Hugo Marti
Davoser Stundenbuch
Hugo Marti

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81 Bunter Abend

Das ist die flaue Stunde, die weiche Stunde, gefährlich wie keine andre: zwischen Licht und Dunkel, die Stunde der Dämmerung. Noch schwingt die laute Saite des Tages klirrend in uns nach, noch hat nicht die Nacht ihre Hand darauf gelegt und den Ton gedämpft. In unserm Leib zittern noch die Reize des Lichts, das uns umspült und mit knisternden Wellen berieselt hat. Wir sind müde von der lächerlich geringen Anstrengung, wir strecken die Waffen und ergeben uns, wir kehren in unsre Krankheit zurück wie in ein bergendes Haus, das wir mutwillig verlassen haben. Es war schön draußen, wir werden morgen wieder durchbrennen, aber für heute nacht 84 sind wir froh unterzukriechen. Es ist eine Demut in uns, die uns mürbe macht. Mit unverhohlener Genugtuung starren wir auf den Fiebermesser, er bringt keine Sensation, er hält sich in den Grenzen des Erlaubten, aber er läßt uns auch nicht im Stich, auf ihn ist Verlaß. Liebevoll klopfen wir ihn unter seine Leistung zurück, versorgen ihn vorsichtig, er soll sich nicht überanstrengen, er muß morgen wieder leistungsfähig sein. Fast ist es so, als ob er der Ruhe mehr bedürfte als wir, als ob ein Teil der Krankheit auf ihn übergegangen wäre und als ob wir ihn zu pflegen hätten, den armen, leicht fiebernden Däumling. Dann sinken wir erschöpft seufzend auf die harte Matratze zurück, deren leiseste Falte wir kennen und an die sich unser Körper mit gelöster Wollust schmiegt.

Flaue Stunde, gefährliche Stunde. Die Gedanken sind wie Sand, der durch die Finger sickert, die Sinne überwach und empfindlich, jeder Laut, Duft, Lichtblitz schmerzt. Es braucht nicht viel in dieser weichen Stunde, um uns ganz aus der Fassung zu bringen. Die wir sonst zwischen Fleisch und Nachtisch einen 85 mißglückten Nervenschnitt in allen spannenden Einzelheiten genießen, ein leises Kitzeln am Zwerchfell und das Lachen im Hals über den verdutzt suchenden Arzt, der den Bindfaden nicht auf die Spule bekommt – uns erschreckt zu dieser Stunde im tiefsten Herren die fern verzischende Schlangenflucht des Bähnchens, das im Talboden dem Bach entlang zum See hinüber kriecht und dort zwischen den dunkeln Tannen verschwindet. Lächerliches Bähnchen, ein Spielzeug für Kinder mit seinen drei Wagen, ein fetter Wurm im grünen Gras, die Berge stehen hoch und breit und hören sein eiliges Keuchen nicht, aber wir hören es und es tut uns weh, jedesmal geht ein Stück Herzklopfen mit seinem pochenden Rollen weg von uns, über den waldigen Seeriegel hinab ins Tal und ins Unterland, und wir bleiben ärmer zurück, bestohlen um einen Schimmer von Sehnsucht, der in der Ferne ziellos verloren geht.

Gefährliche Stunde, in der die Entschlüsse der Ungeduld und der Mutlosigkeit reifen wie schillernde Blüten im stockenden Sumpftümpel. Man sollte diese Stunde streichen können aus dem Plan des 86 Tages, hier hat das Leben ein Loch, durch das die Verzweiflung grau hereingrinst.

Dankbar ist man wahrlich schon für das Knacken der Doppeltür, das die lähmende Stille unterbricht. Das Ohr trinkt durstig den Ton, der den Besuch verrät. Zwei Schritte im Zimmer, die vorsichtige Sohle der Schwester, leises Rauschen ihrer Schürze, und jetzt ihre Stimme: »Sie möchten doch rasch zum Doktor hinaufgehn.«

Ein Sprung vom Liegestuhl, ein taumelnder Griff nach irgendeinem Kleidungsstück. Die Gedanken durcheinander: Warum? Ich war doch vorgestern? So spät am Abend? Die Tabelle mitnehmen? Treppe, Korridor, viele Türen, die letzte links: »Herein!«

Im dämmerigen Licht wendet sich eine hohe Gestalt, weiß aufgebauscht, langsam herum und macht eine andeutende Bewegung mit dem Arm nach dem dunkeln Rahmen hin, der auf dem Schränkchen mit den vielen Fächern und den aufgeklebten Zetteln steht. Im Rahmen, von rückwärts her matt erleuchtet, schimmert silbergrau ein Bild, undeutliche Flecken und Kurven, hellere Bahnen durch schattige Nebel, 87 eine abstrakte Komposition aus Linien, Kreisen und Flächen, fesselnd, unverständlich.

»Ich stehe eben vor unserm Bild«, sagt eine ruhige, trockene Stimme. »Wir haben einige Fortschritte gemacht.«

Soll man sich dankend verbeugen? fährt es mir durch den Sinn. Ich räuspere mich, trete näher und betrachte unser Bild. Die Stimme läßt mir Zeit. Es ist, als ob sie sich an meiner Verlegenheit weide. Aber man ist längst nicht mehr verlegen, man kennt ja doch den harmlosen Bluff, es ist immer dasselbe: dieses schwanke Gerüst eines Miniaturwolkenkratzers. Hier der Hauptpfeiler, im Innern des Gebäudes errichtet, wie Le Corbusier es lehrt, beidseitig ausladende Rampen in Stromlinienform, der First leicht geneigt, das Ganze locker und lose gefügt, ein Spiel souveräner Technik. Aber natürlich keine ganz scharfe Aufnahme: gleitende Schatten, huschende Lichter den Gerüstbalken entlang, Wolkengebrodel zwischen den Stockwerken, ein Helldunkel auf und ab, Beleuchtungseffekte, gar nicht sachlich nüchtern, Trick, Montage, mein Herr.

88 Ein behaarter Zeigefinger stößt im dritten Stockwerk gegen die centrale Wendeltreppe vor, die Stimme erklärt: »Hier ist es noch immer nicht ganz sauber.« In der Tat, hier liegt ein matter Schatten zwischen dem Gebälk, ein dumpfer Fleck, flockig und flaumig, es ist wie der fliegende Schatten einer flüchtigen Wolke, der sich in dem blinkenden Bauwerk verloren hat, hangen und kleben geblieben ist und nun langsam, langsam eintrocknet.

