erwartet hatte. Dann wurde ausgeruht. Der Sonnabend Abend war der Heiterkeit und – – – dem Schnaps gewidmet. Man fand sich beim Nachbar ein. Da ging die Bulle rundum. Bulle ist Abkürzung von Bouteille. In einigen Familien sang man dazu, aber was für Lieder oft! In andern regierte die Karte. Da wurde »gelumpt«, »geschafkopft« oder gar »getippt«. Das letztere ist ein verbotenes Glücksspiel, dem mancher den Verdienst der ganzen Woche opferte. Man trank dazu aus einem einzigen Glas. Dieses ging von Hand zu Hand, von Mund zu Mund. Auch während der Sonntagsausgänge und überhaupt bei jedem Gang in das Freie war man mit Branntwein versehen. Da saß man im Grünen und trank. Schnaps war überall dabei; man mochte ihn nicht entbehren. Man betrachtete ihn als den einzigen Sorgenbrecher und nahm seine schlimmen Wirkungen hin, als ob sich das so ganz von selbst verstände.

Freilich gab es auch sogenannte bessere Familien, über die der Alkohol keine Macht besaß, aber die waren in ganz geringer Zahl. Patriziergeschlechter gab es in beiden Städtchen nicht. In Hohenstein wohnten einige Familien, die man höher schätzte als andere, in Ernsttal aber nicht. Die Pfarrer und die Aerzte waren die einzigen akademisch gebildeten Personen, hierzu kam vielleicht ein Rechtsanwalt, dessen Liquidationen absolut nicht das Geschick besaßen, sich in klingende Einnahmen zu verwandeln. So war die ganze Lebensführung überhaupt eine ungemein niedrige und der allgemeine Umgangston auf eine Note gestimmt, die man jetzt kaum mehr für möglich hält. Im persönlichen Verkehr waren Spitznamen oft gebräuchlicher als die wirklichen, richtigen Namen. Als einziges Beispiel, welches ich da anführe, diene der Name Wolf. Es gab einen Weißkopfwolf, einen Rothkopfwolf, einen Daniellobwolf, einen Schlagwolf und noch eine Menge andersgenannter Wölfe. Die Häuser waren klein, die Gassen eng. Ein jeder konnte in die Fenster des andern sehen und alles beobachten, was geschah. So wurde es fast zur Unmöglichkeit, Geheimnisse vor einander zu haben. Und da kein Mensch ohne Fehler ist, so hatte ein jeder seinen Nachbar im Sacke. Man wußte alles, aber man schwieg. Nur zuweilen, wenn man es für nötig hielt, ließ man ein Wörtchen fallen, und das war genug. Man kam dadurch zur immerwährenden aber stillen Hechelei, zur niedrigen Ironie, zu einem scheinbar gutmütigen Sarkasmus, welcher aber nichts Reelles an sich hatte. Das war ungesund und griff immer weiter um sich, ohne daß man es beachtete. Das äzte; das wirkte wie Gift. So hatte sich aus den sonnabendlichen Kartenspielen ein lichtscheues Unternehmen gebildet, welches den Zweck verfolgte, verbotenes, ja sogar falsches, betrügerisches Kartenspiel zu pflegen. Die Betreffenden kamen zusammen, um sich in der Zubereitung und im Gebrauch von falschen Karten zu üben. Sie etablierten sich in einer vor der Stadt gelegenen Wirtschaft. Sie schickten Zubringer aus, um Opfer einzusaugen. Da saß man nächtelang und spielte um hohe Einsätze. Mancher kam da mit vollen Taschen und ging mit leeren fort. Dieses Treiben war im Städtchen wohlbekannt. Man erzählte sich von jedem neuem Coup, der gemacht worden war. Man sprach von den erbeuteten Summen, und man freute sich darüber, anstatt daß man diese Betrügereien verwarf. Man verkehrte mit den Falschspielern wie mit ehrlichen Leuten. Man leistete ihnen Vorschub. Ja, man achtete, man rühmte ihre Pfiffigkeit, und man verriet nicht das geringste von allem, was man von ihnen wußte. Daß hierdurch eigentlich das ganze Städtchen an dem Betruge gegen die herbeigeschleppten Opfer beteiligt wurde und daß Jedermann, der von diesen Gaunereien wußte, sich, streng genommen, als Hehler zu betrachten hatte, das leuchtete keinem Menschen ein. Wer damals gesagt hätte, daß dies einen beklagenswerten, allgemeinen moralischen Tiefstand bedeute, der wäre wohl ausgelacht worden, oder gar noch Schlimmeres. Das allgemeine Rechtsgefühl war irregeführt. Man bewunderte die Falschspieler, wie man die Rinaldo Rinaldini's und die Himlo Himlini's der alten Leihbibliothek bewunderte, deren Bände man verschlang, weil sie die einzige war, die es in den beiden Städtchen gab. Ich habe niemals gehört, daß der Bürgermeister, der Pfarrer oder ein sonst hierzu berufener Beamter einen dieser Falschspieler zu sich kommen ließ, um ihn zu verwarnen, und von dem bösen Beispiele, welches der ganzen Gemeinde gegeben wurde, abzulassen. Man duldete es. Man ging schweigend darüber hinweg. Die Jugend aber, die das alles mit ansah und mit anhörte, mußte den Eindruck gewinnen, daß diese Betrügereien bewundernswerte und sehr gut lohnende Taten seien, und so ein Eindruck wird nie wieder verwischt. Mir wurde einst von einem Juristen gesagt, ich sei in einem Sumpf geboren worden. Ob dieser Herr wohl recht gehabt hat oder nicht?

