Guy de Maupassant
Der Tugendpreis
Guy de Maupassant

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Irrfahrten eines Mädchens

Ja, die Erinnerung an diesen Abend wird nie verlöschen. Eine halbe Stunde lang hatte ich das Gefühl, daß das Schicksal unüberwindlich sei. Ich empfand jenen Schauer, wie wenn man in einen Minenstollen hinuntersteigt: ich habe den dunklen Abgrund menschlichen Elends berührt, ich habe begriffen, daß es für gewisse Menschen unmöglich ist, anständig zu leben.

Es war nach Mitternacht, ich ging vom Vaudeuille zur Rue Drouot, mit eiligen Schritten dem Boulevard folgend, auf dem Regenschirme hineilten. Ein Regenstaub flatterte mehr herab als daß er fiel, er verschleierte die Gaslaternen und gab der Straße ein trauriges Aussehen. Der Bürgersteig glänzte mehr glitschig als naß. Die Leute machten schnell, daß sie weiter kamen, und blickten sich nicht um.

Die Dirnen warteten im Dunkel der Thüren mit emporgehobenen Kleidern, daß man die Waden sah und beim fahlen Schein des nächtlichen Lichts die weißen Strümpfe, riefen einen an oder liefen beinah vorüber, indem sie frech zwei unanständige alberne Worte den Männern ins Ohr flüsterten. Sie folgten dann ein paar Sekunden lang dem Herrn und hauchten ihn mit ihrem eklen Atem an. Wenn sie dann sahen, daß ihre Versuche vergebens waren, verließen sie ihn mit schneller, unzufriedener Bewegung und begannen wieder hin- und herzugehen, sich in den Hüften wiegend.

Ich schritt, von allen angesprochen, am Ärmel genommen, angehalten und von Ekel gepackt, dahin. Plötzlich sah ich drei, die wie verrückt liefen und den anderen ein paar schnelle Worte zuriefen. Und auch die anderen begannen nun zu rennen, zu flüchten, indem sie ihre Kleider hochnahmen, um schneller vorwärts zu kommen. An diesem Tage wurde eine Razzia auf die Prostituierten abgehalten.

Und plötzlich fühlte ich einen Arm in dem meinen, während eine verzweifelte Stimme mir ins Ohr flüsterte: – Bitte, mein Herr, retten Sie mich, retten Sie mich. Lassen Sie mich nicht los.

Ich sah das Mädchen an, sie war noch nicht zwanzig Jahr alt, obgleich schon verblüht. Ich sagte: – So bleib hier. – Sie flüsterte: – Tausend Dank!

Wir kamen zu einer Schutzmannskette, sie ward geöffnet und ließ uns durch, und ich ging in die Rue Drouot.

Meine Begleiterin fragte:

– Kommst Du mit zu mir?

– Nein.

– Warum nicht? Du hast mir einen großen Dienst geleistet, den ich nie vergessen werde.

Ich antwortete, um sie los zu werden:

– Ich bin verheiratet.

– Was thut das?

– Nein, mein Kind, das genügt. Ich habe Dir geholfen, nun laß mich in Ruhe.

Die Straße lag schwarz und verlassen da, wirklich traurig anzusehen. Und dies Mädchen, das meinen Arm preßte, erhöhte noch das Gefühl der Traurigkeit, das mich überkam. Sie wollte mich küssen, ich bog mich entsetzt zurück und sagte mit harter Stimme:

– Scher Dich zum Teufel!

Sie ward plötzlich wütend, dann begann sie mit einem Male zu schluchzen. Ich war bewegt und erstaunt und begriff nicht, was das heißen sollte:

– Was hast Du denn?

Sie flüsterte unter Thränen:

– Ach, wenn Du nur wüßtest, wie das ist! Das ist nicht lustig.

– Was denn?

– Dies Leben.

– Ja, warum hast Du es Dir ausgesucht?

– Ist das meine Schuld?

– Na wessen Schuld denn sonst?

– Das weiß ich nicht.

Eine Art Interesse packte mich für diese Verlassene, und ich sagte:

– Willst Du mir Deine Geschichte erzählen?

Sie erzählte sie.

* * *

Ich war, sechzehn Jahr alt, im Dienst in Yvetôt bei Herrn Lerable, einem Getreidehändler. Meine Eltern waren gestorben, ich hatte keinen Menschen auf der Welt. Ich sah wohl, daß mein Herr mich sonderbar anblickte und mir die Wangen streichelte, aber ich dachte mir nichts weiter dabei. Ich wußte schon Bescheid, ja allerdings, auf dem Lande ist man nicht so dumm, aber Herr Lerable war ein frommer Mann, der jeden Sonntag zur Kirche ging. Und ich hatte ihn dessen nicht für fähig gehalten.

Da wollte er mich eines Abends in der Küche überraschen, ich widerstand, er ging davon.

Uns gegenüber wohnte Herr Dutant, ein Materialwarenhändler, der einen sehr netten Kommis hatte und in den vernarrte ich mich. Das geht allen so, nicht wahr? Ich ließ also die Thür offen, und er kam zu mir.

