Hugo Marti
Davoser Stundenbuch
Hugo Marti

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37 4–6 Ausgang

Um rascher ins Freie zu kommen, benutze ich die Hintertreppe. Der Lift ist sowieso von den englischen Boys belagert, die mit ungewohnter Hast zum Tee sausen. Aber nein, im zweiten Stock verlassen sie ihn lärmend und stürzen in das Zimmer der rotblonden Grace. Niemand kennt ihren Namen richtig, alle nennen sie Grace und allen lächelt sie zu, als ob sie wirklich so hieße. Nach ihr sind auf Ehre die Postkarten serienweise angefertigt, die im Papierladen auf der Promenade für Geld und gute Worte auszugraben waren und die uns, mit ihrem gefälschten Namenszug versehen, ein unbekannt verbliebener Spender am Weihnachtstage zum Gedeck 40 legte. Stürmisches Gelächter– und dann trug jeder ihr rosablondes Süßgemälde ganz behutsam in sein Zimmer und schaute es gerührt noch einmal an, bevor er's als Buchzeichen in irgendeinem Schmöker vergrub. Wozu ihr Bild? Grace ist Wirklichkeit, täglich schaubar, und keine Wolke verdunkelt ihren Glanz. Der Besuch ihres Gatten schob für zwei Wochen eine störende Kulisse vor ihre Anwesenheit, es war wie ein blasser Nebelschleier vor dem unwandelbaren Gestirn, wie ein kalter Hauch um den verglimmenden Kamin, und gestern zog er wieder ab, fröhlich und korrekt, wie er gekommen war, ein sympathischer Flieger irgendwo in Indien, fern von Grace. Sie hatte ihm vom Balkon aus lange nachgewinkt, während es auf den nachbarlichen Liegestühlen erstaunlich ruhig geblieben war. Eine Viertelstunde nachher bestellten die Boys ihren Gin auf das Zimmer der verheulten Grace und gaben sich alle erdenkliche Mühe, sie zu trösten. Am Abend schien es gelungen, das Lächeln lag wieder auf ihren blanken Zügen und es war reiner und postkartensüßer als je zuvor.

41 Wenn ich den obern Weg gehe, bin ich zu dieser Stunde sicher, keinen überraschenden Begegnungen ausgesetzt zu sein. Ueberraschung – wie man sie verabscheuen lernt, ohne ihr etwas anderes vorwerfen zu können, als daß sie uns überrascht. Ein pedantischer Stundenplan regelt unsre Tage, wir hassen ihn; ein Netz von Gewohnheiten fesselt unsere freie Zeit, wir schämen uns ihrer; unserer Welt sind äußerliche Grenzen gebogen, wir verfluchen sie. Aber wehe der Ueberraschung, die unsern Stundenplan stört, unsre Gewohnheiten umstürzt, unsre Grenzen durchbricht. Fassungslos stehen wir vor dem Zufall, der von uns nicht vorgesehen war. Sind wir denn feige Sklaven geworden? Vielleicht, schlimmer noch: wir sind glückliche Gefangene. Wir tragen unsre Handschellen, als ob es Armbanduhren wären, von denen wir unsern geordneten Tageslauf, unsern vorausbestimmten Lebenslauf ablesen.

Jener gute, alte Doktor Josua, als junger Privatdozent der Kunstgeschichte hier herauf verschickt und hier in Ehren grau geworden, ließ er sich nicht noch im hohen Alter einen Fluchtversuch zuschulden 42 kommen, einen Ausbruch aus dem Gefängnis, der ihn nicht weit führte und ihm wenig Ansehen einbrachte. Drei Jahrzehnte lang, ein volles Menschenleben, hatte er auf seinem Liegestuhl, auf seiner häßlichen Holzveranda in dieser Goldgräberstadt, von seiner Einzelzelle in diesem weltfernen weltlichen Hochgebirgskloster aus die Grundrißgeheimnisse aller europäischen Kathedralen erforscht, hatte die Dome von Sizilien, Kalabrien, der Provence und des Burgund ausgemessen, die Kirchen in Irland, Norwegen, auf Bornholm und in Wisby aus ihren Trümmern wiederhergestellt, die Münster in Chartres, Mecheln, Köln, Ulm, Basel nochmals aufgebaut, auf dem Papier, versteht sich, aber nach dem heiligen Gesetz des goldenen Schnittes, das er im großen wie im kleinen wirksam und gültig sah – oh beglückende Stunden der Entdeckung und Bestätigung, voll jenes trockenen Rausches, den die fiebrige Arbeit in der Einzelhaft erzeugt und den er in seltsam wilden, gedankenverlornen Abendspaziergängen auf der Promenade austobte. Man gab ihm Raum, wenn er wie ein schlingerndes Segelschiff halb quer 43 vor dem Wind daher fegte, denn das Gerücht seiner Entdeckungen stand wie eine turbulente Brise um ihn und im Schaufenster der Buchhandlung türmten sich seine Werke, von seinem Bild überragt. Doch der Ruhm, der da aus dem Unterland heraufsickerte wie trübes Grundwasser in die dünne Luft zwischen den dunkelwaldigen Berghängen, was war er unserm Forscher und Finder, unserm guten und altgewordenen Doktor Josua? Ein fahles, undeutliches Echo auf sein Wort, das laut und farbig gewesen war, ein spätes Etwas, ein allzu spätes Nichts, für das er längst mit seinem Leben gezahlt hatte.

