Guy de Maupassant
Der Tugendpreis
Guy de Maupassant

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Der Tugendpreis

Wir waren eben durch Gisors gekommen. Ich war aufgewacht, als ich die Schaffner den Namen der Stadt ausrufen hörte, und wollte eben wieder einnicken, als ein furchtbarer Stoß mich auf die dicke Dame schleuderte, die mir gegenüber saß.

An der Maschine war ein Rad gebrochen, und sie lag quer über den Schienen; der Tender und der Gepäckwagen waren ebenfalls entgleist, hatten sich neben die sterbende gelegt, die fauchte, stöhnte, pfiff und spie, wie ein Pferd, das auf der Straße gestürzt ist und dessen Flanken schlagen, dessen Brust zittert, dessen Nüstern rauchen, dessen ganzer Körper bebt, aber das nicht mehr der geringsten Bewegung fähig scheint, um aufzustehen und weiter zu laufen.

Es gab weder Tote noch Verwundete, nur ein paar leicht Verletzte, denn der Zug war noch nicht recht im Gang gewesen. Und wir sahen nun verzweifelt das große, verstümmelte Eisenvieh, das uns nicht mehr ziehen konnte und das vielleicht nun auf lange Zeit den Weg versperrte, daliegen. Auf lange Zeit, denn es mußte wahrscheinlich aus Paris telegraphisch ein Hilfszug herbeigerufen werden.

Es war zehn Uhr morgens, und ich entschloß mich sofort nach Gisors zurück zu gehen und dort zu frühstücken.

Als ich den Bahndamm hinunterschritt, sagte ich zu mir: Gisors? Gisors? Da kenne ich doch jemand, – aber wen denn? Gisors? Ich muß doch irgend einen Bekannten hier haben.

Plötzlich kam mir ein Name in die Erinnerung. Albert Marambot.

Ein einstiger Schulfreund, den ich seit zwanzig Jahren nicht gesehen hatte und der in Gisors Arzt war. Er hatte mich oft eingeladen, ich hatte immer versprochen zu kommen, war aber nie gekommen. Jetzt konnte ich die Gelegenheit benutzen.

Den ersten Vorübergehenden fragte ich – Wissen Sie, wo Herr Dr. Marambot wohnt? – Er antwortete sofort mit dem gedehnten Accent des Normannen: – Rue Dauphine. – Ich sah in der That an der Thür des mir bezeichneten Hauses eine große Kupferplatte, auf der der Name meines einstigen Schulfreundes graviert stand. Ich klingelte. Aber das Mädchen, strohblond, mit langsamen Bewegungen, sagte mit thörichtem Ausdruck: – Er ist nicht da, er ist nicht da.

Ich hörte Bestecke klappern und Gläser klirren und rief:

– He Marambot! – Eine Thür ging auf, und ein dicker Mann mit Backenbart und zufriedener Miene, eine Serviette in der Hand, erschien.

Ich hätte ihn ganz bestimmt nicht wieder erkannt. Er sah aus wie fünfundvierzig Jahre, und in einer Sekunde erschien vor mir das ganze Provinzleben, das schwer, dick und alt macht. In einem einzigen Geistesblitz, schneller als meine Bewegung, ihm die Hand entgegenzustrecken, kannte ich seine ganze Existenz, seine Lebensweise, seinen geistigen Horizont, seine Weltanschauung. Ich erriet, daß er gern lange bei Tisch saß, was ihm seinen Schmerbauch eingetragen hatte, daß er nachher stumpfsinnig schlief in durch Cognacbegießung erschwerter Verdauung und sah, wie er schläfrig seine Kranken anblickte, immer im Gedanken an das Huhn, das auf dem Herde briet. Ich hörte die ganze Unterhaltung über Küchendinge, über Apfel- und Beeren-Wein, Schnaps, über die Art, gewisse Speisen zuzubereiten, Saucen schön, rund und voll zu machen, all das stand vor mir, als ich seine dicken, runden Backen sah, seine schweren Lippen und den toten Blick der Augen.

Ich sagte zu ihm:

– Erkennst Du mich denn nicht? Ich bin Raoul Aubertin.

Er öffnete die Arme und hätte mich beinah erwürgt. Dann war sein erstes Wort:

– Du hast doch hoffentlich noch nicht gefrühstückt?

– Nein.

– So ein Glück! Ich bin eben bei Tisch, und habe gerade wundervolle Forellen.

Fünf Minuten später frühstückte ich mit ihm. Ich fragte ihn:

– Bist Du Junggeselle geblieben?

– Allerdings.

– Und befindest Du Dich denn wohl hier?

– Ich langweile mich nicht, ich bin beschäftigt. Ich habe Patienten und Freunde, ich esse gut, ich lache gern, ich gehe auf die Jagd – so ist's ganz nett.

– Kommt Dir denn das Dasein in der kleinen Stadt nicht etwas eintönig vor?

– Nein, lieber Freund, wenn man sich zu beschäftigen weiß . . . Im übrigen ist's in einer kleinen Stadt genau so wie in einer großen. Die Ereignisse und Freuden sind dünner gesät, aber man mißt ihnen einen größeren Wert bei, man hat weniger Beziehungen, aber man sieht sich häufiger. Wenn man alle Fenster in einer Straße kennt, so beschäftigt einen jedes einzelne mehr, als eine ganze Straße in Paris.

