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I. Das Vermächtnis des Comenius

(Prag 1914: August-Dezember)

1.

Seit dem zweiten Balkankrieg habe ich mich mit dem Plan befaßt, die Serben und die Bulgaren zu versöhnen, denn ich erwartete in absehbarer Zeit einen größeren Krieg und fürchtete deshalb die Feindschaft der beiden Völker. Von Zeit zu Zeit sprach ich in diesem Sinne mit so manchem Serben und Bulgaren. Als im Frühjahr 1914 ein guter Bekannter, ein Serbe, in Prag weilte, verabredete ich mit ihm einen ganzen Plan; er reiste nach Hause und kam in der guten Hoffnung zurück, die führenden Männer in Belgrad seien bereit zum Frieden und zu Zugeständnissen. Im weiteren Vorgehen sollte ich nach Paris und London reisen, um dort einflußreiche Staatsmänner zu gewinnen, damit sie auf Belgrad und Sofia einen Druck ausüben, und um für den Plan auch die französische und die englische Presse zu interessieren; nach Petersburg brauchte ich vielleicht nicht zu reisen, es genügte, mit den russischen Botschaftern zu sprechen und über Paris und London auf Petersburg einzuwirken. Von Paris sollte ich über Konstantinopel nach Sofia reisen; in Belgrad riet man, ich solle Belgrad nicht berühren, die Bulgaren würden mehr Vertrauen haben, wenn ich zu ihnen direkt aus London und Paris komme. Eine gute Idee, – doch Sarajevo und schließlich dann das österreichische Ultimatum an Serbien begruben meinen Versöhnungsplan.

Ein analoger, wichtigerer Versuch geschah 1912 während des ersten Balkankrieges, im Dezember. Ich war in Belgrad und hatte bei dieser Gelegenheit eine Unterredung mit Pašić über den Krieg und die ganze politische Situation. Die Folge der Unterredung war, daß Pašić mich am nächsten Tage rufen ließ und die Bedingungen formulierte, unter denen er sich für Serbien mit Österreich ausgleichen wolle; zum Beweis seiner Friedensliebe wollte er auch persönlich nach Wien kommen und Berchtold einen Bückling machen, um den Wiener Prestigehunger zu stillen. Ich sollte Berchtold seinen Plan vorlegen. Ich referierte Berchtold, dieser begriff aber die Sache nicht und stimmte der Versöhnung nicht zu. Als ich mich bei mehreren politischen Leuten (Biliński, Baerenreither u. a.) beschwerte, waren sie allerdings über den Unverstand des österreichischen Ministers des Äußeren geradezu niedergeschmettert und versuchten den Fehler gutzumachen, doch gelang es ihnen nicht. In mir befestigte sich die Überzeugung von der Oberflächlichkeit und Schlechtigkeit der Wiener Balkanpolitik. Stellen wir uns nur die Situation vor: der serbische Minister will sich während des siegreichen Krieges mäßigen und reicht dem österreichischen Minister des Äußeren die Hand zur Versöhnung, – dieser aber lehnt in seinem Großmachtdünkel ab und häuft eine Schuld der herausfordernden österreichischen Politik auf die andere. Der Vorfall mit Berchtold bestärkte mich in der Erwartung eines Krieges; dazu hatte mich das Studium der Geschichte und die Beobachtung Europas geführt; der Überfall Serbiens durch Wien überraschte mich nicht.

Nach dem Attentat von Sarajevo befand ich mich mit meiner Familie in Schandau in Sachsen auf Ferien.

Seit dem Ultimatum war ich in beständiger Spannung und hoffte, es werde nicht zum Krieg kommen. Noch nach verkündigter Mobilisierung bewies ich meinen Bekannten, daß das nur ein Schreckschuß sei und daß die entscheidenden Staatsmänner zusammenkommen und den Konflikt schlichten werden. Von der Mobilisierung bis zur Erklärung und Führung des Krieges sah ich einen beträchtlichen Weg. Selbst die Kriegserklärung hielt ich nicht für das letzte Wort. Ich wurde ein unheilbarer Pazifist und Idealist geheißen –, in Wirklichkeit hatte ich innerlich den Krieg erwartet, und zwar schon vor dem Attentat, aber ich fürchtete, mich schließlich zu entscheiden, meine Opposition gegen Österreich und das Österreichertum durch die Tat beweisen zu müssen! Als England an Deutschland den Krieg erklärte (4. August), war es aus mit den Vertröstungen; trotzdem erblickte ich ein gewisses Schwanken Deutschlands in seinem Ultimatum an Belgien und dann in seinem an Belgien gerichteten Vorschlag eines friedlichen Abkommens (9. August); ich sah darin einen gewissen Respekt vor der Weltmeinung. Allerdings war all dies ein vergebliches Sich-Herumwinden rund um den heißen Brei – der Hals ist auch dem Politiker ein sehr lieber Körperteil ...

Von Schandau konnten wir nach Bekanntgabe der Mobilisierung nicht sofort nach Hause zurückgelangen, die Bahnen waren für Soldaten und Rekruten reserviert; auch österreichisch-ungarische Untertanen kehrten in Haufen aus Deutschland zurück. Der Aufenthalt in Sachsen ermöglichte mir, in Dresden und verschiedenen Städten die deutsche Mobilisierung zu sehen und sie mit der österreichischen zu vergleichen, die ich beobachtete, nachdem ich (um den 10. August herum) heimgekehrt war. Die Deutschen hielten in allem eine viel größere Ordnung aufrecht, ihr Militär war viel besser und solider ausgerüstet; peinlich war mir, die österreichischen Rekruten, namentlich die Slawen, zu sehen, die aus Deutschland und über Deutschland daheim ankamen – ganze Massen waren betrunken.

Auf jener Reise betrachtete ich mir den tschechischen Soldaten näher; ich sprach mit einem Feldwebel. Es war unweit von Melnik (wir fuhren auf einem Umweg von Tetschen); ich warf ihm ein paar skeptische Bemerkungen über den Verlauf des Krieges hin – – ich sehe den armen Teufel heute noch, wie er mit großen Augen mich anschaute und sich mit einem traurigen »Was können wir tun?« erleichterte. Ja, was konnten wir, was mußten wir tun! Ich wußte, was wir tun mußten, was ich tun mußte; von Tag zu Tag wurde es mir klarer. In Prag herrschte politische Öde; jede Tätigkeit der politischen Parteien und der Einzelpersonen war unterbunden; wir Abgeordneten versammelten uns zwar, um über irgendwelche administrative Lappalien zu reden, aber es war herauszufühlen, daß unser Geist anderswo weilte, als im Beratungssaal.

Unsere tschechischen Soldaten gaben beim Verlassen Prags ihre antiösterreichische Gesinnung kund; von der Armee trafen Nachrichten ein, daß sie sich auflehnen und revoltieren; bald vernahm man von strengem Einschreiten der Militärbehörden, sogar von Todesstrafen. Sie wurden dafür bestraft, was ich als Abgeordneter verkündet hatte, – – – konnte, durfte ich da weniger tun, als der einfache Soldat-Bürger, den ich in seiner antiösterreichischen und slawischen Gesinnung bestärkt?

Ich begann Unterredungen mit den Abgeordneten-Kollegen, um die Gesinnung und Pläne der Parteien festzustellen. Öfter sprach ich mit dem Abgeordneten Švehla; ich war in Hostivař und Karlsbad bei ihm. Im weiteren Verlauf verhandelte ich mit Dr. Stránský (dem Älteren), Kalina, Dr. Hajn, Klofáč (ich hatte vor seiner Verhaftung und auch im Gefängnis Fühlung mit ihm) Dr. Soukup und Dr. Šmeral; ein-, zweimal lud ich mehrere zu mir ein. Auch mit dem Abgeordneten Choc knüpfte ich an, aber er zeigte solch eine Angst, daß ich ihn aus meiner Rechnung strich. Aus diesen Unterredungen bildete ich mir das Urteil, daß die riesige Mehrheit der Parteiangehörigen, mit deren Führern ich verhandelte, ihre antiösterreichische Gesinnung auch dann bewahren würde, wenn einzelne Führer oder Fraktionen Österreich verlassen würden.

Die Polizei und die Behörden hegten anfangs keinen Verdacht gegen mich, ich war vorsichtig und erschwerte niemandem seine Stellung; in solcher Lage ist die Regel wichtig, das Meiste selbst zu tun und den andern das Wenigste zu sagen, damit sie im Falle der Verhaftung und der gerichtlichen Untersuchung einfacher aussagen können. Darum teilte ich auch meinen Nächsten nichts von meinen Plänen mit; allerdings errieten Einzelne, was ich unternahm und was meine Abreise über die Grenze zu bedeuten hatte. Aber von mir bekamen sie absichtlich nichts zu hören.

2.

Ich war entschlossen, und zwar endgültig: die Opposition gegen Österreich mußte Wirklichkeit werden, ernst, auf Leben und Tod – dazu drängte die Weltsituation.

Es handelte sich darum, wie anfangen, mit was für einer Taktik; in der Heimat war eine bewaffnete Revolution, ja auch nur eine radikale Opposition unmöglich, davon hatte ich mich bald überzeugt. Irgendein Putsch hätte sich vielleicht anzetteln lassen, aber dazu würde ich mich nicht hergegeben haben. In Wien hätten sie es, namentlich Friedrich, möglicherweise gewünscht. Nach der gewissenhaft abgeschätzten Lage mußten wir über die Grenze und drüben unseren Kampf gegen Österreich organisieren.

Ich suchte zunächst noch von Prag aus Verbindung mit Freunden in den Ententeländern, und dazu kam mir Herr Voska gelegen, der vor dem Krieg in Böhmen zu Besuch weilte. Ich kannte ihn aus Amerika. Nachdem ich mich seiner Verschwiegenheit versichert hatte, verhandelte ich mit ihm über die Sammlung eines größeren Fonds durch unsre Landsleute in Amerika, um daheim den Opfern der österreichischen Verfolgung zu helfen. Davon ging ich zu politischen Verhandlungen über. Als Bürger des neutralen Amerika hatte Herr Voska Zutritt in alle kriegführenden Länder; darum ersuchte ich ihn, seine Heimreise über England anzutreten und in London meinen Freunden Nachrichten und Briefe abzugeben. Herr Voska erklärte sich dazu bereit und brach Ende August auf. Um die Sache unauffällig zu machen, begleiteten ihn mehrere amerikanische Landsleute. Ich schickte allerdings mündliche Nachrichten, damit möglichst wenig geschrieben werde; schriftlich wurden hauptsächlich Zahlen und kurze Anmerkungen zur Stärkung des Gedächtnisses mitgegeben. Die Nachrichten bezogen sich auf die Verfolgungen, namentlich auch der südslawischen Führer, dann vor allem auf den finanziellen Stand Österreich-Ungarns und schließlich auf militärische Dinge. Sie wurden sofort nach der Ankunft in London am 2. September (1914) Mr. H. W. Steed, dem Leiter des außenpolitischen Teils der »Times«, übergeben, und er übergab sie am selben Tag den Adressaten, unter denen sich auch die russische Botschaft befand. Ich ersuchte Mr. Steed gleichfalls, nach Rußland einen Wink gelangen zu lassen, unsere militärischen Überläufer aufzunehmen und ihnen keine Schwierigkeiten zu bereiten. Die Russen betrachteten auch unsere Soldaten einfach als »Austriaken« und verfuhren entsprechend mit ihnen. Mr. Steed entledigte sich des Auftrages durch den Botschafter Benckendorff und ließ mir seinerseits sagen, unsere Soldaten möchten sich den Russen durch das Singen von »Hej Slované!« kenntlich machen.