»Eine Infiltration«, sagt die Stimme. Richtig, so sieht das aus. Mit rechten Dingen ist das niemals zugegangen. So breitet sich der Schwamm in alten Schlössern aus, vom schimmeligen Weinkeller mit seinem süßlichen Duft durch die meterdicken Mauern bis hinauf in die Ahnengalerie mit den bauchigen Rüstungen und dem rußigen Kamin. Aber hier! Ein blankes Baugerüst, ein luftiger Turm, eine blitzende Achterbahn in schwindligen Wiederholungen: wie setzt sich hier Schimmel an und Wolkengeflock? Wie breitet hier ein Schwamm sich aus?

»Wahrscheinlich eine Reizung«, sagt die Stimme. Nun wohl, man kann es immerhin so nennen, kann 89 es reizend finden, es reizt zum Nachdenken. Hat nicht Karin Silfverstrand ihre Freunde mit einer Innenaufnahme überrascht, die oben über den zarten Schulterblättern und dem verblassenden Schlüsselbein die enggefügten Glieder ihrer Halskette aufwies? Frei schwebte das Schmuckgebilde in der Luft, über den matten Rippen, die den Atem anzuhalten schienen, ein gespenstiger Spuk, ein Fakirzauber. Man sah die Halskette, vorne leicht gesenkt, aber man sah nicht, worauf sie ruhte, weich und warm, man mußte es sich denken. Es war reizend und raffiniert, ein zarter Einfall von Karin, und entgegenkommend vom Assistenten der Flimmerbude, ihr mehrere Kopien zu verabfolgen, die sie verschenken konnte, mit Unterschrift und Datum.

»Trotzdem dürfen wir uns auf eine Trennung vorbereiten«, sagt die Stimme, die sich auf Gummisohlen von mir entfernt hat. Pause.

»Wie?« frage ich.

Die Stimme erreicht kaum mehr mein Ohr, es ist wie beim Radio, wenn der Ton wegrutscht. Ich höre scharf hin, und da bricht die Stimme überlaut in 90 mich herein: »Nicht heute, nicht übermorgen, aber im Herbst vielleicht, wenn der Winter kommt. Wollen wir's versuchen? Es ist nämlich ein Versuch, wer könnte was garantieren! Nun, Kopf hoch und Danke, Herr Doktor, gern/«

Echo, dumpf und dünn: »Danke, Herr Doktor.« Ich überlege bei mir: Das war meine Stimme; also bin ich wohl einverstanden? Oder überrumpelt? Nicht heute, nicht übermorgen. Kommt Zeit, kommt Rat. Man wird sich auch daran gewöhnen. Bloß ruhig jetzt; es kam auch nicht alles immer so, wie der Doktor es voraussagte. Mit Wolf zum Beispiel, vor einem Jahr – zog der nicht auch ins Unterland, nach Hamburg sogar, und liegt jetzt wieder hier, tief in den Laken?

»Noch eines«, sagt die Stimme und klingt jetzt wieder ganz nah. »Da ist unser kleiner Wolf. Es geht ihm nicht besonders. Würden Sie mal bei ihm reinsehen? Er ließ heute bei der Visite durchblicken, daß ihm Ihre Anwesenheit erwünscht wäre. Sonderbarer Wunsch, nicht wahr? Tun Sie's ihm zuliebe. Na schön. Wiedersehen.«

91 Draußen steh' ich, in dem hell gebohnten Korridor, und gehe langsam und benommen an den vielen Türen vorbei zur Treppe. Fort von hier, ins Unterland, heim? So also nimmt sich das in Wirklichkeit aus. Das Herz bullert ein wenig, sehr verspätet, als käme es erst jetzt zur Besinnung. Die Sache will überlegt sein, reiflich überdacht. Unsinn! Getan will sie sein, gewagt und getan. Leichter gesagt als gewagt. Am besten, vorläufig nichts zu sagen; abwarten, ob der Beschluß ernst gemeint ist. Es kommt auf das Bild an, auf den Wolkenschatten im dritten Stock. Wenn das Bild gesund wird – wenn!

Ich trete in den Speisesaal, wo sie schon alle sitzen. Die Türe, allzu hastig aufgestoßen, klirrt widerstrebend. Alle blicken vom Teller auf, kurz und mürrisch, und neigen wieder das Gesicht dem Teller zu. Nur Anna Segher, vorne rechts beim Fenster, hält ihren Blick lange auf mich geheftet, schaut mir zu, während ich durch den Saal an meinen Tisch gehe, mich setze, nach der Zeitung und dem Löffel greife. Ich spüre ihren ruhigen Blick, er ist ernster als ihr Mund, er fragt: was ist los? Aber ich kann ihm 92 nicht antworten, jetzt nicht. Man wird Anna Segher also nicht mehr sehn, nicht mehr die andern alle, nicht die Berge und die Wolken. Man wird sich einsam vorkommen, verlassen und fremd. Wird man sich dort unten wieder zurechtfinden? Anna, wie lebt man in jener andern Welt, fern von hier, fern von dir?

Ein Teller Suppe, ein Stück Brot, fünfzehn Tropfen Kalk, brr! Dann die Depeschen . . .

Mein Nachbar am Nebentisch räuspert sich laut, sein diskretes Aufstoßen geht in ein schnaubendes Seufzen über. Er schiebt den leeren Teller weit von sich und zieht seine dicke, große Zeitung heran, deren schmale Spalten er mit dem Bleistift rasch durchgeht. Bei den Börsenkursen stopt der angekaute Stift und tickt von Zeile zu Zeile mit der Regelmäßigkeit einer Registriermaschine. Ab und zu kritzelt er ein Zeichen an den Rand, Plus und Minus, wohl auch eine Zahl. Und bevor die Spalte nicht gründlich und gewissenhaft durchgearbeitet ist, wird nicht weiter gegessen; Olga weiß dies und schaut abwartend aus der Ferne zu, bevor sie mit der Platte herbeischwebt. 93 Während Mister Phips im Gemüse herumstochert, gründlich und gewissenhaft wie soeben in den Börsenkursen, fragt er laut: »Olga, wie nennen Sie dieses Fleisch?«

»Nierenbraten, Mister Phips«, sagt Olga und kichert diskret.

»Danke, dieses Wort kenne ich schon«, stellt Mister Phips fest und legt klirrend das Besteck in die Schüssel zurück. Olga entschwebt zu andern Tischen.

