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III. In Rousseaus Vaterstadt

(Genf: Januar-September 1915)

15.

Bis Rom dauerte die Orientierungsphase meiner Auslandsaktion; jetzt sollte die systematische Arbeit beginnen. Dazu eignete sich die Schweiz von selbst durch ihre geographische Lage; sie grenzte an befreundete und feindliche Länder, namentlich auch an Österreich, die Verbindung mit Prag war verhältnismäßig leicht. In der Schweiz als politischem Asyl würde ich auch mit Emigranten der übrigen Nationen zusammenkommen.

Die Schweiz gewährte mir alle, hauptsächlich die feindlichen Blätter und die ganze deutsche und österreichische Publizistik, speziell die politische und die militärische, und es versteht sich, daß wir auch unsere Presse erhielten. Das war für uns ein großer Vorteil: wir verfolgten nach der Tagespresse die Entwicklung der Dinge daheim und in ganz Österreich; das war im Kampfe gegen die österreichische und magyarische Propaganda eine unschätzbare Waffe. In Genf und in Zürich konnte man alle nötigen Bücher, Revuen, Landkarten kaufen; dies blieb auch später so, ich erhielt aus der Schweiz, was ich brauchte, auch nach London und Amerika. Und ich brauchte (auch für meine Freunde) vieles; ich war gewöhnt, zur sorgfältigeren politischen Beobachtung die Tagesjournale durch die politische und historische Literatur zu ergänzen; ich habe stets alle Literatur der Hauptländer, auch die schöne, verfolgt, um die politische Entwicklung aus dem gesamten materiellen und geistigen Leben zu begreifen. Bald hatte ich eine anständige Kriegsbibliothek beisammen.

In der Schweiz hatten wir Kolonien; in Italien hatte es solche nicht gegeben, und es handelte sich darum, sie über die Situation daheim zu informieren, die über verschiedene Städte zerstreuten Teile programmatisch zu vereinigen und sie zur Mitarbeit zu organisieren. In Genf gab es sofort energische Helfer: Dr. Sychrava, Ing. Baráček, stud. math. Lavička, später die Herren Božinov, Kyjovský u. a.; Dr. Sychrava übernahm die schwierige journalistische Aufgabe (es fehlte an Mitarbeitern und aus der Heimat kamen auch keine Beiträge für unsere ausländischen Blätter) und die Aufsicht über alle Arbeiten zwecks Verbindung mit Prag.

In Montreux lebte damals Graf Lützow; um ihn nicht zu kompromittieren, ging ich nicht zu ihm, er wußte aber von meiner Tätigkeit und stimmte ihr zu, wie mir nachher gemeinsame Freunde in England berichteten; namentlich auch meiner russischen Politik.

Kaum hatte ich mich in Genf eingerichtet, so trafen von meiner Familie in Prag unerwartete Nachrichten über die Erkrankung unseres Herbert ein – am 15. März schließlich das Telegramm über seinen Tod, – aber Tausende von Familien daheim verloren ja ihre Mitglieder durch den Krieg! Er war ein selten reiner und ehrenhafter Mensch, Maler-Dichter, bemüht um eine schöne Schlichtheit, gesund und kraftvoll durch Leibesübungen, – er hatte soviel getan, um nicht für Österreich einrücken zu müssen, und fand trotzdem den Tod durch den Krieg, infolge Übertragung von Typhus durch galizische Flüchtlinge, denen er geholfen hatte. Ein Fall für Fatalisten.

Meine alten klerikalen Gegner sandten mir aus Prag ihre groben, gehässigen anonymen Briefe: der Finger Gottes! Ich war gewiß, daß es eine Strafe für meine antiösterreichische Politik nicht war, eher eine Mahnung, nicht nachzulassen ...

Die erste und dringende Aufgabe für unsere Aktion war die Organisierung der unterirdischen Arbeit – das Aussenden und Empfangen von Boten nach Prag und aus Prag, Sie ging gut vonstatten: alle arbeiteten wir mit Lust, die neue Aufgabe interessierte uns; ich widmete mich ihr selbst viel. Die Aufgabe war technisch und psychologisch; man erfand und stellte allerlei Gegenstände her, in die Briefe (chiffrierte und nichtchiffrierte) verborgen wurden; wir hatten z. B. einen geschickten Tischler, der für uns solche Koffer und Kisten herstellte, daß in ihren Seitenwänden eine stattliche Anzahl von Zeitungen, Briefen usw. untergebracht werden konnte, und die Polizei entdeckte bei all ihrer Vorsicht nichts davon. Die Regel war, nichts zu machen, was gewöhnlich gemacht wird; also keine Doppelböden, keine Verstecke in Schuhen und Kleidern, alles mußte ungewohnt sein.

Schwerer war die Auswahl der Menschen und ihre Informierung; jeder Bote mußte gemäß seinen Fähigkeiten, seiner Bildung usw. instruiert werden, um in allen Situationen, in die er geraten konnte, durchkommen zu können. Er mußte auf alle möglichen Situationen vorbereitet sein. Auch mußten die Aufgaben gemäß seinen Fähigkeiten und seiner Bildung gewählt sein. Oft ist bei solcher Arbeit hinderlich, daß die Boten sich an die Instruktionen nicht halten, ohne Überlegung improvisieren und sich dadurch Unvorsichtigkeiten zuschulden kommen lassen.

Durch solche Unvorsichtigkeit wurde Dr. Kramář belastet, er und bald auch Dr. Rašin wurden gefangengesetzt; mit ihnen auch Redakteure des »Čas«, Frau Beneš und unsere Alice. Meine Hauptsorge galt allerdings Dr. Beneš, er durfte nicht verhaftet werden. Ein Mitglied unserer unterirdischen Abteilung, Sozialdemokrat, empfand es als unliebsam, daß seine Partei sich an der Auslandsarbeit nicht genügend beteiligte; deshalb fiel ihm ein, ohne mein Wissen einen Boten zu Dr. Soukup zu senden, um ihn und die Partei zur Mitarbeit aufzufordern. Dieser Bote wurde von der Polizei gefaßt. Die Sache ist hinlänglich bekannt. Der Fall kam uns teuer zu stehen, wir mußten von neuem und auf neue Weise anfangen; die Polizei war auch schon geschickter geworden, und darum mußten auch wir unsere Kräfte anspannen.

Die Verbindung mit Prag vollzog sich in gewissem Maße auch »legal«, durch die Post; wenigstens gingen zu Beginn (unpolitische) Briefe hin und her; ich konnte also in vorsichtiger und verabredeter Form sagen, daß ich unter Umständen nach Hause komme. Allerdings traf gleich Ende Januar von Dr. Beneš ein Telegramm ein, dies sei schon unmöglich, und auch Machar schickte mir eine Nachricht, daß ich sofort an der Grenze mit dem Tode bestraft werden würde; die Prager Freunde waren unterrichtet über ein Telegramm des Barons Macchio aus Rom, der mich hochverräterischer Handlungen in Rom anklagte (seit dem Kampfe gegen Ährenthal konnte er mich nicht leiden). Sehr geschickt benützten die Unsrigen daheim Zeitungen (auch deutsche), um uns in verschiedenen Annoncen und »Eingesendet« Nachrichten und Winke zukommen zu lassen. Dr. Beneš gelang es zweimal, zu mir auf mehrere Tage in die Schweiz zu kommen. Es kamen auch Prof. Hantich, Abgeordneter Habrman und Dr. Třebický. Dr. Třebický bestätigte mir, was ich schon von Dr. Beneš wußte, daß nämlich Dr. Rašin ausgezeichnet und unermüdlich in der Maffia arbeitete.

Ein besonderes und schwieriges Fach war die Komponierung von Chiffern und verschiedenen Schlüsseln, weil man sie nach einiger Zeit wechseln mußte; Ing. Baráček arbeitete an der Konstruktion einer besonderen Chiffriermaschine.