Zwei eigenartige Gewächse dieses Sumpfes waren die beiden Namen »Batzendorf« und die »Lügenschmiede«. Der erstere leitet sich auf die bekannte, alte süddeutsche und schweizer Scheidemünze, Batzen genannt, zurück. Batzendorf war eine fingierte Dorfgemeinde, der jeder Einwohner Ernsttals beitreten konnte. Es war ein Jux, aber ein Jux, der häufig zum Ausarten kam. Batzendorf hatte seinen eigenen Gemeindevorstand, seinen eigenen Pfarrer, seine eigene Gemeindeverwaltung, das alles aber von der heiter sein sollenden Seite genommen. Das allerkleinste Häuschen Ernsttals, das der alten Gemüsehändlerin Dore Wendelbrück, wurde zum Batzendorfer Rathause erhoben. Eines Morgens stand ein Turm darauf, den man aus Latten und Zigarrenkistchen gezimmert und der alten Dore auf das Dach gesetzt hatte, ohne sie zu fragen. Sie war aber sehr stolz darauf. Die Wirtin zum Meisterhaus war Dorfnachtwächter. Sie mußte die Stunden ansagen und tuten. Jede Behörde und jede Charge war vertreten, bis tief herunter zum Kartoffel- und zum Schotenwächter, auch das alles in das Komische gezogen. Des Sonnabends war Versammlungstag. Da kam die Gemeinde zusammen, und es wurden die tollsten Sachen ausgeheckt, um dann wirklich ausgeführt zu werden: Taufen fünfzigjähriger Säuglinge, Verheiratung zweier Witwen mit einander, eine Spritzenprobe ohne Wasser, Neuwahl einer Gemeindegans, öffentliche Prüfung eines neuen Bandwurmmittels und ähnliche tolle, oft sogar sehr tolle Sachen. Der Herr Stadtrichter Layritz war alt geworden und duldete das. Der Herr Pastor war noch älter und glaubte von allem das Beste. Er sagte immer: »Nur nicht übertreiben, nur nicht übertreiben!« Damit glaubte er, seiner Pflicht genügt zu haben. Der Herr Kantor schüttelte den Kopf. Er war zu bescheiden, öffentlich mit einem Tadel hervorzutreten. Aber unter vier Augen hatte er den Mut, meinen Vater zu warnen: »Machen Sie nicht mit, Herr Nachbar, machen Sie ja nicht mit! Es ist nicht gut für Sie und auch nicht gut für den Karl! Was man da treibt, ist alles weiter nichts als Persiflage, Ironie, Verhöhnung und Verspottung von Dingen, an deren Heiligkeit ja niemand rühren soll! Und zumal Kinder sollen so etwas nie zu sehen noch zu hören bekommen!«

Er hatte sehr, sehr Recht. Dieses »Batzendorf«, in dem man nur mit Batzengeld zahlen durfte, hat eine ganze Reihe von Jahren bestanden und manche stille, heimliche, doch um so bösere Wirkung gehabt. Da lockerten sich »die Bande frommer Scheu«. Da gab es wöchentlich etwas Neues. Wir Kinder verfolgten die Albernheiten der Erwachsenen mit riesigem Interesse und höhnten und persiflierten mit, freilich ohne uns dessen bewußt zu werden. Das ging so fort, bis ein neuer, strammerer Zug in die Ortsverwaltung und in die Kirchenleitung kam, und Batzendorf an sich selbst zugrunde ging. Aber einen Nutzen hatte es keinem Menschen gebracht. Es war eine Versumpfung, in welche nicht nur die Alten gestiegen sind, sondern wir Jungen wurden auch mit hinein geführt und haben sehr viel von unserer Kindlichkeit drin stecken lassen müssen. Dem Unbegabten schadet das weniger; in dem Begabten aber wirkt es fort und nimmt in seinem Innern Dimensionen an, die später, wenn sie zutage treten, nicht mehr einzudämmen sind.

Die »Lügenschmiede« war etwas neueren Datums. Indem ich von ihr spreche, nenne ich absichtlich keine Namen. Ich will das, was ich sage, nur gegen die Sache selbst, nicht aber gegen Personen richten. Es gab in Ernsttal einige jüngere Leute, welche außerordentlich satirisch begabt waren. An sich sehr achtbare, liebenswürdige Menschen, hätten sie in andern, größeren Verhältnissen durch diese Begabung ihr Glück machen können, so aber blieben sie unten in den kleinen Verhältnissen hangen und konnten also auch nur Kleinliches und Gewöhnliches, oft sogar nur sehr Triviales leisten. Es war wirklich schade um sie!

Einer von ihnen, vielleicht der Unternehmendste und Witzigste, brachte es zum Hausbesitzer und hatte die Kühnheit, in diesem Ernsttal, wo so wenig Sinn und Mittel für Delikatessen vorhanden waren, ein Delikatessengeschäft zu errichten, aber natürlich mit Restauration, denn ohne diese wäre es ganz unmöglich gegangen. Diese Restauration hatte zunächst keinen besonderen Namen; aber nicht lange, so wurde ihr einer gegeben, und zwar ein sehr bezeichnender. Man nannte sie die Lügenschmiede und ihren Besitzer, den Wirt, den Lügenschmied. Weshalb? Sowohl dem Wirte als auch seinen Stammgästen saß allen der Schalk im Nacken. Ein Anderer konnte öfters dort verkehren, ohne daß er etwas davon bemerkte. Aber plötzlich brach es über ihn los, plötzlich, ganz unerwartet und mit einer Sicherheit, der nicht zu widerstehen war. Er wurde »gemacht«, wie man es nannte. Man hatte seine schwächste Seite und seinen stärksten Nagel entdeckt und hing an diesem irgend eine wohlausgedachte Lüge auf, die er glauben mußte, er mochte wollen oder nicht. An dieser Lüge blamierte er sich, mochte er sich noch so sehr dagegen sträuben und mochte er zehnmal und hundertmal klüger sein, als alle die, welche beschlossen hatten, ihn zum Falle zu bringen. Diese Lügenschmiede wurde weithin bekannt. Tausende von Fremden kamen, um da einzukehren, und ein jeder, dem es etwa einfiel, mit dem Wirte und seinen Stammgästen anzubinden, nahm seine Backpfeife mit und zog beschämt von dannen.