Man muß mit Mister Phips' Wißbegier Nachsicht üben. Sie ist nicht zwecklos und deshalb keine überflüssige Beanspruchung seiner Mitmenschen. Sobald Mister Phips sein Gemüse gegessen hat, wird er sich wieder seiner Zeitung zuwenden, aber diesmal der Spalte mit den Kreuzworträtseln und ähnlichen lexikologischen Geduldsprüfungen, und wer kann wissen, ob er dann nicht für seinen Nierenbraten Verwendung hat, die einzig zulässige Verwendung, die dem nicht Fleisch verzehrenden Schlächter aus Chicago erlaubt und zugemessen ist? Denn Mister Phips, den ein unergründliches Schicksal in den sogenannten besten Jahren aus einer äußerst 94 geschäftigen und auch erfolgreichen Tätigkeit in den quiekenden, blökenden, blutrauchenden Schlachthöfen, die er ohne viel Umschweife seine Wurstfabrik nennt, herausgerissen und auf den Schragen einer asketischen Hochgebirgseinsiedelei geworfen hat, wo er bei salzloser Gemüsekost sich vorwiegend geistig unterhalten soll – Mister Phips hat von seinem früheren zu seinem jetzigen Leben einen Schritt getan, dessen geringstes Maß der Abstand von einem Kontinent zum andern ist. Mit seinen blanken, unverbrauchten Aeuglein im faltigen, leider immer noch lehmgrauen Gesicht hat er sich an die neue Arbeit gemacht, die ihm nicht verboten ist: Bildung sich anzueignen.

Oh, nicht jene weltfremde Bildung, wie sein Sohn in Chicago dieses zwei- oder sogar vieldeutige Wort versteht, der sich der Entzifferung alter Inka-Zeichenschriften zugewendet hat; wer zieht daraus Gewinn, wem nützen solche Spielereien? Nun, er kann es sich leisten, der junge Herr, auch wenn sein Vater hier müßig geht; die Hammel und Schweine wollen trotzdem verarbeitet, die Menschen gesättigt sein, auch wenn Mister Phips durch widrige Umstände 95 weiterhin gezwungen ist, seiner Bildung obzuliegen. Was er denn, abgesehen von seiner nur langsam sich entwickelnden Krankheit, der er ebenfalls gewissenhaft obliegt, darunter versteht? Well, Wörter lernen, möglichst viele Wörter, und durch sie die Welt erfassen, eine möglichst große Welt. Es fing an damit, daß Mister Phips eines jener Kreuz- und Quergebilde aus weißen und schwarzen Rechtecken zu sehen kriegte, ein Mysterium, das ihm verschlossen war und ihn deshalb mit magischer Gewalt anzog. Vielleicht erinnerte ihn die Zeichnung an einen Uebersichtsplan seines Schlachthofs, an ein Konkurrenzunternehmen oder an den Neubau des Logenhauses, zu dem er eine erkleckliche Summe gespendet hatte. Wie dem immer sei, er fragte kurzerhand, was dieser Schwarzweißzauber bedeute. Man erklärte es ihm, versuchte es ihm zu erklären, was sich als nicht so einfach erwies, obschon Mister Phips einfach zu denken gewohnt war. Wörter, gut, das war klar, die brauchte man, um sich auszudrücken, um Geschäfte abzuschließen, den Preis zu drücken, den Konkurrenten übers Ohr zu hauen, aber um damit Häuser 96 zu bauen, Sterne zu pflastern und, um die Weihnachtszeit, Christbäume zu stopfen, das war offensichtlicher Mißbrauch, und zwar nach Regeln, die ihm unverständlich und darum verdächtig blieben.

Hier fand einer der Boys das richtige Losungswort, das Mister Phips neue Wege wies. Wenn man genauer hinhorchte, so machten sich zwar die englischen Burschen unverhohlen lustig über Mister Phips, über seinen amerikanischen Slang, über seinen zur Zeit und Unzeit eingestandenen Beruf, am meisten aber über die ausgetretenen Hausschuhe, in denen er sogar zum Abendbrot im Speisesaal erschien. Mister Phips war unempfindlich, er hörte über die Andeutungen hinweg und ließ die Witze dort liegen, wo sie hingefallen waren. Die Rolle eines zahlenden Onkels, die ihm die Boys trotz ihrer gesellschaftlichen Ueberlegenheit zuvorkommend einräumten, spielte er mit Grazie und Ausdauer. Und bei einem Sektgelage, als die Karten eine Weile ruhten und die gewonnenen Geldhäufchen in den Hosentaschen der Boys verschwunden waren, zog der lange Georgie, Oxfordmann und dreifacher Baseballmeister, ohne böse Absicht die 97 dicke Zeitung, die neben Mister Phips lag, über den Tisch zu sich und versenkte sich in die hilflosen Schreibereien, die kreuz und quer über die Quadrate liefen. »Sie werden in dieser Wissenschaft promovieren, Mister Phips?« fragte er zuvorkommend. Die Bande lachte, aber Mister Phips blieb ernst. »Lohnt es sich?« fragte er zurück, und man wußte nicht recht, ob er zu einem Gegenschlag ausholte. »Well, wer viel weiß, weiß mehr, als wer wenig weiß«, sagte schlicht der Oxforder, reckte die Glieder und stand auf.

Diese Erklärung, die in der Verlegenheit aus der Luft gegriffen war, verlieh mit einemmal dem Kreuzworträtsel eine Weihe, die das Auge des Chicagoschlächters blendete. Hier war ein Vorteil unwiderlegbar dargetan, ein Zweck und ein Grund zugleich: Wissen gab eine Chance, Wissen war Macht. Wer von ihr mehr besaß, war dem überlegen, der wenig sein eigen nannte. Und da diese Wissenschaft auf zähe Weise, durch unermüdliches Nachfragen und Nachschlagen erreichbar war, stand für Mister Phips nichts im Wege, sich zu vervollkommnen. Was ihm 98 früher unerschwinglich vorkam: Zeit, die war hier billig im Preis. Er schaffte sich eine ausgewählte Bibliothek von Wörterbüchern in mehreren Sprachen, ein beredtes Konversationslexikon und einen großen Atlas an, er legte jegliche Scheu ab und lernte fragen, fragen und nochmals fragen, kurz, er ergab sich mit dem Eifer des Spätbekehrten der schwarzweißen Magie.

Seltsames Spiel, das ihn bald ganz besaß wie eine Leidenschaft! Jagd nach dem Wort, Griff nach allen Dingen dieser Erde und des Himmels im Wort, Besitz aller Schätze dieser Welt durch das Wort: ist es nicht vielleicht eine Sucht, die in unserm luftdünnen Lebensraum herrliche Entfaltungsmöglichkeiten findet? Wer hätte dem Schlächter aus Chicago noch vor Jahresfrist den Begriff des abstrakten Daseins vortragen wollen, ja wer hätte gewagt, die Existenz einer bloß gedachten Welt, einer nicht greifbaren, wandelbaren, kaufbaren Welt zu behaupten oder zu beweisen? Und nun lebt er selber in dieser Welt, wenn man so sagen darf, und sie ist ihm zum Trost geworden, eine Zuflucht und ein Heim, in dem 99 er sich verstecken und verlieren und die andere Welt vergessen darf. Gründlich und selig vergessen; das beweist doch wohl die Frage, die er mit harmlosen Aeuglein aus dem grauen Faltengesicht kürzlich an die Bande richtete: »Können mir die Herren«, .sagt er und zeigt mit dem angekauten Bleistift auf eine Zeile noch leerer Gehäuse, »können Sie mir einen Kurort im schweizerischen Hochgebirge nennen? Fünf Buchstaben sollte er haben, D am Anfang, soviel steht fest.«

Die Bande brüllt los. Mister Phips schaut beharrlich bittend vom einen zum andern. »Nun?« fragt er nochmals. Endlich erbarmt man sich seiner und zieht wortlos die Kurkarte aus der Tasche. Da steht der Name drauf, der uns allen ein Schicksal ist. »Well, ich hätte ihn kennen müssen«, sagt Mister Phips und buchstabiert ihn zwischen das Gitter seines Kreuzworträtsels.