Die zweite große Aufgabe bestand darin, die Kolonien aller alliierten Länder in ein einheitliches Ganzes zu sammeln; das ging langsam vonstatten, weil die Korrespondenz auf Entfernung nicht leicht war. Im Verlauf der Zeit habe ich alle Hauptkolonien selbst besucht oder jemanden zu ihnen geschickt und so die schriftliche Verständigung mit ihnen bestätigt. Um die umfangreiche und mühevolle Korrespondenz zu sparen, mußten wir ein Blatt haben, das alle Kolonien in gleicher Weise informieren und führen sollte. In gewissem Maße half uns die befreundete Presse durch Veröffentlichung von Nachrichten und Interviews; aber auch die feindliche – durch ihre Denunziationen und Anklagen.

Unsere Leute begriffen überall richtig, was nötig war; überall wurden spontan verschiedene militärische und journalistische Versuche unternommen. So entstand in Bern der Zentralvorstand der tschechischen Vereine in der Schweiz (3. Januar); in Paris begannen die Wochenschriften »Na Zdar« und dann »L'Indépendence Tchèque« zu erscheinen, und bald darauf (28. Januar bis 5. Februar) wurde der »Nationalrat der tschechoslowakischen Kolonien« gebildet; dieser »Nationalrat« trat mit einem scharfen antiösterreichischen Manifest (16. Februar: »Franz Joseph wird seinen Thron los«) und einer Botschaft an die Slowakei hervor. Allerdings schädigten diese Pariser Unternehmungen auch unsere Sache.

In Amerika fand am 13. Januar in Cleveland der Kongreß des »Tschechischen Nationalverbandes in Amerika« statt, in dem die ganze Kampfarbeit unserer amerikanischen Kolonie vereinigt war.

In Moskau wurde vom 7. bis 11. März der (erste) Kongreß der Vertreter der tschechoslowakischen Vereine in Rußland veranstaltet und dabei der »Verband der tschechoslowakischen Vereine in Rußland« gegründet.

Auch in Serbien und in Bulgarien organisierten sich die Landsleute in ähnlicher Weise; nur in Deutschland, obgleich es dort von unseren Leuten mehr gab als anderswo, entstand natürlich keine Kampforganisation.

Überall wurden annähernd gleiche Pläne gefaßt und verkündet; namentlich der Kampf gegen Österreich-Ungarn äußerte sich im Eintritt in die Ententearmeen.

Die politischen Programme waren gewöhnlich radikal, aber ziemlich oft nicht durchdacht; z. B. wurde nicht nur Wien mit Österreich, sondern auch das ganze ehemalige Schlesien gefordert, mitunter auch andere Länder, die zur Böhmischen Krone gehört hatten, wenn auch nur einige Zeit; und den begeisterten Politikern fiel nicht einmal ein, daß solch ein Staat zum größten Teil deutsch wäre. Das schadete nicht viel, solange diese Phantasien unter unseren Leuten zirkulierten, aber es schadete, wenn sie Regierungen und Politikern überreicht wurden.

In den Kolonien gab es überall Unstimmigkeiten der Parteien und Personen, Unstimmigkeiten, die da und dort vielfach durch örtliche Besonderheiten bedingt waren; es gab Klugsprecherei, Eifersucht und persönlichen Streit genug, aber es gab auch überall genug guten Willen. Vielleicht bestanden die heftigsten Schwierigkeiten in Paris; Prof. Denis vermochte es nicht auszuhalten und entsagte seiner Beteiligung an der Arbeit. Der besagte »Nationalrat« und die Blätter waren, kaum entstanden, auch begraben. (Vom »Na Zdar« erschienen, glaube ich, nur vier, von der »Indépendence Tchèque« nur elf Nummern.)

Ohne große Schwierigkeiten wurde überall und bald meine Autorität anerkannt, die Kolonien orientierten sich durch Nachrichten und Belehrung einheitlich; so war etwa im Sommer 1915 dieser Prozeß im Groben beendet. Dann hatten wir bereits unsere einheitlich geführten Organe. Die Zeitschrift »La Nation Tchèque« von Denis erschien am 1. Mai; am 15. Juni erschien Pavlůs »Čechoslovák« in Petersburg – in Kiew erschien der »Čechoslovan« des Herrn Švihovský – und am Ende hatten wir die »Československá Samostatnost« Dr. Sychravas, die in dem französischen Städtchen Annemasse seit dem 22. August erschien. »Samostatnost« war das eigentliche »Organ der politischen Emigration« (wie der Untertitel besagte) und das offizielle Sprachrohr der Zentrale und der Leitung der ganzen Auslandsaktion. In Amerika besaßen Tschechen und Slowaken ihre verzweigte Journalistik; in Rußland erschien ein slovakisches Blatt erst 1917 (seit Mai – die »Slovenské Hlasy«). In Sibirien wurden dann tschechische und slowakische Blätter herausgegeben.

Auf mein beständiges Drängen, daß aus Böhmen einige Abgeordnete und Journalisten kommen möchten, traf Ende Mai der Abgeordnete Dürich ein. Ich kannte ihn aus Wien, aus dem Parlament; ein in seinem Auftreten anständiger, französisch und russisch sprechender Abgeordneter, aber politisch für die Situation zu schwach. Er kam damit, daß Dr. Kramář ihn als Vertreter der Nation speziell für Rußland ausersehen habe; dagegen hatte ich nichts einzuwenden, wenn wir uns über das Programm einigten. Er war für den Zaren und sogar für den Orthodoxismus, wie so viele von unseren Russophilen, die alles Heil von Rußland erwarteten. Es machte böses Blut unter unseren Leuten, daß er in seinem russophilen Passivismus sich an unserer Arbeit nicht beteiligte, und sie warfen ihm vor, daß er nicht nach Rußland eile; um öffentlichen Streit zu verhüten, mußte ich die Unzufriedenen mehr als einmal besänftigen. Was seine Reise nach Rußland anbelangt, so bemerkte ich in der russischen Botschaft, daß man deswegen mit Petersburg korrespondierte, aber man sagte mir nicht worüber. Die Verzögerung war auffallend.

16.

In der Schweiz festigte sich unsere politische Verbindung mit dem alliierten Ausland. Vor allem gewannen wir in der Schweiz selbst neue und zahlreiche Freunde; natürlicherweise in erster Reihe im französischen Teil, aber auch im deutschen. Ich hatte bald Fühlung mit den publizistischen Kreisen (»Journal de Genève« u. a.), Universitätskreisen usw. Eine ersprießliche Helferin war mir dabei unsere Olga.

Wir erhielten aus Prag wichtige Nachrichten, insbesondere militärische; das war ein Grund, eine ständige Verbindung mit der italienischen Gesandtschaft anzuknüpfen.

Die Zusammenarbeit mit den Südslawen wurde fortgesetzt; wir teilten uns gegenseitig mit, was jeder unternahm, berieten gemeinsam, oft gingen wir zusammen vor. Nach Genf kamen aus allen südslawischen Ländern verschiedene Repräsentanten der Politik und anderer Zweige der öffentlichen Tätigkeit. In London konstituierte sich am 1. Mai (1915) der Südslawische Ausschuß als Organ der Südslawen aus Österreich-Ungarn; er gab sein »Bulletin Jugoslave« in Paris heraus und überreichte der französischen Regierung, dem englischen Parlament usw. Denkschriften. Die Serben (aus dem Königreich) hatten in Genf ihr Auslandsblatt »La Serbie«, in Genf befand sich auch das »Serbische Zeitungsbureau«. Die Montenegriner hatten zwei Organe: »Ujedinjenje« der Fortschrittler und »Glas Crnogorca« des Königs (in Neuilly bei Paris herausgegeben).

Der südslawischen Jugend schrieb ich, als sie eine Schrift über das nationale Programm herausgab, ein Vorwort.