Aber da hörte eines Nachts Herr Lerable Geräusch, ging hinauf und fand Anton bei mir. Er wollte ihn sofort totschlagen, sie prügelten sich mit Stühlen, warfen sich mit Wassertöpfen, mit allem möglichen. Ich hatte mein Kleid aufgerafft und lief auf die Straße. Ich wollte fort. Ich hatte fürchterliche Angst. In einem Hausthor zog ich mich an, dann ging ich geradeswegs davon.

Ich dachte unbedingt, es wäre schon einer ermordet und die Polizei suchte mich. Ich kam auf die Chaussee nach Rouen und sagte mir, daß ich mich in Rouen gut verstecken könnte.

Es war so dunkel, daß man die Gräben nicht unterscheiden konnte, und ich hörte die Hunde in den Höfen bellen. Man weiß ja nicht, was man nachts alles hört: Vögel schrien wie Menschen, die man ermordet, Tiere heulten, pfiffen, dann allerlei Geräusche, die man nicht unterscheiden kann. Ich hatte fürchterliche Angst, bei jedem Geräusch schlug ich ein Kreuz. Sie glauben gar nicht, wie einen so was packt. Als es Tag wurde, kam mir wieder der Gedanke an die Polizei, und ich begann zu laufen. Dann ward ich ruhiger. Ich fühlte Hunger trotz allem, trotz meiner Angst. Aber ich besaß nichts, keinen Pfennig. Ich hatte mein Geld vergessen, alles, was mir auf der Welt gehörte, achtzehn Franken.

Ich ging also weiter, mit knurrendem Magen. Es war warm, die Sonne stach, es war Mittag vorüber und ich lief und lief. Plötzlich hörte ich Pferdegetrappel hinter mir. Ich wendete mich um: die Polizei. Mir blieb das Herz stehen, ich dachte, ich würde umfallen, aber ich hielt mich aufrecht. Sie holten mich ein und blickten mich an, und einer, der ältere, sagte:

– Guten Tag, Fräulein.

– Guten Tag.

– Wo lofen Sie denn hin?

– Ich gehe nach Rouen in Dienst.

– Was denn, so zu Fuß?

– Ja, so.

Mein Herz schlug, daß ich nicht mehr sprechen konnte, und ich sagte mir, jetzt fassen sie mich. Die Lust auszureißen, zitterte mir in allen Gliedern. Aber sie hätten mich doch gleich wieder eingeholt, verstehen Sie.

Der Alte begann: – Wir wollen zusammen bis Barantin machen, wir haben denselben Weg.

– Sehr gern.

Nun begannen wir uns zu unterhalten. Ich war so liebenswürdig wie möglich, so daß sie schließlich Sachen dachten, die gar nicht waren. Und als wir durch einen Wald kommen, sagt der Alte: – Nun, Fräulein, wollen wir uns auf dem Moos ein bißchen ausruhen?

Ich antwortete, ohne nachzudenken:

– Wie Sie wollen.

Er sitzt ab, giebt dem anderen sein Pferd zu halten, und wir gehen beide in den Wald.

Ich konnte nicht mehr nein sagen. Was hätten Sie an meiner Stelle gethan. Er that, was er wollte, dann sagte er zu mir: – Wir wollen meinen Kameraden nicht vergessen, – kehrte zurück, um das Pferd zu halten, während der andere zu mir kam. Ich schämte mich so, daß ich hätte weinen mögen. Aber ich wagte nicht zu widerstehen, das begreifen Sie doch.

Wir gingen also weiter. Ich sprach nicht mehr, ich war zu traurig. Und dann konnte ich nicht mehr gehen, solchen Hunger hatte ich. Aber sie gaben mir doch in einem Dorfe ein Glas Wein, das hat mir auf einige Zeit wieder auf die Beine geholfen. Und dann trabten sie davon, um nicht mit mir durch Barantin zu reiten. Da setzte ich mich in den Graben und heulte, was ich nur konnte.

Drei Stunden lief ich noch bis Rouen. Es war sieben Uhr abends, als ich ankam. Zuerst blendeten mich alle die Lichter, und dann wußte ich nicht, wo ich mich hinsetzen sollte. An der Landstraße giebts Gräben und Gras, wo man sich sogar mal hinlegen kann und schlafen, aber in der Stadt nichts.

Mir thaten die Beine weh, und mir wurde so schwindlig, daß ich dachte, ich schlüge gleich hin. Und dann begann's zu regnen, ein feiner Regen, wie heute abend, der einem durch und durch geht, wenn er auch nach nichts aussieht. Ich habe kein Glück, wenn es regnet. Ich begann also die Straßen hinunter zu laufen, sah alle Häuser an und sagte mir, hier giebts überall so viel Betten und so viel Brot, und ich habe keins, nicht einmal ein Stückchen Rinde kann ich bekommen und einen Strohsack. Ich kam in Straßen, wo die Mädchen die Herren, die vorübergingen, anriefen. In so einem Fall thut man, was man kann, und ich machte es wie sie und rief auch, aber keiner antwortete mir. Ich hätte tot sein mögen. Das dauerte wohl bis Mitternacht, ich wußte nicht mehr, was ich that. Endlich hörte mich einer an. Er fragte: – Wo wohnst Du denn?