Die Mission wurde von Herrn Voska gut ausgeführt; er organisierte auch sofort die Absendung besonderer Kuriere, die aus Angehörigen neutraler Staaten und aus unseren in der Fremde lebenden, nach Hause zurückkehrenden Leuten ausgesucht wurden. Auf diese Weise wurden regelmäßige Beziehungen zu den Ententestaaten angeknüpft. Ende September überbrachte mir Nachrichten von Mr. Steed unser in England lebender Landsmann Herr Kozák. Die Nachrichten, die ich derart erhielt und bald darauf bei einer Begegnung mit politischen Freunden in Holland ergänzte, waren sehr ernst und für mich wichtig.

Ich erfuhr nämlich, daß Lord Kitchener meine, der Krieg werde lange dauern, wenigstens drei bis vier Jahre. Diese Frage war für mich sehr wichtig, denn meine Arbeit im Auslande, ihre Art und ihr Charakter hingen wesentlich davon ab, ob der Krieg kurz oder lange dauern werde.

Weiter erfuhr ich, daß die englischen Heerführer das Schicksal von Paris für besiegelt halten, daß sie seinen Fall annehmen; daß aber England nichtsdestoweniger bis zum letzten Mann und bis zum letzten Schiff aushalten werde. Daß wir daher den Mut nicht sinken lassen und bei den Alliierten aushalten sollen.

Wichtig war mir zu erfahren, was für einen Kriegsplan die Entente ungefähr habe. Der Plan bestand darin, daß russische Armeen durch Schlesien, Mähren und Böhmen ziehen, um so Österreich-Ungarn von Deutschland strategisch abzutrennen. Dieser Plan sollte noch im Jahre 1914 ausgeführt werden. Die Russen – erfuhr ich ferner – können Waffen zur Ausrüstung unsrer Leute liefern, damit diese selbst die Ordnung daheim aufrechterhalten.

Die spätere Entwicklung der Ereignisse überzeugte mich, daß die Entente auf den Plan, Österreich von Deutschland abzutrennen, nicht verzichtet hatte. An der Verwirklichung dieses Planes wurde, wie wir sehen werden, noch bis zum Frühjahr 1918, mit Hilfe Österreichs gearbeitet. Mir gefiel dieser Plan sofort nicht, er gefiel mir weder militärisch noch politisch. Militärisch erblickte ich in ihm ein gewisses Mißtrauen gegen die eigene Kraft, und politisch bedeutete er ein Paktieren mit den Habsburgern und die Erhaltung, ja vielleicht die Vergrößerung Österreichs. Ich sah in diesem Plane eine Planlosigkeit. Und auch meine Befürchtungen über Rußland wurden durch diese erste Nachricht aus London nur bestärkt.

Bevor ich über diesen wichtigen Punkt meines Entschlusses spreche, will ich von meinem weiteren Verkehr mit den Alliierten reden.

Ich benutzte den Besuch meiner Schwägerin aus Amerika dazu, sie zum Schiff nach Rotterdam zu begleiten. Das war in der zweiten Hälfte (12.-26.) September; aus Rotterdam schrieb ich Denis und den Freunden Steed und Seton-Watson; diesen, damit sie selbst aus England zu mir herüberkommen oder jemand Verläßlichen schicken. Das konnte in der Eile nicht geschehen, und so mußte ich an eine zweite Fahrt nach Holland denken. Die Reise war aber nicht vergeblich gewesen, weil ich hin und zurück durch Deutschland fuhr und in Holland gewesen war.

In der Heimat klärten sich auch inzwischen die Verhältnisse, die antiösterreichische Stimmung festigte sich; es handelte sich darum, wie man sich daheim organisieren und allerdings, was man daheim tun solle? Ich überzeugte mich von der Gesinnung des Hofes und der militärischen Führer gegen uns. Ich erhielt von verschiedenen Personen der Armee (unter den ersten, war Rittmeister Hoppe vom Prager Korpskommando), der Behörden usw. Mitteilungen darüber, was in der Armee und in der Verwaltung vorging; dazu kamen mit Hilfe Machars Nachrichten Kovandas. Machar hat etwas davon schon veröffentlicht. Aus den mir von Machar übergebenen Dokumenten erkannte ich die feindselige Gesinnung des Militärkommandanten Friedrich u. a. und erfuhr von den Plänen gegen unsern und später auch den südslawischen Sokol. Es dauerte nicht lange, und die Verfolgungen begannen; unter den ersten Opfern befand sich der Jičiner Sokol. Meine zuverlässigen Nachrichten ermöglichten des öftern, voraus aufmerksam zu machen, wenn Gefahr drohte.

Mitte (14.-29.) Oktober reiste ich zum zweitenmal nach Holland. Abermals fuhr ich durch Deutschland und beobachtete insbesondere Berlin längere Zeit; in Holland hielt ich mich nicht nur in Rotterdam auf, sondern auch im Haag, in Amsterdam u. a. Wie das erstemal benutzte ich auch jetzt meinen Aufenthalt in dem neutralen Lande zur Beschaffung und zum Studium der Kriegsliteratur und -publizistik.

Und diesmal kam ich bereits in Verbindung mit den Freunden. In Rotterdam traf ich Seton-Watson; zwei Tage erstattete ich ihm Bericht über die ganze Lage in Österreich und meine Anschauungen vom Kriege und von der Weltsituation überhaupt, wie sie mir erschien; ich setzte ihm unser nationales Programm und unsere Aktionspläne, soweit sie mir damals schon klar waren, auseinander. Er war einigermaßen überrascht, daß ich auf das historische staatsrechtliche Programm Nachdruck legte; in England erwartete man schon damals von uns und den übrigen Völkern Österreich-Ungarns einen größeren Nachdruck auf das Nationalitätenprogramm. Unser treuer Freund arbeitete sofort nach seiner Rückkehr nach London gemäß meinen Darlegungen ein Memorandum aus, das die alliierten Regierungen in London, Paris und Petersburg erhielten. Der Oxforder Professor Vinogradov, der damals nach Petersburg reiste, übergab es persönlich Sazonov.

Auch mit Denis kam ich jetzt in schriftliche Verbindung. In Rotterdam begegnete ich unter andern auch dem Russen Dr. Kastilianskij, den ich kannte und mit dem ich in literarisch-politischem Verkehr stand. Er übersiedelte später nach London und leistete uns auch dort allerlei Hilfe; in Holland war er Dr. Beneš behilflich, als wir dort später eine Filiale unserer Propaganda einrichteten. Ich errichtete in Holland selbst das provisorische Propagandazentrum mit Hilfe des Korrespondenten der »Times«.

In Holland erhielt ich diesmal bereits Geld von den Landsleuten in Amerika; mir persönlich sandte Mr. Charles Crane einen größeren Betrag. Mit Hilfe Mr. Steeds wurden alle diese Transaktionen per Kabel durchgeführt.

Die Isolierung in Holland ermöglichte mir, unsere künftigen Aufgaben ruhig zu betrachten und durchzudenken; die Erinnerung an Comenius, die durch sein Grab auf holländischem Boden belebt wurde, das Vorbild seiner Propaganda in der damaligen politischen Welt, seine politische Weissagung – das Programm seines Vermächtnisses, sie verscheuchten die Reste des Zweifelns und Zauderns. Das Vermächtnis des Comenius blieb mir neben der Kralicer Bibel Die 1593 zum erstenmal erschienene, von »mährischen Brüdern« besorgte tschechische Übersetzung der Bibel, die auch sprachlich von analoger Bedeutung ist wie die Luthersche Bibel. Anm. d. Übers. auf meiner Reise um die Erde ein tägliches nationales und politisches Memento ...

Auf der Rückfahrt von Holland hielt ich mich wiederum in Berlin auf und sprach mit mehreren hervorragenden Politikern und Publizisten. Den Sozialisten sagte ich, daß der 4. August für sie eine Niederlage gewesen sei (im Reichstag waren die Kriegskredite einstimmig bewilligt worden) und äußerte die Meinung, daß die sozialdemokratische Partei sich bald spalten werde. In der Partei war bereits Unruhe zu bemerken; tatsächlich wurden am 2. Dezember die Kriegskredite zunächst gegen eine Stimme (Liebknecht) angenommen, am 20. Dezember schon gegen 20 (sozialdemokratische) Stimmen. Ich erfuhr in Berlin allerhand über den Verlauf des Krieges, was mich in meiner Anschauung über die Schuld Österreich-Ungarns und Deutschlands bestärkte.

Schließlich will ich, vorläufig nur kurz, sagen, daß ich noch von Prag aus durch Vermittlung des Herrn Svatkovskij auch zum offiziellen Rußland eine Beziehung anknüpfte. Ich werde darüber im folgenden Kapitel näher berichten.

Zu diesen Beziehungen zum Ausland zähle ich auch die Beschaffung von reichsdeutschen und alliierten Blättern; in Prag waren diese Blätter (auch die deutschen!) verboten; in Wien gab es eine größere Freiheit, und gar in Dresden und Berlin konnte man englische und andere Blätter lesen. Ich verschaffte mir sie durch Bekannte und besondere Boten. Dadurch war ich über viele Einzelheiten informiert, die unsere Presse nicht erhielt.

Daheim und in der Armee mehrten sich die Verfolgungen; die Hinrichtung Kratochvils aus Prerau (23. November) trieb mich schon förmlich hinaus, aber ich erlebte noch die Hinrichtung Matějkas (15. Dezember). Ich war vorbereitet, über die Grenze zu den Alliierten zu reisen oder zu fliehen, und es handelte sich nur darum, wie ich den endgültigen Abgang ausführen solle. Es dauerte längere Zeit, bis ich mich überzeugt hatte, ob die Polizei Verdacht geschöpft, denn in Holland war mir vorgekommen, als werde ich beobachtet; für das, was ich schon getan hatte, war mir der Galgen gewiß, aber nach allem zu schließen, wußte man von mir nicht viel.