Weißt Du, solch eine kleine Stadt ist sehr amüsant, sehr amüsant. Sieh mal zum Beispiel Gisors. Ich kenne es in- und auswendig von den ersten Anfängen bis heute. Du hast keine Ahnung, wie seltsam die Geschichte dieser Stadt ist.

– Bist Du aus Gisors?

– Ich? Nein, ich bin aus Gournay, der Nachbarstadt und Rivalin. Gournay ist neben Gisors, was Lucullus neben Cicero war: hier ist alles auf Ruhm erpicht, und man spricht von den »Ehrgeizigen von Gisors,« in Gournay ist alles für gutes Leben und es heißt: »die Schlemmer von Gournay.«

Gisors verachtet Gournay, aber Gournay macht sich über Gisors lustig. Es ist furchtbar komisch hier bei uns.

Ich bemerkte, daß ich wirklich etwas Vorzügliches aß, weiche Eier in einem Fleischgelee, das durch Kräuter schmackhaft gemacht und leicht gefroren war.

Ich sagte, mit der Zunge schnalzend, um Marambot zu schmeicheln: – Das schmeckt fein.

Er lächelte: – Zwei Sachen sind dazu nötig, gutes Gelee, das ist schwer zu bekommen, und gute Eier. Oh, gute Eier sind so selten! Das Gelbe muß etwas rötlich sein, so richtig schmackhaft. Ich habe zwei Hühnerhöfe, einen für Eierproduktion und einen für Geflügelmästung. Meine Leghühner füttere ich auf ganz besondere Art. Ich habe so meine Ideen darüber. In dem Ei, wie im Fleisch des Huhnes, des Ochsen oder des Hammels, in der Milch, in allem findet man wieder und muß ihn auch schmecken den Kern, die Quintessenz der ganzen bisherigen Nahrung des Tieres. Man könnte so viel besser essen, wenn man sich mehr darum kümmerte.

Ich lachte:

– Du bist also Feinschmecker?

– Ja wahrhaftig! Nur dumme Menschen sind keine Feinschmecker. Feinschmecker ist man, wie man Künstler, Gelehrter oder Dichter ist. Der Geschmack, lieber Freund, ist ein zarter Sinn, der verbesserungsfähig ist und gehütet werden muß, wie Auge und Ohr. Wer keinen Geschmack hat, dem fehlt etwas Wunderbares, die Fähigkeit, die Qualität der Nahrungsmittel zu unterscheiden, so wie man vielleicht die Schönheiten eines Buches oder Kunstwerkes nicht unterscheiden kann. Wer keinen Geschmack hat, dem fehlt ein wichtiger Sinn, ein wesentlicher Teil der menschlichen Überlegenheit, der gehört einer der unzähligen Arten von Krüppeln an, den thörichten, linkischen Menschen, aus denen sich unsere Rasse zusammensetzt. Solche Leute sind »zungendumm« mit einem Wort, so wie man gehirndumm sein kann. Ein Mensch, der eine Languste von einem Hummer nicht unterscheiden kann, einen Häring, diesen wunderbaren Fisch, der als Köstlichstes alle Meeresdüfte in sich trägt, von einer Makrele nicht unterscheiden kann oder von einem Wittling, und eine gewöhnliche Birne nicht von einer Duchesse, ist etwa so wie einer, der Balzac mit Eugen Sue verwechseln würde oder eine Symfonie von Beethoven mit dem Armeemarsch irgend eines Militärmusikdirigenten, und den Apollo von Belvedere mit der Bildsäule des Generals de Blanmont.

– Wer ist denn der General de Blanmont?

– Ach so, das weißt Du ja nicht. Na, man sieht schon, daß Du nicht aus Gisors bist. Lieber Freund, ich habe Dir vorhin gesagt, daß man die Einwohner dieser Stadt die Ehrgeizigen von Gisors nennt, und nie hat jemand diesen Beinamen mehr verdient. Aber zuerst wollen wir frühstücken, und ich werde von der Stadt erst sprechen, wenn ich sie Dir gleichzeitig zeigen kann.

Von Zeit zu Zeit unterbrach er sich, um langsam ein Glas Wein zu trinken, das er zärtlich anblickte, wenn er es auf den Tisch setzte.

Mit der um den Hals gebundenen Serviette, den roten Backen, den gierigen Augen, dem um den arbeitenden Mund sich ausbreitenden Backenbart, war er wirklich komisch anzusehen.

Ich mußte essen, bis ich nicht mehr konnte. Als ich dann wieder zum Bahnhof gehen wollte, nahm er mich beim Arm und zog mich durch die Straßen. Die Stadt hat einen netten Provinzcharakter und wird von ihrer Festung überragt, dem wundervollsten militärischen Bauwerk des siebenten Jahrhunderts in Frankreich. Sie liegt ihrerseits wieder über einem langen, grünen Thal, in dem die schweren Kühe der Normandie weiden und wiederkäuen auf den grünen Wiesen.

Der Doktor sagte zu mir: – Gisors, Stadt von viertausend Einwohnern an der Eure, wird schon bei Caesar erwähnt: Cäsaris ostium – Cäsartium – Cäsortium – Gisortium – Gisors. Ich werde Dich aber nicht zum römischen Lager führen, dessen Spuren man noch genau sieht.

Ich lachte und antwortete: – Lieber Freund, Du scheinst eine ganz eigene Krankheit zu haben, die solltest Du als Arzt mal genau studieren. Man nennt sie Kirchturmkrankheit.