Damals aber, als sein Werk vollendet war, ergriff ihn plötzlich die sinnlose Lust, seine kühne Entdeckung auf dem Papier irgendwo an der Wirklichkeit nachzuprüfen – selber nachzuprüfen, was andere natürlich längst schon staunend getan hatten. Ach nein, nicht im goldschimmernden Monreale oder im grauen Brügge, nicht an jener schlichten Marienkirche in Cornwall, die ihre Zwillingsschwester auf der Thingstätte am Hardangerfjord hat, nicht eine Fahrt in die weite Welt, die ihm ein Leben lang so 44 nahe gewesen war, keine Tollkühnkeit, keine Ausschweifung lockte unsern Doktor Josua fort aus seinem Eremitenfrieden, bloß ein Besuch in der Kantonshauptstadt sollte es werden und ein rascher Gang durch das alte Gotteshaus. Vielleicht ein Verweilen in der Achse des geheimnisvollen Fadenkreuzes, im Mittelpunkt des Wunders, bloß zwei Atemzüge lang, bloß während zwei Gedanken, wer weiß, während einem kurzen Dankgebet dafür, daß es ihm vergönnt gewesen war, in seinem stillen Zellenleben auf dem Papier ein Gesetz der Wirklichkeit zu entdecken.

Aber nicht weit kam unser Kunstgelehrter, weiter nicht als bis zur nächsten Station, eine Talstufe tiefer, wo der graue Herr schleunig den Zug verließ und sich heftig schnaubend auf die Ruhebank am Bahnhof setzte, die für die beschäftigungslos wartenden Portiers und die herumlungernden Träger bestimmt ist, und einsah, daß ihn das Tiefland nicht mehr haben wollte und die Höhe nicht mehr freiließ. Der nächste Zug brachte ihn uns zurück und erschöpft von dem Abenteuer atmete er immerhin befreit und befriedigt auf, als er wieder seinen 45 Balkon betrat, seine Einzelzelle, sein Lebensgefängnis. Die Wirklichkeit mochte drunten in der Tiefe ihr atembeklemmendes Dasein fristen; ihm genügte, ihr Gesetz auf dem Papier entdeckt und es ihr verraten zu haben. Soll man ihn unglücklich, soll man ihn gar bedauernswert nennen? Man täte seinem kleinen Triumph Unrecht, der ein Sieg des Weisen über sein Schicksal war.

Glühend gießt die Sonne die Kaskaden ihrer Strahlen über die Mauerwand des Kinderheims. Hier geht der Weg vorbei, gerade hier beginnt er zu steigen, das Herz setzt einen gedämpften Trommelwirbel an. Mit der pedantischen Gleichmäßigkeit einer guten, etwas alten Maschine schreite ich aus, die Beine kennen das bekömmliche Schrittmaß, die Füße den zweckmäßigen Trittsatz, ich könnte die Augen schließen und würde den Wegrank dennoch nicht verfehlen. Aber von Schließen keine Spur. Die Augen gehn ihre eigenen Wege, während mein Leib langsam steigt. Sie stellen zum hundertsten Male fest: dieser Riß im Beton müßte geflickt werden, wenn der Regen nicht einen ganzen Brocken losreißen soll. Wie, 46 hat der Gärtner heute hier gesichelt? Sind wir schon so weit in den Sommer gerutscht, daß die hohen Gräser und der braunrote Klee fallen müssen? Sieh mal an, das Eckfenster im Waldhaus ist geschlossen, was bedeutet das? Drückt die Luft heute so stark, daß man sie im Zimmer nicht haben mag? Ich kann das Bett heute nicht erspähen, die Fensterscheibe schimmert dunkel, aber aus der Tiefe des Zimmers sieht man mich, der ich pünktlich wie die Uhr in dieser nachmittäglichen Viertelstunde hier vorbeigehe, Tag für Tag, mit leisem Handgruß gegen die Unbekannte im Bett, gegen den Mitmenschen, gegen den blassen Schatten einer lebenden Frau.