Mit den Abgeordneten sprach ich nach meiner zweiten Reise nach Holland insofern bestimmter, als ich von ihnen eine mündliche Billigung einer Aktion im Ausland verlangte; dazu wurde ich durch den Hinweis Seton-Watsons veranlaßt, daß die Politiker draußen werden wissen wollen, ob ich in meinem oder im Namen politischer Parteien und welcher spreche und handle.

3.

Eine ziemlich starke Unruhe schöpfte ich aus der Entwicklung des Krieges. Wer wird siegen? Auf diese Frage ließ sich 1914 und noch später nicht leicht mit Sicherheit und Genauigkeit antworten.

Ich begann sofort nach Ausbruch des Krieges mit dem Studium mancher mir noch unbekannten Schriften über die moderne Kriegführung; es handelte sich, wie gesagt, darum, ob der Krieg lang oder kurz sein werde, danach mußten wir unsere Aussichten abschätzen und unsere Arbeit einrichten. Die Fachleute waren darin nicht einig; im ganzen überwog bei den alliierten und den gegnerischen Fachleuten (z. B. auch bei Foch) die Meinung, daß der moderne Krieg kurz sein werde. Der bekannte französische Publizist Leroy-Beaulieu schätzte die Dauer auf sieben Monate; Politiker wie Hanotaux, Barrès erwarteten die Beendigung des Krieges von der »Dampfwalze«. Die Deutschen prophezeiten den baldigen Zusammenbruch der französischen Armee nach dem Muster von 1870; der rasche Vormarsch durch Belgien und Luxemburg im Norden und durch Lothringen-Elsaß im Süden bestärkte anfangs diese Erwartung. Die ersten Kriegsereignisse waren für Frankreich nicht günstig – Paris war tatsächlich durch den Druck der Deutschen bedroht, die französische Regierung übersiedelte schon am 2. September von Paris nach Bordeaux. Ich wünschte mir, Kitchener möge recht haben, bezweifelte aber nach dem, was ich von ihm wußte, daß er in der Frage zuständig genug sei.

Über die Lage auf den Kriegsschauplätzen war ich bis zu meiner Abreise von Prag auch in Zweifel; besonders die Schlacht an der Marne bildete ein schweres Problem für mich. Ich übernahm die französische und englische Anschauung, die Deutschen hätten die Schlacht verloren und seien darum auf eine neue Linie zurückgegangen; aber auch die Franzosen hatten sich von der Mosel bis hinter die Marne zurückgezogen, und dieser Rückzug mußte wie eine Niederlage wirken. Mich machte es stutzig, daß die Franzosen nach dem Sieg nicht offensiver vorgegangen waren. Die Deutschen unterstrichen, daß sie eine beträchtliche Anzahl von Truppen, ganze zwei Korps, aus Frankreich nach Ostpreußen gegen die Russen geworfen hätten, daß sie infolgedessen schwächer geworden seien und die Schlacht daher keine entscheidende Bedeutung gehabt habe. Die Alliierten waren seit Beginn zahlenmäßig in der Übermacht, und darum wirkte der französische Rückzug um so peinlicher. Ich kannte in der österreichischen Armee einige gute Militärfachleute, aber mit diesen konnte ich nicht zusammenkommen; erst draußen konnte ich mich durch Militärs informieren und detailliertere Nachrichten lesen. Ich überzeugte mich dann davon, daß die Deutschen an der Marne tatsächlich geschlagen worden waren.

Der hoffnungsvolle Eindruck der Schlacht an der Marne wurde durch die langwierigen Kämpfe um das Kanalufer bei Ypern (20. Oktober-11. November) verstärkt. Auch hier drangen die Deutschen mit ihrem Plan nicht durch und vermochten sich nicht des Kanals und seiner Häfen zu bemächtigen, von denen aus sie England hätten bedrohen können (Dunkerque, Calais, Boulogne). Auf der ganzen Linie mußten sie zurückweichen und sich zum Stellungskrieg entschließen; ihre Offensive war mißlungen, ihre Berechnungen hatten sich als zweifelhaft erwiesen, und damit war ihr ganzer Plan diskreditiert.

Die Türkei entschied sich (12. November) für den Dreibund. Kleinasien, Ägypten und der Balkan wurden dadurch militärisch und politisch sehr wichtig. Was werden Bulgarien, Griechenland, Rumänien tun? Die »Times« verurteilte scharf die Politik Englands gegen die Türkei (es hatte zwei in England für die Türkei gebaute Kreuzer beschlagnahmt); dadurch, daß England das Protektorat über Ägypten (18. Dezember) übernommen hatte, verschärfte sich der Konflikt um Kleinasien. Der Krieg komplizierte sich – eine Aussicht, daß er länger dauern werde. Dieser Komplikation entsprach auch die Wegnahme Valonas durch Italien (26. Oktober). Einen Beleg für meine Kriegsbetrachtungen, -hoffnungen und -zweifel findet der Leser in einem Artikel über den Krieg, den ich sofort nach Kriegsbeginn (im August) in »Naše Doba« geschrieben und in dem ich auf die militärische, wirtschaftliche und politische Bedeutung des Weltkonflikts hingewiesen habe; dort legte ich die mich beunruhigenden Probleme dar, allerdings auch meine Hoffnungen – der österreichische Zensor ließ den Artikel durch; er konfiszierte jedoch in derselben Nummer Teile eines Nachdrucks meines (älteren) Artikels über den Balkan und Stellen aus einer Abhandlung von Denis über unsere Stellung in der »Internationalen Liga zur Verteidigung der Rechte der Nationen«. In diesen Artikeln (und in Glossen »Die Gotteskämpfer«) gab ich sofort nach Kriegsbeginn mein politisches Programm; auch in den folgenden Nummern setzte ich die kritische Belehrung denkender Menschen über die Ziele des Krieges fort. Ähnlich wie in »Naše Doba« schrieb ich im »Čas«.

Die Kriegskarten studierte ich täglich und stets sehr aufmerksam; die Politik spielte sich jetzt auf den Schlachtfeldern ab, voraussichtlich auf lange Zeit; das Vorgehen beider Parteien ließ auf die Kriegsziele, Kräfte und Fähigkeiten von Freund und Feind schließen.

Der Mißerfolg Österreichs in Serbien, Potioreks Niederlage und schließlich die Befreiung Belgrads im Dezember (15.) festigten die Hoffnung auf Sieg. Nicht ebenso das Vorgehen der Russen gegen Krakau und die slowakischen Pässe; denn dem stand ein großes Minus in Ostpreußen gegenüber (Hindenburg: Tannenberg, die Masurischen Seen). Die Österreicher und die Deutschen irrten zwar entschieden, indem sie die russische Armee, vor allem ihre Artillerie, unterschätzten, aber was ich vom russischen Heer und seiner Führung kannte, erfüllte mich mit Befürchtungen. Die Ratlosigkeit vor Krakau machte mich stutzig. Damals brachte der »Čas« vielgelesene Artikel über die Kämpfe und insbesondere über Vormarsch und Rückzug der Russen; wir hielten täglich Redaktionskonferenzen ab und kombinierten unsere Ausführungen aus den Nachrichten und der Stellung der Armeen. In der Redaktion waren die einen optimistisch, gar zu optimistisch, ich war zurückhaltend, ja skeptisch; es zirkulierte der Witz, daß der erste, der hängen werde, sobald die Russen in Prag einziehen, ich sei. Von Zeit zu Zeit wies ich im »Čas« in verschiedenen Bemerkungen auf die Unfertigkeit Rußlands hin und erwähnte kritisch nicht bloß den unfähigen Suchomlinov, sondern trotz seinen patriotischen und slawischen Manifesten den Generalissimus. Ich hatte doch nur recht; ich glaube, eine meiner besten politischen Erkenntnisse und Entscheidungen war, daß ich unsere nationale Sache nicht auf die einzige russische Karte gesetzt, daß ich im Gegenteil auf die Gewinnung der Sympathien aller Alliierten hingewirkt und mich gegen die damalige unkritische und passive Russophilie entschieden habe.

4.

Was für eine Stimmung damals daheim herrschte, sah man überall. Die Verkäuferinnen, so erzählte man, bereiteten die besten Gänse für die Russen vor; wie die Abschriften des Manifestes von Nikolaj Nikolajevič und Nachrichten über eine Audienz beim Zaren zirkulierten, ist bekannt, ebenso wie diejenigen, bei denen man sie fand, bestraft wurden. Ich erinnere mich einer Szene in der Ferdinandstraße. Ein bekannter radikaler Redakteur hielt mich an und zeigte mir in freudiger Erregung eine Abschrift der Nachricht über die erste Audienz russischer Tschechen beim Zaren; er war sehr enttäuscht, als ich ihm das Stückchen Papier mit dem Bemerken zurückgab, daß dies politisch wenig bedeute. Tatsächlich hatte der Zar der Deputation nichts Bestimmtes gesagt; ich gab zu, daß der Empfang der Deputation ein Erfolg sei, und er übte, wie der Redakteur selbst zeigte, eine gute Wirkung auf die Aufrechterhaltung der Hoffnung aus.

Abschriften solcher Nachrichten zirkulierten viele; man erzählte, daß russische Flieger sie nachts herablassen, aber nach Inhalt und Stil schienen mir manche apokryph. Österreich benahm sich zu den gefangenen Russen und den Russen, die der Krieg draußen überrascht hatte, besonders hart (noch schlimmer zu den Serben); ich erkannte das selbst, als ich mich um die Freilassung des internierten Maxim Kovalevskij bemühte, den der Krieg in Karlsbad betroffen hatte, und der verhafteten Journalistin Frau Zvezdič.

Mehrmals sah ich den Abgeordneten Kalina, dem ich schon früher dies und jenes von meinen Geheimschritten im Auslande mitgeteilt hatte; ich berichtete ihm von der Gefahr, die dem Sokol durch den österreichischen Generalissimus drohe, und wir erwogen die Rolle, die die Sokoln in der anbrechenden Zeit und namentlich während der erwarteten russischen Okkupation spielen können. Er brachte mich mit Dr. Scheiner zusammen.

Mit ihm einigten wir uns, daß die Sokoln im Falle der russischen Besetzung als nationale Sicherheitswache, je nach den Umständen und nach Bedarf als nationale Armee antreten sollen. Ich verheimlichte ihm nicht meine Zweifel an der russischen Armee und Politik und wies auf die Möglichkeit hin, daß die Russen zum Abzug gezwungen werden würden, wenn die Deutschen durch Sachsen, die Österreicher vom Süden hereinbrächen usw. Die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit, daß die Russen zurückweichen müßten, wenn sie bis nach Mähren und vielleicht bis nach Böhmen vorgedrungen wären, sei nach den bisherigen Erfahrungen bedeutend. Große und gewissenhafte Vorsicht wäre geboten, damit die Österreicher sich nach dem Rückzug der Russen nicht grausam rächten und das Volk dadurch nicht für die Zukunft in Schrecken versetzten.