Gewöhnliche Gäste kaufte man sich billig. Verlangte Einer ein Glas Bier, so bekam er einen Kognak. Begehrte er einen Schnaps, so erhielt er Limonade. Wollte er einen marinierten Hering essen, so setzte man ihm Kartoffeln in der Schale und Apfelmus vor. Und keiner weigerte sich, dies zu nehmen und zu bezahlen, denn Jeder wußte, die Blamage kommt dann hinterher. Bessere Gäste hatten keine so gewöhnlichen Witze zu befürchten. Die ließ man warten. »Der muß erst noch reif werden,« pflegte der Lügenschmied zu sagen. Und Jeder wurde reif. Jeder, mochte er sein, wer oder was er wollte, ob studiert oder nicht studiert, ob hoch gestellt oder niedrig. Es gab da oft geradezu geniale Witze, immer aber mit einem Einschlag aus dem Gewöhnlichen heraus. Einem Gast, der sich rasieren lassen wollte, wurde gesagt, der Barbier sei nicht zu Hause, sondern er sitze grad hier neben ihm. Dieser war aber kein Barbier, sondern ein Bäckermeister. Er seifte den Betreffenden mit Anilinwasser ein und rasierte ihn, ohne daß einer der Anwesenden eine Miene dabei verzog. Der Rasierte bezahlte und ging dann vergnügt von dannen, vollständig blau im Gesicht. Er konnte sich wochenlang nicht sehen lassen, zur Strafe dafür, daß er in der Lügenschmiede behauptet hatte, er sei gescheidter als alle, ihn könne Niemand foppen. Einem andern Gaste wurde weisgemacht, sein Bruder sei heut' Vormittag auf dem Jahrmarkt verunglückt. Er sei einem Riesenleierkasten zu nahe gekommen und mit dem rechten Bein in das Räderwerk geraten; man habe ihm infolgedessen das Bein unterhalb des Knies abnehmen müssen. Der Mann sprang erschrocken auf und rannte fort, kam aber sehr bald lachend und mit seinem vollständig gesunden Bruder zurück. Auch die Herren von der Behörde verkehrten sehr gern in der Lügenschmiede, doch nur zu Zeiten, in denen sie sich dort allein und unbeobachtet wußten. Sie ließen sich auch einen Ulk gefallen, und oft hatte der Lügenschmied es nur ihrem Einflusse zu verdanken, daß seine oft zu weitgehenden Witze ohne unangenehme Folgen blieben. Denn die Sache artete, wie Alles, was unten aus dem Niedrigen stammt, nach und nach aus. Die Witze wurden gewöhnlicher; sie verloren den Reiz. Man hatte sich verausgabt. Und ein Jeder, der die Lügenschmiede betrat, glaubte, Lügen machen und Unwahrheiten präsentieren zu dürfen. Der Geist ging aus. Was früher wirklicher Humor, wirkliche Schalkhaftigkeit und wirklicher Scherz und Schwank gewesen war, das wurde jetzt zur Zote, zur Zweideutigkeit, zur Unwahrheit, zur Fälschung, zur unvorsichtigen Klatscherei und Lüge. Die Lügenschmiede ist jetzt verschwunden. Das Haus wurde der Erde gleich gemacht. Leider aber sind die Folgen dieser unangebrachten Witzbolderei nicht auch verschwunden. Sie existieren noch heute. Sie wirken fort. Auch das war ein Sumpf, und zwar ein unter hellem Grün und winkenden Blumen verborgener Sumpf. Nicht nur die Ortsseele hat unter ihm gelitten, sondern seine Miasmen sind auch im weiten Umkreise rund über das Land gegangen, und leider, leider bin auch ich einer von denen, die sehr und schwer darunter zu leiden hatten und noch heutigen Tages leiden müssen. Daß meine Gegner es wagen konnten, den Karl May, der ich in Wirklichkeit und Wahrheit bin, in die verlogenste aller Karikaturen zu verwandeln und mich sogar als Marktweiberbandit und Räuberhauptmann durch alle Zeitungen zu schleppen, das wurde zum größten Teil durch die Lügenschmiede ermöglicht, deren Stammgäste gar nicht bedachten, was sie an mir begingen, als sie einander mit immer neuen Erfindungen über meine angeblichen Abenteuer und Missetaten traktierten. Ich komme hierauf an anderer Stelle zurück und habe hier noch ganz kurz zu sagen: Was ich über jene Falschspielergesellschaft, über »Batzendorf« und über die »Lügenschmiede« zu berichten hatte, sind nur einige kurze Einblicke in die damaligen Verhältnisse meiner Vaterstadt. Ich könnte diese Einblicke noch überaus erweitern und vertiefen, um nachzuweisen, daß es wirklich und wahrhaft ein sehr verseuchter Boden gewesen ist, in den meine Seele gezwungen war, ihre Wurzeln zu schlagen, will dies aber gern und mit Vergnügen unterlassen, weil ich kürzlich zu meiner Freude gesehen habe, wieviel sich dort verändert hat. Ich hatte meine Vaterstadt schon lange Zeit gemieden und wollte sie auch ferner meiden, als ich durch eine Rechtssache gezwungen wurde, sie noch einmal aufzusuchen. Ich wurde angenehm enttäuscht. Das meine ich nicht äußerlich, sondern innerlich. Ich habe der Städte und Orte genug gesehen; da kann mich nichts überraschen und auch nichts enttäuschen. Wie ich bei jeder Begegnung mit einem mir bisher fremden Menschen zunächst und vor allen Dingen seine Seele kennen zu lernen suche, so auch die Seele eines jeden Ortes, den ich neu betrete. Und die Seele Hohenstein-Ernsttals war zwar noch die alte; das sah ich sofort; aber sie hatte sich gehoben; sie hatte sich gereinigt; sie hatte ein ganz anderes, besseres und würdigeres Aussehen bekommen. Ich hatte Gelegenheit, sie einige Tage lang beobachten zu können, und darf wohl sagen, daß mir diese Beobachtungen Freude bereiteten. Ich fand Intelligenz, wo es früher keine gegeben hatte. Ich begegnete einem regen Rechtsgefühl, welches nicht so leicht wie früher irrezuleiten war. Es gab mehr Gemeindesinn, mehr Zusammenhangsgefühl. Ja, die materiellen Verhältnisse zeigten überall schon einen Aufblick hinauf in das Ideale. Der Boden, auf dem man lebte, hatte sich gehoben und zeigte die Fähigkeit, sich auch fernerhin und zusehends zu veredeln. Ich begegnete alten Bekannten, aus denen in Wirklichkeit »Etwas geworden« war. Das war mir eine Genugtuung, die ich nicht erwartet hatte. Da gab es nicht mehr jene alten, indolenten Gesichter mit dem Ausdruck unangenehmer Bauernpfiffigkeit, sondern die Züge sprachen von Einsicht und Fähigkeit, von gesunder Klugheit und überlegsamer Urteilskraft. War dies etwa nur eine Folge des Zuzuges von außen her? Gewiß nicht ausschließlich, obwohl nicht abgeleugnet werden kann, daß fremdes Blut auch im Gemeindeleben auffrischend, stärkend und verbessernd wirkt. Ich gestehe aufrichtig, daß ich seit jenem Besuche und seit jenen Beobachtungen mit meiner Vaterstadt wieder sympathisiere und von Herzen wünsche, daß der jetzt so deutlich sichtbare Fortschritt auch nach geistigen Zielen ein dauernder sein möge. Der Beweis ist erbracht, daß die alten Zeiten vorüber sind. Man hat sich aufgerafft und steigt mit jugendlicher Energie empor; das bringt Erfolg, und mit dem Erfolg kommt auch der Segen.

Nach diesen allgemeinen Bemerkungen kann ich nun zu mir selbst zurückkehren und zu jener Morgenfrühe, in der ich aus Ernsttal fortging, um mir bei einem edeln spanischen Räuberhauptmann Hilfe zu holen. Man glaube ja nicht, daß dies eine »verrückte« Idee gewesen sei. Ich war geistig kerngesund. Meine Logik war zwar noch kindlich, aber doch schon wohlgeübt. Der Fehler lag daran, daß ich infolge des verschlungenen Leseschundes den Roman für das Leben hielt und darum das Leben nun einfach als Roman behandelte. Die überreiche Phantasie, mit der mich die Natur begabte, machte die Möglichkeit dieser Verwechslung zur Wirklichkeit.

