Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II. Roma aeterna

(Rom: Dezember 1914-Januar 1915)

11.

Ich entschloß mich, zunächst nach Italien zu gehen und dann in die Schweiz; ich wollte mich überzeugen, wie man in Rom gesinnt sei, ob Italien neutral bleiben werde. Ich reiste von Prag am 17. Dezember über Wien ab.

Ich hegte gewisse Befürchtungen, man werde mir auf der Polizei in Prag oder an der Grenze Schwierigkeiten bereiten; zufällig besaß ich einen für alle Länder gültigen Reisepaß auf drei Jahre, der mir vor dem Kriege ausgestellt worden war, und dadurch war die Polizei gewissermaßen gebunden. In den Zeitungen tauchte die Nachricht von der Erkrankung meiner Tochter Olga auf; sie nahm ich mit, und so ging die Sache ziemlich glatt. An der Grenze machte der Beamte Schwierigkeiten, telegraphierte nach Prag, ob er mich durchlassen solle; bevor die Antwort eintraf, wäre der Zug nach Venedig abgefahren und darum betonte ich (zum erstenmal) meine Eigenschaft als Abgeordneter, setzte mich in ein Abteil und fuhr ab.

In Venedig hielt sich Redakteur Hlaváč auf; aus seiner reichen Kenntnis aller Wiener und österreichischen, namentlich der persönlichen Neuigkeiten konnte er meine Nachrichten über den Grafen Czernin, der mich damals interessierte, ergänzen. Czernin war Gesandter in Bukarest, und ich hatte in Wien allerlei über seine dortige Tätigkeit gehört; trotz seinem Verhältnis zu Franz Ferdinand erwartete ich, daß er bald in die Wiener Politik eingreifen werde.

Von Venedig traf ich – mit einer Unterbrechung in Florenz – am 22. Dezember in Rom ein. Unterwegs dachte ich an meinen ersten Besuch in Italien im Jahre 1876; damals hatte ich jede bedeutendere Stadt in Nord- und Mittelitalien besichtigt – wie hatten auf mich die zahlreichen Gedenktafeln gewirkt, die Österreichs Tyrannei verkündeten! Ich erlebte damals die Renaissance, Italien war mir ein Museum und eine Kunstschule; später erlebte ich in Italien die Antike, obzwar ich mich zugleich in das Christentum hineindenken und einfühlen konnte. Die italienische Renaissance zog mich mit ihrer merkwürdigen Synthese von Christentum und Antike an, mag auch diese Synthese eigentlich vom Beginn der Kirche angefangen haben. Das Christentum richtete sich gegen die Antike, aber nolens volens hat es sie erhalten und bewahrt; immer aufs neue gewinne ich die Überzeugung, daß Augustus im Grunde der erste Papst war. Und man sehe das Janusantlitz des Thomas von Aquino-Aristoteles! Der Annahme des römischen Rechtes, von der so oft gesprochen wird, ging die des antiken Denkens und der antiken Kultur voraus und begleitete sie. Den sonderbaren Übergang Roms zum Katholizismus kann man anschaulich in der bildenden Kunst, besonders in der Architektur (Pantheon!) verfolgen; das wirkte auf mich stärker als die modernen Theologen, die die Synthese oder den Synkretismus nach literarischen Quellen darlegen.

Und der Katholizismus selbst, die Kirche und das Papsttum, diese großartige Fortsetzung und Gipfelung des römischen Imperiums, ist das Werk nicht bloß der Römer, sondern auch ihrer Nachfolger, der Italiener. Der Katholizismus ist ein Werk des romanischen Geistes; auch der Jesuitismus, die Grundlage des Neukatholizismus, stammt aus Spanien. In Italien gibt es ebenfalls ausgezeichnete sittliche und religiöse Erscheinungen, die von der Kirche abseits stehen: der heilige Franz von Assisi, Savonarola, Giordano Bruno, Galilei.

Doch ist auch – und eben deshalb – das moderne Italien interessant: von neueren Denkern fesselte mich der geniale Vico, seine Philosophie der Gesellschaft und Geschichte, seine psychologische Durchdringung der eigentlichen gesellschaftlichen Kräfte und ihre Auswirkung, seine Erfassung des Geistes des römischen Rechts und der ganzen Kultur – wiederum und immer wieder die Synthese von Katholizismus und Antike, denn Vico war Geistlicher und dabei Geschichtsphilosoph, der erste moderne Soziolog. Der Katholizismus mit seiner langen Kirchentradition führte zur Geschichtsphilosophie und zur Geschichte – Vicos Vorgänger war Bossuet usw.