Dr. Scheiner war im Frühjahr selbst in Rußland gewesen und hatte sich überzeugt, daß die politischen Beziehungen zu Rußland sehr schwach, ja nicht vorhanden waren; Sazonov hatte ihm vorgeworfen, die tschechischen Politiker hätten sich um Rußland eigentlich nicht gekümmert und seien den Russen deshalb unbekannt; er sagte offen, wir möchten nicht auf Rußland zählen, und die russische Armee sei auf den entscheidenden Krieg noch nicht vorbereitet. Ähnlich hatte Sazonov sich etwas früher zum Abgeordneten Klofáč (im Januar) geäußert, indem er ausführte, daß die Großmächte keinen Krieg wünschen. Aber das wurde bei uns nicht öffentlich ausgesprochen und nicht gewußt; die öffentliche Meinung war unkritisch russophil, man erwartete von den Russen und ihren Kosaken die Befreiung.

Demgegenüber wiederholte ich zu Dr. Scheiner meine Zweifel an der Zulänglichkeit des russischen Heeres. Ich setzte auseinander, daß ich die russische Dynastie und meinetwegen auch nur einen Statthalter fürchte, daß die Russen mit ihrer Unkenntnis der Verhältnisse und Personen, ihrem Absolutismus und ihrem trägen Leben unsere Russophilie bald zersausen würden.

Dr. Scheiner wendete ein, daß unter den obwaltenden Umständen ein Russe auf dem tschechischen Throne am populärsten sei und daß diese allgemein geteilte Anschauung von uns respektiert werden müsse. Ich erkannte die Richtigkeit dieser Meinung an; gewiß war jetzt keine Zeit, die breite Öffentlichkeit über den wahren Zustand Rußlands zu belehren; ich betonte aber meine Überzeugung Seton-Watson gegenüber, und dieser beleuchtete sie nachdrücklich in seinem Memorandum (das Sazonov übergeben wurde). Es lag mir daran, das offizielle Rußland aufmerksam zu machen; es geschah im Interesse unseres Verhältnisses zu Rußland.

In meiner Auslandspropaganda und namentlich in meinen den alliierten Regierungen überreichten Memoranden führte ich diese russophile Anschauung als die bei uns verbreitetste an; selbst hätte ich, wenn es nicht anders gegangen wäre, den Kandidaten irgendeiner westlichen Dynastie oder einen, der bei diesen Dynastien Einfluß besaß, vorgezogen.

Aber ich will sofort bemerken, daß ich im Ausland nirgends mit irgendwem über einen Königskandidaten verhandelt habe: meine Anschauung teilte ich nur den intimsten Freunden draußen mit, damit sie im Bedarfsfalle informiert seien. Verschiedene Nachrichten, ich hätte mit englischen und andern Prinzen verhandelt, sind insgesamt unwahr. Ich war selbst für die Republik, wußte aber, daß die Mehrheit in jenem Augenblick auf der royalistischen Seite sei; das damalige Vorgehen der Sozialdemokraten bei uns und in Deutschland und ihr Verhältnis zu den Dynastien erforderten eine ruhige Erwägung der Staatsform; nicht weniger zu denken gab die Ermordung Jaurès. Gewiß war die Sache damals nicht akut. Erst durch die russische Revolution wurde überall und auch bei uns, der Republikanismus gestärkt; bei uns wurde, wie mir schien, das Vertrauen zur russischen Dynastie erschüttert.

Mit Dr. Scheiner verhandelte ich über die Finanzierung der Aktion im Auslande; er gab mir sofort einen Beitrag, damit sie in Angriff genommen werde. Wir dachten an die Gelder der Sokolgemeinde, die später durch irgendeine juridische Transaktion immobilisiert wurden; im Augenblick sollte ich mich an die amerikanischen Tschechen wenden.

5.

Über die russophile Stimmung – eine Politik war es kaum – muß ich noch ein paar Worte sagen; die Sache war ernst und wurde durch die nicht voraussehbare Entwicklung noch ernster.

Unsere politischen russophilen Kreise hatten zwar ein slawisches Programm, das maximal war, aber unklar; nach dem russischen Siege – und an dem zweifelten sie nicht – würde ein slawisches Großreich entstehen, die kleinen slawischen Völker würden sich Rußland angliedern. Soweit mir damals berichtet wurde, gab sich die Mehrheit der Russophilen mit dem lockenden Analogon des Planetensystems zufrieden – um die Sonne Rußland sollten die slawischen Völker als Planeten kreisen; ein Teil der Russophilen wünschte innerhalb der russischen Föderation eine gewisse Autonomie, irgendein Großfürst sollte in Prag Statthalter sein. Ich habe mich mit dem Studium Rußlands und der einzelnen slawischen Völker längst, eigentlich mein ganzes Leben lang, befaßt; nach meiner Kenntnis der Dinge konnte ich vom zarischen Rußland die Erlösung nicht erwarten, im Gegenteil, ich erwartete eine neue Auflage des japanischen Krieges, und darum war ich für eine energische Auslandsaktion nicht nur in Rußland, sondern auch in den übrigen alliierten Ländern, um uns die Sympathien und die Hilfe aller zu gewinnen. Ich drängte darauf, daß auch Dr. Kramář ins Ausland fliehe, damit wir uns dort in die Arbeit teilen können; doch Dr. Kramář wollte, wie mir berichtet wurde (ich hatte keine Gelegenheit, mit Dr. Kramář zu verhandeln), nicht ins Ausland gehen, da er erwartete, daß die Russen die tschechoslowakische Frage selbst endgültig lösen werden. Ich fürchtete dagegen, durch den Krieg mit Japan belehrt, daß Rußland im Kriege nicht siegen und daß dort wieder eine neue Revolution ausbrechen werde; ich fürchtete, daß man bei uns allzusehr den Mut verlieren werde, wenn man so allgemein die Erlösung durch Rußland erwarte und Rußland nicht imstande sein werde, uns zu helfen.

Ich hatte die Entwicklung des zeitgenössischen Rußland und auch der russischen Armee sehr sorgfältig verfolgt. Zuletzt hatte ich in Rußland 1910 geweilt und mich da, wie jedesmal beim dortigen Aufenthalt, sehr gut und zuverlässig über den Stand des russischen Heeres informiert. Der Verfall und die Demoralisation, die sich im Kampfe mit den Japanern so furchtbar geoffenbart hatten, waren noch nicht gutgemacht. Es wurden Reformen eingeführt und die Armee mit Waffen versorgt, doch der Fortschritt war unbedeutend. Das bestätigten mir glaubwürdige Nachrichten aus den Balkankriegen und die späteren Geschehnisse bis zum Kriegsausbruch; ich mißtraute der russischen Militärverwaltung und den verschiedenen Großfürsten – die schreckliche Tatsache, daß russische Soldaten sich bald gegen die Deutschen mit Stöcken und Steinen verteidigen mußten, zeigt den ganzen Leichtsinn des zarischen Rußland. Daß die russischen Großfürsten von den Erzherzögen in der österreichischen Armee aufgewogen wurden, machte das noch nicht gut.

Etwa im Mai (1914) hatte die »Novoje Vremja« eine Betrachtung über die Unfertigkeit Rußlands zum Kriege in jenem Sinne gebracht, wie Sazonov davon zu unsern Landsleuten gesprochen hatte; die tschechischen Blätter nahmen davon Kenntnis, aber das war bald vergessen, und man erwartete einen geradezu wunderbar raschen Sieg Rußlands. Zur Entschuldigung unserer Optimisten kann man auf gleiche Optimisten bei den Alliierten hinweisen.

Ich begriff, daß unsere Leute von den offiziellen Kundgebungen Rußlands begeistert waren; darin war von Slawen und Brüdern die Rede, und das genügte unserer Öffentlichkeit, die zur sachlichen Außen- und Weltpolitik (und diese hatte mit dem Kriege wahrhaftig für uns begonnen) nicht erzogen worden war. Aufmerksam las ich all die Kundgebungen. Das russische Kriegsmanifest (2. August) spricht von den durch Blut und Glauben verwandten Slawen – Slawen und Brüder waren dem offiziellen Rußland schon je die rechtgläubigen Balkanslawen. Der Zar sprach zu den Dumamitgliedern (9. August) wieder von den mitgläubigen Brüdern, und darum bedeutete mir der weitere Satz: »die völlige und unlösbare Vereinigung der Slawen mit Rußland« kein genaues Programm, zumal er gar nicht davon sprach, ob sich Polen, Bulgaren und Serben mit den Kroaten und Slowenen und wir mit Rußland so intim vereinigen lassen. Bei der Moskauer Kriegsfeier (18. August) verkündete der Repräsentant des Adels den Krieg als Abwehr des Slawentums gegen den Pangermanismus, und der Zar antwortete darauf, es gehe darum, Rußland und das Slawentum zu verteidigen. Er erwähnte dabei nicht den Glauben, aber das verstand sich für ihn von selbst.

Sazonov als Minister des Äußern erklärte in der Duma, Rußlands historische Aufgabe sei, der Protektor der Balkanvölker zu sein (nicht nur der slawischen!); der Wille Österreichs und Deutschlands dürfe in Europa nicht Gesetz sein.

Schön war das Manifest an die Polen (15. August), und die Polen nahmen es selbst bewegt und dankbar an; ich erfuhr später, daß Sazonov es verfaßt hatte. Ich wurde einigermaßen stutzig, daß das Manifest zwar im Namen des Zaren erlassen, aber nur von Nikolaj Nikolajevič unterzeichnet worden war, genau so wie der österreichische Kaiser zu den Polen durch seinen Generalissimus gesprochen hatte. Es dauerte nicht lange, und zwischen Polen und Russen lebte die alte Feindseligkeit wieder auf, keineswegs nur durch die Schuld der Polen. Das zarische Rußland zeigte Schritt für Schritt, daß es an die wahre Unabhängigkeit der Polen nicht denke, sondern an irgendeine Autonomie, bis es dann Trepov rund heraus sagte und der Zar nach ihm wiederholte.

Die Kriegsmanifeste von Nikolaj Nikolajevič mißfielen mir, sie waren aufgeblasen und unbestimmt; namentlich sein Manifest an die österreichisch-ungarischen Völker. Dieses Manifest zirkulierte bald in verschiedenen Abschriften; es kam in neun Sprachen heraus, und besonders der slowakische Text unterschied sich vom tschechischen und andern dadurch, daß die Slowaken darin ausdrücklich apostrophiert wurden. Auch ein besonderes Manifest an das tschechische Volk zirkulierte, aber es kam mir gefälscht vor – entweder von unsern Leuten oder von der österreichischen Polizei; in den russischen Dokumentensammlungen und Blättern habe ich es nicht gefunden.