Nicht jedem gelingt das Yoga der Entrückung aus der eigenen Wirklichkeit so gut wie dem Schlächtermeister. Wir sind Lehrlinge, alle, Zauberlehrlinge sind wir; aber es gibt auch hier Begabungen und 100 es bedarf auch hier der Gnade. Mister Phips ist von ihr gesegnet worden; wer hätte ihn für würdig gehalten? Er selber am wenigsten, er ahnt auch heute nichts, er trägt den Segen im Zustand der Unschuld, ihm ist die Hexenmeisterschaft geschenkt worden. Vielleicht ist sie anders auch gar nicht zu erlangen?

Nachtisch, wiederum Pudding, zur Abrundung des Charakterbildes: morgen muß ich auf die Wage. Ich darf jetzt nichts mehr verlieren, wenn ich im Herbst reisen will. Ach, will! Wer sagt denn, daß ich will?

Im Korridor, an den kalten Heizkörper gelehnt, steht Anna Segher und hält Cercle. Ihre Augen winken mich heran. »Hier ist die Rede von einer Verletzung der gesetzlich vorgeschriebenen Ruhezeit. Auf dem Verbrechen steht Strafe und Schadenersatz. Angeklagt sind die beiden Jungs aus Köln und Mainz, die sich immer schon unbotmäßig hervorgetan haben und die heute wieder, während alles schlafen gegangen war, vor dem Hause Krokett spielten. Die Anklage wird erhoben – wer hat Anklage erhoben?«

101 »Frau Tomaschek!« Wilder Lärm, Lachen, Händeschwenken. »Frau Tomaschek soll reden. Ruhe.«

Sie redet, nachdem sie mit ängstlichen Augen von Mund zu Mund geschaut hat, ob alle schweigen. Da sie schwerhörig ist, spricht sie doppelt deutlich. »Ich finde, daß die beiden Jungs richtig Kur machen sollen, wie wir andern auch.«

Geschrei, Geheul: »Kur machen, wem denn, Frau Tomaschek?«

Sie, verwirrt: »Jawohl, Kur machen, finde ich. Zahlen nicht ihre Eltern teures Geld, damit die Herren Söhne hier gesund werden?«

Betretenes Schweigen. Frau Tomaschek ist unmöglich. Spaß versteht sie nicht, Ernst noch weniger. Man wendet sich von ihr ab. Sie erhebt die Stimme und kräht noch lauter, während sie mit flehenden Augen rundum blickt: »Auch mag ich dieses Spiel nicht leiden. Wenn ich von meinem Balkon zuschaue, wie sie da eine Kugel herumschieben, vom Anfang zum Ende und vom Ende wieder zurück zum Anfang –«

102 Proteste: »Aber das verstehn Sie nicht, Frau Tomaschek! Die Spielregeln, der sichere Schlag, treffen muß man!«

Sie blickt hilflos auf die offenen Münder, die ihr etwas zuschreien. Sie stammelt: »Was denn? Was ist denn los?«

»Ob Sie sich in Ihrer Ruhe gestört fühlten, auf die Sie ein ärztlich attestiertes Anrecht haben, das wollen wir wissen«, fragt eine Stimme sehr streng, nahe bei ihrem Ohr.

Entsetzen steigt in Frau Tomascheks Augen. »Aber nein! Nein doch, wieso denn? Ich höre doch nicht, ob einer da unten auf dem Rasen herumrast und eine Kugel vor sich hinschiebt. Das hör' ich doch nicht! Wieso stören? Ich kann doch schlafen, wenn's gewittert. Ich hör' doch meinen Mann nie heimkommen. Wie? Na, ja, heimkommen, in Budweis mein ich. Aber zuschauen, das ist entsetzlich. Wenn ich zufällig runterschau und seh' die Jungs herumgehn, immerfort vom Anfang bis zum Ende und wieder zurück vom Ende bis zum Anfang, und das hört nie auf und immer muß man zusehn, ob man 103 will oder nicht. Junge Menschen, ich bitte Sie, Jungs, die hier doch zur Kur sind . . .«

Frau Tomaschek sieht, wie der Kreis um sie sich lichtet. Naja, wer mag da noch zuhören? Sie schüttelt betrübt den Kopf. Nun nehmen die Jungs sie auf beiden Seiten unter den Arm. Sie sträubt sich quietschend. Der eine brüllt ihr links ins Ohr: »Zur Strafe: eine Runde!« Der andre rechts: »Zum Wohl von Frau Tomaschek!« Und sie ziehn mit ihr los in den Saal.

»Arme Frau Tomaschek«, sagt Anna leise. »Sie hat nicht die Geduld. Vom Anfang bis zum Ende, vom Ende bis zum Anfang! Ganz zornig sagt sie das. Sie weiß noch nicht, daß das Ende der Anfang ist. Sie kennt nicht das Geheimnis der Heilung.«

Es ist plötzlich still geworden im Korridor. Aus dem Saal tönt gedämpfter Lärm. Man erkennt Frau Tomascheks gurgelndes Lachen aus dem Stimmengewirr. »Ihre Abneigung gegen den Verlauf dieses Spiels«, füge ich nach einer Weile zögernd hinzu, »ist es nicht vielleicht der eingeborne Abscheu vor 104 dem Zeichen der liegenden Acht? Die Angst vor der Unendlichkeit?«

Anna lächelt nachsichtig, wie zu einem Trost, der allzu weit hergeholt ist. »Du gehst schon?« fragt sie rasch, wie ich auf den Knopf beim Lift drücke.

»Zu Wolf«, sage ich.

Da wird ihr Gesicht ganz ernst und ruhig, wie von innen hell und aufgetan.

»Wie steht's mit ihm? Anna, warst du bei ihm? Du weißt etwas?«

Sie hebt leicht die Hand und winkt mir zu, wortlos, während sie sich zum Saal wendet. Ich trete in den Lift und fahre hinauf.