Meine Hand legt sich im Zurückfallen auf den Stein, der schwer und kantig neben dem Weg am Grasbord steht. Ein grauer Granit mit silbrig schimmernden Kristallkörnern, an der Regenwetterseite klammert sich filziges Moos in den Ritzen fest, vorne hat ihn die Sonne gebleicht und der spielende Wind blank gerieben. Es tut wohl, den Stein zu berühren; seine Wärme ist von andrer Art als die der Betonmauer, sie schlägt wie Blut an meine Hand, in kurzen 47 Wellen, schwachen Stößen. Oder ist es nur mein eigenes Blut, das gegen den Stein pocht und in ihn eindringen möchte und durch ihn hindurch in das tiefe Herz der Erde? Ich weiß es nicht. Wie kann ich wissen, was mein Blut will und was ihm der Granit antwortet? Hier spricht eine Sprache, die ich nicht verstehe.

In die muldige Schale oben auf dem Stein lege ich dann, wie ich es jeden Tag tue, eine Blume, einen Zweig. Wann begann das Spiel? Weit zurück in der Zeit muß es liegen, ich erinnere mich jenes ersten Morgens nicht mehr, weiß nur, daß klares Regenwasser in der Mulde gesammelt war und daß die Schale wie eine offene Hand um ein Almosen bat. Ich gab, was ich hatte. Es war ein Spiel. Wann aber wurde das Spiel zur zwingenden Gewohnheit, zum unverbrüchlichen Brauch, wann die Bitte der offenen Hand zur Forderung einer Gottheit, ihr zu opfern? Habe ich nicht im Winter einmal den Schnee von der Mulde weggeschoben, ihn mit meinen Fingern weggekratzt, bis mir die Nägel sprangen, nur um einen Sonnenstrahl auf den Altar meines namenlosen Götzen zu legen? Damals erschrak ich vor mir 48 selber, vor dem törichten Wahn, dem ich diente, aber heute bin ich gleichgültig gegen meine Vorwürfe geworden: ich zucke die Achseln und opfere. An den Tagen, da ich das Zimmer hüten muß, kann ich das Blumenopfer nicht darbringen; aber, denk' ich auch so, so fühl' ich doch anders: wenn ich den Stein zu schmücken unterlasse, geht es mir schlecht. Und ich weiß nicht, worüber ich mehr betrübt bin.

Drei Schritte weiter, jenseits des Holzstegs über dem glucksenden Bach, tritt mein rechter Fuß auf die Wurzelrune, die glatt gescheuert in der Wegdecke eingebettet liegt. Auch dieses muß sein! Wie ein leicht hingeworfenes Fragezeichen krümmt sich die Holzfaser im Sandstaub und wenn ich auf sie trete, wippt sie meinen Leib mit schwachem Gegendruck zurück. Spielt sie mit mir? Ihr fragezeichenhaftes Dasein auf diesem gepflegten, geebneten Weg – ist es nicht mehr als nur ein fragwürdiges Zeichen, durch das mir Natur sich vertraulich zu erkennen gibt?

Denn schwer nur verstehen wir sie hier. Wir verbringen den halben Tag im Freien, wir sind aus den Städten des Tieflandes heraufgezogen in das 49 Bergtal, um das die Gipfel ragen und die Alpwiesen wie samtene Kissen ausgebreitet sind, unser täglicher Weg geht durch dunkeln Tannenwald und durch windgestreichelte Wiesen, geht an stürmenden Bächen und angebrochenen Felswänden vorbei – aber ist das Natur, immer noch Natur, oder hat sie sich nicht vielmehr langsam gewandelt zu fabelhaft echt wirkenden Kulissen, zwischen denen wir agieren wie mittelmäßige Schauspieler, mehr mit uns selber beschäftigt als mit dem Stück, das wir zu spielen haben?

Zwei Schmetterlinge, weiße Flügel, die aus dem raunenden Schatten höher und höher in die sonnige Luft hinauftaumeln, Gott weiß woher und wohin, aber mit einemmal ist die Walddämmerung so wahr geworden wie ein Märchen und unser Schritt so erwartungsvoll wie in der Kinderzeit. Verzauberung, mächtig wirksames Wunder der Minute ! Und dann: Von ferne tönen einige abgerissene Fetzen Walzermusik in die Stille, verirrte Fragmente des Teekonzerts im Kurgarten, und der rote Wagen der Seilbahn klettert durch den Wald empor, man sieht ihn zwischen den kahlen Stämmen blutig schimmern, wie 50 ein fremdartiges Fabeltier auf der abendlichen Jagdstreife. Der Asphaltweg spiegelt sein fahles Licht in das Tannendickicht, die Metallstangen des Geländers funkeln matt wie entrindete Aeste, die vom Regen und von der Sonne manches Herbstes knochenbleich gewaschen und getrocknet sind.