Das italienische Risorgimento entspricht mit Namen und Zeit unserer Wiedergeburt; in politischer Beziehung muß uns die nationale Vereinigung und Befreiung sympathisch sein. Und auch da ergibt sich das ernste Problem des Verhältnisses von Staat und Kirche; eine Reihe starker Denker des neuen Italien zerbrach sich den Kopf mit dem Schicksal und der Aufgabe des Papsttums bei der Einigung Italiens. Mich interessierten dabei Rosmini und Gioberti, beide Geistliche, starke Denker; sie interessierten mich mehr als die italienischen Kantianer und Hegelianer. Auch der Gegner beider, Mamiani, ist interessant, wie er sich schließlich beiden anpaßte – in allen dreien ist das italienische Herz und die Probleme Italiens nach der französischen Revolution zu spüren. Die Einigung geschah dann gegen das Papsttum. Das Jahr 1870 ist für Italien, und nicht allein für Italien, denkwürdig: im Juli verkündet das Konzil das neue Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes, einige Wochen darauf besetzt eine italienische Armee päpstliches Gebiet, das Plebiszit spricht sich mit 153 000 Stimmen für den Anschluß des Kirchenstaates an Italien aus, nur 1507 Stimmen sind für das alte Regime. Für den päpstlichen Staat rührten nicht einmal die katholischen Staaten einen Finger – solch ein Ende nahm die weltliche Macht der Kirche und des Hauptes der Theokratie! Die Erneuerung der Scholastik und des Studiums Thomas' von Aquino durch Leo XIII. vermögen das Mittelalter nicht zu retten. Natürlicherweise verband ich logisch meine Hoffnung auf den Fall der theokratischen Staaten mit diesem weltgeschichtlichen Ereignis.

Es ist kein Zufall, daß die neueste Philosophie in Italien sich stark der Soziologie und dem Studium aller gesellschaftlichen Erscheinungen gewidmet hat; außer der Geschichtsphilosophie, die auf eine lange und reiche Tradition zurückgeht, ergibt das schwere Problem der Population, das zur Kolonialpolitik wird, die Industrialisierung im Norden, die kulturelle Erweckung in Mittel- und Süditalien, die praktische Unifizierung Italiens und das damit wachsende nationale und politische Selbstbewußtsein – all dies ergibt den Inhalt des neuzeitlichen italienischen Denkens.

Italien bot mir das Problem der Revolution in verschiedenen Formen, vor allem in den des politischen Attentats und der geheimen Gesellschaften; Mazzini und seine Philosophie ist ein lebendiger Quell für die Gedanken über Revolution.

In der modernen italienischen Literatur hatte ich etwas unsystematisch mit Leopardi wegen seines Pessimismus angefangen, der mich seit der Jugend als Zeitproblem interessierte; von ihm zu Manzoni war nicht weit, obwohl dieser das Christentum verkündet (Manzoni ist Anhänger Rosminis) – beide sind Romantiker und Väter der neuen Richtungen der italienischen Poesie. Mit einem Sprung gelangte ich zu d'Annunzio, der mir die Dekadenz und ihr Verhältnis zum Katholizismus klarmachte; es wird unorganisch scheinen, daß ich von d'Annunzio zu Carducci zurückkehrte, aber es besteht eine organische Verbindung – sein blasphemischer Hymnus an Satan ist ein natürlicher Teil dessen, was ich Dekadenz nenne. Ich will davon mehr in dem Kapitel über Frankreich sagen. Nur möchte ich noch bemerken, daß das politische Auftreten d'Annunzios ganz gut zu der fruchtlosen Auffüllung seiner dekadenten geistigen Leere paßt. Der Übergang vom Romantismus zum Verismus und zuletzt die neuesten Futuristen und ähnliche Rebellanten charakterisieren die geistige Krise nicht nur des neuesten Italien, sondern ganz Europas. Und so wie anderswo stehen auch in Italien gegen die literarische Anarchie literarische Doktoren auf, die allerlei Rückkehr vorschreiben, einer zu Dante, ein anderer zu Leopardi usw. – offenbar sind die Doktoren von derselben Ohnmacht ergriffen wie die Patienten.