Er hielt inne:

– Der Kirchturmgeist, lieber Freund, ist nichts anderes, als der natürliche Patriotismus. Ich liebe mein Haus, meine Stadt und meine Provinz über alles, weil ich dort die Sitten meines Dorfes wiederfinde. Aber wenn ich die Grenze liebe und sie verteidige, und wenn ich mich ärgere, wenn der Nachbar den Fuß darübersetzt, so geschieht das, weil ich mich in meinem Haus bedroht fühle, weil die Grenze, die ich nicht kenne, meine Provinz ist. So bin ich, – ein Normanne, ein wahrer Normanne, und trotz meines Hasses gegen die Deutschen und meines Rachedurstes, verachte ich sie nicht, hasse ich sie nicht aus Instinkt, wie den Engländer, unsern wirklichen Feind, den Erbfeind und natürlichen Feind des Normannen, weil der Engländer auf diesem Boden, wo meine Vorfahren gewohnt haben, eingebrochen ist, ihn verwüstet und zerstört hat zwanzig Mal, und mir die Abneigung gegen dieses perfide Volk von Jugend auf eingeflößt worden ist durch meinen Vater. Sieh mal da, das ist die Bildsäule des Generals.

– Welches Generals?

– Des General de Blanmont. Wir mußten eine Statue haben! Wir sind nicht umsonst die Ehrgeizigen von Gisors, und da haben wir den General de Blanmont entdeckt. Sieh nur mal in das Schaufenster dieser Buchhandlung.

Er führte mich an das Fenster eines Buchladens, wo ein paar Dutzend rote, gelbe, blaue Bücher den Blick auf sich zogen.

Als ich die Titel las, packte mich fast ein Lachkrampf. Sie hießen: »Gisors, sein Ursprung, seine Zukunft von M. X. . . ., Mitglied mehrerer gelehrter Gesellschaften.«

»Geschichte von Gisors von Pfarrer A. . . .«

»Gisors von Cäsar bis auf unsere Tage von M. B. . . . Grundbesitzer.«

»Gisors und seine Umgebung von Dr. C. D. . . .«

»Gisors und seine Berühmtheit von einem Kenner.«

– Lieber Freund, – sagte Marambot, – kein Jahr geht vorüber, nicht ein Jahr hörst Du wohl, ohne daß hier eine neue Geschichte von Gisors erscheint. Es giebt deren schon dreiundzwanzig.

– Ja, und die Berühmtheiten von Gisors? – fragte ich.

– Ach, die kann ich Dir nicht alle aufzählen. Ich will Dir nur ein paar nennen. Da haben wir zuerst den General de Blanmont gehabt, dann den Baron Davillier, den berühmten Keramiker, den Erforscher Spaniens und der Balearen, der die wunderbaren spanisch-arabischen Fayancen den Kennern zugängig machte, dann in der Litteratur einen Journalisten von großem Verdienst, der heut schon tot ist, Karl Brainne, und unter den Lebenden den sehr bemerkenswerten Herausgeber der »Rouener Neusten Nachrichten« Karl Lapierre und noch viele andere, viele andere.

Wir folgten einer langen, sich leise senkenden Straße, auf der in ihrer ganzen Ausdehnung die Junisonne glühte, so daß die Leute in ihren Häusern geblieben waren.

Plötzlich erschien am anderen Ende der Straße ein Mann, ein Betrunkener, der hin- und hertaumelte.

Er kam daher, den Kopf vorgestreckt, mit schlenkernden Armen, eingedrückten Knieen, machte einmal drei, sechs oder zehn schnelle Schritte und blieb dann halten. Wenn seine kurze Anspannung der Thatkraft ihn bis auf die Mitte der Straße gebracht hatte, blieb er stehen, schwankte, ob er hinfallen oder sich zum zweiten Male aufraffen sollte, dann rannte er plötzlich in irgend einer Richtung wieder davon. Nun stieß er an ein Haus, an dem er kleben zu bleiben schien, als ob er hinein wollte mitten durch die Wand, durch den Anprall flog er herum, stierte vor sich hin mit offenem Mund, blinzelte im Sonnenschein, gab sich einen Stoß, so daß sein Rücken von der Mauer abkam, und setzte sich wieder in Bewegung.

Bellend folgte ihm ein kleiner gelber Hund, blieb stehen, wenn er stehen blieb und lief weiter, wenn er weiterging.

– Da sieh mal, – sagte Marambot, – das ist der Inhaber des Tugendpreises der Frau Husson.

Ich war sehr erstaunt und fragte: – Tugendpreis der Frau Husson? Was soll denn das heißen?

Der Arzt begann zu lachen:

– Ach, so nennen wir bei uns die Betrunkenen. Das kommt von einer alten Geschichte, die jetzt beinah Legende geworden ist, obgleich sie von A bis Z wahr ist.

– Das ist wohl eine sehr komische Geschichte?

– Ja, sehr komisch.

– Das mußt Du mir erzählen.

– Sehr gern. Früher gab es in dieser Stadt eine alte Dame, die sehr tugendhaft war und Beschützerin der Tugend zugleich. Sie hieß Frau Husson. Ich nenne Dir wirkliche Namen und nicht Namen, die ich jetzt erfinde. Frau Husson beschäftigte sich hauptsächlich mit Wohlthätigkeit, half den Armen und unterstützte die, die es wert waren. Sie war klein, machte winzige, trippelnde Schrittchen, trug eine Perrücke und ging immer in schwarzer Seide, war sehr feierlich und höflich und stand sich ausgezeichnet mit dem lieben Gott in Gestalt des Pfarrers Malou. Sie hatte einen tiefen Abscheu, einen natürlichen Abscheu vor dem Laster und besonders vor dem Laster, das die Kirche Unzucht nennt. Schwangerschaften vor der Ehe brachten sie zur Verzweiflung, empörten sie derart, daß sie ganz außer sich geriet.