Meine Reise nach Spanien dauerte nur einen Tag. In der Gegend von Zwickau wohnten Verwandte von uns. Bei ihnen kehrte ich ein. Sie nahmen mich freundlich auf und veranlaßten mich, zu bleiben. Inzwischen hatte man daheim meinen Zettel gefunden und gelesen. Vater wußte, nach welcher Richtung hin Spanien liegt. Er dachte sofort an die erwähnten Verwandten und machte sich in der Ueberzeugung, mich sicher dort anzutreffen, sofort auf den Weg. Als er kam, saßen wir rund um den Tisch, und ich erzählte in aller Herzensaufrichtigkeit, wohin ich wollte, zu wem und auch warum. Die Verwandten waren arme, einfache, ehrliche Webersleute. Von Phantasie gab es bei ihnen keine Spur. Sie waren über mein Vorhaben einfach entsetzt. Hilfe bei einem Räuberhauptmann suchen! Sie wußten sich zunächst keinen Rat, was sie mit mir anfangen sollten, und da war es wie eine Erlösung für sie, als sie meinen Vater hereintreten sahen. Er, der jähzornige, leicht überhitzige Mann, verhielt sich ganz anders als gewöhnlich. Seine Augen waren feucht. Er sagte mir kein einziges Wort des Zornes. Er drückte mich an sich und sagte: »Mach so Etwas niemals wieder, niemals!« Dann ging er nach kurzem Ausruhen mit mir fort – – wieder heim.

Der Weg betrug fünf Stunden. Wir sind in dieser Zeit still neben einander hergegangen; er führte mich an der Hand. Nie habe ich deutlicher gefühlt wie damals, wie lieb er mich eigentlich hatte. Alles, was er vom Leben wünschte und hoffte, das konzentrierte er auf mich. Ich nahm mir heilig vor, ihn niemals wieder ein solches Leid, wie das heutige, an mir erleben zu lassen. Und er? Was mochten das wohl für Gedanken sein, die jetzt in ihm erklangen? Er sagte nichts. Als wir nach Hause kamen, mußte ich mich niederlegen, denn ich kleiner Kerl war zehn Stunden lang gelaufen und außerordentlich müde. Von meinem Ausflug nach Spanien wurde nie ein Wort gesprochen; aber das Kegelaufsetzen und das Lesen jener verderblichen Romane hörte auf. Als dann die Zeit gekommen war, stellte sich die nötige Hilfe ein, ohne aus dem Lande der Kastanien geholt werden zu müssen. Der Herr Pastor legte ein gutes Wort für mich bei unserm Kirchenpatron, dem Grafen von Hinterglauchau, ein, und dieser gewährte mir eine Unterstützung von fünfzehn Talern pro Jahr, eine Summe, die man für mich für hinreichend hielt, das Seminar zu besuchen. Zu Ostern 1856 wurde ich konfirmiert. Zu Michaelis bestand ich die Aufnahmeprüfung für das Proseminar zu Waldenburg und wurde dort interniert.

Also nicht Gymnasiast, sondern nur Seminarist! Nicht akademisches Studium, sondern nur Lehrer werden! Nur? Wie falsch! Es gibt keinen höheren Stand als den Lehrerstand, und ich dachte, fühlte und lebte mich derart in meine nunmehrige Aufgabe hinein, daß mir Alles Freude machte, was sich auf sie bezog. Freilich stand diese Ausgabe nur im Vordergrund. Im Hintergrunde, hoch über sie hinausragend, hob sich das über alles Andere empor, was mir seit jenem Abende, an dem ich den Faust gesehen hatte, zum Ideal geworden war: Stücke für das Theater schreiben! Ueber das Thema Gott, Mensch und Teufel! Konnte ich das als Lehrer nicht ebenso gut wie als gewesener Akademiker? Ganz gewiß, vorausgesetzt freilich, daß die Gabe dazu nicht fehlte. Wie stolz ich war, als ich zum ersten Male die grüne Mütze trug! Wie stolz auch meine Eltern und Geschwister! Großmutter drückte mich an sich und bat:

»Denk immer an unser Märchen! Jetzt bist du noch in Ardistan; du sollst aber hinauf nach Dschinnistan. Dieser Weg wird heut beginnen. Du hast zu steigen. Kehre dich niemals an die, welche dich zurückhalten wollen!«

»Und die Geisterschmiede?« fragte ich. »Muß ich da hinein?«

»Bist du es wert, so kannst du sie nicht umgehen,« antwortete sie. »Bist du es aber nicht wert, so wird dein Leben ohne Kampf und ohne Qual verlaufen.«

»Ich will aber hinein; ich will!« rief ich mutig aus.

Da legte sie mir ihre Hand auf das Haupt und sagte lächelnd:

»Das steht bei Gott. Vergiß ihn nicht! Vergiß ihn nie in deinem Leben!«

Diesem Rat bin ich gehorsam gewesen, muß aber, falls ich ehrlich sein will, eingestehen, daß mir das niemals schwer geworden ist. Ich kann mich nicht besinnen, daß ich je mit dem Zweifel oder gar mit dem Unglauben zu ringen gehabt hätte. Die Ueberzeugung, daß es einen Gott gebe, der auch über mich wachen und mich nie verlassen werde, ist, sozusagen, zu jeder Zeit eine feste, unveräußerliche Ingredienz meiner Persönlichkeit gewesen, und ich kann es mir also keineswegs als ein Verdienst anrechnen, daß ich diesem meinem lichten, schönen Kinderglauben niemals untreu geworden bin. Freilich, so ganz ohne alle innere Störung ist es auch bei mir nicht abgegangen; aber diese Störung kam von außen her und wurde nicht in der Weise aufgenommen, daß sie sich hätte festsetzen können. Sie hatte ihre Ursache in der ganz besonderen Art, in welcher die Theologie und der Religionsunterricht am Seminar behandelt wurde. Es gab täglich Morgen- und Abendandachten, an denen jeder Schüler unweigerlich teilnehmen mußte. Das war ganz richtig. Wir wurden sonn- und feiertäglich in corpore in die Kirche geführt. Das war ebenso richtig. Es gab außerdem bestimmte Feierlichkeiten für Missions- und ähnliche Zwecke. Auch das war gut und zweckentsprechend. Und es gab für sämtliche Seminarklassen einen wohldurchdachten, sehr reichlich ausfallenden Unterricht in Religions-, Bibel- und Gesangbuchslehre. Das war ganz selbstverständlich. Aber es gab bei alledem Eines nicht, nämlich grad das, was in allen religiösen Dingen die Hauptsache ist; nämlich es gab keine Liebe, keine Milde, keine Demut, keine Versöhnlichkeit. Der Unterricht war kalt, streng, hart. Es fehlte ihm jede Spur von Poesie. Anstatt zu beglücken, zu begeistern, stieß er ab. Die Religionsstunden waren diejenigen Stunden, für welche man sich am allerwenigsten zu erwärmen vermochte. Man war immer froh, wenn der Zeiger die Zwölf erreichte. Dabei wurde dieser Unterricht von Jahr zu Jahr in genau denselben Absätzen und genau denselben Worten und Ausdrücken geführt. Was es am heutigen Datum gab, das gab es im nächsten Jahre an demselben Tage ganz unweigerlich wieder. Das ging wie eine alte Kuckucksuhr; das klang alles so sehr nach Holz, und das sah alles so aus wie gemacht, wie fabriziert. Jeder einzelne Gedanke gehörte in sein bestimmtes Dutzend und durfte sich beileibe nicht an einer andern Stelle sehen lassen. Das ließ keine Spur von Wärme aufkommen: das tötete innerlich ab. Ich habe unter allen meinen Mitschülern keinen einzigen gekannt, der jemals ein sympathisches Wort über diese Art des Religionsunterrichts gesagt hätte. Und ich habe auch keinen gekannt, der so religiös gewesen wäre, aus freien Stücken einmal die Hände zu falten, um zu beten. Ich selbst habe stets und bei jeder Veranlassung gebetet; ich tue das auch noch heut, ohne mich zu genieren; aber damals im Seminar habe ich das geheim gehalten, weil ich das Lächeln meiner Mitschüler fürchtete.