Wolfs Bett steht tief in der inneren Ecke des Zimmers, man muß die Türe ganz öffnen und eintreten, ehe man sieht, ob er daheim ist. Ach, wie sollte er nicht! Bei mildem Wetter schiebt die Schwester sein Bett für ein paar Stunden auf den Balkon hinaus, aber die frische Luft und die zudringliche Sonne machen ihn so müde, daß er lieber in seiner Zimmerecke bleibt, zwischen seinen Büchern und Bildern.

105 Hoch aufgebettet in den hellen Kissen unter der brennenden Lampe neigt sich sein schlanker Leib leicht und lauschend dem Besucher zu, dessen Schritt er kennt, dessen Art, die Türe aufzustoßen, ihm vertraut ist. Sein schmales Gesicht lacht aus den dunkelbraunen Augen unter der großen Locke, die ihm quer über die Stirn bis fast auf die Braue fällt. Ist er nicht eitel, der Bursche, weiß er nicht genau, wie hübsch er ist, wie hübsch ihn die Krankheit gemacht hat, indem sie seine Haut immer zarter über die Knochen des Kinns und der Stirne zieht und in seine Augen den Goldglanz des Fiebers streut? Braucht er nicht ab und zu den kleinen Handspiegel, der da mit silbernem Griff ganz harmlos, ganz unverschämt neben ihm auf dem Tischchen liegt, zwischen Photographien, Bleistiften und Notizheften? Und schabt er sich nicht täglich die glatte Haut und ließ er nicht den Barbier kommen, als ihm die Kraft fehlte, es selber zu tun? Die Schwestern schütteln voll Sorge den Kopf über soviel Sauberkeit des hinfälligen Leibes und auf ihren stummen Lippen liegt eine eisige Mahnung, die seine Augen betörend hinwegschmelzen.

106 Er winkt mir kurz mit der Hand zu, mit dem honiggelben Buch vielmehr, das sie hält und in dem sein Zeigefinger eingeklemmt ist. Er weist auf den freien Stuhl am Bettende und spricht eindringlich, als hätten wir seit Stunden über der Frage gegrübelt, und mit der weichen Beharrlichkeit seiner Stimme auf mich ein:

»Die Existenz der Dinge an sich wird also von Kant bejaht, nur die Erkenntnis ihrer Gesetze wird verneint. Die Dinge existieren außerhalb meines Begriffes von ihnen. Mein Verstand vermag sie nicht zu erkennen und schreibt ihnen keine Regel vor. Anders ist der vierzehnte Paragraph nicht zu verstehen; Fichte hat ihn eben in Gottes Namen falsch interpretiert, als er von der Natur als von einer Konstruktion aus dem bloßen Selbstbewußtsein ohne gegebenen Stoff sprach. Das fand Kant mit Recht gespenstisch, mochte ihn Fichte dafür immerhin bloß einen Dreiviertelskopf schelten!«

Er lehnt sich in die Kissen zurück und schaut mich so freudig an, als erwarte er von mir den Gegenbeweis. »Zum Teufel, Wolf«, stammle ich und greife 107 nach dem Buch, das seine Hand auf die Decke geworfen hat, »ach so! Aber ich kann doch die Prolegomena nicht auswendig. Sie müssen schon entschuldigen.«

»Verlangt auch kein Mensch von Ihnen«, sagt Wolf ruhig, »nicht einmal, daß Sie darin lesen. Ich tus auch nur, um dem alten Professor die Freude zu machen. Er will mich noch im Bett zur Philosophie bekehren. Gut, wenn ihn die Mühe nicht reut. Ich verpaß ja derweilen nichts Spannenderes.«

Er legt die Hand auf seine Stirn, lange Finger mit blassen Nägeln, er streicht die Locke langsam zur Seite und fährt mit seiner singenden Stimme fort: »Es ist gar nicht schwer, den strengen Herrn zu verstehen; hier oben in der dünnen Luft behält er rascher recht als drunten. Die Dinge außerhalb meines Begriffs von ihnen: das nenn ich reinlich geschieden. Es ist ein Spruch ins Stammbuch, eine goldne Lebensregel, man kann alt und glücklich werden, wenn man sie nicht mehr vergißt.«

»Ließen Sie mich rufen, um mir dies zu sagen, Wolf?« frage ich ihn leise. Ich sehe mit Schrecken, 108 daß er Fieber hat; ich darf nicht lang bei ihm verweilen.

Er bleibt stumm. Es ist, wie wenn man eine andere Farbscheibe vor den Scheinwerfer schiebt. Seine Augen sind dunkel geworden, sie brennen dunkel und schauen mich heftig an. »Nein«, stößt er endlich hervor, »ich schwatze zu Ihnen, als ob ich allein wäre. Verzeihung, man gewöhnt sich schon recht schlechte Sitten an. Wenn ich tagelang – und nächtelang – mit mir selber eingesperrt bin, was soll ich anderes tun, als mich mit mir unterhalten? Wissen Sie, daß ich manchmal so zu mir rede, als ob ich ein andrer wäre? Daß ich mich manchmal begrüße wie einen fernen Bekannten, wie einen Freund, der mir vor Jahren abhanden gekommen ist?«

Ich zucke die Achseln. »Bewußtseinsspaltung, offenbar zum Zweck der Unterhaltung«, stelle ich fest. »Unsere Krankheit hat sozusagen auch eine innere Seite.«

»Das wissen sogar unsre Aerzte«, sagt Wolf. »Darum lassen sie ihre Lieblinge Strümpfe stopfen und Pullover stricken. Ich wünschte, ich verstünde das 109 Stopfen; aber man hat es mich nicht lehren wollen, man hat es den armen Weiblein vorbehalten und uns blieb die Reifeprüfung samt nachheriger Kritik der Vernunft und Bewußtseinsspaltung. Aber man kann es auch darin zu etwas bringen.«

Seine Stimme hat wieder den ruhigen Singklang, sein Blick geht an mir vorbei zur Wand hinüber und bleibt dort wie gebannt haften. »Mein Bruder«, murmelt er, »mein kluger Bruder!«

Ich wende ärgerlich den Kopf zur Wand. Mit forschenden Augen betrachtet mich Fra Angelicos schweigsamer Mönch, den Zeigefinger auf den Lippen, das große Geheimnis im Hintergrund des Blicks. Eine Weile sind wir alle stumm. Dann spricht Wolf: »Ich habe mir noch im Frühling nichts sehnlicher gewünscht, als diesen Schweiger in seinem Kloster aufzusuchen. Reisen, schauen, erleben! Ich habe so wenig gesehen . . . Venedig, kennen Sie Venedig? Assisi, Rom. Mein Vater versprach mir Rom, wenn ich die Reifeprüfung bestanden hätte. Und jetzt? Ich habe ihn nicht einmal im Spaß daran erinnern mögen, so gleichgültig läßt mich der Verzicht. Statt 110 zu ihm« – er nickt mit dem Kopf zum Mönch an der Wand hin – »bin ich zu mir selber gekommen. Manchmal lege ich mir den Finger auf die Lippen – so – und betrachte mich im Spiegel. Können Sie das verstehn?«

Er hat jetzt wieder sein strahlendes Lächeln in den Augen. Er tastet mit der Hand nach dem Spiegel, läßt es dann bleiben. Die Hand liegt auf dem Linnen, müde.