Es war gerade die Zeit, in der in der Umgegend von Paris die Rosenjungfrauen gekrönt wurden, und da kam Frau Husson auf die Idee, in Gisors auch eine Rosenjungfrau zu besitzen.

Sie teilte es dem Pfarrer Malou mit, der sofort eine Kandidatinnenliste aufstellte.

Aber Frau Housson wurde durch ein altes, Fränzchen genanntes, Dienstmädchen bedient, das ebenso unerträglich war wie ihre Herrin.

Sobald der Priester fort war, rief Frau Husson die Dienerin und sagte zu ihr:

– Hier, Fränzchen, ist die Liste der Mädchen, die mir der Pfarrer für den Tugendpreis vorgeschlagen hat. Jetzt suche mal 'rauszubekommen, was man von ihnen in der Gegend denkt.

Und Fränzchen machte sich auf den Weg. Sie sammelte allen Klatsch, alle Geschichten, jeden Verdacht, jede Niederträchtigkeit, und um nichts zu vergessen, schrieb sie das in ihr Küchenbuch mit den Ausgaben zusammen und gab es jeden Morgen Frau Husson, die nun, nachdem sie die Brille auf ihre scharfe Nase gesetzt, las:

            Brot   —   vier Sous
Milch   —   zwei Sous
Butter   —   acht Sous

Malwine Levesque hat voriges Jahr ein Techtelmechtel mit Mathurkn Poilu gehabt.

            Kalbfleisch   —   fünfundzwanzig Sous
Salz   —   ein Sou

Rosalie Vatinel ist am 20. Juli in der Abenddämmerung von der Plättfrau, Frau Onésime, im Riboudetwäldchen mit Cäsar Piénoir getroffen worden.

            Radieschen   —   ein Sou
Essig   —   zwei Sous
Sauerampfer   —   zwei Sous

Josefine Durdent. Man soll nur nicht glauben, daß sie nichts gemacht hat, denn sie schreibt sich mit dem Sohn von Oportun, der in Rouen in Dienst ist und der ihr eine Haube durch die Post geschickt hat.

Keine einzige blieb nach dieser genauen Erkundigung makellos. Fränzchen befragte alle Welt, die Nachbarn, die Lieferanten, den Lehrer, die Nonnen in der Schule und las allen Klatsch zusammen.

Da es nun auf der ganzen Welt gar kein Mädchen giebt, über das die alten Weiber nicht getratscht hatten, fand sich denn auch im ganzen Lande nicht eine einzige, über die nicht geredet worden wäre.

Nun wollte aber Frau Husson, daß die Rosenjungfrau von Gisors, wie die Gattin des Cäsar, nicht einmal im Gerede gewesen sein dürfte, und war verzweifelt, niedergeschlagen, ganz erschrocken, angesichts des Küchenbuches ihrer Dienerin.

Nun wurde der Kreis für die Preisträgerin weiter gezogen bis zu den nächstliegenden Dörfern.

Aber man fand keine. Der Ortsvorstand wurde gefragt. Die, die er nannte, konnten ebensowenig den Preis bekommen. Die Mädchen, die Dr. Barbesol namhaft machte, hatten auch kein Glück, trotz seiner wissenschaftlich erhärteten Urteile.

Da sagte eines Morgens Fränzchen, die vom Einkaufen heimkehrte:

– Sehen Sie, Frau Husson, wenn Sie jemand krönen wollen, giebts nur einen in der Gegend: Isidor.

Frau Husson überlegte. Sie kannte Isidor wohl, den Sohn der Obstfrau Virginie. Seine sprichwörtliche Jungfräulichkeit wurde seit mehreren Jahren schon in Gisors belacht und diente zu allerlei spaßigen Unterhaltungen und zum Amüsement der Mädchen, denen es Scherz machte, ihn zu necken. Er war fünfundzwanzig Jahr, groß, linkisch, langsam, furchtsam; er half der Mutter im Geschäft und putzte den ganzen Tag Früchte oder Gemüse auf einem Stuhl vor der Thür.

Er hatte vor Unterröcken eine krankhafte Angst, so daß er die Augen niederschlug, sobald ihn eine Käuferin lächelnd ansah. Und diese bekannte Befangenheit brachte es dahin, daß alle Witzbolde in der Gegend ihren Ulk mit ihm trieben.

Bei Zoten oder Anspielungen wurde er so schnell rot, daß ihn Dr. Barbesol »den Schamthermometer« genannt hatte. War er wissend oder war er es nicht? fragten sich die Nachbarn lachend. War es nur die einfache Scheu vor unbekannten schamvollen Ereignissen oder der Abscheu vor der häßlichen Berührung, die die Liebe erfordert, wodurch der Sohn der Obstfrau Virginie so bewegt schien? Die Straßenjungen liefen an der Bude vorbei und brüllten Schmutzereien, damit er die Augen niederschlagen sollte. Den Mädchen machte es Scherz, immer wieder vorüberzugehen und Dinge zu flüstern, die ihn ins Haus trieben. Die Frechsten provozierten ihn öffentlich, um zu lachen, sich zu unterhalten, proponierten ihm ein Stelldichein und kamen ihm in unglaublicher Weise entgegen.