Ich hätte gern über diese religiösen Verhältnisse geschwiegen, durfte dies aber nicht, weil ich die Aufgabe habe, Alles aufrichtig zu sagen, was auf meinen inneren und äußeren Werdegang von Einfluß war. Dieses Seminarchristentum kam mir ebenso seelenlos wie streitbar vor. Es befriedigte nicht und behauptete trotzdem, die einzige reine, wahre Lehre zu sein. Wie arm und wie gottverlassen man sich da fühlte! Die Andern nahmen das gar nicht etwa als ein Unglück hin; sie waren gleichgültig; ich aber mit meiner religiösen Liebesbedürftigkeit fühlte mich erkältet und zog mich in mich selbst zurück. Ich vereinsamte auch hier, und zwar mehr, viel mehr als daheim. Und ich wurde hier noch klassenfremder, als ich es dort gewesen war. Das lag teils in den Verhältnissen, teils aber auch an mir selbst.

Ich wußte viel mehr als meine Mitschüler. Das darf ich sagen, ohne in den Verdacht der Prahlerei zu fallen. Denn was ich wußte, das war eben nichts weiter als nur Wust, eine regellose, ungeordnete Anhäufung von Wissensstoff, der mir nicht den geringsten Nutzen brachte, sondern mich nur beschwerte. Wenn ich mir ja einmal von dieser meiner unfruchtbaren Vielwisserei etwas merken ließ, sah man mich staunend an und lächelte darüber. Man fühlte instinktiv heraus, daß ich weniger beneidens- als vielmehr beklagenswert sei. Die Andern, meist Lehrersöhne, hatten zwar nicht so viel gelernt, aber das, was sie gelernt hatten, lag wohlaufgespeichert und wohlgeordnet in den Kammern ihres Gedächtnisses, stets bereit, benutzt zu werden. Ich fühlte, daß ich gegen sie sehr im Nachteil stand, und sträubte mich doch, dies mir und ihnen einzugestehen. Meine stille und fleißige Hauptarbeit war, vor allen Dingen Ordnung in meinem armen Kopf zu schaffen, und das ging leider nicht so schnell, wie ich es wünschte. Das, was ich da aufbaute, fiel immer wieder ein. Es war wie ein mühsames Graben durch einen Schneehaufen hindurch, dessen Massen immer wieder nachrutschen. Und dabei gab es einen Gegensatz, der sich absolut nicht beseitigen lassen wollte. Nämlich den Gegensatz zwischen meiner außerordentlich fruchtbaren Phantasie und der Trockenheit und absoluten Poesielosigkeit des hiesigen Unterrichtes. Ich war damals noch viel zu jung, als daß ich eingesehen hätte, woher diese Trockenheit kam. Man lehrte nämlich weniger das, was zu lernen war, als vielmehr die Art und Weise, in der man zu lernen hatte. Man lehrte uns das Lernen. Hatten wir das begriffen, so war das Fernere leicht. Man gab uns lauter Knochen; daher die geradezu schmerzende Trockenheit des Unterrichtes. Aber aus diesen Knochen fügte man die Skelette der einzelnen Wissenschaften zusammen, deren Fleisch dann später hinzuzufügen war. Bei mir aber hatte sich bisher grad das Umgekehrte ereignet: Ich hatte mir zwar eine Unmasse von Fleisch zusammengeschleppt, aber keinen einzigen tragenden, stützenden Knochen dazu. In meinem Wissen fehlte das feste Gerippe. Ich war in Beziehung auf das, was ich geistig besaß, eine Qualle, die weder innerlich noch äußerlich einen Halt besaß und darum auch keinen Ort, an dem sie sich daheim zu fühlen vermochte. Und das Schlimmste hierbei war: das knochenlose Fleisch dieser Qualle war nicht gesund, sondern krank, schwer krank; es war von den Schundromanen des Kegelhausbesitzers vergiftet. Das begann ich jetzt erst eigentlich einzusehen und fühlte mich umso unglücklicher dabei, als ich mit keinem Menschen davon sprechen konnte, ohne mich dadurch bloßzustellen. Grad die Trockenheit und, ich muß wohl sagen, die Seelenlosigkeit dieses Seminarunterrichtes war es, welche mich zu der Erkenntnis meiner Vergiftung führte. Ich fand für die Skelette, die uns geboten wurden, damit wir sie beleben möchten, kein gesundes Fleisch in mir. Alles, was ich zusammenfügte und was ich mir innerlich aufzubauen versuchte, wurde formlos, wurde häßlich, wurde unwahr und ungesetzlich. Ich begann, Angst vor mir zu bekommen, und arbeitete unausgesetzt an meiner seelischen Gestalt herum, mich innerlich zu säubern, zu reinigen, zu ordnen und zu heben, ohne fremde Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen, die es ja auch gar nicht gab. Ich hätte mich wohl gern einem unserer Lehrer anvertraut, aber die waren ja alle so erhaben, so kalt, so unnahbar, und vor allen Dingen, das fühlte ich heraus, keiner von ihnen hätte mich verstanden; sie waren keine Psychologen. Sie hätten mich befremdet angesehen und einfach stehen lassen.