In Genf befanden sich gute Bekannte wie Prof. B. Marković u. a.; auf eine Zeit kam auch Supilo, als er von Rußland zurückkehrte, wohin er sich sofort nach Neujahr begeben hatte, um das offizielle Rußland für die Südslawen zu gewinnen. Über diese seine russische Reise will ich später reden. Der serbische Konsul versah uns mit den nötigen Pässen und Visa nach Frankreich u. a. Ich besaß auch selbst einen serbischen Paß. Durch diese Freunde verschaffte ich mir Nachrichten über unsere Landsleute in Serbien; nach Genf kam auch der Kommandant eines Gefangenenlagers, Paunković, und von ihm hörten wir, was sich in Serbien abspielte und wie viele unserer Gefangenen wir hatten. Ich dachte damals daran, sie zu besuchen, aber die Verhältnisse hielten mich in Genf zurück.

In der Schweiz gab es auch eine ziemlich starke bulgarische Propaganda; bald entstanden zwischen Bulgaren und Serben scharfe Streitigkeiten, unter anderem auch um Miljukov, der für die Bulgaren Partei ergriff (Miljukov, der vor Jahren aus dem Zarischen Rußland ausgewiesen worden war, hatte längere Zeit in Bulgarien gelebt und stand dadurch den Bulgaren nahe). Natürlich beteiligte ich mich an diesem Streit mit den Bulgaren nicht, obgleich ich die bulgarische Politik verurteilte, wie aus der Novembererklärung ersichtlich war: die Bulgaren forderten nicht bloß ganz Mazedonien, sondern auch Altserbien und das Gebiet der sogenannten bulgarischen Morava! Nun muß allerdings daran erinnert werden, daß die Alliierten den Bulgaren diese Vorteile versprochen hatten, als sie sie für sich gewinnen wollten – diese Politik der Alliierten, die gegen das an der Seite der Alliierten blutende Serbien gerichtet war, bildete den Gegenstand vieler Betrachtungen meiner südslawischen und englischen Freunde.

Doch entwickelten sich Streitigkeiten auch zwischen den südslawischen Organisationen und zwischen Einzelpersonen; die politische Differenzierung wurde bereits sichtbar: die Serben hielten am großserbischen und zentralistischen Programm fest, die Kroaten und Slowenen am Föderativprogramm, viele aber am großkroatischen. Zentralisten und Föderalisten verkündeten die nationale Vereinigung (»Jugoslawien«), aber das gleiche Wort deckte sehr verschiedene, nicht durchgearbeitete Begriffe. Daneben gab es noch besondere Richtungen und Schattierungen, wie die Černogorcen, eine austrophile Richtung nicht nur in Kroatien, sondern auch in Serbien (mit dem Repräsentanten Prof. Perić in Belgrad) u. a.

Mit Rußland stand ich in ständiger Verbindung durch Herrn Svatkovskij, der damals schon in der Schweiz lebte. Auch mit der russischen Gesandtschaft in Bern knüpfte ich (unbedeutende) Beziehungen an.

Ich korrespondierte allerdings mit den führenden Leuten in unserer russischen Kolonie; Anfang Februar kam über Paris aus Rußland Herr Koníček, Mitglied der ersten Deputation beim Zaren. Er kam, um mir angeblich die Führung in Rußland zu übertragen. Ich war sofort im Bilde; einer von unseren zahlreichen politischen Neulingen in Rußland, Anhänger der »Schwarzen Hundert« von gröbstem Schrot und Korn. Seine Mitteilungen aus Rußland begann er selbst in öffentlichen Versammlungen mit: »Väterchen Zar entbietet euch seine Grüße.« Damit war er allerdings überall in unseren Kolonien sofort fertig, in Paris, in Genf und dann auch in Amerika; viele hielten ihn für einen offiziellen Agenten. Gegen mich eröffnete er bald einen Kampf, in dem er vor den gröbsten Intrigen nicht zurückschreckte; in Paris beherrschte er den »Nationalrat der tschechoslowakischen Kolonien« und gründete die »Indépendence Tchèque«. Er bereitete uns Schande genug und weckte den Unwillen der Franzosen durch seinen reaktionären Panslawismus. Er gewann aber auch Anhänger; manche von ihnen ließen sich solche Übertreibungen zuschulden kommen, daß man sie für österreichische Provokateure hielt. In Genf sympathisierte mit ihm Dr. Vítězslav Štěpánek, der in tschechischen Gast- und Kaffeehäusern mit Flugblättern agitierte, in denen das Zarentum, das Russentum und die Orthodoxie der Schwarzen Hundert verkündet wurde. Trotzdem war ich ihm mit meiner Verbindung mit Prag behilflich; ich hinderte ihn nicht, als er nach Rußland gehen wollte, im Gegenteil, auch dabei half ich ihm. Er kam auch auf der Reise nach Petersburg in London zu mir.

17.

Als die Organisation unserer Auslandstätigkeit so fortgeschritten war, reiste ich Mitte April auf kurze Zeit nach Paris und London, um dort die Verhältnisse in Augenschein zu nehmen. Aus beiden Kolonien waren Nachrichten über persönliche und politische Zänkereien eingelaufen, und meine Freunde Seton-Watson und Steed luden mich auch aus politischen Gründen dringend ein. In Paris besprachen wir alles mit Denis, und ich redete mit vielen Mitgliedern der Kolonie; es trat Ruhe ein. In London war die Schlichtung der Streitigkeiten verhältnismäßig leicht, aber ich hielt mich dort länger auf, um für Minister Grey und die politischen Kreise ein Memorandum auszuarbeiten, worin ich das, was ich in Holland mit Seton-Watson besprochen hatte, präzisierte. Ich betonte das historische Recht auf Selbständigkeit und begründete unseren Kampf überhaupt. Das war nötig, denn in England stellten sich viele Politiker den Aufbau des künftigen Europa eher nach dem Nationalitätenprinzip vor. Ich polemisierte auch gegen die Abtretung eines beträchtlichen Teiles von Dalmatien an Italien, von der ich in London einiges erfahren hatte; die Verhandlungen über die Entente Italiens mit England, Frankreich und Rußland zogen sich schon längere Zeit hin, Anspielungen auf sie hatte ich (von Serben) in Genf und in Paris gehört.

In London wurde ich über die deutsche Situation zuverlässig informiert.

In London war ich auch beim russischen Botschafter Benckendorff. Ich informierte ihn über uns, über Österreich und überreichte ihm mehrere Dokumente (u. a. den Befehl Friedrichs zur Unterdrückung des Sokols). Mir kam vor, als übe der Vertrag mit Italien Einfluß auf ihn aus; wenigstens traute er sich nicht, etwas zu versprechen, und seine Äußerungen ließen erkennen, daß Rußland keinen genauen Plan mit den Slawen habe. Das war mir keine Neuigkeit, aber Benckendorffs Benehmen bestätigte es mir. Er riet mir, möglichst bald zu Sazonov und hauptsächlich zu Nikolaj Nikolajevič, dem angeblich allmächtigen Herrn der Situation, nach Petersburg zu reisen.

Auf der Rückfahrt von London hielt ich mich wieder kurz in Paris auf und bekräftigte, was ich angefangen hatte. Mit Denis hatten wir detaillierte Unterredungen über alle slawischen Länder und selbstverständlich über die ganze Weltlage; sein Buch »La Guerre«, das ich sofort nach seinem Erscheinen nach Prag schickte, war eine geeignete Grundlage zu Diskussionen. Wir verständigten uns im ganzen; über das Schicksal Konstantinopels, eine sehr wichtige Frage, nahm Denis einen abweichenden Standpunkt ein. Über die journalistische Organisation hatten wir schon von Genf aus verhandelt.

In Paris kam ich auch mit dort wirkenden Südslawen zusammen; die wichtigste Person war der Gesandte Vesnić, den ich schon als Studenten kennengelernt hatte. Während des ganzen Krieges war er uns ein treuer und hilfreicher Verbündeter. Wir sprachen allerdings auch über die Londoner Konferenz und die Konzessionen, die die Alliierten (auch Rußland) in Dalmatien den Italienern gewährten. Das Bestreben, Italien zu gewinnen, verdrängte auch in Paris die slawischen Interessen auf längere Zeit in den Hintergrund. Deshalb suchte ich den Außenminister Delcassé nicht einmal auf, da ich vermutete, es wäre ihm nicht lieb; übrigens war ich auch informiert, daß er sich nicht lange halten werde (er trat am 13. Oktober ab).