All dies stellte ich mir noch detaillierter vor, als ich mich in Rom damit quälte, abzuschätzen, ob Italien mit Österreich und Deutschland gegen die Alliierten marschieren werde – es ist nicht möglich, lautete immer wieder der Schluß meiner Philosophie der italienischen Geschichte und Kultur.

In Rom waren Gesandte aller Staaten, von vielen je zwei (einer beim Vatikan); hier war also die Möglichkeit gegeben, Nachrichten zu erhalten und politische Beziehungen anzuknüpfen. An erster Stelle wandte ich mich an den serbischen Gesandten Ljuba Mihajlović und an südslawische Politiker; die Südslawen hatten bereits Abgeordnete und andere bekannte Leute draußen, und ihre Anzahl wuchs beständig. Ich war der einzige tschechische Abgeordnete, und das verdroß mich, weil man im Westen einen Abgeordneten politischer nimmt als einen Professor (meine Visitenkarte lautete: Prof. T. G. M., Député Tchèque, Président du Groupe Progressiste Tchèque au Parlament de Vienne – im Leben hätte ich mir nicht daheim und ohne Krieg solch eine Titulatur drucken lassen!). In Rom war in jener Zeit für die Südslawen auch Mestrović eine politische Kraft, da die Italiener ihn (seit der Ausstellung in Venedig im Frühjahr 1914) als Künstler anerkannten und schätzten; neben ihm wirkten in Rom Dr. L. Vojnović und Prof. Popović. Von Abgeordneten-Politikern waren da Dr. Trumbić, Dr. Nikola Stojanović (Abgeordneter für Bosnien-Herzegowina) u. a. Supilo war in London; er hatte sich durch glücklichen Zufall in der Schweiz befunden, als der Krieg ausgebrochen war, und war gleich im Ausland geblieben. Von Slowenen hielten sich in Rom Herr Gorićar, ehemaliger Konsulatsbeamter in Amerika, und Dr. Županić von der Belgrader Universität auf. Die Zusammenkünfte beim Gesandten Mihajlović wurden uns zuliebe in später Nacht abgehalten, damit die österreichischen Agenten uns nicht leicht folgen konnten. Wir erörterten die gesamte Situation und einigten uns auf enge Zusammenarbeit. Von den einzelnen Problemen interessierte die römischen Südslawen der Korridor zwischen Slowakei und Kroatien; meine Meinung war, daß man den Plan höchstens taktisch lancieren könne. Viele Südslawen nahmen den Plan an; Trumbić war zurückhaltend, indem er die Sache den Tschechen überließ.

In Italien begann die Agitation für »Dalmazia nostra«; ich wohnte einem Vortrag eines dalmatinischen Italieners, Lektors und Publizisten in England, bei. Sofort und auch später sprach ich mit diesen antislawischen Politikern (z. B. mit Redakteur Dudan), um ihre Argumente kennenzulernen. Ich erkannte, daß die Italiener (aus Italien – zum Unterschied von den Italienern der Irredenta) an Dalmatien wenig dachten; Triest, Asien, Afrika (die Kolonien) und Trient – Triest viel mehr als Trient! – bildeten den eigentlichen Gegenstand ihrer Bestrebungen. Ich riet den Südslawen, gleichfalls öffentlich aufzutreten und eine gut geleitete Gegenpropaganda einzuleiten; vermutlich hätten sie trotz bedeutenden Schwierigkeiten einen Teil der Politiker und der Bevölkerung gewonnen. Wie ich beobachtete, ließ sich das italienische Volk nicht von Imperialismus, sondern von der ererbten Antipathie gegen die Österreicher leiten. Deshalb war es auch weniger gegen die Deutschen (im Reich) eingenommen; allerdings wirkte auf die Italiener die Vergewaltigung Belgiens, obwohl Italien die belgische Neutralität nicht verbürgt hatte. Der Imperialismus stammt nicht aus dem Volke – die Monarchen, Generäle, Bankiers, Kaufleute, Professoren, Journalisten, die Intelligenz, sie sind überall die Avantgarde und imperialistische Armee. Es ist gewiß angebracht, daran zu erinnern, daß Italien 1913, als es von Österreich gelockt wurde, Serbien zu überfallen, zweimal abgelehnt hat. In Italien gab es viele, die den Krieg eher als etwas ansahen, das die Franzosen, Russen und Deutschland anging, nicht Italien; öfter hörte ich das Argument, das jetzt Nitti benützt, der Krieg sei ein Kampf des Germanentums mit dem Slawentum. Davon aus konnte man den Beweis für die Neutralität, aber auch für die Deutschen und gegen die Slawen und daher auch für »Dalmazia nostra« ableiten.