Ist das Natur – oder sind es die Requisiten unseres weit gebauten Krankenzimmers, tolle Wandmalereien mit bestürmend kühnen Perspektiven und sinnigen Einfällen? Kostspieliger Luxus gegen bescheidenen Eintritt.

Hier am Wegrand, im Wurzelwerk der Tannen, die einzeln in gemessenen Abständen zum Himmel ragen: zügle den Schritt, vermeide das Knirschen der Sohle im Sand und verweile bewegungslos. Siehst du, wie es mit kratzendem Gewisper am rauhen Stamm herunter flitzt, rund herum und mit wippendem Sprung ins buschige Gras vor deine Füße: ein dunkelbraunes Eichhorn, mit spitzen Oehrchen, funkelnden Augen, hochgesträußtem Flederwisch. Ein schwarzes dazu, und noch eins, in flachen Flügen von Ast zu Ast und über die Erde daher; Vogel, Maus, 51 Gummiball mit Schwanz. Es faltet die Pfoten und blinzelt dich an. Du schnalzest leis mit der Zungenspitze am Gaumen und spreizest flach die Finger. Und noch bevor du in die Knie sinkst und ihm dein Nüßchen hinhältst, springt es dir ans Bein und klettert am Strumpf empor, an deinen Knickers und über den Arm bis zur Schulter, schaut dir tief in die Augen und rutscht dir den Buckel hinunter, flink wie ein Blitz und neckisch wie ein kitzelnder Strohhalm. Und du stehst da mit deiner Brotkrume, die du aus der Falte deiner Rocktasche hervor geklaubt hast, und starrst blöde verzückt auf den kleinen Naturclown im Gras, der seine Kapriolen nicht einmal um des Broterwerbs willen ausführt, der gar keinen Hunger leidet, keinen Appetit verspürt, bloß zum Spaß oder aus täglicher Gewöhnung, so wie du spazieren gehst und ozonreiche Waldluft atmest und das Tinzenhorn mit seinen Schneerunsen und Gratkanten im Talausschnitt betrachtest.

Schwer fällt uns wahrlich hier die Natur zu verstehn. Wir dringen nicht mehr durch zu ihr, wir haben den Schlüssel nicht in der Hand, es ist keine Türe da. 52 Wie vor einem Gemälde bleiben wir stehn, wenn wir plötzlich an steiler Halde über dem Weg zwei Mähder im Grase sehn, einen Mann, eine Frau, die langsam Schritt vor Schritt setzen und mit flachem Schwung die Schwaden vor sich niederstrecken. Jetzt treten sie in den Schatten ein, der über der Mulde schon liegt, jetzt schreiten sie wieder hervor in die Sonne, die noch schräg über die Halde streicht, jetzt bleiben sie stehn, schauen zurück, setzen die Sense mit dem Handgriff auf den Boden, lehnen den Arm auf das blinkende Blatt und den Leib auf den gebogenen Arm. Ein krauser Bart umrahmt dunkel das schmale Gesicht des Mannes, ein breiter Hut die hellen Wangen der Frau. Sie blicken neugierdelos herunter zu uns auf den Weg, wir blicken hinauf in ihre ruhigen Augen. So nah, so rufnahe stehen wir uns, tauschen Gruß und Wort, und doch trennt uns der Abgrund zwischen zwei Welten . . .

Mein Name, laut und klar. Ich fahre zusammen wie ein ertappter Schelm, ich bin ordentlich erschrocken. Keine drei Schritte von mir entfernt, im Wegrank, steht Anna Segher. War ich denn so traumhaft 53 verloren an das bäuerliche Bild, daß ich ihren Schritt überhörte? Zwar, Anna Segher besitzt das Geheimnis überraschender Auftritte, und sie macht davon effektvollen Gebrauch, wir kennen das. Nun steht sie schlank und rank im Schatten der letzten Tannen, hellbrauner Tailor, Wildlederpumps, knappe Mütze über dem glatten Haar; ein Mädchen an Fessel und Knie, an Schulter und Hals eine Dame. Sie lächelt, ihre Augen weiden sich an meiner Ueberraschung. Wenn man sie so sieht, kann man nur den Kopf schütteln. Vor Hilflosigkeit, meinetwegen vor augenblicklicher Verliebtheit. Sie nimmt es nicht übel, sie nimmt es nicht ernst. »Nun?« fragt sie, um das Schifflein wieder flott zu machen.

»Nun!« wiederhole ich langsam, um meiner Verlegenheit Meister zu werden, und platze dann mit meinen trüb aufgerührten Gedanken heraus: »Es gibt noch andere Menschen auf dieser Welt, als nur uns Gespenster.« Und zum Ueberfluß hebe ich die rechte Hand und strecke den Zeigefinger aus wie ein Schullehrer und weise auf die beiden Mähder am Hang. »Neuigkeit?« sagt Anna spitz.