18.

Ich kann nicht verhehlen, daß mir Italien eine große Freude bereitete, als es sich (am 4. Mai) vom Dreibund lossagte und schließlich Österreich-Ungarn den Krieg erklärte (23. Mai). Die moralische, politische und militärische Bedeutung dieses Entschlusses war sehr groß, denn die Lage auf den Schlachtfeldern entwickelte sich 1915 für uns nicht gut. Es ist wahr, daß Italien, und das charakterisiert den politischen italienischen Gesichtspunkt, den Krieg nicht Deutschland erklärte; dies geschah erst nach einem Jahr (28. August 1916). Die Kroaten und Slowenen waren durch das Londoner Abkommen sehr beunruhigt.

Daß Bülow versucht hatte, Italien zu gewinnen, habe ich schon berichtet; Österreich machte den Italienern unter dem Drucke Deutschlands Angebote, um sie neutral zu erhalten; Burian bot (27. März 1915) das italienische Tirol an, aber Sonnino verlangte (9. April) viel mehr, vor allem auch deutsches und slawisches Gebiet. Die österreichischen Gegenvorschläge (10. Mai) hatten keine Bedeutung mehr, denn am 26. April war in London der Vertrag abgeschlossen worden, in dem etwa halb Dalmatien den Italienern zugesprochen wurde.

Man erzählte damals in ziemlich informierten Kreisen, Kaiser Wilhelm habe die Situation für Österreich und Deutschland durch seine zügellose persönliche Kritik am italienischen König verschlechtert; de facto habe ich später erfahren, daß er den italienischen König durch ein kurzes peremptorisches Telegramm, seinen Verpflichtungen als Verbündeter nachzukommen, beleidigt hat.

In der Schweiz verfolgte ich die Entwicklung des Krieges sehr sorgfältig; ein gutes Hilfsmittel für die ständige Kriegsübersicht boten im »Journal de Genève« die Artikel des Obersten Feyler, Redakteurs der »Revue Militaire Suisse«. Noch quälte mich die Frage, ob der Krieg wirklich so lang dauern werde, wie ich gerechnet hatte. Zu Beginn des Jahres (1915) erwarteten noch viele französische Politiker und Militärs den baldigen Sieg mit Hilfe der Russen; ich erinnere an die Voraussagen der Generäle Zurlinden, Duchesne u. a. Ich lernte bis zum Sommer 1915 die Situation in den hauptsächlichen alliierten Ländern kennen und überzeugte mich, daß wir überall wenig bekannt waren, und daß keine ernsteren politischen Beziehungen zu uns bestanden; ich fürchtete, daß wir leer ausgehen würden, wenn die Alliierten bald siegten. Bei einem längeren Krieg hätten wir mehr Zeit zur Propaganda. Überall wurde vom unentschiedenen Krieg gesprochen; die Situation 1915 und auch noch später schloß das nicht aus.

Die Schlacht an der Marne und ihre Folgen interessierten mich beständig, und ich bemühte mich auf jegliche Weise um fachmännische Informationen; aber die erhielt ich in reicherem Maße erst in England. An der französischen Front entstand nach der Schlacht an der Marne immer deutlicher der Stellungskrieg, wonach man urteilen konnte, daß er lange dauern werde. Die Deutschen überraschten im April mit ihren Gasen, wie die Deutschen überhaupt in ihrer Einschüchterungstaktik mit ähnlichen Überraschungen vorgingen. Entscheidendere Schlachten gab es nicht.

Die Russen waren in Preußen gleich im vorigen Jahre geschlagen worden, im Jahre 1915 auch in Galizien (Gorlice–Przemysl); die Hoffnungen auf die russische Besetzung der böhmischen Länder waren begraben. Im Sommer gingen die Deutschen zur Besetzung (Russisch-) Polens vor; Warschau und auch Wilna fielen, die russische Armee war nicht vernichtet, aber ins Innere des Landes zurückgedrängt. Daß der Zar selbst den Armeeoberbefehl übernahm (6. September), kennzeichnete die Lage in Rußland, die politische und militärische Unfähigkeit des Zaren und seiner Ratgeber.

Die Italiener gingen langsam vor, am Isonzo begann eine Reihe von Schlachten (man zählt ihrer, glaube ich, zwölf). Die Engländer fingen im Februar einen kühnen Kampf um die Dardanellen an, der aber bald unergiebig wurde.

Die deutsche Propaganda in der Schweiz benützte die Situation auf den Kriegsschauplätzen sehr wirksam. Ich fuhr deshalb auf einige Tage nach Lyon, um Südfrankreich zu sehen und das Militär, insbesondere die zur Armee eintreffenden Rekruten, zu beobachten. Die Feinde Frankreichs streuten ungünstige Nachrichten über die französischen Rekruten, die kriegsfeindliche Stimmung in Lyon und im Süden überhaupt aus; ich reiste also zur Beobachtung dahin. Überdies konnte ich auch die katholische Bewegung beobachten, wie sie sich im Heere spiegelte und wiederum eben an den Rekruten, die mit dem Medaillon der Jungfrau Maria am Käppi oder am Rock zu den Regimentern kamen. In allen Ländern widmete ich der religiösen Bewegung während des Krieges Aufmerksamkeit.

Auch nach Italien machte ich wenigstens auf kurze Zeit einen Abstecher, um zu sehen, wie sich die Verhältnisse nach der Kriegserklärung entwickelten. Ich sah Norditalien (Mailand), über das gleichfalls ungünstige deutsche Nachrichten verbreitet wurden. Ich hielt mich beim russischen Schriftsteller Amfiteatrov auf, der damals in Levanto wohnte. Ich kehrte aus Italien ebenso beruhigt zurück wie aus Südfrankreich.

19.

Ich entschloß mich, gegen Österreich auf manifestierende Weise aufzutreten. Unsere Kolonien erwarteten und forderten es überall. In Rußland bestand schon seit dem Herbst die Družina, auch in Frankreich waren unsere Leute in der Armee; in allen Kolonien trat man nachdrücklich gegen Österreich und Deutschland auf. In der österreichischen Armee hielten sich die Unseren gut, Nachrichten darüber verbreiteten wir überall und wirkungsvoll. Das Prager Regiment ging bei Dukla zu den Russen über (3. April), und die österreichischen Blätter meldeten sogar seine formale Auflösung, während sie bisher und noch ziemlich lange darauf unseren Aufstand totschwiegen. Daheim steigerten sich die politischen Verfolgungen (die Verhaftungen Dr. Kramář', Dr. Rašíns u. a. – Hochverratsprozesse und Konfiskationen), und in Wien gab man dem deutschen Druck nach, änderte die Staatswappen und »Österreich« entstand ohne die Belastung der »Königreiche und im Reichsrat vertretenen Länder«. Wir wiesen in unserer Propaganda auf all dies hin, aber unseren Leuten und auch den andern fehlte sozusagen die offizielle Firma dafür; die Südslawen waren uns mit ihrer Zentralorganisation und ihren Erklärungen zuvorgekommen. Es ist wahr, ich hatte für meine Reserve einen triftigen Grund – den finanziellen. Zur Führung eines jeden Krieges braucht man viel Geld, und ich hatte vorläufig keinen genügenden Fond; aus Prag kam kein Geld, und mit Amerika war die Verbindung langwierig. Und ohne Geld wollte und konnte ich die offizielle Aktion nicht beginnen; wir durften nicht pausieren oder gar zurückgehen, wir mußten die Aktion steigern. Und darum richtete ich die Sache so ein, daß wir zunächst kulturell hervortraten; am 4. Juli sprach ich zu unseren Leuten und zu Deutschen in Zürich über Hus und am 6. hatten wir mit Denis eine Versammlung im Reformationssaale in Genf. Denis hielt einen historischen Vortrag, ich fügte die politische Zuspitzung hinzu. Dieses publizistisch gehörig vorbereitete Auftreten erntete Erfolg; in den alliierten Ländern wurde es überall gut vermerkt. Und überall gewann es für unsere Kolonien und unsere Soldaten eine erzieherische Bedeutung; daß nämlich unser Kampf im Geiste der hussitischen Vorfahren geführt werde und nicht nur eine politische, sondern auch eine sittliche Berechtigung habe. Auch in den folgenden Jahren veranstalteten wir die Husfeier überall mit Erfolg; in England z. B. wurde 1916 in allen Kirchen am 6. Juli Hussens und der Tschechen gedacht. Auch in Österreich hatte man die Genfer Husfeier gut vermerkt; die »Neue Freie Presse« klagte über »die erste Kriegserklärung an Österreich«.