Ich habe gesagt, daß ich die Südslawen geradezu um die vielen Politiker beneidete, die sie draußen hatten; bei näherer Beobachtung erkannte ich schon in Rom, daß ihnen Unstimmigkeiten drohen. Zwar hatten sie alle ein Programm: die Einheit der dreinamigen Nation, aber dieses gewiß gute und schöne Programm war im Einzelnen nicht durchgearbeitet. Das hörte ich aus allen Reden heraus; und man spürte den alten Zwist zwischen Serben und Kroaten. Der serbische Gesandte war sehr entschieden für die Einheit und in guter Fühlung mit den Kroaten; aber es kam mir vor, als betonten manche Kroaten doch nur zu sehr ihre kulturelle Bedeutung, während es sich damals und im ganzen Kriege in erster Linie um die militärische und politische Führung handelte.

Meine südslawischen Freunde wußten, daß ich mir ihre nationale Einheit unter der politischen Führung Serbiens dachte; ich stellte sie mir als eine Frucht durchdachter, allmählicher Unifikation der verschiedenen, an ihre administrativen und kulturellen Eigenheiten gewohnten südslawischen Länder vor.

Nach außen traten die Südslawen in Rom mit dem Protest gegen Tisza hervor, der die Kroaten damals (im Dezember 1914) in agitatorischer Weise für ihre Treue und Tapferkeit im Kampf um das gemeinsame Vaterland belobt hatte; der Protest (im »Corriere della Sera«) war vom »Kroatischen Ausschuß« unterzeichnet. Diese Bezeichnung wurde benützt, damit Wien und Budapest sich an den Familien der Einzelnen nicht so rächen konnten, wie wenn diese persönlich unterschrieben hätten. In jener Zeit sprach man unter den Südslawen auch von der »Adriatischen Legion« sowie von einem »Südslawischen Ausschuß«; wenigstens wurden im Januar 1915 von ihm einige Erklärungen herausgegeben. Insofern waren uns die Südslawen organisatorisch zuvorgekommen; ich nahm es zum Anlaß, in Prag zu verlangen, Abgeordnete und Journalisten zu mir herauszuschicken.

12.

Von Polen traf ich Professor M. Loret, und auch den dänischen Schriftsteller Rasmussen, einen Germanophilen, lernte ich kennen.

Mit der russischen Botschaft kam ich wenig in Fühlung, nur mit manchen Beamten (Chvoščinskij und Militärattaché Enckel); der Botschafter war in Rom wie auch daheim ohne Einfluß; interessanter war mir Herr Giers (der Montenegriner). Auch später vergeudete ich meine Zeit nicht mit Menschen, die nichts als eine offizielle Stellung innehatten; unsere Leute waren anfangs stutzig, wenn ich diesen oder jenen Minister, Abgeordneten usw. nicht aufsuchte. Ich kannte den Wert und die Bedeutung der politisch tätigen Personen in den einzelnen Ländern aus der publizistischen und historischen Literatur und erkundigte mich stets an Ort und Stelle über ihren wirklichen Einfluß.