Hierzu kam der angeborene, unwiderstehliche Drang nach geistiger Betätigung. Ich lernte sehr leicht und hatte demzufolge viel Zeit übrig. So dichtete ich im Stillen; ja, ich komponierte. Die paar Pfennige, die ich erübrigte, wurden in Schreibpapier angelegt. Aber was ich schrieb, das sollte keine Schülerarbeit werden, sondern etwas Brauchbares, etwas wirklich Gutes. Und was schrieb ich da? Ganz selbstverständlich eine Indianergeschichte! Wozu? Ganz selbstverständlich, um gedruckt zu werden! Von wem? Ganz selbstverständlich von der »Gartenlaube«, die vor einigen Jahren gegründet worden war, aber schon von Jedermann gelesen wurde. Da war ich sechzehn Jahre alt. Ich schickte das Manuskript ein. Als sich eine ganze Woche lang nichts hierauf ereignete, bat ich um Antwort. Es kam keine. Darum schrieb ich nach weiteren vierzehn Tagen in einem strengeren Tone, und nach weiteren zwei Wochen verlangte ich mein Manuskript zurück, um es an eine andere Redaktion zu senden. Es kam. Dazu ein Brief von Ernst Keil selbst geschrieben, vier große Quartseiten lang. Ich war fern davon, dies so zu schätzen, wie es zu schätzen war. Er kanzelte mich zunächst ganz tüchtig herunter, so daß ich mich wirklich aufrichtig schämte, denn er zählte mir höchst gewissenhaft alle Missetaten auf, die ich, natürlich ohne es zu ahnen, in der Erzählung begangen hatte. Gegen den Schluß hin milderten sich die Vorwürfe, und am Ende reichte er mir, dem dummen Jungen, vergnügt die Hand und sagte mir, daß er nicht übermäßig entsetzt sein werde, wenn sich nach vier oder fünf Jahren wieder eine Indianergeschichte von mir bei ihm einstellen sollte. Er hat keine bekommen; aber daran trage nicht ich die Schuld, sondern die Verhältnisse gestatteten es nicht. Das war der erste literarische Erfolg, den ich zu verzeichnen habe. Damals freilich hielt ich es für einen absoluten Mißerfolg und fühlte mich sehr unglücklich darüber. Inzwischen verging die Zeit. Ich stieg aus dem Proseminar in die vierte, dritte und zweite Seminarklasse, und in dieser zweiten Klasse war es, wo mich jenes Schicksal überfiel, aus welchem meine Gegner so übelklingendes Kapital geschlagen haben.

Es herrschte im Seminar der Gebrauch, daß die Angelegenheiten jeder Klasse reihum zu besorgen waren, von jedem eine Woche lang. Darum wurde der Betreffende als »Wochner« bezeichnet. Außerdem gab es in der ersten Klasse einen »Ordnungswochner« und in der zweiten einen »Lichtwochner«, welch letzterer die Beleuchtung der Klassenzimmer zu übersehen hatte. Diese Beleuchtung geschah damals mit Hilfe von Talglichtern, von denen, wenn eines niedergebrannt war, ein anderes neu aufgesteckt wurde. Der Lichtwochner hatte täglich die Säuberung der alten, wertlosen Leuchter vorzunehmen und insbesondere die Dillen von den steckengebliebenen Docht- und Talgresten zu reinigen. Diese Reste wurden entweder einfach weggeworfen oder von dem Hausmanne zu Stiefel- oder anderer Schmiere zusammengeschmolzen. Sie waren allgemein als wertlos anzusehen.

Es war anfangs der Weihnachtswoche, als die Reihe, Lichtwochner zu sein, an mich kam. Ich besorgte diese Arbeit wie jeder andere. Am Tage vor dem Weihnachtsheiligenabende begannen unsere Ferien. Am Tage vorher kam eine meine Schwestern, um meine Wäsche abzuholen und das wenige Gepäck, welches ich mit in die Ferien zu nehmen hatte. Sie tat dies stets, so oft es Ferien gab. Der Weg, den sie da von Ernsttal nach Waldenburg machte, war zwei Stunden lang. So auch jetzt. Als sie dieses Mal kam, war ich grad beim Reinigen der Leuchter. Sie war traurig. Es stand nicht gut daheim. Es gab keine Arbeit und darum keinen Verdienst. Mutter pflegte, wie selbst die ärmsten Leute, für das Weihnachtsfest wenigstens einige Kuchen zu backen. Das hatte sie heuer kaum erschwingen können. Aber bescheert werden konnte nichts, gar nichts, denn es fehlte das Geld dazu. Es gab keine Lichte für den Weihnachtsleuchter. Sogar die hölzernen Engel der kleineren Schwestern sollten ohne Lichte sein. Zu diesen Engeln gehörten drei kleine Lichte, das Stück für fünf oder sechs Pfennige; aber wenn diese achtzehn Pfennige zu andern, notwendigeren Dingen gebraucht wurden, so hatte man sich eben zu fügen. Das tat mir wehe. Der Schwester stand das Weinen hinter den Augen. Sie sah die Talgreste, die ich soeben aus den Dillen und von den Leuchtern herabgekratzt hatte. »Könnte man denn nicht daraus einige Pfenniglichte machen?« fragte sie. »Ganz leicht,« antwortete ich. »Man braucht dazu eine Papierröhre und einen Docht, weiter nichts. Aber brennen würde es schlecht, denn dieses Zeug ist nur noch höchstens für Schmiere zu gebrauchen. »Wenn auch, wenn auch! Wir hätten doch eine Art von Licht für die drei Engel. Wem gehört dieser Abfall?« »Eigentlich Niemandem. Ich habe ihn zum Hausmann zu schaffen. Ob der ihn wegwirft oder nicht, ist seine Sache.« »Also wäre es wohl nicht gestohlen, wenn wir uns ein bißchen davon mit nach Hause nähmen?« »Gestohlen. Lächerlich! Fällt keinem Menschen ein! Der ganze Schmutz ist nicht drei Pfennige wert. Ich wickle dir ein wenig davon ein. Daraus machen wir drei kleine Weihnachtslichte.«