54 »Das Leben kommt mir manchmal vor wie eine Neuigkeit«, beharre ich, einen Ton ernster als notwendig. »Man vergißt es hier.« Das klingt rechthaberisch, wie Belehrung, nein, wie Verteidigung. Und ich trumpfe auf: »Man lebt ja doch bloß neben dem Leben dahin.«

Jetzt erst wendet Anna Segher ihr Gesicht zur Grashalde empor. Letzte Sonne auf den welligen Erdbuckeln, ein heller Schein auch auf dem schmalen Gesicht, das von vielen Winterkuren braun ist wie schwedisches Rauchglas. Man möchte die Hand an seine kühle Glätte legen.

»Zwei müde Menschen«, sagt ihr Mund sachlich, aber nicht ohne Bewunderung. Denn ihr Auge hat die gemähte steile Halde rasch gemessen, ein Tagewerk, eine Tat. Die Sensen zischen durch die letzten Schwaden.

»Ist das nicht schön?« frage ich. Anna schweigt. Ihr Schweigen trifft wie ein Verweis. Ich beiße mir auf die Zunge. Jetzt los von dem Quatsch! denke ich und höre meine Wut in den Blutgängen brodeln. Um mir einen anständigen Abgang zu sichern, 55 sage ich beiläufig: »Ein erbauliches Bild hinter Glas und Rahmen.«

Aber das Wort, das ein Schlußschnörkel hätte sein sollen, wird ihr Stichwort. »O nein, mein guter Herr«, flötet jetzt Anna durch spitze Lippen, die meine wegwerfende Stimme nachahmen, »es ist die Wirklichkeit, die Sie durch Ihre Brille zu schauen belieben.«

Ihr Scherz trifft mich irgendwo schmerzlich.

»Verzeihung!« sagt Anna Segher, bevor ich antworte. Aber auch jetzt ist ihre Stimme nicht etwa weich oder schmeichelnd, sondern immer von jener biegsamen Härte, die abwehrt, auch wo sie zurückweicht. »Sie waren ergriffen, hingerissen, gerührt, wer weiß warum? und ich störte Sie.«

»Ich war vielleicht traurig, wer weiß warum?« sage ich und lache. Ich will jetzt gehn.

Anna legt ihre Hand rasch auf meinen Arm. Es ist wie eine Bitte. Eine Abbitte. Nur einen Augenblick lang liegt ihr blütenweißer Handschuh auf meinem Arm, ihr sprichwörtlich berühmter Handschuh, denn sie ist unter uns die einzige junge Frau, die diesen nicht ortsüblichen Luxus mit einer gewissen 56 hartnäckigen Feierlichkeit beibehält. Wir finden es seltsam nobel oder auch verdreht, je nachdem, und die Bande, die für derlei Aufmachung weder Verständnis noch Duldung an den Tag zu legen gewillt ist, läßt es nicht an spitzen Bemerkungen fehlen; was natürlich Anna Segher nicht im geringsten anficht, im Gegenteil, sie scheint dieses harmlose Aergernis nicht ungern herauszufordern, sie scheint es wahrlich zu genießen wie die langen, warmen Blicke, die ihrer Gestalt begegnen und folgen.

Langsam gehen wir nebeneinander her. Ich habe offenbar, wie ich erstaunt feststelle, meinen Plan aufgegeben, noch zur Alp hinaufzusteigen. Ich begleite Anna Segher talwärts. Die Sonne blendet uns mit flachen Strahlen die Augen. Anna plaudert:

»Sie hätten den roten Türkenfez aufsetzen sollen, der Ihnen am letzten Ball so gut stand. Man muß es den Mitmenschen nicht schwerer als nötig machen, es gibt doch zweckmäßige Vorsichtsmaßregeln, Umgangsformen, den ungeschriebenen Knigge. Mein Großvater war ein heftiger Herr, aber er wußte es und darum stülpte er, wenn er keinen Streit 57 heraufbeschwören mochte, seinen Fez über, ein Souvenir von seiner Hochzeitsreise nach Marseille. Ob er das Verfahren gleichzeitig mit der Kopfbedeckung erworben hatte, kam niemals aus. Aber unter seinem Fez wandelte er ungeschoren wie unter einer Tarnkappe, wie eine dunkle Gewitterwolke ging er zwischen uns dahin, ohne zu platzen. Wir ließen ihn in Ruhe und er uns.«

»Ich besitze keinen solchen Türkenhut«, wende ich ein. »Sie ziehen meinen Kummer ins Lächerliche, Anna, aber wenn Sie mir zuhören wollen, so müssen Sie gestehen, daß Ihnen meine Stimmung nicht fremd ist. Vorbei am Leben! Wie hinter einer dicken Glaswand. Zuschauer einer Tonfilmaufnahme.«