Das rein politische Hervortreten verlegte ich noch auf einige Zeit; auch darum, weil man mir aus Prag geschrieben hatte, noch zu warten. Ich verständigte die Unsern daheim und sandte ihnen die Skizze eines Manifestes. Auch wartete ich die Ankunft des Dr. Beneš ab. Als Dr. Beneš endlich Anfang September (2.) definitiv eintraf und die Auslandsarbeit ordentlich eingeteilt wurde, traten wir im November (14.) öffentlich gegen Österreich auf. Damals war ich bereits in London.

20.

Die Entscheidung gegen Österreich und für den Kampf war für mich nicht nur ein politisches, sondern auch ein sittliches Problem.

Das Problem des Krieges und der Revolution hatte mich seit jeher beschäftigt; denn es ist das sittliche Hauptproblem, – die Humanität war mir nicht nur ein Wort. Und es ist ein tschechisches Problem; die Frage Žižka oder Comenius wurde durch Kollár und Palacký im Sinne des Comenius gelöst. In unserer Zeit wies auf das Problem im allgemeinen Tolstoj hin. Ich habe Tolstoj mehrmals besucht. Ich vermochte mit seiner Lehre des Nichtwiderstehens nicht übereinzustimmen; ich hielt daran fest, daß wir jeder stets und in allem dem Bösen widerstehen müssen, und stellte gegen Tolstoj als das wahre humanitäre Ziel auf: stets auf der Wacht zu sein, die alten Ideale der Gewalt und die Ideale des Heldentums und des Märtyrertums zu überwinden, energisch und mit Liebe sich der Arbeit hinzugeben, der Einzelarbeit, zu arbeiten und zu leben! Im äußersten Falle der Gewalt und dem Angriff auch mit dem Eisen zu widerstehen, – sich und andere gegen Gewalttaten zu verteidigen.

Tolstoj erkannte psychologisch und daher auch moralisch den Unterschied zwischen der Abwehr und der Gewalt des Angreifers nicht an. Mit Unrecht; das Motiv ist hier wie dort verschieden, und das Motiv entscheidet über die Sittlichkeit: der eine wie der andre schießt, der Unterschied aber liegt eben im Angriff und in der Abwehr. Wenn zwei das gleiche tun, ist es doch nicht das gleiche; die mechanische Handlung ist gleich, aber ungleich ist die Absicht, das Ziel, die Sittlichkeit. Tolstoj argumentierte einmal arithmetisch: es würden nicht mehr Menschen fallen, wenn die Überfallenen nicht Widerstand leisten würden, sondern weniger, als wenn sie Widerstand leisteten; durch den Kampf würden die Menschen auf beiden Seiten wilder und darum fielen ihrer mehr; stoße der Angreifer auf keinen Widerstand, so werde er geschwächt und höre zu töten auf. Stellen wir uns auch auf diesen praktischen Standpunkt: muß schon einer getötet werden, so mag es doch der Angreifer sein! Warum soll der nichtangreifende, nichts Böses unternehmende Mensch getötet werden und nicht derjenige, der das Böse will und mordet?

Ich bin mir dessen bewußt, daß der Mensch leicht von der Verteidigung zum Angriff übergeht; es ist wahr, daß es schwer ist, gegen einen Angriff genau nur an der Verteidigung festzuhalten, aber gegen Chelčický und Tolstoj gibt es und kann es keine andere sittliche Regel geben.

Ich bin mir auch dessen bewußt, daß es mitunter sehr schwer ist, genau zu bestimmen, wer, welche Partei den Angriff unternommen hat; aber es ist nicht unmöglich. Ehrenhafte und denkende Menschen verstehen ziemlich unparteiisch zu bestimmen, von welcher Seite der Angriff ausgeht und wer sich nur verteidigt. In der »Tschechischen Frage« und anderswo, zuletzt noch vor Kriegsausbruch in »Rußland und Europa«, habe ich mich mit dem Humanitätsproblem des Angriffs- und des Verteidigungskrieges und der Revolution ausführlich befaßt.

In Genf vertrat Tolstojs Anschauung Romain Rolland, der damals im Bureau für Gefangene arbeitete. Er wurde wegen seines Abscheus vor dem Krieg vielfach angegriffen und oft verdächtigt, von den Deutschen gekauft zu sein. Das war sehr ungerecht; seine Aufsätze, die unter dem Titel »Au dessus de la mêlée« gesammelt sind, haben es dem urteilsfähigen Leser klar bewiesen. Rolland ging von Tolstoj aus, und danach beurteilte ich auch seinen Pazifismus; er bot mir eine liebe Anregung, meinen Humanitismus noch einmal zu revidieren.

Der Pazifismus verbreitete sich zu jener Zeit bereits überall. Ich habe nichts gegen einen Pazifismus, wie ihn Rolland praktizierte, der, da er nicht kämpfen konnte und mochte, für die Gefangenen arbeitete; aber es gibt allerlei Pazifismus. Es gibt einen Pazifismus von Natur aus schwacher und schwächlicher, eingeschüchterter und sentimentaler Menschen, auch von Spekulanten usw. Sehr widerwärtig waren mir Pazifisten, die aus oberflächlicher Kenntnis der Lage die Deutschen in Schutz nahmen, als wären diese überfallen worden, während sie schon lange und gerade damals die unerbittlichsten Feinde des Pazifismus waren. Ich spreche natürlich über das offizielle Deutschland, das den Krieg wollte und führte; unter den Deutschen gab es, wie überall, immer auch pazifistische Tendenzen (selbst während des Krieges).

Zum Pazifismus der Literaten und der Bourgeoiskreise kam der radikale sozialistische Pazifismus hinzu, wie er sich in der Zimmerwalder Konferenz 1915 (3. September) äußerte.

Bei diesen meinen Betrachtungen gehe ich von dem Gesichtspunkt aus, daß der Kampf im Felde nicht das schlimmste Übel der menschlichen Gesellschaft ist. Der Krieg wird durch den Kampf im Felde, den offenen Kampf nicht erschöpft; neben den kämpfenden Helden gibt es bisher ein ganzes System von allen möglichen Scheußlichkeiten, die zusammen den militaristischen Krieg ausmachen – Falschheiten, Lügen, Gewinnsucht, Niedrigkeit, Rachsucht, Grausamkeit, geschlechtliche Ausschweifung usw. Die immer noch allzu romantischen Menschen sehen nur die Napoleons und die heldenhaften Heerführer, wie die älteren Maler sie uns darbieten: doch auch im Felde gilt seit je Ulysses mehr als Achilles. Man muß den ganzen gesellschaftlichen Zustand beurteilen, aus dem und in dem der Krieg entsteht. Und es handelt sich nicht bloß um Gefallene, sondern auch um Krüppel und durch den Krieg Geschwächte, die Art, wie für sie gesorgt ist usw. Das alles ist der Krieg. In dieser Hinsicht konnte ich in allen alliierten Ländern interessante Beobachtungen machen; wo z. B. der Bevölkerung die wahrheitgemäßesten Nachrichten über den Stand im Felde mitgeteilt wurden, wie die sanitären Einrichtungen überall waren usw. Die Erwägungen: Humanität gegen Gewalt spitzten sich mir ganz praktisch in die Frage zu: Darf unser Revolutionssoldat, Tscheche und Slowak, auf seinen Bruder Tschechen und Slowaken in der österreichischen Armee schießen? Das war keine abstrakte Kasuistik, denn unsere Legionäre stießen auf den Schlachtfeldern mit ihren Landsleuten zusammen; es kamen Fälle vor, wo im Kampfe Brüder, Vater und Sohn aufeinanderstießen ... Es versteht sich, daß in der Praxis beide kämpfenden Parteien einander bald erkannten und sich gewöhnlich verständigten, daß die Unsrigen in den österreichischen Reihen zu unserer Armee übergingen; aber es kamen Fälle von sehr erbittertem, brudermörderischem Kampfe vor, wenn unsere österreichischen Soldaten den ursprünglichen politischen Standpunkt – Palackýs nicht verließen ...