Frau Husson überlegte also.

Isidor war allerdings von außergewöhnlicher, notorisch unerschütterlicher Tugend. Niemand, auch die größten Zweifler, die Ungläubigsten hätten es nicht gewagt, Isidor der leisesten Verletzung der Moral zu beschuldigen. Man hatte ihn auch nie im Wirtshaus gesehen, man traf ihn nie abends auf der Straße, um acht Uhr ging er zu Bett und stand um vier Uhr auf, – er war die Vollendung selbst, eine Perle.

Aber Frau Husson zögerte noch. Der Gedanke, statt einer Rosenjungfrau einen Rosenjüngling zu erwählen, kam ihr doch eigen vor, und sie beschloß, erst mal den Pfarrer Malou um Rat zu fragen.

Pfarrer Malou antwortete: – Frau Husson, was wollen Sie belohnen? Die Tugend, nichtwahr, nur die Tugend?

Es kommt also doch nicht darauf an, ob Mann oder Frau. Die Tugend ist etwas Allgemeines, die Tugend hat kein Vaterland und kein Geschlecht, sondern ist eben die Tugend.

Da er ihr so zuredete, ging Frau Husson zum Ortsvorstand.

Er war auch ganz der Ansicht. – Wir werden ein schönes Fest machen, – sagte er, – und wenn wir ein anderes Jahr ein Mädchen finden, das ebenso würdig wie Isidor ist, sprechen wir den Tugendpreis einem Mädchen zu. Wir geben damit sogar Nanterre ein gutes Beispiel. Wir wollen nicht so engherzig sein, sondern das Verdienst belohnen, wo es sich findet.

Isidor wurde es mitgeteilt. Er wurde puterrot und schien sehr zufrieden damit zu sein.

Die Krönung wurde also auf den fünfzehnten August, den Tag Mariä Himmelfahrt und zugleich Geburtstag des Kaisers Napoleon festgesetzt.

Der Magistrat wollte die Feierlichkeit besonders erhebend gestalten und hatte eine Tribüne gebaut an der Verlängerung der alten Befestigung, wo wir nachher hingehen werden.

Durch einen natürlichen Umschwung der öffentlichen Meinung wurde Isidors Tugend, die bis dahin belacht worden war, plötzlich etwas sehr Verehrungswürdiges und Beneidetes, seitdem sie ihm fünfhundert Franken einbringen sollte und außerdem ein Sparkassenbuch und einen ganzen Berg von Hochachtung und Ruhm. Jetzt bedauerten die Mädchen ihren Leichtsinn, ihr Lachen, ihr freies Benehmen. Und obgleich Isidor immer noch bescheiden und schüchtern blieb, so hatte er doch eine zufriedene Miene angenommen, aus der sein inneres Glück leuchtete.

Schon am Tage vor dem fünfzehnten August war die ganze Rue Dauphine mit Fahnen geschmückt. Ach, ich habe vergessen, Dir zu erzählen, weshalb die Straße Rue Dauphine genannt worden ist.

Es soll die Dauphine, also irgend eine Kronprinzessin, ich weiß nicht welche, einmal nach Gisors gekommen sein, und da hat ihr der Ortsvorstand einen so langen Empfang bereitet, daß sie mitten auf dem Triumphzug durch die Stadt vor einem der Häuser dieser Straße halten blieb und rief: – Ach, ist das Haus hübsch, das möchte ich gern mal ansehen. Wem gehört es denn? – Man nannte ihr den Namen des Besitzers, er wurde gesucht, gefunden und herbeigeführt, verlegen und doch glückselig vor der Prinzessin.

Sie stieg aus dem Wagen, ging in das Haus hinein, wollte es von oben bis unten kennen lernen und blieb sogar ein paar Augenblicke allein in einem Zimmer.

Als sie wieder heraustrat, brüllte das Volk, das durch die Ehre, die einem Bürger widerfahren, sich geschmeichelt fühlte: Es lebe die Dauphine! Aber ein Witzbold machte ein Lied an die Königliche Hoheit:

Das Prinzeßchen sehr pressiert
Sich als Priester hier geriert.
Tauft die schöne Straße heut
Mit etwas Wasser, das – nicht geweiht.

Aber ich komme auf Isidor zurück. Längs des ganzen Weges hatte man Blumen gestreut wie bei einer Prozession. Die Nationalgarde war ausgerückt unter Befehl des Hauptmann Desbarres, eines alten Soldaten der großen Armee, der stolz neben dem Kreuz der Ehrenlegion, das ihm der Kaiser selbst überreicht, zu Hause unter Glas und Rahmen einen Kosakenbart aufbewahrte, den er mit einem Säbelhieb vom Kinn seines Trägers im russischen Feldzug abgehauen.

Die Truppe, die er befehligte, war übrigens in der ganzen Provinz berühmt, und die Kompagnie von Gisors wurde auf fünfundzwanzig bis dreißig Meilen in der Runde zu allen großen Festen herangezogen. Man erzählt, daß König Louis Philipp, als er eine Parade abhielt über die Milizen des Departements Eure ganz erstaunt vor der Kompagnie von Gisors stehen geblieben wäre und ausgerufen hätte: – Wo sind denn diese schönen Grenadiere her!

– Das sind die von Gisors, – antwortete der General.

– Das hätte ich mir denken können, – murmelte der König.

Hauptmann Desbarres kam also mit seinen Leuten, die Musik voran, um Isidor aus dem Laden seiner Mutter abzuholen.