»Recht so«, sagt Anna, »ich verstehe vollkommen. Sie sind vorübergehend gelähmt. Sie schauen die Welt im Spiegel.«

»Im Spiegel, wieso? Wieder ein gläsernes Gleichnis. Sonderbar, immerhin. Aber es mag seine Richtigkeit haben. Im Spiegel, ja?«

»Im Handspiegel, wie die kleine Nelly«, fährt sie unbeirrt fort. »Sie haben sie nicht mehr gekannt, Sie 58 Neuling. Das Kind lag vier Jahre im Bett, auch draußen auf dem Balkon; in der Höhle, sagten wir, weil sie sich nicht rühren durfte. Knochen, Hüfte, Gelenke, was weiß ich. Nicht rühren, Mensch! Wie ich damals ankam, vor einem halben Leben, seh' ich schon vom Hof aus, noch im Wagen, einen Spiegel irgendwo in der Sonne blitzen. Ich starre hin, woher mich der Lichtblitz getroffen hat: ein Handspiegel hebt sich über einem Balkonbett empor, wird eingestellt, wird auf mich angelegt wie ein Schießgewehr und folgt meinem Schritt, meinen Bewegungen und meinem verlegenen Gruß. Ich war erschlagen. Ich ahnte noch nichts von der Neugier, die auf Liegestühlen wuchert. Heute versteh' ich es, Nelly fing sich die Welt im Spiegel. Sie durfte sich nicht rühren, sie konnte nicht mehr an die Welt heran, sie holte sich ihr bißchen Welt in die Höhle, löffelweise, spiegelweise. Camera obscura – sagt man nicht so? Ein Spielzeug, das im Tiefland aus der Mode gekommen ist.«

»Also doch Spielzeug, sagen Sie. Eine Finte, natürlich ein Bluff.«

59 »Ein Schattentheater, mein ich. Sowas gab es doch früher dort unten!«

»Hier immer noch. Anna! Das ist es ja, o Gott, das ist so furchtbar, die Welt bloß im Spiegel zu besitzen.«

»Wie besitzt man sie denn eigentlich drunten?«

»Aber Anna! Jetzt lästern Sie.« Ich versuche zu grinsen, aber ihr Ernst ist ungemütlich. »Mitten drin stehen, die Hände voll Leben, alles hat man drunten, nichts haben wir hier. Aussätzige, Abfall, lebende Leichen.«

Plötzlich ist Anna stehen geblieben, schaut mich an, streng, mit gekniffenen Augen. Alles Blut scheint unter der gebräunten Haut aus den Wangen gewichen, sie ist dunkelfahl, steile Falte in der Stirn, die Lippen schmal gepreßt. Stumme, schwere Pause. Langsam öffnet sie den Mund, die Zähne schimmern, sonderbar weich ist mit einemmal dieser Mund, der eben noch so streng schien. Jetzt sagt sie, und ihre Worte kommen wie von ferne an mein Ohr: »Sie reden häßlich und ungerecht. Sie wissen es besser. Seien Sie – anständig.«

60 Ganz leise hat sie diese Worte gesagt, hat sie mit rauher, trockener Stimme hervorgestoßen, mit erschrockener Entschlossenheit. Ich fühle das Blut in den Schläfen, sicher bin ich rot, als hätte man mich geschlagen. Hat man mich denn nicht geschlagen? Mit Worten, die brennen; mit Worten aus diesem geliebten Munde, der sonst immer Heiterkeit spendet. War es eine Zurechtweisung oder eine Bitte, ein Vorwurf oder ein Notschrei? Gleichviel. Beschämt und schuldig stehe ich vor Anna Segher, vor unserer eleganten, kühlen, spielenden Anna Segher, die keinen von sich wegweist, keinen an sich heranläßt, dieses Rätsel von Selbstverständlichkeit, dieser Fall der Fälle, der so kompliziert ist, daß er ganz einfach scheint. Eine glatte Nuß, die keiner öffnet; jetzt hat sie ihren Kern gezeigt, rasch und scheu – ich durfte ihn sehen. Mir, ja mir hat sich die glatte Schale erschlossen. Warum mir?

Alles geht so rasch. Während Anna weiterschreitet, als ob nichts geschehen und gesagt worden wäre, steigt mir eine zweite Blutwelle in den Kopf, ein Strom warmen Glückes. »Anna!« sage ich laut und 61 greife nach ihrem Arm. Sie wendet sich ruhig zurück, lächelt und sagt: »Komm! Wollen wir den Tee verplempern?« Dann schiebt sie ihren Arm in meinen.