Mehr als eine Nacht peinigte mich das Schicksal jener unserer Freiwilligen und Aufständischen, die in die Hand der österreichischen Militärjustiz fielen. Die Nachrichten über Hinrichtungen unserer Jungen mehrten sich – ich empfand brennende Qualen, wenn ich unbeugsamen Widerstand verkündete und unsere Jungen zum Kampf auf Leben und Tod anfeuerte. Oft hatte ich das lebendige Gefühl, selbst in die Schlacht gehen zu müssen, da ich den Kampf verkünde, – obgleich ich mir sagen mußte, daß der Führer sich im Interesse der Kämpfenden nicht exponieren dürfe. Aber so viel nahm ich mir vor, daß ich der Gefahr nicht ausweichen und keine Angst um mein Leben haben werde (d. i. daß ich dieser Angst nicht unterliegen werde, denn ich glaube, daß in Lebensgefahr jeder Mensch Angst hat). Allerdings war ich überall in beständiger Gefahr.

Dann war die Frage nicht weniger quälend: Was wird das Volk sagen, wenn wir nicht siegen? ...

Ich will mich auf die Einzelheiten des komplizierten Problems nicht einlassen; ich erkläre nur den Grund meines schließlichen Vorgehens gegen Österreich (und Deutschland), warum ich mich von meinem humanitären Standpunkt aus in die Reihen der Kämpfenden gestellt habe. Das bedeutete de facto unsere Auslandsaktion und unser formales Hervortreten, denn ich war mit der Überzeugung hinausgekommen, daß wir unsere Armee haben müssen. Die Kolonien in der Schweiz, in Frankreich und England waren schwach, sie konnten daher nicht viele Freiwillige stellen; eine größere Anzahl unserer Leute lebte in Amerika und in Rußland. In Rußland befanden sich die Gefangenen, darunter viele, die sich den Russen ergeben hatten, in Rußland also mußte unsere Armee formiert werden; Amerika konnte eine gewisse Anzahl schicken, aber infolge seiner Neutralität würde es uns hinderlich sein. Ohne kämpfende Armee bliebe unser Anspruch auf Befreiung wenig beachtet; die ganze Welt kämpfte, da konnten wir uns nicht mit historischen und naturrechtlichen Traktaten begnügen.

Nachrichten aus Rußland über das Vorgehen der Unsern und speziell über die Družina und ihre Entwicklung erhielt ich öfter, wenn auch doch nur unvollständige; Rußland war vom Westen wie abgeschnitten, die russische Propaganda war schwach. Ich bekam russische Blätter (auch Pavlůs »Čechoslovák«) und Publikationen überhaupt, aber spät, unregelmäßig und unvollständig. Was ich bekam, ergänzte ich mir durch meine Kenntnis der Personen und Verhältnisse.

Für alle Fälle sandte ich einen besonderen Boten nach Rußland. Solche besondere Boten sandte ich von Zeit zu Zeit nach Rußland und anderswo hin (auch nach Österreich, selbst nach Prag); es waren gebildete und intelligente Männer oder auch Frauen, die die Reise für die Sache unternahmen. Ich gab ihnen detaillierte Informationen; sie sollten nicht meine Bekannten aufsuchen, sondern sich nur möglichst gut über Verhältnisse und Personen informieren. Selbstverständlich waren das Bürger neutraler oder alliierter Staaten.

Oft bekam ich auch Nachrichten von Personen, die aus Rußland, Österreich und Deutschland eintrafen; ich suchte viele auf, von denen ich erfuhr. In der Schweiz begegnete ich mitunter Leuten aus Wien; manchmal waren es wohlinformierte Menschen. Ein-, zweimal sprach ich sogar mit Beamten, die mit der offiziellen Politik nicht einverstanden waren und mir ohne Rückhalt anvertrauten, was sie wußten. Ein Vorfall blieb mir gut im Gedächtnis haften: ich begegnete auf einem Spaziergang um den See einem bekannten Pariser Bankier, ungarischen Staatsbürger, der in Wien und Budapest gut orientiert worden war. Ich erfuhr interessante Einzelheiten.

21.

Für den Humanitismus war die Schuldfrage sehr wichtig. Ich beurteilte die Sache so, wie ich es im »Neuen Europa« formuliert habe. Die Literatur über die Schuldfrage wuchs schon während des Krieges, heute ist sie eine ganze Bibliothek, und das Urteil ist auf dokumentarischer Grundlage erleichtert; ich stütze mein Urteil auf die langjährige Beobachtung Deutschlands und Österreichs und namentlich auch der pangermanischen Bewegung.

Bei der Beurteilung der Schuld entscheiden nicht die Einzelheiten nur, ob dieser oder jener die Mobilisierung und andere Kriegsvorbereitungen um ein paar Stunden oder selbst Tage früher oder später angeordnet hat; die Frage ist, wer am meisten zu der gesamten politischen Atmosphäre beigetragen hat, aus der der Krieg, als sich Gelegenheit dazu bot, sozusagen mechanisch entstand.

Schuldig ist im Reich und in Österreich-Ungarn der Imperialismus und imperialistische Militarismus. Der deutsche Imperialismus, wie er in der letzten Zeit von den Pangermanisten formuliert und ausgeübt wurde, war im Grunde gewalttätig. In Deutschland und in Österreich-Ungarn wurde gegen die nichtdeutschen Nationen ohne Scheu Gewalt angewendet, die ganze innere Politik hatte einen gewalttätigen Charakter; doch hat, das muß gerechterweise hervorgehoben werden, Europa dazu geschwiegen. Die deutschen Philosophen und Historiker verkündeten die Ausrottung der Polen (Eduard v. Hartmann), und uns Tschechen sollten die Schädel eingeschlagen werden (Mommsen). In der auswärtigen Politik ist der entsprechende Charakter und eine aggressive, rücksichtslose, herrische, herrisch-ungeduldige Richtung zu beobachten. Der Pangermanismus ist der Ausdruck einer wirklichen Praxis, und andererseits lenkte seine Lehre vom Herrenvolk die ganze deutsche und österreichische Politik. In diesem Geiste erhoben die deutschen Philosophen und Juristen die Gewalt zum sittlichen und juridischen Prinzip; die Deutschen verarbeiteten am fleißigsten die Theorie, daß das Recht aus Macht und Gewalt entspringe, und handhabten sie gleichzeitig praktisch wirksam und am rücksichtslosesten; wo die öffentliche Meinung so vom aggressiven Militarismus gewonnen, wo der rücksichtslose Pangermanismus zum Credo der Zivilisten ebenso wie der Offiziere wurde, wo die Armee stets bereit war, dort stürzte der Staat und mit dem Staat das Volk sich leicht in den Krieg, sobald ihm dazu Gelegenheit geboten war. Und die Gelegenheit bot sich durch das Sarajevoer Attentat.

Wenn Treitschke und nach ihm alle Theoretiker des deutschen Drangs nach Osten uns auseinandersetzten, die Deutschen hätten von allem Anfang an die Aufgabe gehabt, den Osten zu kolonisieren und speziell die Slawen zu unterjochen, so kann dadurch die agressive Erziehung des Volkes erklärt, keineswegs aber entschuldigt und gar gefeiert werden.

Daß Österreich und Preußen-Deutschland stets an Krieg dachten, ist aus dem deutsch-österreichischen Geheimvertrag vom Jahre 1909 wohl ersichtlich, der dem Dreibund den rechten Sinn gab. (Auf diesen Vertrag macht mit Recht der Wiener Chefredakteur Dr. Kanner aufmerksam.)