In der Not wird man schnell gerissen und ich antwortete:

– Sie können nicht mitgehen, denn ich wohne bei meiner Mutter. Aber giebt's nicht irgend ein Haus, wo man hingehen kann?

Er antwortete: – Nun soll ich auch noch zwanzig Sous für ein Zimmer ausgeben?

Dann dachte er nach und sagte: – Komm mit, ich weiß einen stillen Fleck, wo man uns nicht stört.

Ich mußte über eine Brücke gehen, dann führte er mich ans Ende der Stadt auf eine Wiese, nahe am Bach. Ich konnte nicht mehr folgen.

Ich mußte mich setzen, und er begann mit dem, weshalb wir gekommen waren. Aber es dauerte sehr lange, und ich war so müde, daß ich einschlief.

Er ging davon und schenkte mir nichts. Ich merkte es gar nicht. Es regnete wie gesagt. Von diesem Tage ab habe ich manchmal Schmerzen, die ich nicht loswerde, denn ich habe die ganze Nacht im Dreck geschlafen.

Zwei Polizisten weckten mich auf, brachten mich zur Wache, von da ins Gefängnis. Da blieb ich achtzehn Tage, während man herauszufinden suchte, wer ich sei und woher ich käme. Ich wollte es nicht sagen wegen der Folgen.

Man erfuhr es doch. Nachdem ich freigesprochen worden, ließ man mich laufen.

Jetzt mußte ich wieder Unterhalt suchen. Ich suchte eine Stelle zu bekommen, ich fand aber keine, weil ich gesessen hatte. Da erinnerte ich mich eines alten Richters, der mich, während er mich aburteilte, so angesehen hatte, wie der alte Lerable in Yvetôt. Zu dem ging ich. Ich hatte mich nicht geirrt. Als ich fortging, gab er mir hundert Sous und sagte: – Du kriegst jedesmal so viel, aber Du darfst nicht öfter kommen, wie zweimal die Woche.

Ich sah das ein in Anbetracht seines Alters. Aber das brachte mich auf einen Gedanken. Ich sagte mir: die Jungen, die machen nur Ulk, die unterhalten sich, aber sie haben kein Geld, die Alten, das is 'ne andere Sache. Und dann kannte ich sie jetzt, die alten Affen.

Wissen Sie, was ich nun gethan habe? Ich kleidete mich als Amme, die vom Markt kommt und lief die Straßen auf und ab, indem ich meine ›Säuglinge‹ suchte. Ich erkannte sie auf den ersten Blick, und sagte mir gleich : der beißt an.

Es näherte sich einer und begann:

– Guten Tag, Fräulein.

– Guten Tag, mein Herr.

– Wo gehen Sie denn hin?

– Ich muß nach Haus zu meiner Herrschaft.

– Wohnt die Herrschaft weit?

– Es geht.

Nun wußte er nichts mehr zu sagen. Ich ging langsam weiter, damit er sprechen konnte.

Nun sagte er leise ein paar Artigkeiten und dann sagte er, ich sollte doch mal zu ihm kommen. Ich ließ mich erst etwas bitten, wissen Sie, und dann that ich's. Von der Sorte hatte ich zwei oder drei jeden Morgen und alle Nachmittage frei. Das war die schöne Zeit meines Lebens, da hatte ich keine Sorgen.

Aber man bleibt eben nie ruhig. Zum Unglück machte ich die Bekanntschaft eines reichen Kerls aus der Gesellschaft, eines ehemaligen Präsidenten, der wohl fünfundsiebzig Jahr alt war.

Eines Abends nahm er mich in ein Restaurant in der Nähe mit und dann, wissen Sie, er konnte sich nicht mäßigen, da starb er beim Dessert.

Ich bekam drei Monate Gefängnis, weil ich nicht unter Kontrolle war.

Und nun kam ich nach Paris.

Ach, hier ist das Leben schwer. Es giebt nicht jeden Tag was zu essen, es sind zu viel. Na, schließlich, jeder hat seinen Kummer, nicht wahr?

* * *

Sie schwieg. Ich ging an ihrer Seite mit beklommenem Herzen. Plötzlich nannte sie mich wieder Du.

– Kommst Du nicht mit, Kleiner?

– Nein. Ich hab's doch schon gesagt.

– Na, denn auf Wiedersehen. Danke. Ich bin Dir nicht böse, aber eins sage ich Dir, Du bist dumm.

Und sie ging davon, von dem feinen Regen wie in einen Schleier gehüllt. Ich sah sie unter einer Gaslaterne hinschreiten, dann in der Dunkelheit verschwinden. Armes Ding!

 


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