Ich erwähnte Herrn Svatkovskij, mit dem ich noch von Prag aus eine Verbindung angeknüpft hatte. Er war in Wien Chef der staatlichen Telegraphenagentur für Österreich-Ungarn und den Balkan gewesen. Ich kannte ihn jahrelang; aber ich hatte mit ihm nicht viel gearbeitet, da ich ihm in seiner offiziellen Stellung nicht hinderlich sein wollte. Bald nach meiner Rückkehr aus Deutschland schickte er einen Vertrauensmann zu mir, und auf demselben Wege teilte ich ihm mit, daß ich Mitte Dezember nach Rom kommen werde. Herr Svatkovskij stammte aus einer tschechischen Familie, wie der Name verrät (russisch würde er Svjatkovskij lauten); er ist ein Nachkomme der Svatkovský z Dobrohoště, die sich am Aufstand des Jahres 1618 beteiligt haben; nach Beschlagnahme ihres Gutes waren seine Vorfahren nach Sachsen ausgewandert, von dort nach Rußland. Daher das aufrichtige Interesse an unseren Angelegenheiten; er wartete in Rom bereits auf mich. Die Russen hatten in Ostpreußen eine Niederlage erlitten, und man sprach lange von Verrätern im Heer und im Ministerium; Svatkovskij kannte ziemlich viele Einzelheiten der ganzen Affäre (Mjasojedov) und überraschte mich mit seiner scharfen Kritik des offiziellen Rußland und der Armee. Er gab mir in meiner Kritik Rußlands völlig recht und teilte meine Befürchtungen; mit der Prager Russophilie war er nicht einverstanden und kennzeichnete sehr treffend einen russischen Großfürsten, der in der Prager Burg residieren würde (»Champagner, französische Mätressen usw.«). Wir gingen ungestört die ganze Situation durch; ich überzeugte mich, daß ich Svatkovskij vertrauen kann, und unterrichtete ihn daher von meinen Plänen. Er berichtete nach Petersburg; aus Italien konnte er ungestört nach Petersburg schreiben. Den Botschafter (Krupenskij) wollte er dazu nicht benützen, wenigstens nicht ausschließlich; er hatte auch keine hohe Meinung von ihm. Nach mehreren Unterredungen übersandte er ein vollständiges Memorandum, das meine Anschauungen und Pläne zusammenfaßte, nach Petersburg. Auf diese Weise erhielt Sazonov von mir schon das zweite Memorandum; das erste durch Seton-Watson im Oktober (1914), das zweite durch Svatkovskij im Januar (1915). Überhaupt bemerke ich gleich hier, daß ich mit den russischen Diplomaten und anderen Personen überall in ständiger Fühlung gestanden habe. Svatkovskij ließ sich in der Schweiz nieder, von wo er mit Rußland, auch mit der Front, in fortwährender Verbindung war; in der Schweiz pflegten wir uns oft zu sehen, später kam er nach Paris mir nach. Diese meine intime Verbindung mit Rußland von allem Anfang an ist eine Erklärung dafür, daß ich nicht nach Rußland eilte; unsere Leute dort und anderswo wußten davon nicht, und manche erblickten darin mein »Westlertum« und Abneigung gegen Rußland. In Wirklichkeit befand ich mich eben auch mit Rußland in beständiger Fühlung; der ganzen Lage nach war meine Anwesenheit jedoch im Westen nötig, wo wir keine politischen Verbindungen hatten und Verständnis für unseren Plan gewinnen mußten. Ich hatte schon daheim erwartet, daß die Schicksale Europas im Westen entschieden werden, nicht in Rußland, und diese Erkenntnis wurde durch meinen Aufenthalt in den westlichen Ländern immer klarer und klarer.

13.

Mit den Franzosen wollte ich erst später verhandeln, bis ich die Verhältnisse in Paris gesehen haben würde; darum knüpfte ich in Rom keine dauernden Verbindungen mit ihnen an; auch vermutete ich, daß Paris in früheren Jahren von Prag aus besser bearbeitet worden sei, als sich dann gezeigt hat.

Mit dem englischen Botschafter (Sir James Rennel Rodd) konferierte ich einigemal; er vermittelte mir Briefe nach London. In Berlin hatte ich (auf der Reise nach Holland) eine Zusammenkunft mit Bülow vereinbart, der die deutsche Botschaft in Rom leitete; ein Politiker, der Bülow gut kannte, wollte die Unterredung vermitteln. Ich hätte gern mit irgendeinem offiziellen deutschen Politiker gesprochen, aber Bülow entschuldigte sich, er habe keine Zeit. Damals bemühte er sich, wie man in Rom sagte, Italien für den Krieg an der Seite Deutschland-Österreichs zu gewinnen; er bot den Italienern italienische Teile Österreichs an, und das reizte in Wien auf. Überhaupt wurde das Verhältnis zwischen Italien und Deutschland in Wien ziemlich verdächtigt.