Gesagt, getan! Wir waren nicht allein. Ein anderer Seminarist stand dabei. Einer aus der ersten Klasse, also eine Klasse über mir. Es widerstrebt mir, seinen Namen zu nennen. Sein Vater war Gendarm. Dieser wackere Mitschüler sah alles mit an. Er warnte mich nicht etwa, sondern er war ganz freundlich dabei, ging fort und – – – zeigte mich an. Der Herr Direktor kam in eigener Person, den »Diebstahl« zu untersuchen. Ich gestand sehr ruhig ein, was ich getan hatte, und gab den »Raub«, den ich begangen hatte, zurück. Ich dachte wahrhaftig nichts Arges. Er aber nannte mich einen »infernalischen Charakter« und rief die Lehrerkonferenz zusammen, über mich und meine Strafe zu entscheiden. Schon nach einer halben Stunde wurde sie mir verkündet. Ich war aus dem Seminar entlassen und konnte gehen, wohin es mir beliebte. Ich ging gleich mit der Schwester – – – in die heiligen Christferien – – – ohne Talg für die Weihnachtsengel – – – es waren das sehr trübe, dunkle Weihnachtsfeiertage. Ich habe wohl überhaupt schon gesagt, daß grad Weihnacht für mich oft eine Zeit der Trauer, nicht der Freude gewesen sei. An diesen Weihnachtstagen löschten heilige Flammen in mir aus, Lichter, die mir wert gewesen waren. Ich lernte zwischen dem Christentum und seinen Bekennern unterscheiden. Ich hatte Christen kennen gelernt, die unchristlicher gegen mich verfahren waren, als Juden, Türken und Heiden verfahren würden.

Glücklicherweise zeigte sich das Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichtes, an welches ich mich wendete, verständiger und humaner als die Seminardirektion. Ich erlangte ohne weiteres die Genehmigung, meine unterbrochenen Studien auf dem Seminar in Plauen fortzusetzen. Ich kam dort in dieselbe Klasse, also in die zweite, und bestand nach zurückgelegter erster Klasse das Lehrerexamen, worauf ich meine erste Stelle in Glauchau erhielt, bald aber nach Altchemnitz kam, und zwar in eine Fabrikschule, deren Schüler ausschließlich aus ziemlich erwachsenen Fabrikarbeitern bestanden. Hier haben meine Bekenntnisse zu beginnen. Ich lege sie ab, ohne Scheu, der Wahrheit gemäß, als ob ich mich nicht mit mir selbst, sondern mit einer andern, mir fremden Person beschäftigte.

Ich komme auf die Armut meiner Eltern zurück. Das Examen hatte einen Frackanzug erfordert, für unsere Verhältnisse eine kostspielige Sache. Hierzu kam, da ich als Lehrer nicht mehr wie als Schüler herumlaufen konnte, eine wenn auch noch so bescheidene Ausstattung an Wäsche und andern notwendigen Dingen. Das konnten meine Eltern nicht bezahlen; ich mußte es auf mein Konto nehmen; das heißt, ich borgte es mir, um es von meinem Gehalte nach und nach abzuzahlen. Da hieß es sparsam sein und jeden Pfennig umdrehen, ehe er ausgegeben wurde! Ich beschränkte mich auf das Aeußerste und verzichtete auf jede Ausgabe, die nicht absolut notwendig war. Ich besaß nicht einmal eine Uhr, die doch für einen Lehrer, der sich nach Minuten zu richten hat, fast unentbehrlich ist.

Der Fabrikherr, dessen Schule wir anvertraut worden war, hatte kontraktlich für Logis für mich zu sorgen. Er machte sich das leicht. Einer seiner Buchhalter besaß auch freies Logis, Stube mit Schlafstube. Er hatte bisher beides allein besessen; nun wurde ich zu ihm einquartiert; er mußte mit mir teilen. Hierdurch verlor er seine Selbständigkeit und seine Bequemlichkeit; ich genierte ihn an allen Ecken und Enden, und so läßt es sich gar wohl begreifen, daß ich ihm nicht sonderlich willkommen war und ihm der Gedanke nahe lag, sich auf irgend eine Weise von dieser Störung zu befreien. Im übrigen kam ich ganz gut mit ihm aus. Ich war ihm möglichst gefällig und behandelte ihn, da ich sah, daß er das wünschte, als den eigentlichen Herrn des Logis. Das verpflichtete ihn zur Gegenfreundlichkeit. Die Gelegenheit hierzu fand sich sehr bald. Er hatte von seinen Eltern eine neue Taschenuhr bekommen. Seine alte, die er nun nicht mehr brauchte, hing unbenutzt an einem Nagel an der Wand. Sie hatte einen Wert von höchstens zwanzig Mark. Er bot sie mir zum Kaufe an, weil ich keine besaß; ich lehnte aber ab, denn wenn ich mir einmal eine Uhr kaufte, so sollte es eine neue, bessere sein. Freilich stand dies noch in weitem Felde, weil ich zuvor meine Schulden abzuzahlen hatte. Da machte er selbst mir den Vorschlag, seine alte Uhr, wenn ich in die Schule gehe, zu mir zu stecken, da ich doch zur Pünktlichkeit verpflichtet sei. Ich ging darauf ein und war ihm dankbar dafür. In der ersten Zeit hing ich die Uhr, sobald ich aus der Schule zurückkehrte, sofort an den Nagel zurück. Später unterblieb das zuweilen; ich behielt sie noch stundenlang in der Tasche, denn eine so auffällige Betonung, daß sie nicht mir gehöre, kam mir nicht gewissenhaft sondern lächerlich vor. Schließlich nahm ich sie sogar auf Ausgängen mit und hing sie erst am Abende, nach meiner Heimkehr, an Ort und Stelle. Ein wirklich freundschaftlicher oder gar herzlicher Umgang fand nicht zwischen uns statt. Er duldete mich notgedrungen und ließ es mich zuweilen absichtlich merken, daß ihm die Teilung seiner Wohnung nicht behage.