»Es gehört Mut dazu, sich selber begegnen zu wollen«, sage ich.

»Mut? Vielleicht. Aber sicher auch Glück. Es gehört Glück dazu. Wo sollen wir uns selber begegnen in der lärmend tollen Massenflucht, die uns drunten in Atem hält? Aber wenn uns der Atem ausgeht, wenn wir atemlos in unsre Zellen einziehn, wenn wir zu uns kommen, wieder zu uns – das ist doch Glück, oder nicht?«

»Sie besingen die Selbstsucht, Wolf!« drohe ich lachend. »Sie sind kein soziales Geschöpf Sie stammen aus einem Zeitalter, das vorbei und begraben ist, aus dem Passé défini.«

111 Er blickt ernst auf mich. »Warum soll das nicht gerade ein Glück sein, für uns hier oben aufgespart? Damit es nicht weggeschwemmt werde aus dieser Welt, die in Katarakten dahinstürmt. Nicht ausgerottet von den Dampfschwaden des Kollektivwahns, der das Tiefland vergast. Ist das nicht Glück?«

Wie ein Prediger, über den der Geist der Verkündigung gekommen ist, wie ein fanatischer Prophet ohne Bart und Runzeln spricht der fiebernde Knabe aus seiner Kissenwüste heraus. Er hebt die schlanke Hand, der Aermel fällt über einem mageren Arm zurück, die Finger tragen ein unsichtbares Licht und heben es tröstlich empor. Die knochigen Wangen erglühn, über die Stirn gucken die Gedanken wie knisternde Funken, er ist schön und unheimlich in seiner Glut. Er spricht:

»Heute sind die banalen Wahrheiten vom Untergang des Abendlandes jedem anspruchslosesten Gemüt geläufig, aber wie wenige bedenken in ihrem Sinn die Rettung Europas! Untergang: das ist bloß eine technische Frage, der Weg dazu ist uns bereitet, 112 wir haben ihn nur zu beschreiten, nur auf ihm weiter zu gehn, so kommen wir schon ans Ziel, nichts einfacher als dies. Aber Rettung: das ist der Widersinn, die Umkehr und Abwendung, das gewollte Wunder. Dieses üppige Gewächs, das Gott auf dem kleinen europäischen Kap der eitlen Hoffnung vor dem Festland Asien hat blühen lassen, kann sich mit Blut düngen, soviel es mag, es wird doch nicht bestehen, wenn die neue Zellbildung nicht gelingt, die organische Gesundung im Kleinsten, die Heilung im Geiste. Diese aber ist kein Massenphänomen, keine undurchsichtige Derwischpolitik, keine Rauschnarkose, sondern die heilige Nüchternheit. Wo zwei oder drei anständige Menschen zusammenkommen und miteinander reden oder schweigen im Zeichen der Wahrheit, da ist mehr für die Rettung Europas getan als durch die Proklamation tausendjähriger Reiche und ewiger Ordnungen.«

Er schließt erschöpft die Augen und sinkt in die Kissen zurück. Seine Stimme, leicht heiser, steht noch einen Nachhall lang im Raum und hüllt mich ein. Dann, wie sie verklungen ist, erwache ich und 113 erschrecke. Das Krankenzimmer, weiß und kalt, ein Bücherbrett an der Wand, die grelle Lampe über den Kissen, das Bild des stummen Mönchs – und hier der glutvoll eifernde Jüngling, der die letzten Kräfte seines jungen Lebens in eine Botschaft an Europa verströmt. Ist es das Fieber, das aus ihm spricht, oder die Vernunft, die vor dem Hintergrund einer tollgewordenen Welt seltsam wie eine Krankheit anmutet? Ein Leib, der nur noch im Geiste lebt, zittert um den Bestand einer Wirklichkeit, die er schon verlassen hat? Ein Wort aus seinem Mund ist plötzlich wieder da: Die Dinge außerhalb meines Begriffs von ihnen . . . Wie kalt, schauderhaft kalt. Dagegen diese Glut, diese Bemühung des Geistes um die Welt der Dinge, um die Dinge dieser Welt! Tief widerspruchsvoll ist dein Verhalten, junger Mann, und wir wissen beim Heiligen der Toleranz, der hier oben verehrt wird, nicht recht, wohin wir deine Predigt einzureihen haben und wo bei dir der Spott aufhört und der Glaube anfängt. Wir spotten alle so leicht und wir möchten alle so gerne glauben . . .

114 »Sie gründen weltliche Orden, bauen epatante Häuser in schuldlose Landschaften hinein und dienen dem Gott, den ihre kümmerliche Phantasie sich geschaffen hat. Sie stiften einen Kreis, verwechseln blasse Verse mit der Not ihrer Zeit und suchen den gewähltesten Reim darauf. Es geht eine fashionable Sehnsucht nach dem Göttlichen durch die Welt, ein durch und durch gesellschaftsfähiges Ringen nach dem Höchsten, ein exklusiver Drang nach Bekenntnis und Erlösung. Etablieren Sie eine Religion, heute noch, und Sie buchen das einzig sichere Geschäft in dieser Krisenzeit!«

Seine Stimme ist schneidend, Bitterkeit und Uebermut machen sie hart und gehässig. Er stößt die Arme vor sich her, als spräche er zu einer Volksmenge, die es aufzurütteln gälte. Jetzt breitet er sie mit geöffneten Händen langsam zur Seite und flüstert weich:

»Aber wir hier oben, meine Brüder und Schwestern im Leid und in der Hoffnung, sind nicht wir eine viel inniger zusammengeschlossene Gemeinde? Ueber alle Kirchen und Sprachen hinweg verbindet uns ein Schicksal, wir haben die Welt verlassen und wir 115 zahlen für den Eintritt in unsere geheime Brüderschaft mit dem Glück des Alltags. Kennt ihr die Zeichen des Bundes, damit ihr sie nie wieder vergeßt? Denn wenn ihr auch wieder hinabsteigt in die Länder und Städte der Tiefe und unter den Menschen wandelt, die nicht leben in der Welt der Stille, so werdet ihr euch doch verbunden bleiben in der Gnade des neuen Lebens, das euch zuteil geworden ist, als ihr euch selber wiederfandet abseits von der Heerstraße, die in die Verlorenheit führt.«

Ich bin aufgesprungen und habe Wolfs Arm ergriffen. Ich halte seine Hand, als ob ich seinen Puls messen wollte. Sie ist heiß und feucht. Sie preßt sich schwach um meine Finger. Sein Kopf liegt seitwärts auf dem Kissen, mit halb geschlossenen Lidern, der Atem geht in kurzen Stößen durch die weichen Lippen des leicht geöffneten Mundes. Ich streiche ihm die Locke aus der Stirn. Er schaut mich aus seinen braunen Augen flüchtig an, aber es funkelt schon wieder ein Lächeln im Blick, ein fast schelmisches Bubenlachen, das sich über den gelungenen Streich und Schabernack freut.