Wir gehn im gleichen Schritt auf dem sandknirschenden Weg unter den Tannen talwärts, wir kommen zwischen den Wiesen zu den ersten Häusern, wir begegnen Menschen, biegen in die Promenade ein. Um uns ist plötzlich Lachen, Schwatzen, Grüßen, der trockene Hufschlag der Pferde auf dem Asphalt, das farbige Gewimmel der fünften Nachmittagsstunde. In mir ist stille, klare Heiterkeit.

Bei Canova sind natürlich alle Tische auf der gedeckten Terrasse belegt. Vorne am Gitter zur Promenade hin wird eben ein Platz frei, ein bevorzugter Platz, man sieht straßauf und -ab und wird gesehen. Ich dränge nach dem Gitter hin, der Platz gebührt Anna, ich weiß, daß sie ihn nie verschmäht, wenn er frei ist. Sie hält mich zurück und sagt leise: »Lieber heute nicht Schaubrot spielen!«

Ich blicke mich um. An der Gartenbrüstung Stuhl um Stuhl besetzt, nickende Köpfe, winkende Hände, fröhliche Zurufe. Dort hinten – die Nische ist frei, 62 wie meistens. »Dann bleibt uns nur der Flüsterwinkel«, sage ich unentschlossen. Anna, ohne Zögern: »Ziehn wir uns in den Flüsterwinkel zurück. Dort ist man ungestört. Lassen wir die andern ruhig über uns flüstern.«

Sie geht voran, den engen Gang zwischen den Tischen hindurch. Hände strecken sich ihr entgegen, kurze Rufe empfangen sie, ein baumlanger Engländer erhebt sich und bietet ihr seinen Platz an: wie an einem Willkommspalier vorbei, das ländlich bunt mit Wimpeln und Papierblumen geschmückt ist, schreitet sie unangefochten dahin, kleine Parade der liebeknisternden Kameradschaft. Wie sie in der Flüsterecke Platz nimmt, fangen die Blicke seltsam an zu kreisen, scheinbar ziellos umschweifen sie uns, werfen sie Schlingen um uns, die sie plötzlich zuziehen, als könnten sie uns fangen: eine frischgebackene Sensation, die bis zum Abendessen warm bleibt und noch zum Bridge den lauen Gesprächsstoff liefert. Und die Köpfe neigen sich über den Tischen zusammen, überall, wie auf Befehl. Eine Wolke von Flüstern schwebt über der Terrasse.

63 »Es hat gewirkt«, stellt Anna fest. Sie rührt lächelnd in ihrem dunkeln Tee und macht nun ihrerseits mit flinken Augen die Runde von Tisch zu Tisch, gründlich und ohne Erbarmen, und sie begleitet ihre Schau mit bissigen Bemerkungen. »Wie, Bassewitz schon wieder bei der Griechin? Sind denn schon wieder vierzehn Tage vorbei? So merkt man, daß die Zeit vergeht. Schau mal an, das schöne Wetter hat unsern portugiesischen Seehelden aus dem Schmollwinkel gelockt. Wissen Sie, ob er sein Strafmandat schon gezahlt hat? Gemeine Sache, Polizeibuße für einen feurigen Schuß in die schönen Waden einer ungetreuen Geliebten, während sie mit einem andern im offenen Wagen über die Promenade fährt. Gut getroffen, aber schlecht gezielt. Das Bein wurde geflickt, die Ehre hat nicht gelitten. Nun ja, ihm bezahlt's der Staat, die Spielschulden auch, das wird dem Arzt abgezogen. Fabelhaft die Schottin, was? Das nennt sich Selbsterhaltungstrieb. Wetten, sie überlebt den kleinen Baron Gall? Könnte übrigens seine Mutter sein. Ist es ja auch, wenn man genauer zusieht; das macht mir die Frau sympathisch. Hier 64 oben fehlen die Mütter. Könnte man die Nachtgebete belauschen, die gestammelten und die verschwiegenen – oh Kinder!«

Sie neigt die Stirn und schlürft ihren Tee.

»Glaubst du, hier wird wirklich etwas verschwiegen?« frage ich.

»Das letzte schon, das allerletzte bestimmt«, sagt sie ernsthaft. »Darum ist alles, was hier gesprochen wird, nicht wichtig, nicht endgültig. Tratsch und harmloser Auswurf des Herzens, kein Grund zur Aufregung.«

»Und die viele Liebe?«

Anna blickt mich ruhig an. »Eine Zeitfrage, ein Problem der freien Zeit. Wie bringe ich meine Liegekur herum? Also ein Heilfaktor, sozusagen.«

»Lang lebe Anna, die Naturheilärztin! Man wird dir im Park ein Denkmal aufstellen, neben dem Erfinder der Liegekur.«