Zu Italienern, insbesondere in offizieller Stellung, suchte ich keine Fühlung; ich mußte voraussetzen, daß die österreichische und vielleicht auch die deutsche Botschaft auf mich acht gab, und darum durfte ich niemanden kompromittieren; denn Italien war neutral. Ich will aber an eine Szene erinnern. Eines Abends besuchte ich den Historiker und Publizisten Prof. Lumbroso (er gab die »Rivista di Roma« heraus); der liebe Professor war über mein Kommen bestürzt – er hatte zu Beginn des Krieges in den Blättern gelesen, ich sei in Prag erschlagen worden, und als ordentlicher Registrator hatte er in die Rubrik »Masaryk« auch den Artikel über meinen Tod eingeordnet: »Sie werden lange leben!«

Rom bereitete mir Freude: die Italiener bleiben neutral, marschieren nicht mit den Österreichern, eher gegen sie, so lautete das Ergebnis meiner Beobachtungen und Nachrichten: Italien würde nicht gegen England ziehen, und mit Frankreich hatte es ein geheimes Abkommen aus dem Jahre 1902 (1.–2. November), durch das es im Kriegsfall zur Neutralität verpflichtet war; im gegenwärtigen Krieg hatte aber Deutschland, indem es Frankreich und Rußland den Krieg erklärt hatte, schwerlich im Geiste des Defensivvertrages des Dreibundes gehandelt. Österreich war gegen Italien geradezu illoyal gewesen, als es ihm sein Vorgehen gegen Serbien nicht angekündigt hatte, obgleich § 7 des Dreibundvertrages dies vorschrieb. Darin äußerte sich ein Despekt, den Wien gegen Italien in allen Handlungen während des Krieges bewies. Deshalb hatte Italien sich sofort am 31. Juli für den Fall des Krieges neutral erklärt. Die Expedition nach Valona zeigte sein aktives Auftreten mit der Entente an, allerdings gleichfalls den Konflikt um den Balkan, hauptsächlich mit den Südslawen.

Im Dezember 1914 und Januar 1915 wurde schon stark für die Beteiligung Italiens am Kriege agitiert; es begann eine scharfe Polemik gegen Giolitti, als ergreife er die Partei Deutschlands und Österreichs. In Wirklichkeit war er, wie ich von wohlinformierten Leuten hörte, gegen den Krieg, weil er annahm, man könne von Österreich die gewünschten Konzessionen ohne Krieg erlangen; aber er war nicht für einen Frieden um jeden Preis, besonders wenn Österreich Italien nicht nachgab. Ich erwartete nicht, daß es nachgebe – dazu war man in Wien zu aufgeblasen und hatte vor Italien keine Angst; es war bekannt, daß namentlich die Militärs (Conrad von Hötzendorf) den Krieg mit Italien wollen, ohne sich um den Dreibundvertrag zu kümmern. Es hatte Ährenthal viel Mühe gekostet, sich gegen Conrad zu wehren; in Italien wußte man, wie ich mich überzeugte, das alles.

14.

Die Haltung des Vatikans zu Beginn des Krieges war entschieden austrophil und germanophil. Aus der österreichischen Botschaft beim Vatikan (Graf Pálffy) und auch beim Quirinal (Macchio) wurden Nachrichten verbreitet, Papst Benedikt XV. sei für Österreich und gegen Serbien. Ich hatte ganz zuverlässige Nachrichten über Graf Pálffy; Österreich, so verkündete er in Rom, sei ein katholischer Staat par excellence und der Beschützer der Kirche namentlich auch gegen die Orthodoxie. Graf Pálffy betonte, daß nicht nur der Staatssekretär, sondern auch der Papst selbst das Vorgehen gegen Serbien bedingungslos gutheiße.

Österreich-Ungarn war in Europa der einzige große katholische Staat, und deshalb konnte und mußte man von vornherein erwarten, daß der Vatikan auf Seiten Österreichs stehen werde. Der Vatikan wußte, daß der österreichische Katholizismus ein »Sumpf« sei (so urteilten die wichtigsten katholischen Organe in Deutschland), aber seine Hoffnung bildete der deutsche Katholizismus, der vermöge seiner Lebendigkeit und politischen Macht (des Zentrums) die österreichischen und ungarischen Katholiken zu führen verstehen werde. Tatsächlich spielte das Zentrum und hauptsächlich sein leitender Politiker Erzberger im Kriege von allem Anfang an eine hervorragende Rolle durch seine Propaganda und politische Initiative. Außerdem entschied das gute persönliche Verhältnis Kaiser Franz Josephs zu den Päpsten.