In den Reden der Abgeordneten in der Duma wurde von den Slawen wenig gesprochen; der Vertreter der Polen erwähnte die Slawen, um nicht von den Russen sprechen zu müssen, Miljukov erwähnte den Kampf gegen die Übermacht der Deutschen über Europa und die Slawen.

Aus all diesen offiziellen Kundgebungen konnte ich vom offiziellen Rußland keine andere Meinung gewinnen, als ich sie aus meinen Studien und Beobachtungen hatte.

Bei uns wirkten die Nachrichten über die Družina in Rußland und die Kundgebungen des Zaren an die Unsern aufmunternd; man kannte die Einzelheiten nicht und wog die russische und die europäische Situation überhaupt nicht kritisch ab. Der politische Druck seitens Österreichs und die Erschlaffung infolge des ohnmächtigen Rüttelns an dem Wiener Gefängnisgitter förderten diese unkritische Russophilie, die vom großen Rußland die Erlösung erwartete und sich einredete, es bedürfe gar keines aktiven Widerstandes.

Wie unklar die russische Presse sich über slawische Dinge ausdrückte, davon gibt das damals erreichbare »Russkoje Slovo« ein Beispiel in einem Zitat des Kiewer »Čechoslovan« vom 20. September (1914). »Russkoje Slovo« kommentiert nämlich den Aufruf von Nikolaj Nikolajevič an die österreichischen Völker also: »Die große Stunde hebt an. Die verschiedenstämmigen Völker Österreich-Ungarns werden zu neuem Leben aufgerufen. Bosnien und Herzegowina, Dalmatien und Kroatien vereinigen sich mit Serbien, Siebenbürgen (Transsylvanien) und die südliche Bukowina mit Rumänien, Istrien und Südtirol mit Italien; verwickelter ist die Frage nach dem Schicksal der Tschechen, Slowenen, Magyaren und österreichischen Deutschen. Gegen ein Deutschösterreich in seinen ethnographischen Grenzen läßt sich nichts einwenden, aber unzulässig ist, daß deutsche Gegenden Deutschland angegliedert werden, denn auf diese Weise würde Deutschland aus dem Kriege gestärkt hervorgehen. Ein unabhängiges Österreich muß Deutschland vom nahen Osten trennen. Auf dem Wege zur Schaffung eines unabhängigen tschechischen Staates ersteht die Frage nach dem Ausgang der Tschechen zum Meer, eine Frage, die sich in den ethnographischen oder historischen Grenzen der tschechischen Nation nicht lösen läßt. Die Ungarn erhalten ihre Selbständigkeit, der verhängnisvolle Fehler des Jahres 1849 wird wieder gutgemacht. Dabei müssen die Ungarn jedoch durch die Grenzen der magyarischen Gebiete beschränkt sein.« Ich muß den Absatz des russischen Blattes nicht beleuchten, – er verrät Unklarheit und Unbestimmtheit, namentlich über die Schicksale unseres Volkes und Österreichs, das Deutschland vom »nahen Osten« trennen soll; der Leser möge sich ein solches Österreich nach der Karte nur gründlich vorstellen, und er wird die russischen Unklarheiten über Polen und Böhmen erkennen. Dasselbe gilt von den Slowenen usw. Bestimmter ist allein das serbische und das rumänische Programm.

Mein kritischer Standpunkt gegen Rußland war gewiß berechtigt und einzig richtig; aber jetzt war es, wie gesagt, zu spät, Rußland öffentlich zu kritisieren und unsere Russophilie auf das gebührende Maß zurückzuführen. Auch hätten, zumal während der Kriegserregung, die Leute meine Kritik nicht verstanden. Hatten sie doch viele schon vor dem Kriege nicht verstanden. Die Mehrzahl der Menschen begreift nicht, was Neruda unter »bewußter Liebe« gemeint hat. Im gegebenen Falle liebte ich, das darf ich ruhig sagen, Rußland, d. i. die russische Nation und das Volk nicht weniger, als es unsere Russophilen taten, aber die Liebe kann und darf den Verstand nicht einlullen. Gar die Beteiligung am Kriege und an der Revolution erfordert einen kühlen, klaren Kopf; Kriege und Revolutionen werden nicht mit Phantasie und Begeisterung, Gefühl und Instinkt gemacht, – gewiß werden sie nicht allein mit ihnen gewonnen. Ich folgte den Spuren Havlíčeks, der uns zum erstenmal Rußland gezeigt hat, wie es wirklich ist, und ließ mich darin durch niemanden und nichts beirren. Ich war mir bewußt, wann, in welchem Maße und wie auch ein demokratischer Politiker – ja gerade der – sich nach der Majorität und selbst der Meinung aller richten kann und darf.

Rußland und vor allem das offizielle Rußland – und dieses entschied über den Krieg – hatte sein besonderes slawisches Problem: In seinem Drange nach Konstantinopel, in diesem schon von alters her religiös gestärkten und geradezu geweihten Drange stieß es auf den Widerstand Österreichs, das sich im Dienste Roms und der pangermanischen Idee gleichfalls nach dem Balkan drängte. Die kleinen Balkanvölker waren für Österreich und ebenso für Rußland ein Mittel zum Ziel. Religiös stießen hier die katholische österreichische und die rechtgläubige russische Dynastie aufeinander; Österreich und Rußland rivalisierten um den Einfluß und die Herrschaft in Serbien, Rumänien, Bulgarien. Diese Länder waren den beiden Rivalen benachbart und ihnen auch durch die historische Entwicklung am nächsten, und darum handelte es sich in erster Linie um sie.

Die politischen und religiösen Gegensätze machten Österreich und Rußland auch im Norden schon längst zu Rivalen – in Galizien und Polen. Das bildete für das offizielle Rußland das eigentliche slawische Problem, aber das Slawentum war da untergeordnet, uralten politischen, kulturell-kirchlichen Plänen unterstellt.

Das Slawentum in nationalem und breiterem Sinne – in allslawischem Sinne – verstanden in Rußland nur manche Slawisten, Historiker und ein Teil der Intelligenz; aber auch sie in beträchtlichem Maße aus dem russischen religiös bedingten Gesichtspunkt. Darum waren für die Russen die Rücksichten auf uns Tschechen und auf die Kroaten und Slowenen weniger lebhaft, weniger akut. Das russische Volk wußte nur etwas von den rechtgläubigen Brüdern am Balkan.

Der radikale Teil der russischen Intelligenz, insbesondere die regierungsfeindlichen Sozialisten, waren gegen den offiziellen Nationalismus und sein Slawentum und daher auch unserem nationalen Streben nicht günstig gesinnt. Das alles haben wir dann während des Krieges in Rußland selbst erfahren und erlebt.

So war und ist die russische Wirklichkeit. Bei uns hat man diese Wirklichkeit nicht genug gekannt, die Mehrzahl unserer Russophilen begnügte sich mit unklaren Anschauungen über Rußland; Rußland war ihnen groß und mächtig, und da wir gegen Österreich und Deutschland notwendig einer fremden Hilfe bedurften, sollte uns das große brüderliche Rußland erlösen. Eine begreifliche Psychologie und Politik; schon Kollár hat gesagt, warum die Idee der slawischen Gegenseitigkeit in der kleinen Slowakei entstanden ist.

6.

Später wird Gelegenheit sein, noch ausführlicher über Rußland und unser Verhältnis dazu zu sprechen; zu Beginn des Krieges handelte es sich darum, so kritisch wie möglich das Plus und Minus der beiden kämpfenden Parteien abzuwägen und sich in der verhängnisvollen Situation zu entscheiden. Ich erwog: Deutschland hat eine gute und große Armee, hat einen bestimmten Plan (den Pangermanismus!), für den es nicht bloß das Volk, sondern auch die Intelligenz gewonnen hat, ist gut vorbereitet, hat tüchtige Heerführer (diese Ansicht schränkte ich bald ein), ist reich und hat eine starke (Kriegs-) Industrie; dafür ist das österreichische Heer und seine Führung schwächer; die verschiedenen Erzherzöge, der unmögliche Friedrich und dann die Eifersucht auf Berlin und die deutsche Heeresleitung bilden ein Minus. Ich wußte, daß in Wien zwei Strömungen bestanden, die eine für die einheitliche Führung, die andere für die selbständige. Über Conrad u. a. hatte ich meine Zweifel. Ich erwartete, daß Wien sich Berlin unterwerfen und ihm gehorchen werde, aber keineswegs bereitwillig; auch der Separatismus Ungarns werde sich geltend machen. Die Mittelmächte werden, obgleich benachbart, keine ganz einige politische und militärische Führung haben. In der österreichischen Armee werden die Unsern und die Italiener unzuverlässig sein, vielleicht auch die Südslawen und die Rumänen.

Die Alliierten haben die Überzahl an Menschen, haben (schon im Jahre 1914) alle zusammen mehr Soldaten, sind reicher, ihre Industrie ist stärker. Eine größere, wohlausgebildete Armee hat allerdings nur Frankreich, Rußland nur teilweise; überhaupt ist Rußland militärisch, politisch, wirtschaftlich, finanziell unsicher. England muß seine Armee erst errichten und ausbilden; Serbien hat ausgezeichnete Soldaten, aber es sind wenige und die Türken werden ihnen Schwierigkeiten machen. (Die Türkei erklärte den Alliierten den Krieg am 12. November.) Italien bleibt wenigstens neutral; vielleicht auch Rumänien, obzwar der König entschieden für Deutschland ist. (Italien beschloß die Neutralität am 31. Juli, Rumänien am 3. August.) Ein bedeutender Fehler wird die geographische Uneinheit sein und die sich daraus ergebende Uneinheitlichkeit des militärischen und politischen Planes, die Isolierung der Aktionen. Die Verkehrsmittel im Osten sind für die Russen sehr unvorteilhaft. Die Schlachten an der Marne und bei Ypern sind verheißungsvoll. Die Entente ist entschlossen gegen Deutschland, aber weniger gegen Österreich, und darin liegt für uns eine Gefahr. In Summa: der Sieg der Alliierten ist möglich, wird aber die Anspannung aller Kräfte erfordern. Daß der deutsche Plan, Frankreich rasch zu überwältigen und Rußland wenigstens aufzuhalten, mißlungen ist, erweckt die Hoffnung auf Sieg. Uns würde von Vorteil sein, wenn der Krieg lange dauert, wir werden unsere Revolutionspropaganda entfalten können.