In den alliierten Ländern schrieb man etwas einseitig alle Schuld den Deutschen zu; man hatte Österreich nicht so vor Augen, weil man mit ihm nicht direkt kämpfte. Aber Österreich trägt einen großen Teil der Schuld, und demgemäß fiel auch sein Schicksal und seine Strafe aus. Österreich war im Recht, als es – seltsamerweise etwas spät – für Sarajevo Genugtuung forderte; damit stimmten alle Staaten überein; aber Österreich trifft die Schuld, durch seine übertriebene Forderung an Serbien den Krieg mit Rußland riskiert und provoziert zu haben; in Wien und in Budapest wurde nach dem Attentat in Sarajevo gegen Serbien vorgelogen, die serbische Regierung habe die Tat angezettelt. Der Protest der serbischen Regierung blieb ohne Wirkung; die serbische Regierung hatte Wien sogar gewarnt gehabt und auf die Möglichkeit eines Attentats aufmerksam gemacht: das führt schon Denis in seinem Buch über Serbien an (er wurde von serbischer Seite informiert), und die neuesten Mitteilungen des ehemaligen Ministers Biliński u. a. bestätigen es. Aber Berchtolds Außenministerium ging gegen Serbien mit derselben machiavellistischen Politik vor, wie sein Vorgänger sie mit der Fälschung antiserbischer Dokumente bewiesen hatte. Wien und Budapest rasten geradezu gegen Serbien, es sollte vernichtet werden. Wien und Budapest und einzelne ihrer Politiker gingen nur in der Frage auseinander, wie dies am wirksamsten zu erreichen sei.

Ich habe auf den Unterschied des österreichischen und des serbischen leitenden Ministers in der Affäre Pašić-Berchtold hingewiesen: der serbische Minister war während eines siegreichen Krieges bereit, weiteren Konflikten mit Österreich vorzubeugen – der österreichische Minister lehnte das Friedensangebot hochmütig ab. Der erwähnte Biliński sagt mit Recht in seinen Erinnerungen, daß es vielleicht nicht zum Weltkrieg gekommen wäre, wäre dieser Unverstand Berchtolds nicht gewesen. Doch das war gerade das österreichische und das deutsche System.

Deutschland hat die große Schuld, daß es seinem Verbündeten carte blanche gab und ihm erlaubte, in einer so weittragenden Sache zu entscheiden, und daß es unter dem Vorwand mithaftender Treue die Kriegserklärung an Serbien als erwartete Gelegenheit benützte. Aus Conrad v. Hötzendorfs Erinnerungen wissen wir jetzt mit Sicherheit, daß Deutschland Österreich Hilfe versprochen hatte, auch wenn das Vorgehen gegen Serbien einen großen Krieg verursachen würde. (Conrad hörte dies von Berchtold schon am 7. Juli!) Deutschland konnte vernünftiger sein als das oberflächliche, nichtswürdige Österreich, und darum trifft es die größere Schuld. Ein kräftiges und entschiedenes Wort Kaiser Wilhelms hätte Wien abgeschreckt. Corruptio optimi pessima.

Deutschland hat ebenso Schuld, weil es den englischen Vorschlag nicht benützte und die Zusammenkunft der Kaiser, Könige und Präsidenten oder der Außenminister nicht veranstaltete, um über den Streitfall mündlich und von Angesicht zu Angesicht zu verhandeln.

Die Schuld Deutschlands und Österreichs, und insbesondere ihre Gewalttätigkeit, wird durch die gewaltsame Führung des Krieges bestätigt. Die Versenkung der »Lusitania«, die Erschießung der Engländerin Miß Cavell in Brüssel, die Bombardierung von London u. v. a., die strategisch überflüssigen Angriffe, die Verwendung giftiger Gase usw. entflammten mit Recht in allen Ländern die Meinung gegen Deutschland. Und der Vormarsch des österreichischen Heeres in Serbien und in Galizien war ganz barbarisch – Tausende und Abertausende von Menschen wurden getötet und gemartert, oft mit geradezu krankhafter Grausamkeit: das Drama von Karl Kraus (»Die letzten Tage der Menschheit«) bietet dafür sehr realistisch verbürgte Beweise, indem es zugleich die degenerierte Grausamkeit der Habsburger charakterisiert.

Ich erinnere mich dabei der ausgiebigen Hilfe, die uns und den Südslawen durch die Vorträge und Publikationen eines gebürtigen Schweizers, Prof. Reiß, zuteil wurde, der in Serbien die österreichischen und magyarischen Grausamkeiten gesehen hatte und über sie in der Schweiz und dann auch in Paris und London Vorträge hielt.

Zu dieser Gewaltsamkeit zähle ich die Unwahrheiten und direkten Lügen, die durch die deutsche und österreichische Propaganda systematisch verbreitet wurden; die Lüge, die Franzosen hätten durch Überschreiten der Grenze, durch Abwerfen von Bomben aus Flugzeugen auf deutsches Gebiet u. a. die Feindseligkeiten eröffnet, während die Franzosen in Wirklichkeit ihre Armee zehn Kilometer von der Grenze zurückzogen, um jeden Zwischenfall zu vermeiden. Ich habe mich überzeugt, daß eben dieses Vorgehen der Franzosen ihnen in bedeutendem Maße die Sympathien des reservierten England eintrug. All diese und ähnliche Unwahrheiten konnte ich überprüfen. Ich gebe zu, daß auch auf alliierter Seite über die Deutschen Unwahrheiten verbreitet wurden, aber das geschah in geringerem Maße, die englische und amerikanische Publizistik hielt sich unvergleichlich anständiger und ehrenvoller.

Die Art der deutschen und österreichischen Propaganda wurde speziell in Amerika für uns dadurch wichtig, daß wir ihre Methoden zu enthüllen vermochten. Davon wird beim Bericht über Amerika die Rede sein.

Was hier von den Deutschen und Österreichern gesagt wird, gilt auch von den Magyaren.

Die Schuldfrage wird überall eifrig erörtert, schon darum, weil die Alliierten in Versailles die Deutschen und ihre Verbündeten offiziell des Angriffs beschuldigten; ich verfolge die ganze Literatur darüber und finde keinen Grund, meine Meinung zu ändern. Im Ganzen läßt sich beobachten, daß man in Deutschland (und auch in Österreich) die große Schuld Deutschlands und Österreichs mehr anzuerkennen beginnt als während des Krieges und in der ersten Zeit nach Friedensschluß. Ich wiederhole, daß man über allerhand Details uneins sein kann, ob die Russen oder die Österreicher die Mobilisierung um ein paar Stunden früher oder später angeordnet haben u. ä. – der Krieg 1914 ist eine notwendige Folge des verbreiteten Faustrechts und Militarismus, der am wirksamsten, geradezu philosophisch und wissenschaftlich in Preußisch-Deutschland formuliert und propagiert wurde. Deshalb trifft die größte Schuld am Kriege das Preußentum.

Man kann sagen, daß die Schuld in erster Linie auf die Staaten und ihre Leitung fällt, nicht auf die Völker; das erkenne ich an, obgleich hier nicht der Raum ist, zu untersuchen, in welchem Maße ein Volk für seinen Staat verantwortlich ist, in diesem Falle für den führenden preußischen Staat. Ich kehre zu dem Problem später zurück.

22.

Auch in der freien Schweiz hatten wir viel von Österreich zu erdulden. Es war in der neutralen Schweiz offiziell vertreten, ebenso wie Deutschland, und nützte diese seine Stellung aus; fast überall wurden bei unseren Leuten von der Polizei Haussuchungen unternommen, die Regierung des Kantons Genf verbot die antiösterreichische Propaganda. In der Praxis wurde das Verbot mild gehandhabt; dennoch verlegte Dr. Sychrava sein tschechisches Blatt nach Frankreich, nach Annemasse – das mit Genf durch eine Elektrische verbunden ist –, alles übrige blieb beim alten. Wir mußten aber äußerst vorsichtig sein, um der Regierung keine Unannehmlichkeiten zu bereiten. Später – im Februar 1916 – wurde Dr. Sychrava aus der Schweiz sogar ausgewiesen. Mehrere tschechische Studenten wurden nach ihrer Rückkehr in die Heimat gefangengesetzt und zum Tode verurteilt, weil sie meinen Vortrag besucht und mit mir gesprochen hatten!