Aber die Haltung des Vatikans im Kriege wurde nicht allein von der Rücksicht auf Österreich und Deutschland bestimmt, sondern auch von der auf die Katholiken der anderen kriegführenden Partei. Blicken wir auf die Kirchenzugehörigkeit der kämpfenden Parteien rein statistisch, so waren auf Seiten der Entente im Kriege mehr Katholiken als bei Österreich und Deutschland; schon darum war der Vatikan gezwungen, vorsichtig – was in der Praxis regelmäßig bedeutete: unbestimmt – vorzugehen. Daher der fortwährende Streit unter den politischen Katholiken über die wahre Meinung des Vatikans und die Auslegungen, die die vatikanische Presse und Staatssekretär Gasparri den päpstlichen Worten geben mußte. Doch war die Politik des Vatikans nicht ausschließlich von der Zahl bestimmt; so fielen z. B. die südamerikanischen Republiken, die sich gegen die Zentralmächte wandten, nicht so ins Gewicht wie die europäischen Nationen und katholischen Staaten. Der Vatikan befand sich namentlich gegen Frankreich in einer heiklen Lage; und es geschah, daß französische Bischöfe sich während des Krieges gegen den Vatikan und den Papst aussprachen.

Dadurch, daß Italien sich auf die Seite der Entente stellte, wurde dann die Situation des Vatikans noch unbequemer; so kann man begreifen und erklären, daß der Vatikan im Verlaufe des Krieges seine Austrophilie mäßigte; dazu führte auch sein Verhältnis zu Belgien (Kardinal Mercier!).

Es war interessant zu beobachten, wie die politischen katholischen Führer beider Parteien vorgingen. Der nationale Gesichtspunkt entschied mehr als der religiöse. Ich erinnere an das Memorandum, das die deutschen Katholiken gleich Anfang September (1914) nach Rom sandten; darauf antworteten die französischen Katholiken zu Beginn des Jahres 1915, und gegen diese Antwort gaben wiederum die Deutschen eine Denkschrift heraus. Ungeachtet dieser und weiterer Streitfälle bewahrte der Vatikan nach außen eine gewisse Objektivität; das gelang ihm vor allem dadurch, daß er den aktuellen Fragen auswich und sich mit allgemeinen Betrachtungen über seine göttliche Sendung zufrieden gab. Insbesondere spezialisierte sich der Vatikan gleichsam auf die Aufgabe des Friedensbringers; deshalb war auch die katholische Propaganda in allen kriegführenden Ländern auf den Abschluß des baldigen Friedens gerichtet; in der gegebenen Situation nützte man damit, hauptsächlich in England und Amerika, den Deutschen.

Von der offiziellen Politik des Vatikans muß die persönliche Gesinnung dieses oder jenes Papstes, einzelner Kardinäle und Personen in den verschiedenen vatikanischen Ämtern unterschieden werden. Ich verfolgte die Politik des Vatikans während des ganzen Krieges stets eifrig. Durch Štefánik knüpften wir Beziehungen zu ihm an; dabei vergaß ich keinen Augenblick, daß »qui mange du pape en meurt.«

In Rom verabredete ich für alle Fälle meine Flucht von Triest nach Italien. Zeitweise dachte ich nämlich daran, vielleicht noch auf kurze Zeit nach Prag zurückzukehren; ich wollte unsere Leute dort bestärken und mit ihnen nochmals nach den in Italien erworbenen Erfahrungen den ganzen Plan besprechen. Auch wollte ich einen Teil meiner Bücher, die mir wert waren (mit ihren Anmerkungen, und manche pretia affectionis) aufbewahren. Ich zweifelte nicht daran, daß die Polizei in meine Wohnung dringen werde, wenn ich im Auslande bleibe; für diesen Fall bereitete ich einen Brief an sie vor, der mitteilte, daß sie nichts Politisches mehr finden werde, daß ich die wichtigsten politischen Sachen bereits in Sicherheit gebracht habe.

Am 11. Januar reiste ich, nachdem ich zum letztenmal mein geliebtes Pantheon besucht hatte, von Rom nach Genf ab; ein Bekannter, Beamter der italienischen Diplomatie, fuhr uns im Auto längs des Meeres (Siena–Pisa–Sestri–Levante) nach Genua, von Genua ging der Weg dann mit der Bahn weiter.


 << zurück weiter >>