Nachdem unter den Fenstern ein Marsch gespielt worden, erschien der Tugendjüngling selbst auf der Schwelle.

Er war von Kopf bis zu Fuß in weißes Leinen gekleidet und trug einen Strohhut mit einem Bouquet von Orangenblüten gewissermaßen als Kokarde.

Die Frage, wie er gekleidet gehen sollte, hatte Frau Husson viel Kopfzerbrechen gemacht. Sie hatte lange geschwankt zwischen dem schwarzen Anzug der Kommunikanten und einem ganz weißen Gewand. Aber Fränzchen, die sie beriet, war für den weißen Anzug, indem sie sinnig bemerkte, der Rosenjüngling würde dann wie ein Schwan aussehen.

Hinter ihm erschien seine Gönnerin, seine Patin, Frau Husson, mit triumphierender Miene. Sie nahm seinen Arm, um hinauszutreten, und der Ortsvorsteher stellte sich dann rechts neben den Rosenjüngling. Trommelwirbel klang, Hauptmann Desbarres kommandierte: Achtung! Präsentiert das Gewehr! Der Zug setzte sich in Bewegung zur Kirche unter riesigem Zusammenlauf des Volkes, das von allen Nachbargemeinden zusammengeströmt war.

Nach einer kurzen Messe und einer rührenden Ansprache des Pfarrers Malou kehrten sie zu den Festungswerken zurück, wo unter einem Zelt ein Mahl bereitstand.

Ehe sie sich zu Tisch setzten, ergriff der Ortsvorsteher das Wort. Ich sage Dir, ich kann die Rede wörtlich wiederholen, ich habe sie auswendig gelernt, denn sie ist zu schön:

»Junger Mann! Eine treffliche Frau, die von den Armen geliebt und von den Reichen geehrt wird, Frau Husson, der das ganze Land hier dankt durch meinen Mund, ist auf den Gedanken gekommen, auf den glücklichen wohlthätigen Gedanken, in dieser Stadt einen Tugendpreis zu stiften, der ein köstlicher Ansporn sein soll allen Bewohnern dieser wunderschönen Gegend.

Sie, junger Mann, sind der erste Inhaber dieses Tugendpreises, der erste dieser Dynastie der Braven und Keuschen, dem die Krone zufiel. Ihr Name wird für immer an der Spitze der Liste dieser Wackeren stehen, und nun muß Ihr ganzes Leben, verstehen Sie wohl, Ihr ganzes Leben diesem glücklichen Anfang auch entsprechen. Sie gehen heute, angesichts dieser edlen Dame, die Ihr Wohlverhalten belohnt, angesichts dieser Bürgertruppe, die Ihnen zu Ehren unter Waffen steht, angesichts dieser tiefbewegten Versammlung, die sich zusammengefunden hat, um Ihnen Beifall zuzurufen oder vielmehr in Ihnen die Tugend zu begrüßen, einen feierlichen Bund ein mit der Stadt, mit uns allen, bis zu Ihrem Tode weiter das ausgezeichnete Beispiel zu geben, das Sie in Ihrer Jugend gegeben.

Vergessen Sie das nicht, junger Mann! Sie sind das erste Samenkorn, das in dieses Feld der Hoffnung gestreut wird, geben Sie uns die Früchte, die wir von Ihnen erwarten.«

Der Ortsvorsteher machte drei Schritte, öffnete die Arme und drückte den schluchzenden Isidor an sein Herz.

Der Rosenjüngling weinte, ohne zu wissen, warum, in unbewußter Rührung, voll Stolz, voll glücklicher unbestimmter Weichheit.

Dann gab ihm der Ortsvorstand eine seidene Börse in die Hand, in der Gold klimperte, fünfhundert Franken in Gold, und in die andere Hand gab er ihm ein Sparkassenbuch. Und dann sagte er zu ihm mit feierlicher Stimme: Heil, Glück, Segen der Tugend!

Hauptmann Desbarres heulte: Bravo! Die Grenadiere brüllten, das Volk klatschte.

Frau Husson wischte sich die Augen.

Dann setzte man sich an den Tisch, auf dem das Diner serviert wurde.

Es war unendlich lang und prachtvoll. Eine Schüssel folgte der anderen, der gelbe Apfelwein und der rote Beerenwein verbrüderten sich in den Gläsern und mischten sich im Magen. Tellerklappern, Stimmengewirr, die Musik die da spielte, gaben ein ununterbrochenes Rauschen ab, stiegen in die klare Luft hinauf, in der Lerchen flogen. Frau Husson rückte ab und zu ihre schwarzseidene Perrücke zurecht, die auf ein Ohr gerutscht war, und unterhielt sich mit dem Pfarrer Malou. Der Ortsvorstand war in Stimmung geraten und sprach mit Hauptmann Desbarres über Politik Und Isidor aß, Isidor trank, wie er noch nie getrunken und gegessen hatte. Er nahm von allen Gerichten mehrfach und fand zum ersten Mal, daß es doch ganz schön ist, wenn man sich den Bauch mit solchen guten Sachen vollschlagen kann, die einem zuerst wohlgethan, als sie durch den Mund spazierten. Geschickt hatte er die Hosenschnalle geöffnet, die ihm wehthat beim Anschwellen seines Bäuchleins, und schweigend, aber doch etwas verlegen wegen eines Weinfleckes auf dem weißen Rock, hörte er auf zu kauen, um sein Glas an den Mund zu führen und so lange wie möglich daran zu behalten, denn er schlürfte langsam.