116 Mir graut. Ich fühle galligen Widerwillen im tiefsten Herren. Nicht gegen den armen Jungen, der fiebernd in seinen Linnen liegt und vielleicht nicht einmal weiß, wie spukhaft grausig er seine Rolle als Volksredner und Bußprediger spielt. Wie echt und wahr vielmehr!

Ich beuge mich über sein Gesicht und versuche in den Zügen zu lesen. Das junge Antlitz mit dem hohen Nasenrücken unter der noch weich gebogenen Stirn und mit dem spitzen Kinn unter den vollen Lippen: wie gut kann ich mir's denken unter knatterndem Segel witternd in den Wind gehoben, der vom Meer die Elbe herauf streicht und über Finkenwärder tanzt und mit der blonden Locke ein wenig tändelt und dann die braunschaumige Hafenflut gegen die schwarzen Docks und breitbauchigen Schleppschiffe hetzt. Wie gut kann ich dieses Gesicht in der salzigen Meerluft sehn, von Sonne ganz überströmt, die auf dem Sande flimmert, allein vor der Brandung oder im Wettkampf gespannt nach der Boje hinpeilend, die umschwommen werden soll, die er als erster umschwimmen wird. Ein Junge unter 117 hundert Jungen, ihnen voran, ihr Führer im Spiel, dem sie willig gehorchen. Und dann betört auch ihn Hornklang und Befehlsruf, Fahne und Schwur, und später berauscht ihn das prickelnde Gefühl von Macht und Verantwortung und bestürmt sein unruhig klopfendes Herz mit allen Lockungen kühner Träume. Oh, ich seh' das Gesicht, so wie es gemeint war, so wie die Mutter es schaute, als sie über der Wiege sann.

Aber dann hat eine Hand über die Züge gestrichen, tastend zuerst wie die Hand eines Blinden, leise verwischend die Farbe der Wangen, die zitternde Haut zwischen Nasenflügel und Mundwinkel leicht eindrückend, einmal, und wie sie sich sträubte, härter ein zweites Mal. Mit den Fingerspitzen stieß die Hand an die Schläfen, morgens und abends und mehrmals in der Nacht, es schmerzte und die Augenbrauen zogen sich darob ein bißchen in die Höhe wie in bitterer Verwunderung, und über der Nase wuchs eine strichfeine Falte in die steile Stirn hinauf. Dann tupften die Finger mit bläulichem Ruß hauchweiche Schatten in die Augenwinkel und unters Lid, und 118 plötzlich schien die Nase hager und streng und das Auge blickte mißtrauisch und zweifelnd.

Das war seine Wandlung. Ich seh' sie genau; ich sehe das Gesicht, wie es müd in den Kissen liegt, und durchschimmernd dahinter das andere, wie es dem Meerwind standhält. Ich sehe, was war und was ist – und ich sehe, was sein wird. Vertrauend wird es sein und kühn, wie da es noch träumte, und wissend zugleich und voll Friede.

Nein, nicht davor graut mir und die Bitternis im Herzen trank ich nicht aus dem Becher dieser Erkenntnis. Wandlung ist unser Schicksal; was reif wird, wandelt sich.

Aber die strafenden, mahnenden Verkündigungen des fiebrigen Predigers in der Kissenwüste, seine tröstlichen Worte an die Gemeinde und sein Fluch über die taube Welt – ist nicht die groteske Komödie sein heiliger Ernst und mehr als das: ein scheues Bekenntnis seiner Liebe? Hatte nicht dieser Geist, gewandelt auch er wie die Züge des Gesichts, eine Wahrheit erkannt, die er mitteilen wollte? Und dann tat er dies, der jugendliche Mund, in der ungemäßen 119 Wortmaskerade, die er sich aus seiner papiernen Umwelt geliehen hatte, und mit den überschwenglichen Gebärden, die ihm alle Schlichtheit des Gedankens am tiefsten zu verhüllen schien. Und warum tat er es, da ich doch sein einziger Hörer war und da er mich sogar dazu geladen hatte, sein Liebesgeständnis an die spröde Welt anzuhören?

Fragen. Vielleicht werde ich sie zeitlebens nicht beantworten können. Vielleicht soll mich die unbegreifliche Maske ewig daran verhindern, das einfache Wort zu vergessen, das die zuckenden Lippen hinter der grellen Schminke sprachen. Fragen . . . Keine Antwort.

Aber dazu kommt ein anderes. Dazu kommt die gute, ein wenig dünne, prickelnde Luft, die um unsre Liegestühle steht und unsre Klausen füllt. Sie tut uns wohl, heilt uns, hält das Leben in uns wach. Und was noch? Verzerrt sie nicht auch sonderbar das Bild der Dinge, bricht das Maß und verschiebt die Vorder- und Hintergründe mit taschenspielerischer Schalkheit? Versteht sie es nicht, aus einer echten Leidenschaft eine 120 theatralische Pose und aus der Wahrheit einen Schabernack zu machen?

Wie sagte der fiebernde Jüngling, dessen Gesicht ich gleich der Maske eines großen Schauspielers mit der erbarmungslosen Schärfe eines Opernglases betrachtete, wie sagte er soeben noch: Sich selber begegnen als einem fremden Menschen, mit sich sprechen, streiten, wer weiß, liebkosen und sich hassen lernen? Rührender Notbehelf der Einsamkeit! Aber grausige Vergröberung des harmlosen Zwiegesprächs, wenn die verräterische Luft die Schatten verzerrt, so daß ich wie ein lächerlicher Don Quixote samt meinem ebenso lächerlichen Sancho Pansa an der Wand stehe, spindeldürr und knödeldick – die blöde Fratze einer anständigen Schizophrenie!

Davor graut mir, dagegen steigt mir die Galle hoch: daß wir sogar hier oben, gerade hier, nicht sicher sind vor unserer eigenen affenhaften Lächerlichkeit, wir alle nicht – wenn es dieser nicht einmal ist, Wolf, der tapfere Dulder. Man sollte die Maske still von deinem Antlitz nehmen, man sollte dich schauen, so wie du hier liegst auf dem Kissen, ein 121 müder Held, der vieles erfahren hat und der am glücklichsten ist, wenn er schweigen darf, wie sein kluger Bruder mit dem Finger auf den Lippen es ihn gelehrt hat.