Da kam Weihnacht. Ich teilte ihm mit, daß ich die Feiertage bei den Eltern zubringen würde, und verabschiedete mich von ihm, weil ich nach Schluß der Schule gleich abreisen wollte, ohne erst in die Wohnung zurückzukehren. Als die letzte Schulstunde vorüber war, fuhr ich nach Ernsttal, nur eine Bahnstunde lang, also gar nicht weit. Die Uhr zurückzulassen, daran hatte ich in meiner Ferienfreude nicht gedacht. Als ich bemerkte, daß sie sich in meiner Tasche befand, war mir das sehr gleichgültig. Ich war mir ja nicht der geringsten unlautern Absicht bewußt. Dieser Abend bei den Eltern war ein so glücklicher. Ich hatte die Schülerzeit hinter mir; ich besaß ein Amt; ich bekam Gehalt. Der Anfang zum Aufstieg war da. Morgen war heiliger Abend. Wir begannen schon heut die Christbescherung vorzubereiten. Dabei sprach ich über meine Zukunft, über meine Ideale, die für mich alle im hellsten Weihnachtsglanze standen. Der Vater schwärmte mit. Die Mutter war stillglücklich. Großmutters alte, treue Augen strahlten. Als wir endlich zur Ruhe gegangen waren, lag ich noch lange Zeit wach im Bette und hielt Rechenschaft über mich. Meine innere Unklarheit wurde mir zum ersten Male wirklich bewußt. Ich sah die Abgründe hinter mir gähnen, vor mir aber keinen mehr, denn mein Weg schien zwar schwer und mühevoll, aber völlig frei zu sein: Schriftsteller werden; Großes leisten, aber vorher Großes lernen! Alle inneren Fehler, welche die Folgen meiner verkehrten Erziehung waren, nach und nach herauswerfen, damit Platz für Neues, Besseres, Richtigeres, Edles werde! In diesen Gedanken schlief ich ein, und als ich früh erwachte, war der Vormittag schon fast vorüber, und ich mußte nach dem Hohensteiner Christmarkt, um noch einige kleine Einkäufe zur Bescherung für die Schwestern zu machen. Dort traf ich einen Gendarm, der mich fragte, ob ich der Lehrer May sei. Als ich dies bejahte, forderte er mich auf, mit ihm nach dem Rathause zu kommen, zur Polizei, wo man eine Befragung für mich habe. Ich ging mit, vollständig ahnungslos. Ich wurde zunächst in die Wohnstube geführt, nicht in das Bureau. Da saß eine Frau und nähte. Wessen Frau, darüber bitte ich, schweigen zu dürfen. Sie war eine gute Bekannte meiner Mutter, eine Schulkameradin von ihr, und sah mich mit angstvollen Augen an. Der Gendarm gebot mir, mich niederzusetzen, und ging für kurze Zeit hinaus, seine Meldung zu machen. Das benutzte die Frau, mich hastig zu fragen:

»Sie sind arretiert! Wissen Sie das?«

»Nein,« antwortete ich, tödlich erschrocken. »Warum?«

»Sie sollen Ihrem Mietkameraden seine Taschenuhr gestohlen haben! Wenn man sie bei Ihnen findet, bekommen Sie Gefängnis und werden als Lehrer abgesetzt!«

Mir flimmerten die Augen. Ich hatte das Gefühl, als habe mich jemand mit einer Keule auf den Kopf geschlagen. Ich dachte an den gestrigen Abend, an meine Gedanken vor dem Einschlafen, und nun plötzlich Absetzung und Gefängnis!

»Aber die ist ja gar nicht gestohlen, sondern nur geborgt!« stammelte ich, indem ich sie aus der Tasche zog.

»Das glaubt man Ihnen nicht! Weg damit! Geben Sie sie ihm heimlich wieder, doch lassen Sie sie jetzt nicht sehen! Schnell, schnell!«

Meine Bestürzung war unbeschreiblich. Ein einziger klarer, ruhiger Gedanke hätte mich gerettet, aber er blieb aus. Ich brauchte die Uhr einfach nur vorzuzeigen und die Wahrheit zu sagen, so war alles gut; aber ich stand vor Schreck wie im Fieber und handelte wie im Fieber. Die Uhr verschwand, nicht wieder in der Tasche, sondern im Anzuge, wohin sie nicht gehörte, und kaum war dies geschehen, so kehrte der Gendarm zurück, um mich abzuholen. Mache ich es mit dem, was nun geschah, so kurz wie möglich! Ich beging den Wahnsinn, den Besitz der Uhr in Abrede zu stellen; sie wurde aber, als man nach ihr suchte, gefunden. So vernichtete mich also die Lüge, anstatt daß sie mich rettete; das tut sie ja immer; ich war ein – – – Dieb! Ich wurde nach Chemnitz vor den Untersuchungsrichter geschafft, brachte die Weihnachtsfeiertage anstatt bei den Eltern hinter Schloß und Riegel zu und wurde zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt. Ob und womit ich mich vereidigt habe; ob ich zur Berufung, zur Appellation, zu irgend einem Rechtsmittel, zu einem Gnadengesuche, zu einem Anwalt meine Zuflucht nahm, das weiß ich nicht zu sagen. Jene Tage sind aus meinem Gedächtnisse entschwunden, vollständig entschwunden. Ich möchte aus wichtigen psychologischen Gründen gern Alles so offen und ausführlich wie möglich erzählen, kann das aber leider nicht, weil das Alles infolge ganz eigenartiger, seelischer Zustände, über die ich im nächsten Kapitel zu berichten haben werde, aus meiner Erinnerung ausgestrichen ist. Ich weiß nur, daß ich mich vollständig verloren hatte und daß ich mich dann in der Pflege der Eltern und besonders der Großmutter wiederfand. Als ich mich mühsam erholt hatte und wieder kräftig genug auf den Beinen war, bin ich nach Altchemnitz gegangen, um mein beschädigtes Gedächtnis wieder aufzufrischen. Es war in Beziehung auf die Oertlichkeiten vergebens; ich erkannte nichts, weder die Fabrik, noch meine damalige Wohnung, noch irgend eine Stelle, an der ich ganz unbedingt gewesen war. Aber plötzlich stand er vor mir, mein Wohnungsgenosse, der Buchhalter. Er kam mir auf der Straße entgegen und hielt den Schritt an, als wir uns erreichten. Den erkannte ich sofort, er mich auch, obgleich er versicherte, daß ich ganz anders aussehe als früher, so außerordentlich leidend. Er gab mir die Hand und bat mich, ihm zu verzeihen. So, wie es gekommen sei, das habe er keineswegs gewollt. Es tue ihm unendlich leid, mir meine Karriere verdorben zu haben! Ich sah ihn groß an. Mir meine Karriere verdorben? Hätte das überhaupt Jemand gekonnt? Selbst wenn der Staat mich nicht mehr anstellen will, gibt es doch Privatstellen genug, die besser bezahlt werden als diejenigen des Staates. Und meine Absicht war es ja niemals gewesen, Volks- oder gar Fabrikschullehrer zu bleiben; ich hatte ganz Anderes geplant und plante das auch noch heut. Ich ließ den Mann mitten auf der Straße stehen und entfernte mich, ohne ihm einen Vorwurf zu machen.

Ja, ich ging fort, aber wohin?! Das ahnte ich damals nicht. Ich habe im letzten Verlaufe dieser Darstellung gesagt, daß die Abgründe hinter mir lagen, vor mir aber keine, und daß ich die Absicht hegte, Großes zu leisten, vorher aber Großes zu lernen. Das Erstere war falsch. Die Abgründe lagen ganz im Gegenteile nicht hinter mir, sondern vor mir. Und das Große, was ich zu lernen und zu leisten hatte, war, in diese Abgründe zu stürzen, ohne zu zerschmettern, und jenseits frei hinaufzusteigen, ohne jemals wieder zurückzufallen. Dies ist die schwerste Aufgabe, die es für einen Sterblichen gibt, und ich glaube, ich habe sie gelöst. – – –


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