Die Zeit der Trinksprüche war gekommen. Sie waren unzählbar und wurden lebhaft beklatscht. Der Abend brach herein, seit Mittag saß man bei Tisch, schon senkten sich milchweiße Dünste auf das Thal nieder, das leichte Nachtkleid der Bäche und Wiesen. Die Sonne war bis zum Horizont hinabgestiegen, die Kühe brüllten in der Ferne im Nebeldunst der Weide. Es war zu Ende, man kehrte nach Gisors zurück. Der Zug hatte sich jetzt aufgelöst und schritt in Unordnung. Frau Husson hatte Isidors Arm genommen und gab ihm eine Menge ausgezeichneter dringender Ratschläge.

Sie blieb am Haus der Obstfrau stehen, und der Rosenjüngling wurde bei seiner Mutter gelassen.

Sie war noch nicht heimgekehrt. Sie war von ihrer Familie eingeladen worden, gleichfalls den Triumph ihres Sohnes zu feiern, und hatte bei ihrer Schwester gegessen, nachdem sie dem Zug bis zum Bankettzelt gefolgt war.

Isidor blieb also allein im dunklen Laden.

Er setzte sich auf einen Stuhl. Der Wein und der Stolz erregten ihn, und er blickte sich um.

Die Möhren, der Kohl, die Zwiebeln strömten in dem geschlossenen Raum ihren Gemüseduft aus, ihren starken, kräftigen Gartengeruch, in den sich leicht und durchdringend Erdbeerduft mischte und das leichte, flüchtige Aroma eines Korbes voll Pfirsiche.

Der Rosenjüngling nahm eine und aß sie, obgleich sein Bauch rund war wie ein Kürbis. Plötzlich packte ihn ein Freudenanfall, und er begann zu tanzen, wobei etwas in seinem Rock klimperte. Er war erstaunt, steckte die Hände in die Taschen und zog den Geldbeutel mit den fünfhundert Franken heraus, den er in der Trunkenheit ganz vergessen. Fünfhundert Franken, ein ganzes Vermögen! Er schüttete die Goldstücke auf den Ladentisch, breitete sie zärtlich streichelnd mit der großen offenen Hand langsam aus, um sie gut zu sehen. Fünfundzwanzig waren es, fünfundzwanzig runde Geldstücke, alle Gold. Sie glitzerten auf dem Holz in der tiefen Dunkelheit, und er zählte sie und zählte sie noch einmal, tippte mit dem Finger auf jedes einzelne: eins, zwei, drei, vier, fünf, – hundert; sechs, sieben, acht, neun, zehn, – zweihundert . . . Dann steckte er sie wieder in den Geldbeutel, den er in die Tasche versenkte.

Wer wird je den furchtbaren Kampf enträtseln können zwischen dem Guten und dem Bösen in der Seele des Rosenjünglings, den wilden Angriff des Teufels, seine Winkelzüge, seine Versuchungen, die er in dieses schüchterne, jungfräuliche Herz warf? Welche Bilder, welche Träume erfand der Satan, um diesen Auserwählten zu packen und zu verderben? Der Auserwählte der Frau Husson nahm seinen Hut, seinen Hut, an dem noch das kleine Orangeblütensträußchen steckte und ging auf die Straße hinter dem Haus und verschwand in der Nacht . . . . .

Als der Obstfrau Virginie gesagt worden, daß ihr Sohn heimgekommen, kehrte sie fast augenblicklich heim und fand das Haus leer. Sie wartete, ohne zuerst weiter erstaunt zu sein; dann nach einer Viertelstunde erkundigte sie sich. Die Nachbarn in der Rue Dauphine hatten Isidor nach Haus kommen, aber ihn nicht wieder fortgehen sehen. Er wurde also gesucht, man fand ihn nicht. Die Obstfrau wurde ängstlich, lief zum Ortsvorsteher, der wußte von nichts, als daß sie den Rosenjüngling bis zur Thür gebracht. Frau Husson war schon zu Bett gegangen, als man ihr mitteilte, daß ihr Schützling verschwunden sei. Sie setzte sofort wieder ihre Perrücke auf, erhob sich und ging selbst zu Virginie. Virginie, deren einfache Seele schnellen Gemütsbewegungen zugänglich war, saß heulend unter ihrem Kohl, ihren Möhren und Zwiebeln.

Man fürchtete, daß ein Unglück geschehen sei. Was? Hauptmann Desbarres benachrichtigte die Gendarmerie, die die Stadt absuchte, und auf der Straße nach Pontoise fand man den kleinen Orangeblütenstrauß. Er wurde mitten auf den Tisch gelegt, um den herum die Honoratioren saßen und berieten. Der Rosenjüngling mußte irgend einem Neid, einer List zum Opfer gefallen sein. Aber wie? Welche Mittel mochte man angewendet haben, um den Unschuldigen zu entführen, und zu welchem Zweck?

Die Honoratioren waren es müde, noch länger vergeblich zu suchen, und gingen zu Bett. Nur Virginie blieb weinend wach.

Da erfuhr Gisors mit Entsetzen, als am nächsten Abend der Postwagen von Paris zurückkehrte, daß der Rosenjüngling den Wagen zweihundert Meter vom Ort angerufen hatte, eingestiegen war, seinen Platz mit einem Goldstück bezahlt hatte, auf das er sich hatte herausgeben lassen, und daß er dann ganz ruhig mitten in der großen Stadt ausgestiegen sei.