Die Stimmung in Prag und in Böhmen überhaupt war im Dezember 1914, als ich mich ins Ausland rüstete, beklommen. Man spürte schon Unsicherheit in der Einschätzung Rußlands und der Alliierten; und spürte eine gewisse Unsicherheit in den eigenen Reihen; die Mobilisierung sei, wie Wien verkündete und Berlin bestätigte, glatt durchgeführt worden, alle Nationen hätten sich um den Thron geschart. Trotzdem waren wir überzeugt, daß dies nicht wahr sei; in Prag und anderswo wurde manch ein loyaler Mummenschanz veranstaltet, doch die Gesinnung war antiösterreichisch. Es gab Schwächlinge und schlechte Menschen, aber der bewußte Widerstand von verhältnismäßig vielen Einzelpersonen im Heere und die Gesinnung des Volkes rechtfertigte, soweit ich die Situation kannte und abschätzte, die Organisation eines aktiven Kampfes. Das Volk, vor allem die Intelligenz war zwar lange in dem österreichischen Sinne erzogen worden, Österreich sei für uns notwendig und die Rettung vor der deutschen Flut; es war zu erwarten, daß sich auch unter den führenden Leuten einzelne finden, die entschlossen und überzeugt für Österreich eintreten, aber nichtsdestoweniger waren das Empfinden und die Überzeugung der Mehrheit des Volkes entschieden antiösterreichisch. Wenn mich nur die Abgeordneten nicht korporativ desavouieren, sagte ich mir, von der Polizei erzwungene Artikel und die Verleugnung durch Einzelne schadet nichts. Ergo – mit Gottes Hilfe hinaus und ans Werk! Und sollten Deutschland und Österreich so wie so siegen oder sollte das Ergebnis des Krieges unentschieden sein – ich bleibe draußen und führe die revolutionäre Opposition gegen Österreich weiter für die Zukunft.

Aus unseren Kolonien kamen zuerst von der französischen und der amerikanischen, dann von der englischen und der russischen Nachrichten über Kundgebungen gegen Österreich. In Paris rissen gleich am 27. Juli unsere Leute die österreichische Fahne von der Botschaft und beschlossen am 29., in die französische Armee einzutreten; in Chicago manifestierten sie gegen Österreich-Ungarn am 27. Juli, in London am 3. August. Nach Pariser Muster reichte die russische Kolonie der Regierung am 4. August das Projekt einer Legion ein; unsere Freiwilligen in Frankreich wurden am 20. August in die Fremdenlegion aufgenommen, am selben Tag die russischen Tschechen vom Zaren empfangen, und am 28. August wurde die Družina organisiert. Aus Rußland trafen in Prag Boten mit der Meldung darüber ein, was unsere Leute dort unternehmen. Das alles entsprach unserem nationalen Programm und der Stimmung – – hinaus, hinaus!

Häufige und detaillierte Beratungen pflog ich mit Professor Koloušek über die wirtschaftlichen und finanziellen Grundlagen des tschechischen Staates (mit der Slowakei); bei der Propaganda würden wir, das wußte ich, auch mit Ziffern überzeugen müssen, und es war nötig, von dem eventuellen Staat ein möglichst klares Bild zu haben.

Mein politisches Programm war eine Vereinigung der tschechischen Wünsche, wie sie im staatsrechtlichen, historischen und naturrechtlichen Programm formuliert waren; ich dachte stets an den Anschluß der Slowakei – ich bin meiner Herkunft nach Slowak und Mähre. Ich kannte die Slowakei von häufigen Aufenthalten gut und bestimmte mir die Grenze gegen Magyarien; der Sicherheit halber ersuchte ich Dr. Anton Hajn, mir von einem Bekannten, ich glaube von einem Offizier, auf der Karte die Südgrenze der Slowakei einzuzeichnen. Mit dieser Skizze und einem Verzeichnis der wichtigsten Grenzorte fuhr ich ins Ausland.

7.

Hier muß ich noch den Plan eines Korridors zwischen Jugoslawien und uns erwähnen; es war nicht mein Plan, aber viele von unseren Leuten und den Südslawen erwärmten sich dafür. Der enge, 200 km lange, die Magyaren vollständig isolierende Korridor zwischen Magyarien und Österreich schien mir nicht durchführbar. Wenn ich nicht irre, überbrachte Dr. Lorković, der auf meine Einladung nach Prag gekommen war, die Sache nach Agram.

Ich wollte vor meiner Abreise über die Lage in Kroatien unterrichtet sein; ich fürchtete, die alten Bitterkeiten zwischen Kroaten und Serben könnten sich vertiefen, denn Wien und Budapest würden in dieser Richtung mit Volldampf arbeiten. Aus dem Bericht des Dr. Lorković entnahm ich, daß es in Kroatien ziemlich viele Menschen gab, die an die Möglichkeit eines selbständigen kroatischen Staates dachten, sei es eine Republik, sei es eine Monarchie mit fremder (englischer) Dynastie; Kroatien würde mit Dalmatien, Istrien und dem Küstenland vereinigt werden; die Frage Bosniens und der Slowenen ließ er offen. Ich war – Italien verhielt sich damals neutral – für die territorial und politisch möglichst vollständige Vereinigung der Südslawen; Triest stellte ich mir als unabhängigen Freihafen á la Hamburg vor. Ein detaillierter Plan war bei der damaligen Situation nicht möglich. Ich teilte Dr. Lorković meine Absichten mit, damit er sie den südslawischen Freunden bekanntgebe; ich erwartete sie im Ausland und wünschte eine intime Zusammenarbeit mit ihnen.

Mit Dr. Lorković kam ich noch in Wien zusammen, bevor ich nach Italien abreiste; er brachte mir eine Karte und eine Statistik der kroatischen Kolonien im Gebiete des eventuellen Korridors.

Über die Verhältnisse und Pläne der Slowenen hatte ich eine Beratung mit Dr. Kramer; ich erwartete, und Dr. Kramer bestätigte es mir, daß die fortschrittlichen Slowenen für die Einheit aller drei Volksstämme seien.

8.

Bevor ich abreiste, wollte ich mir dieses Österreich und dieses Wien noch einmal gründlich anschauen.

Ich kroch direkt in die Höhle des Löwen. In Prag wurde erzählt, der Statthalter Thun habe aus Wien bereits das Verzeichnis derjenigen erhalten, die er verhaften solle, und unter ihnen sei auch ich. Ich ging also (nach meiner ersten Rückkehr aus Holland) zu Thun, wozu mir die Konfiskation der »Naše Doba« und der Druck auf den »Čas« Grund gaben. Thun war ein anständiger Mensch, man konnte mit ihm ziemlich unverhüllt reden. Diesmal kam er mir, von der ersten Begrüßung angefangen, verschlossener vor als früher; er reichte mir nicht die Hand. Er führte mich in das Zimmer neben dem Empfangssaal, und mir war es, als schreibe jemand hinter dem Vorhang meine Worte mit. Ich wollte ihm ein paar Sachen beibringen. Vor allem, daß die österreichische Regierung unlängst im Balkankrieg uns erlaubt habe, für die Serben und die Bulgaren Sammlungen zu veranstalten – wie könne man erwarten, daß unsere Soldaten das nach so kurzer Zeit vergessen haben? Und was die Russophilie betreffe – ja, wir seien Russophilen, aber das bedeute nicht notwendig, daß wir den Zaren und sein Regime unter allen Umständen lieben; jedenfalls müsse Wien gegen unsere Soldaten wenigstens ein wenig politischen Takt zeigen. Ich sagte ihm, daß die von der russischen Front in die Heimat geschickten Verwundeten sich über unzulängliche Pflege und Behandlung im Felde beklagen; ich sagte ihm, daß mich Militärärzte, notabene Deutsche, schon vor dem Kriege wiederholt aufmerksam gemacht haben, die Militärheilkunde sei unzulänglich. Die Militärverwaltung richte sich nach Franz Ferdinand, der in den Militärärzten Atheisten und Juden sehe. Ich sagte ihm, daß die Militärverwaltung nicht für die Erneuerung der Heilmittel gesorgt habe, was mir Militärärzte während des Krieges gesagt hatten, daß sie zu alt und unwirksam sei. Es gebe nicht chirurgische Instrumente genug, von einem Feldröntgenapparat keine Spur. Ich erzählte ihm die Erfahrungen eines Regimentskommandanten in Galizien (eines Magyaren!) und die Befürchtungen, die er mir mitgeteilt habe. Auf diese Weise sagte ich dem Statthalter viel; auch meine Beobachtungen in Deutschland und Holland. Aus der Unterstreichung mancher dortigen Beobachtung konnte er entnehmen, daß es in Österreich darin Unzulänglichkeiten gab. Politisch resümierte ich, Österreich müßte, wenn man in Wien unparteiischer zu sein verstünde, an den Tschechen eher eine gewisse Freude haben, weil wir Österreich nicht ganz unter der Kontrolle Deutschlands haben wollten. Ich gab ihm mehrere Beweise von unerlaubter antitschechischer und antislawischer Tätigkeit und vom Benehmen deutscher Offiziere beim österreichischen Generalstab und in der Armee (deutsche Gesangbücher und ähnliches).

Der Statthalter war überrascht und befangen. Ich glaube nicht zu irren, wenn ich sage, daß er in seinem Innern mir vielfach zustimmte; bei meinem Fortgehen dankte er mir für den Besuch und wiederholte mehrmals, daß ihn meine Ausführungen sehr interessiert hätten. Die Hand reichte er mir abermals nicht, doch während des Gespräches machte er die Bemerkung, er habe speziell gegen mich nichts unternommen. Ich rechnete deshalb darauf, daß mir die dritte Abreise ins Ausland ohne große Schwierigkeiten doch nur gelingen werde. Ich trug ihm eine bestimmte Forderung vor: nämlich die deutschen Juden in Prag aufmerksam zu machen, sich in ihrer Austrophilie maßvoller zu benehmen. In Prag war eine ziemlich bedeutende Abneigung gegen die deutschen Juden, Gerüchte, daß man deutsche Blätter zu plündern plane, und ähnliche Nachrichten gingen um; ich intervenierte auch bei vernünftigen deutschen Juden, indem ich ihren Konnationalen mehr Reserve empfahl. Ich fürchtete, Unruhen gegen die Juden würden im Ausland arg wirken und meine Tätigkeit erschweren. Thun versprach mir auch vermittelnd einzuschreiten.