In der Schweiz war wie überall eine starke deutsche, österreichische und magyarische Propaganda am Werk; auch herrschte in der Schweiz bedeutende Österreichfreundlichkeit. In die Schweiz kam später unter andern auch Prof. Lammasch aus Wien, in der Schweiz wurden die Beziehungen mit verschiedenen Angehörigen der kämpfenden Staaten angeknüpft. Das freie Schweizer Asyl genossen nicht nur wir, sondern auch alle andern, namentlich die sozialistischen Pazifisten (Zimmerwald-Kienthal!); von dort gelangte später mit Hilfe der schweizerischen Sozialisten Lenin nach Hause. Der deutsche Teil der Schweiz war stark für Deutschland; für Deutschland waren namentlich die höheren Offiziere und Kommandanten der Armee.

Die österreichischen Spitzel waren uns überall auf den Fersen. Einer kam aus Prag direkt in mein Hotel; nur war er mir aus Prag avisiert worden (ein Beweis, wie gut unsere unterirdische Verbindung und die Maffia in Prag funktionierten), und ich lud mir ihn gleich am nächsten Tag zu mir ein und fragte ihn, als wäre nichts geschehen, über Prag und die Polizei aus. Die jüngeren Kameraden trieben reichlich Scherze mit ihm, einige gewannen ihn für unsere Dienste und machten einen zweifachen Verräter aus ihm. Interessanter war der Fall eines österreichischen Offiziers, eines gebürtigen Mähren, der nach Genf zu mir kam; er war angeblich desertiert und bot mir für Frankreich eine Erfindung an, wie man aus einem fliegenden Aeroplan sicher zielen und das Ziel treffen könne. Ich brachte ihn in Annemasse mit Franzosen zusammen, in Paris wurde jedoch seiner Darstellung kein Wert beigemessen, und so reiste er nicht hin. Ich gab acht, ob nicht auch er Spion sei; er hatte die Romantik und Phantastik eines Spions; er erzählte, wie er in eine Liebesaffäre verwickelt worden sei, die mit dem Tode eines Mitglieds der Familie Habsburg geendet, weiters einen komplizierten Roman über einen jüngeren Bruder, kannte einen nationalistischen Redakteur in London und ähnliche Geschichten. Ich kontrollierte sie, sie entsprachen nicht der Wahrheit. Nach kurzem Verkehr verschwand das mährische Brüderlein.

Im Frühjahr litt ich viele Wochen Beschwerden mit einem Arm; an meiner Schulter kamen merkwürdige kleine Abszesse zum Vorschein, der Doktor dachte an eine Vergiftung; die Unseren meinten, daß die Deutschen mittels der Wäsche sich an mich heranmachten. Ich würde es nicht erwähnen, wenn mir in England nicht gleiches passiert wäre, wo der Arzt dieselbe Diagnose einer Vergiftung stellte. Ich schrieb die Sache der ungenügenden Bewegung in frischer Luft zu und begann zu reiten; zu Pferde empfangen die Lungen angeblich doppelt soviel Luft, als im Spazierengehen.

Selbstverständlich arbeiteten wir hauptsächlich der österreichischen Propaganda und ihren Intrigen entgegen; sehr oft halfen uns die Feinde mit ihren Übertreibungen und ihrer Plumpheit. Ich verstand die schwierige Lage der kleinen Schweiz, die rücksichtslos von Deutschland und Österreich unter Druck gesetzt wurde.

Die Schweiz interessierte mich sehr in politischer und nationaler Beziehung; soweit ich konnte, beobachtete ich die Administration und die einzelnen Einrichtungen.

Im Groben ähnelte das Verhältnis der drei Nationalitäten in der Schweiz dem Verhältnis der Nationalitäten im erwarteten tschechoslowakischen Staate (der Tschechen – Deutschen – Magyaren); überhaupt gibt es zwischen der Schweiz und uns mehrere Ähnlichkeiten (die Schweiz entstand im Aufruhr gegen Österreich – sie hat kein Meer). Am wichtigsten war mir die Erkenntnis, daß die Einheit der Republik während des Krieges trotz dem großen Gegensatz der nationalen Sympathien nicht gestört wurde. Viele hervorragende Deutsche (der Dichter Spitteler) erklärten sich sehr entschieden gegen das Preußentum. Ich kannte von früher schweizerische Schriftsteller: G. Keller – C. F. Meyer – Spitteler – Amiel – Seippel – Rod – Ramuz; nach dem Kriege lernte ich den deutschen Schriftsteller Roninger kennen und ergänzte meine Kenntnisse durch den älteren Gotthelf – ein bemerkenswerter Realismus, insbesondere der Gotthelfs vor Keller. Dieser schweizerische Realismus hängt, glaube ich, mit der schweizerischen Demokratie zusammen. Der Wert der schweizerischen Literatur war mir immer ein Beweis, daß das freundschaftliche Zusammenleben der Deutschen und Franzosen und der schweizerische Internationalismus der Nationalität nicht schadet. In sprachlicher und nationaler Beziehung ist die Schweiz geradezu ein klassisches Beispiel einer starken nationalen Originalität bei intensivem internationalen Zusammenleben.

Die Schweiz gewann, so klein sie ist, durch ihre Geister Einfluß auf die europäische Kultur; ihre Internationalität entwickelte sie gleich intensiv wie die Nationalität, was die bekannten internationalen humanitären Institutionen, angefangen vom Roten Kreuz bis zum Völkerbund, bezeugen. Allerdings ist die Schweiz frei und demokratisch; in Österreich und in Ungarn sind die Nationen durch Zwang und unter monarchischem Absolutismus beisammen. Aber gerade deshalb können wir vom schweizerischen Beispiel lernen; dabei werden wir uns der Unterschiede erinnern, von denen der wichtigste darin besteht, daß die Schweiz eine Föderation selbständiger kleiner Staatenkantone ist, daß alle drei Nationalitäten in der Schweiz Bestandteile großer Nationen sind, die in großen selbständigen Staaten leben, und daß es da, aus älteren Zeiten her, keine Nationalitätenkämpfe gab.

Infolge der Mobilisierung der Schweiz sah ich einiges von der Armee und konnte mich über das Milizsystem belehren, das namentlich die Sozialisten empfahlen und das ich auch annahm: daß die Miliz möglich war, schon das zeugt von den festen Grundlagen der schweizerischen Demokratie.

Die Demokratie und ihre Freiheit kann und muß der aufmerksame Fremde im gesamten Leben sehen. Ich besuchte verschiedene Kantone und brachte mir die Beziehung von Föderation und Demokratie zu Bewußtsein; der Vergleich mit den Vereinigten Staaten und Deutschland war unschwer.

Die Kantone sind klein, die ganze Föderation menschenarm; und deshalb entwickelten sich manche Formen direkter Volksregierung – Referendum und Initiative, die kleinsten Kantone hatten gar kein ständiges Parlament, das Volk kam zusammen und faßte Beschlüsse. Die Wahl der Regierung und des Präsidenten, die Art und die Dauer der Funktionen entsprechen dieser besonderen Unkompliziertheit des Staatsapparates. Die Schweiz ist auch ein Land der proportionellen Vertretung.

Die Tendenz der schweizerischen Demokratie zur direkten Regierung hat ihren Ausdruck in Rousseau gefunden: dieser führende Theoretiker des modernen Demokratismus stand eben politisch und religiös unter dem Einfluß seines schweizerischen Vaterlandes. Denn auch der Genfer Calvinismus übte seinen Einfluß auf Rousseau und seine Theorien der Demokratie – das Standbild Rousseaus, das ich täglich mehrmals sah, machte mir das Rousseausche Problem in all seiner Fülle lebendig und veranlaßte mich zu erneuter Lektüre und Revision des Rousseauismus.


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