Die Aufregung im Lande wuchs. Briefe wurden zwischen dem Ortsvorsteher und dem Pariser Polizeichef gewechselt, aber ohne Erfolg.

Ein Tag verstrich nach dem anderen, die Woche ging vorüber.

Da bemerkte Dr. Barbesol, der zeitig ausgegangen war, auf der Schwelle einer Thür einen Mann in einem grauen Leinwandanzug, der den Kopf an die Wand lehnte und schlief. Er näherte sich ihm und erkannte Isidor.

Er wollte ihn wecken, aber es gelang nicht. Der Ex-Tugendbold schlief einen tiefen, unwiderstehlichen, beunruhigenden Schlaf, und der erstaunte Arzt rief Hilfe, um den jungen Mann zur Apotheke zu bringen. Als man ihn fortbrachte, fand man eine leere Flasche bei ihm. Der Doktor roch daran und erklärte, sie habe Schnaps enthalten. Das war ein Fingerzeig, um zu wissen, wie man ihn zu behandeln hatte. Es gelang. Isidor war betrunken, betrunken und ganz 'runtergekommen durch acht Tage Trunkenheit, dreckig und besoffen, daß ihn kein Kloakenräumer hätte anfassen mögen. Sein schöner Anzug aus weißer Leinwand war zu graugelblichen, fettigen, stinkigen, widerlichen Lappen geworden, und der ganze Mensch roch nach Rinnstein, Kloake und Laster.

Er wurde gewaschen, man hielt ihm eine Standrede, dann wurde er eingesperrt, und vier Tage ging er nicht aus. Er schien sich zu schämen und reuig zu sein. Man hatte bei ihm weder den Geldbeutel mit den fünfhundert Franken gefunden, noch das Sparkassenbuch, noch seine silberne Uhr, ein heiliges Erbstück seines Vaters, des Obsthändlers.

Am fünften Tage wagte er sich auf die Rue Dauphine. Neugierige Blicke folgten ihm, und er ging längs der Häuser, den Kopf gesenkt, und wagte niemand anzublicken. Er verlor sich in das Thal hinab, aber zwei Stunden später erschien er wieder, lachend und an den Mauern entlangtaumelnd. Er war betrunken, total betrunken.

Es war nicht möglich, ihn zu heilen.

Seine Mutter warf ihn hinaus. Er wurde Fuhrknecht und fuhr Kohlenwagen für die Firma Pougrisel, die heute noch existiert.

Sein Ruf als Trunkenbold ward so groß, daß man sogar in Evreux vom Rosenjüngling der Frau Husson sprach, und allen Säufern der Gegend hängt man jetzt den Namen an.

Jede Wohlthat trägt Zinsen . . . . . . . . . .

Doktor Marambot rieb sich die Hände, nachdem er seine Geschichte beendet. Ich fragte:

– Hast Du denn den Rosenjüngling gekannt?

– Ja, ich habe die Ehre gehabt, ihm die Augen zuzudrücken.

– Woran ist er denn gestorben?

– An Delirium tremens natürlich.

Wir waren an die alten Festungswerke gekommen, ein Haufen ruinenartiger Mauern, über die sich der gewaltige Turm St. Thomas von Canterbury und der sogenannte Turm des Gefangenen erhebt.

Marambot erzählte mir die Geschichte dieses Gefangenen, der mit Hilfe eines Nagels die Mauern seines Verließes mit Skulpturen bedeckte.

Dann erfuhr ich, daß Clothar II. seinem Vetter, dem heiligen Romanus, Erzbischof von Rouen, das Patrimonium von Gisors übertragen hatte, daß Gisors dann nach dem Vertrag von Saint-Clair-sur-Epte nicht mehr die Hauptstadt des Vexin geblieben, daß die Stadt der wichtigste strategische Punkt dieses ganzen Teiles von Frankreich sei und daß sie infolge dieses Vorteils unzählige Male erobert und wieder erobert wurde. Auf Befehl Wilhelm des Roten baute der berühmte Festungsbaumeister Robert von Bellesme dort eine gewaltige Festung, die später durch Ludwig den Dicken und dann durch die normannischen Raubritter belagert, durch Robert von Candos verteidigt und endlich durch Gottfried Plantagenet Ludwig dem Dicken überlassen wurde, zuletzt durch Verrat der Tempelritter abermals von den Engländern eingenommen ward, daß Philipp August und Richard Löwenherz sich darum stritten, Eduard III. von England, der das Schloß nicht erstürmen konnte, es einäscherte, 1419 die Engländer Gisors abermals eroberten, dann Richard von Marbury es Karl VII. zurückgab, der Herzog von Calabre es eroberte, die Liga es einnahm, Heinrich IV. dort wohnte und so weiter, und so weiter.

Und Marambot sagte überzeugt, fast beredt geworden:

– Diese Engländer, solche Lumpen! Und alle besaufen sie sich, alle sind sie Rosenjünglinge, diese alten Heuchler!

Dann nach einer Pause deutete er mit dem Arm auf den schmalen Bachlauf, der auf der Wiese glänzte:

– Wußtest Du, daß Heinrich Monnier einer der eifrigsten Angler an der ganzen Epte war?

– Nein, das habe ich nicht gewußt.

– Und Bouffé, mein Lieber, Bouffé ist hier Glasmaler gewesen.

– Nein wirklich?

– Ja, ja, gewiß. Aber daß Du so was nicht weißt!

 


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