Nach einigen Tagen schrieb ich noch an Thun und machte ihn auf manches aufmerksam; meine Absicht war allerdings auch taktisch: ich wollte kurz vor der Abreise nicht ein schlechtes Gewissen zeigen und so tun, als sei nichts los. Um noch einmal mein endgültiges Urteil über Österreich zu revidieren, fuhr ich nach Wien und sprach mit mehreren Politikern. Ich ging unter andern zu Körber, mit dem ich öfter recht unverhüllt gesprochen hatte; diesmal redeten wir länger als zwei Stunden und gingen die ganze Situation durch; ich fragte ihn insbesondere über einige Personen am Hofe aus. Ich formulierte meine Hauptfrage folgendermaßen: Wird Wien der notwendigen Reformen fähig sein, wenn es gewinnt? Körber sagte nach reiflicher Überlegung und Abschätzung der Personen ganz bestimmt: Nein! Der Sieg werde das alte Regime festigen und das neue (Karl) werde um nichts besser sein; nach einem siegreichen Kriege werden die Militärs entscheiden, und sie werden zentralisieren und germanisieren; es werde ein Absolutismus mit parlamentarischer Verzierung sein. Und Berlin? fragte ich. Wird es nicht so vernünftig sein, den Verbündeten zu Reformen veranlassen? Kaum, lautete das Urteil. – Fehlte es nicht an Raum, so könnte ich aus Körbers Erfahrungen am Wiener Hofe und in seiner Umgebung viele, fast anekdotische Belege für die Unfähigkeit und sittliche Degeneration anführen; aber dessen bedarf es nicht mehr, und die Memoiren Körbers gehen gewiß nicht verloren. Körber betrachtete die Dynastie, Wien und Österreich allerdings nicht so wie ich, er beurteilte sie nicht vom sittlichen Standpunkt aus – um so treffender war seine rein politische Diagnose.

Ich suchte auch mehrere deutsche Bekannte aus dem Parlament auf. Sie bestätigten mir nur, was Körber mir gesagt und was ich selbst vorausgesehen hatte. Ich wollte bei einem so ernsten Entschluß doch nur noch ein letztes Mal hören, was die Deutschen selbst über Österreich denken. Aus den Unterredungen in Wien entnahm ich besonders, daß die Militärs auch ruhige Deutsche gegen uns eingenommen hatten. Mehrere Führer deuteten mir bevorstehende Verfolgungen an; sie wußten von künftigen administrativen und politischen Plänen (nach dem Siege), von denen auch Körber gesprochen hatte. Unter anderm bemerkte ich, daß Dr. Kramář Schwierigkeiten haben werde; seine russische Politik war dem politisch ungebildeten Friedrich ein Dorn im Auge, der Panslawismus jeder Couleur und Schattierung für Wien und Budapest ein Alpdruck. Ich machte nahe Bekannte des Dr. Kramář darauf aufmerksam.

Nach dem Besuche von Wien ging es nur darum, die Abreise ins Ausland vorzubereiten und einzurichten.

9.

Gleich am Anfang dieser Erinnerungen muß ich von Dr. Beneš sprechen.

Bis zum Kriege kannte ich ihn persönlich wenig; ich hatte seine Artikel aus Paris und seine Publikationen verfolgt. Ich sah an ihm den Einfluß meines Realismus, des französischen Positivismus und des Marxismus noch nicht kristallisiert. Nach Kriegsausbruch kam er und meldete sich als Volontär des »Čas«; hier sahen wir uns öfter. Eines Tages besuchte er mich vor der täglichen Beratung im »Čas« in meiner Wohnung; offenbar hatte er etwas Ernsteres. Und in der Tat: nach seiner Diagnose können wir dem Kriege nicht passiv zusehen, müssen etwas tun; er hat keine Ruhe, er möchte tätig sein. Darauf ich: »Jawohl, ich bin schon dabei!« Ich machte ihm Mitteilungen, und wir wurden auf dem Wege zum »Čas« über das Belvedere sofort einig. Ich erinnere mich der Szene, als wir zum Abstieg zur Elisabethbrücke kamen: ich machte halt, lehnte mich an das Holzgeländer und versank in den Anblick Prags – die Gedanken an unsere Zukunft zogen mir durch den Kopf. Libušas Prophezeiung – – – aber der Anfang der politischen Aktion war Geld! Dr. Beneš rechnete sein Vermögen nach und versprach sofort mehrere tausend Kronen. Er hatte so viel, wie er brauchte, um auf seine Rechnung mit der Arbeit jenseits der Grenze zu beginnen; das geschah dann auch, er konnte draußen auf eigene Kosten leben. Mir sandten bald meine amerikanischen Freunde hinlängliche Beträge für meine Familie und mich, wie sie sich auch später unserer erinnert haben. So waren Beneš und ich ohne Sorge um unsere eigenen Bedürfnisse.

Wir erörterten die Situation daheim, in Österreich und Deutschland, bei den Alliierten, mit einem Wort alles, woran wir damals denken mußten. Wir vereinbarten unser ganzes Vorgehen, verständigten uns über die Mitarbeiter in der Heimat und im Auslande. Dr. Beneš sollte, solange es ging, zu Hause bleiben; die Verbindung mit mir würde nach dem Vorbild der russischen unterirdischen Arbeit organisiert werden. Meine Kenntnis der Sache half ziemlich; das übrige dachten wir aus, und zwar erfolgreich, wie ich mich bald nach meiner Abreise überzeugte. Dr. Beneš besuchte mich, bevor er selbst endgültig aus Prag ins Ausland abreiste, zweimal in der Schweiz, im Februar und im April 1915.

Die Zusammenarbeit mit Dr. Beneš war leicht und wirkungsvoll. Es bedurfte nicht vieler Reden; er war politisch und historisch so gebildet, daß ein Wort genügte. Er dachte und führte Pläne ins Einzelne aus, bald verstand er, eigenmächtig und gut vorzugehen. Solange ich im Westen war, sahen wir uns oft und dachten alles im Detail durch. Unsere schriftliche und telegraphische Korrespondenz war ziemlich rege. Später aus Rußland, aus Japan und Amerika konnte ich nicht viel schreiben und telegraphieren, wir dachten und arbeiteten parallel. Dr. Beneš wuchs mit der Entwicklung der Ereignisse; bei aller Bindung durch das verabredete Programm handelte er in der Ausführung der Hauptaufgaben sehr selbständig. Seine Initiative war bedeutend, seine Arbeitsamkeit unermüdlich. Beiden kam uns zugute, daß wir eine sogenannte herbe Lebenserfahrung hatten; wir hatten uns durchgeschlagen, uns aus ärmlichen Verhältnissen emporgearbeitet, und das bedeutet, sich Praktik, Energie, Kühnheit aneignen. Das gilt auch von Štefánik, von dem ich später reden werde. Ich war doppelt so alt und erfahrener, als Beneš und Štefánik, und hatte natürlicherweise die Führung inne. Aber das beruhte auch auf der Kraft der gemeinsamen Idee und auf Verständnis. Beide hatten sich bald überzeugt, daß uns meine Kenntnis der Menschen daheim und draußen ein gutes Hilfsmittel sei.

Während der ganzen Zeit meines Aufenthaltes im Auslande kam es zu keinem Mißverständnis; das Zusammenwirken war vorbildlich. Wir waren wenige, aber auch der Apostel waren nicht Legion: klarer Kopf, Sachkenntnis, entschlossener Wille, keine Todesfurcht – das ist eine riesige Kraft. Bald scharten sich um uns ergebene Mitarbeiter – die Sache band uns zusammen.

Auch daheim gab es gute, starke Menschen, mit denen wir in Verbindung waren. Ich lud manche zu Beratungen bei Dr. Bouček ein; es handelte sich mir darum, neben den Abgeordneten auch Nichtabgeordnete einzuweihen, die der Polizei schon dadurch weniger verdächtig waren. Soweit ich mich erinnere: Dr. Bouček, Dr. Veselý, Baumeister Pfeffermann, Redakteur Dušek, Redakteur Herben, Verleger Dubský, Dr. Šámal und allerdings Dr. Beneš. So entstand die Maffia, die anfangs von Dr. Beneš, Dr. Šámal und Dr. Rašín geleitet wurde, nach der Verhaftung des Dr. Rašín und dem Abgang des Dr. Beneš über die Grenze von Dr. Šámal u. a. Und überall in den böhmischen Ländern gab es gute und furchtlose Menschen, wie wir an unseren Soldaten sahen.

10.

Um was es sich also nach Kriegsausbruch handelte, war klar: die gegebene europäische Situation erfassen, die Kräfte der beiden Kriegsparteien abschätzen, den Lehren der Geschichte entnehmen, wohin die Entwicklung weise, sich entschließen und danach handeln. Handeln!

Indem ich in meiner politischen Anschauung von Palacký und Havlíček ausging, suchte ich mir, wie auch unsere andern Politiker, Argumente für unsere österreichische Orientierung zusammen; wie unsere Führer der Wiedergeburt wurde ich von dem Problem der kleinen Nation gequält. Davon zeugen meine Studien über die Entwicklung des tschechischen nationalen und politischen Programms; aber der aufmerksame Leser dieser Studien bemerkt gleichzeitig, daß ich, wiederum wie unsere andern Politiker, frühzeitig zwischen Loyalität und Kampf gegen Österreich schwankte – daher mein beständiges Nachdenken über das Problem der Revolution. In der Studie über Palackýs Idee des tschechischen Volkes konstatierte ich den grundsätzlichen Widerspruch zwischen der tschechischen und der habsburgisch-österreichischen Idee; schon früher hatte ich – im Gegensatz zu Palacký – die Überzeugung ausgesprochen, daß wir selbständig sein können, wenn in Europa die Demokratie und die sozialen Bestrebungen sich kräftigen. Durch die Entwicklung der späteren Jahre (konkreter ab 1907) wurde ich, je besser ich die Dynastie und Österreich kennenlernte, zur Opposition getrieben. Die in Wien und Österreich so mächtige und einflußreiche Dynastie war moralisch und physisch degeneriert; Österreich war für mich auch eine moralische Frage.

Darin unterschied ich mich von der jungtschechischen Partei und später von den Radikalen; daß ich nämlich Österreich und die Dynastie nicht nur politisch, sondern auch moralisch beurteilte. Darin unterschied sich auch meine Auffassung der sogenannten positiven Politik; ich war für die Beteiligung an der Regierung, aber die Position in der Regierung hätte ich zur Reform nicht nur der geschriebenen Verfassung, sondern auch der ganzen administrativen Praxis in tschechischem Geiste benützt. Ich war immer für Kulturpolitik, wie ich sagte: für die wahre Demokratie, mir genügte nicht die Abgeordneten- und streng politische Politik. Ich pflegte von der unpolitischen Politik zu reden.