Geräusch. Ist es spät geworden, habe ich mich zu lange versäumt? Draußen die Nacht.

Der Kranke schlägt die Augen auf, ganz ruhig, wie aus schwachem Schlaf. Oder hat er gar nicht geschlafen, während ich über ihn gebeugt war und seine Züge erforschte wie die Täler und Hügel einer Landschaft, die wir lieben und die wir unserm Herren einprägen, ehe wir Abschied nehmen. Er bewegt die Lippen und er flüstert: »Man kommt. Ich höre den Schritt. Anna Segher kommt – zu uns.«

Leise knackt die Tür, herein tritt Anna, schaut sich um, lächelt uns zu. Im Arm trägt sie einen Strauß roten Mohns, die großen Blüten mit den unwahrscheinlichen Blättern, die rot lackiert sind und ein zart gedrechseltes Kleinod locker umflattern. Sie stellt die Blumen in einen Kelch auf den Tisch nahe beim Fenster. Das Zimmer steht plötzlich in einem Flammenschein, die hellen Wände erröten. In 122 bestürmender, haltloser Verschwendung offenbaren diese Blumen gleich alles auf einmal: die üppige Reife und das flammende Ende. Ihr Feuer vermehrt sich selber, ihr Frohlocken ist eine Totenklage.

Wir schauen Annas ruhigen Bewegungen zu, wie sie Wasser einfüllt und die Stengel ordnet, und wir haben Zeit, uns an ihre Nähe im Raum zu gewöhnen, bevor sie spricht. Wolfs glänzende Augen folgen dem Gebärdenspiel ihrer Hände, ich spüre seinen Blick neben mir, er ist ganz wach.

»Ich danke dir«, sagt er endlich, wie Anna zum Bett tritt und uns beide mit ihren grauen, stillen Augen auszufragen beginnt. »Ich liebe den Mohn, er ist die Blume, die den Schlaf bringt. Wie schön, aus deinen Händen den Schlaf zu erhalten.«

Er greift nach ihrer Rechten, die er auf seine Stirn legt. Sie läßt ihn gewähren. Sie steht an seinem Lager wie eine Schwester, die kühle Linderung bringt, streng und gütig. Auch ein weißes Häubchen würde ihrem matten Gesicht gut anstehn, denke ich, während ich sie von der Seite her betrachte.

Aber da ich eine Bewegung mache, als ob ich mich 123 entfernen möchte, wendet sie rasch den Kopf zu mir und fragt: »Hat er dir gesagt, was er auf dem Herzen hat? Du sollst es in unser aller Namen verkünden.«

»Was – verkünden!« murre ich. »Hier werden Worte von Gewicht nur so hochgestemmt wie hohle Papphanteln! Ich verstehe diese Tonart nicht. Ich habe sie verlernt.«

Anna lächelt mir aus belustigten Augen zu. Ihr Mund ist spöttisch gebogen. Sie sagt: »Gut, reden wir, wie du's verstehst. Denn verstehen mußt du es, wenn du es weitersagen sollst. Wolf hat dir sein Testament anvertraut. Du bist jetzt eine Vertrauensperson. Mach unserm Vertrauen Ehre, wenn du im Tiefland die frohe Botschaft aus unserer Höhe ausplapperst.«

Wolf fährt aus den Kissen hoch. »Anna«, ruft er heftig, »ich verbiete dir so zu reden. Wir sind doch keine Sekte. Wir sind ehrliche Kranke.«

»Laß«, beschwichtigt sie. »Wer zweifelt an der Ehrlichkeit unserer Krankheit! Wir sind arme Hunde, und wenn es gut geht, währet es siebenzig Jahre. 124 Das soll vorkommen.« Zu mir: »Du hast ja gute Aussichten, hört man. Deine Untreue spricht sich bereits herum. Hör mal: Vergiß nicht uns andre. Und sag denen drunten, daß auch wir an ein Leben glauben. So wie der Gefangene an die Freiheit. Also wie an etwas Schönes und Reelles. Die wahre Wirklichkeit. Nun, hat er dir denn dies alles nicht gesagt? Wölfchen, du wolltest doch –.«

Er wendet den Kopf unwillig weg. » Warum sprichst du so, Anna? Es ist ja gar nicht nötig, gar nicht wichtig, was ich wollte. Ich dachte bloß so.«

»Aber doch!« beharrt Anna. »Er soll uns nicht schlechter in Erinnerung behalten, als wir sind. Er soll nicht nur an mich denken, an das verworfene Geschöpf, das von einem Tag in den andern lebt und sich nicht sehr dabei anstrengt. Er soll an unsre leuchtenden Beispiele denken, an unsre Prominenten und Veteranen, zum Kuckuck, wozu haben wir sie denn! An die Verkäuferinnen in den Papiergeschäften und an die Blumenhändler, an die Kunsthistoriker und die Kunstgewerblerinnen, kurz an die Lebenslänglichen, die den Mut zum Leben haben. Ihn 125 sollst du besingen, verstehst du. Wolf und ich erwarten was Rechtes von dir. Nicht wahr, Wölfchen?«

Jetzt lacht er. Seine Augen strahlen zu Anna empor. Eine heimliche Verschwörung. Ich komme mir wie ausgestoßen vor. Laut sag' ich es: »Wie ausgestoßen komm' ich mir schon vor. Das klingt ja alles nach Abschied und Entlassung.«

Anna schüttelt den Kopf: »O nein, entlassen wird hier keiner, bevor er die Waffen streckt. Aber du gehst jetzt in die Etappe, wir bleiben an der Front. Manche von uns werden dich beneiden, und manchmal wirst du Sehnsucht nach uns haben.«

Sie geht zum Fenster, blickt in die Nacht hinaus. Es ist spät geworden, Schlafenszeit. Wolf sucht meine Hand. Ich drücke sie. Ich sage: »Immer werd' ich nach euch Sehnsucht haben. Es ist, als wäre man hier daheim, wo doch gar keine Heimat ist.« Anna hebt den Kopf und spricht in die Dunkelheit hinaus, zu den Bergen, die samtschwarz vor dem Himmel stehn und über denen die Sterne hoch und verloren knistern: »Es ist, als wäre man hier, wo 126 man täglich den Tod erleidet, näher am ewigen Leben.«

Stille. Was bliebe noch zu sagen? Ihr Nacken, hell und schmal. Die Mohnblüten. Ihre Hand am Fenster.

Fern, durch eine offene Balkontür, flattert ein Lied in die Nacht. Banjogezirp und eine sehnsüchtige Männerstimme. Eine neue Platte, ein Schlager, gewiß, doch er klingt wie ein Gebet unter dem stummen Himmel.


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