Wegen dieser meiner Ansichten bekam ich manchen Streit; ich werde mich jetzt nicht damit verteidigen, daß meine Gegner mich nicht genug verstanden haben – ich bekenne, anfangs selbst nicht klar und konsequent gewesen zu sein und taktische Fehler, und zwar viele, begangen zu haben. Meine Gegner haben jedoch dadurch gefehlt und mich so am meisten zum Kampfe angefeuert, daß sie sich für die bessern Tschechen ausgaben, daß sie, um mit Havlíček zu reden, patriotisierten, während der Streit um das Ziel und den Inhalt des Tschechentums und des Patriotismus ging; die Liebe zum Vaterland und zum Volke verstand sich schon von selbst, es ging um das Programm dieser Liebe. Ich war meinen Gegnern zu sozialistisch, und vor allem mein religiöses Programm widerstrebte ihrem Liberalismus. Und ich stimmte mit der deutschen und der russischen und slawischen Politik nicht überein. Mir handelte es sich darum, das Volk noch in Österreich zu entösterreichern, und zwar auf der ganzen Linie; die Regierungsform und die Zugehörigkeit zum fremden Staat waren mir in der gegebenen Weltsituation untergeordnete Probleme. Ich empfand meinen Kampf als Widerstand gegen die politische und kulturelle Abgeschlossenheit, Rückständigkeit und Krähwinkelei; ich führte den Kampf nach zwei Fronten, gegen Wien und gegen Prag. Der Radikalismus und seine Taktik kamen mir eher als Aufreizung denn als echter Kampf vor – als die Stunde schlug, die Weltsituation sich änderte und das Schicksal uns die Entscheidung aufnötigte, waren es nicht meine Gegner, die sich entschlossen und den Entschluß in die nötige Tat verwandelten ...

Die grundsätzliche Verurteilung Österreichs zwang mich natürlich zum Studium und zur Beobachtung Deutschlands; die Geschichte belehrte mich, wie Österreich bei aller Verschiedenheit doch nur mit Deutschland verbunden war. Ich hatte einen gewissen Respekt vor den Deutschen und namentlich den Preußen; aber mit dem Preußentum, mit Bismarck und dem Bismarckismus stimmte ich prinzipiell nicht überein. In der inneren und der äußern Politik herrschte unter seiner Führung ein Regime von Blut und Eisen. Es imponierte mir, wie sich Bismarck im Jahre 1866 geschickt damit begnügt hatte, Österreich aus Deutschland abzuschieben und wie er Wien nicht hatte demütigen wollen, um es desto enger an Deutschland zu schließen. Trotzdem beging er den gefährlichen Irrtum, sich allzusehr auf Österreich-Ungarn zu verlassen, das er, namentlich Wien, in seinem Innern verachtete. In den Jahren 1870 und 71 hielt er bereits an der Taktik des Jahres 1866 gegen Österreich-Ungarn nicht fest – die Annexion von Elsaß-Lothringen war ein Fehler, mag auch die Politik Napoleons III. unvernünftig gewesen sein. Ich bemerkte, wie Bismarck später zwischen Rußland und England schwankte. Und der Mann von Blut und Eisen hatte zuviel alten Macchiavellismus an sich.

Der neue Kurs war mehr als schwankend. Er war politisch und diplomatisch kurzsichtig und infolge seiner Unbestimmtheit und merkwürdigen Improvisierung für jedermann unzuverlässig; die Kolonial- und Seepolitik war übertrieben. Kaiser Wilhelm beunruhigte nicht bloß die Engländer, sondern zugleich auch die Russen und zeichnete sich überhaupt durch ungenügende Psychologie aus – er verstand Menschen und Völker nicht. So hatte schon der allzu absolutistische Bismarck von den Menschen eher Gehorsam und Unterwerfung erwartet als sachliche Verständigung. Dabei verpflichtete sich Wilhelm zu einseitig an Wien. Sein Regime wurde sehr bald das gerade Gegenteil von altpreußischer Einfachheit; das Reichsimperium und der Weltimperialismus wurden in ihrer Verbindung mit dem wachsenden Kapitalismus parvenühaft, geschmacklos und auch sittlich zweifelhaft. Die Universitäten unterlagen dieser Richtung. Die Philosophie und die Politik des Pangermanismus hätten den denkenden Politikern ein Memento sein sollen, waren das aber nicht. Die Oberste Heeresleitung und das Heer überhaupt (das Offizierskorps!) waren pangermanisch. Ich wies beständig auf den Pangermanismus hin und forderte überhaupt zum Studium der neuen Weltpolitik und dazu auf, unsere Politik weltumfassender zu machen. Der Widerstand gegen den Pangermanismus, dem Wien und Budapest dienten, diktierte mir mein Eingreifen in die Wiener Politik gegen Serbien und schließlich in den Weltkrieg.

Den Krieg faßte ich nicht, ich brauche es nicht mehr zu sagen, als einen Krieg zwischen Deutschen und Slawen auf, wenn auch der österreichische Haß gegen Serbien der Vorwand und teilweise auch die Ursache des Krieges war. Daß Bethmann-Hollweg und Kaiser Wilhelm sowie Wien und Budapest den Russen und dem Panslawismus die Schuld am Kriege zuschrieben, nötigte zur Vorsicht, diese deutsche Theorie anzunehmen; die Stimmen der deutschen Professoren (Lamprecht, Gothein u. a.) wußten sie mir nicht zu begründen. Ich sah im Kriege mehr. In der historischen Perspektive erschien mir der pangermanische Imperialismus als eine Verlängerung des alten und langwierigen römischgriechischen Antagonismus, des Antagonismus zwischen dem Westen und dem Osten, Europa und Asien, später Rom und Byzanz; eines nicht nur nationalen, sondern auch kulturellen Antagonismus. Der Pangermanismus und sein Berlin–Bagdad gab dem ererbten römischen Imperium einen engen nationalen und geradezu chauvinistischen Charakter; beide nationalen Kaiserreiche, das deutsche und das österreichische, die aus dem mittelalterlichen römischen Imperium hervorgegangen waren, verbanden sich zur Eroberung der alten Welt. Gegeneinander standen nicht nur Deutsche und Slawen, sondern Deutsche und der Westen, die deutsche und die westliche Kultur – der Westen, der auch Amerika in sich schloß. Auf deutscher Seite standen die Magyaren und die Türken (die Bulgaren bedeuteten nicht soviel), und den Deutschen ging es um die Eroberung Europas, Asiens, Afrikas, der alten Welt; dagegen lehnte sich die übrige Welt auf, und zum erstenmal half die Neue Welt – Amerika– dem nichtdeutschen Europa dabei, den deutschen Angriff abzuschlagen. Anfangs war Amerika zwar neutral, aber seine Sympathien gehörten Frankreich und den Alliierten, und ihnen half es auch sofort mit der Einfuhr von Rohstoffen und Waffen. Was man anfangs nicht wissen konnte – Amerika beteiligte sich schließlich am Kriege und trug zur Entscheidung beträchtlich bei. Die Vereinigung aller Nationen unter der Führung des Westens ist ein Beweis, daß der Krieg nicht nur einen nationalen Charakter hatte – es ging um den ersten großartigen Versuch einer einheitlichen Organisation der ganzen Welt und der Menschheit. Die nationalen Streitigkeiten waren der kulturellen Idee untergeordnet und dienten ihr. Allerdings kreuzten sich die Interessen mannigfach. Über all dies habe ich meine Anschauungen im »Neuen Europa« dargelegt. Ich will mich nicht wiederholen.

Unser Platz war nach unserer ganzen Geschichte auf der Seite der Alliierten. Indem ich die europäische Situation analysierte, den wahrscheinlichen Verlauf des Krieges abschätzte, entschied ich mich für den aktiven Kampf gegen Österreich in der Erwartung, daß die Alliierten siegen, und daß unsere Entscheidung für die Alliierten uns die Freiheit bringen werde.

Der Entschluß fiel mir nicht leicht; es handelte sich, wie ich wußte und fühlte, um einen schicksalsvollen Entschluß; aber mir war das Eine klar, daß wir in dieser großen Zeit nicht passiv bleiben dürfen; selbst das beste Recht muß von tätigen Menschen verteidigt werden, wenn es nicht nur auf dem Papier bleiben soll. Können wir uns Österreich nicht daheim entgegenstellen, so müssen wir das jenseits der Grenzen tun. Dort wird es unsere Hauptaufgabe sein, für uns und unser nationales Programm Sympathien zu erwerben, Verbindungen mit den Politikern, Staatsmännern und Regierungen der alliierten Staaten anzuknüpfen, das einheitliche Vorgehen aller unserer Kolonien zu organisieren und vor allem aus den Gefangenen eine Armee aufzustellen. Dieses militärische Programm konzipierte ich von allem Anfang an, wie die erste, von Herrn Voska nach London überbrachte Botschaft beweist. Vom Beginn der Kämpfe in Galizien an (seit 10. August) nahmen die Russen eine bedeutende Anzahl österreichischer Soldaten gefangen; Mitte September Zählte ich etwa 80 000 Mann. Allein davon, schätzte ich, waren wenigstens 12 000 bis 15 000 Tschechen, die sich für die Družina gewinnen lassen; und die Zahl der Gefangenen wuchs beständig und damit auch die Zahl unserer künftigen Soldaten. Der Plan, draußen eine Armee zu formieren, war übrigens so natürlich, daß ihn unsere Kolonien überall spontan auszuführen begannen.

Schließlich war es notwendig, daß die Führung im Auslande mit der Heimat in Verbindung sei; dann ergab sich von selbst, daß die bloße Existenz des organisierten auswärtigen Kampfes einen aufmunternden Einfluß auf unsere heimische Politik gewann. Sie konnte sie allerdings auch erschweren und Opfer erfordern – aber Freiheit und Selbständigkeit können nicht ohne Opfer errungen werden.

Und ich muß nicht erst ausdrücklich sagen, daß bei all den Erwägungen und Entschlüssen zum Kampf gegen Österreich mir in der Tiefe meiner Seele die Frage laut wurde: Sind wir für den Kampf wirklich reif, und sind wir reif für die Freiheit, für die Verwaltung und Erhaltung eines selbständigen Staates, der zusammengesetzt ist aus den böhmischen Ländern und der Slowakei mit bedeutenden nationalen Minderheiten? Haben wir politisch so geschulte Leute genug, daß sie den wahren Sinn des Krieges und die Aufgabe des Volkes im Kriege begreifen? Begreifen wir den welthistorischen Augenblick? Wissen wir zu handeln, wieder einmal wirklich zu handeln? Werden wir den Weißen Berg gutmachen, ein für allemal? Überwinden wir in uns Österreich und seine jahrhundertelange Erziehung? »Auch ich glaube Gott, daß, wenn die Stürme des Zornes sich verzogen haben, die Herrschaft Deiner Dinge wieder an Dich zurückgelangt, o tschechisches Volk!«

Vor meiner Abreise skizzierte ich für Dr. Beneš und seine Vertrauensmänner einen Plan für das antiösterreichische Vorgehen daheim: ich gedachte der Hauptmöglichkeiten des Krieges und bestimmte im einzelnen, was in diesem oder jenem Falle zu machen sei; in Unterredungen mit Dr. Beneš in der Schweiz und Zuschriften ergänzte ich den Plan. In jedem Kriege – und die Revolution ist auch ein Krieg – handelt es sich nicht bloß um Entschlossenheit und Mut, sondern auch um einen durchdachten Plan, um die Organisation aller Kräfte und um einheitliche Führung.


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