»Mein Denkmal wird anderswo stehn. Ich geh' ab und zu hin und schau mir den Ort an, wo es stehn soll. Ich werde dort die Gesellschaft haben, an die man sich hier gewöhnt hat. Aber sie 65 wird schweigen. Und auch daran wird man sich gewöhnen.«

»Jetzt sag noch, daß es eine angenehme Abwechslung sein wird . . .«

»Nach all der Hemmungslosigkeit, die sich hier austobt – vielleicht. Diese Krankheit hebt jede Zurückhaltung auf. Beweis? Wo in aller Welt triffst du Engländer, die, ohne feierlich vorgestellt zu sein, eine Dame ansprechen würden? Hier! Und sogar deutsch. Mehr kannst du nicht verlangen.«

»Mehr verlangt kein Mensch, Anna. Ein wahrhaft schrankenloses Dasein. Nur eine Schranke, aber unsichtbar, ganz am Ende.«

»Darum das Tasten, die Unsicherheit des Anfängers. Ach wie sie uns leid tun, die ängstlichen Lämmer, die zum erstenmal auf die Weide getrieben werden. Wie blind gehen sie herum, immer in der Furcht, an die Schranke zu stoßen oder in den Abgrund zu stürzen. Bis sie das Gehen und Hüpfen gelernt haben. Bis ihnen die Bocksprünge geläufig sind. Bis sie sogar meinen, die Schranken überspringen zu können, die unsichtbare Schranke.«

66 Es ist still geworden zwischen uns. Anna hat die letzten Worte leise gesagt, wirklich geflüstert, wie es dem Winkel geziemt, in den wir uns zurückgezogen haben. Ihre Hand liegt ruhig auf dem Tisch und spielt mit dem weißen Leder, das so geheimnisvoll die Form ihres Armes und ihrer Finger in sich bewahrt hat, seltsam lebendiges Totsein, rührende Gebärde der Erinnerung.

»Ist nicht auch die Liebe ein Tasten nach dieser Schranke hin?« frage ich. Aber während ich frage, spüre ich bei Anna wieder die leise Regung der Abwehr, die innere Sperre, den Krampf. Ich bedaure meine Frage; sie ist in ihrer Banalität herausfordernd. Und wie Anna antwortet – richtig, natürlich, so und nicht anders mußte ihre Antwort lauten:

»Die Liebe – ?« sagt sie und klopft mit ihrem Löffel leise klirrend an den Rand der Tasse. »Meinst du gewisse sonderbare gesellschaftliche Beziehungen, wie sie hier Mode sind? Die unzeremoniell mit einem Besuch des Herrn im Schlafrock am Bett der Dame im Nebenzimmer beginnen und mit einem 67 unverbindlichen Kopfnicken beider über die Teetassen hinweg beim Five o'clock im Kurhaus enden. Was dazwischen liegt, lassen wir liegen; es ist belanglos. Meinst du das?«

Ich bin verblüfft. Ihre Heftigkeit verschlägt mir den Atem. Das aber scheint sie noch mehr zu reizen. Sie wirft den Löffel auf den Teller und stößt heftige Worte hervor:

»Du lieber Gott, das heißt doch den Gaul verkehrt aufbäumen! Es gibt doch Gesetze, Spielregeln meinetwegen. Das hier ist Dilettantismus und unfair obendrein. Muß ich alte Frau das einem jungen Manne sagen?«

Nun lachen wir beide. Ihre Erregung hat sich gelöst, vielleicht kommt sie sich mit dieser Koketterie, die ihr sicher wider Willen entschlüpft ist, selber etwas komisch vor. Auf der Terrasse neigen sich wieder die Köpfe zueinander hin, schleichen wieder die Blicke um unsern Tisch.

»Konnte ich ahnen, daß die vielumschwärmte Anna noch nach solchen Komplimenten fischt . . .«

»Still«, sagte sie rasch, »darüber spricht man nicht. 68 Hier gelten die Dienstjahre, sonst nichts. Du kommst noch gar nicht in Frage, mitzureden.«

Ich höre in ihrem Lachen den schrillen Unterton. Also doch Scherben, denk' ich bei mir. Man sollte aufräumen, wegschaffen. Hier ist etwas zerbrochen. Weiß sie es selber?

Als hörte sie meine Gedanken, antwortet sie ihnen: »Ich weiß, du verstehst mich nicht. Wer hier Liebe sagt, meint Flirt. Auch ich –.« Beschwörend hebt sie die Hand: »Doch, auch ich. Laß mich reden, wenn wir schon im Flüsterwinkel der Geständnisse sitzen. Du siehst mich schwatzhaft und bekenntnissüchtig wie alle andern, wenn der Rappel uns gepackt hat. Aber ich will nicht quatschen, was ich heute empfinde, sondern sagen, wie es war und wie es kam. Willst du mir zuhören?«

Jetzt ist mir so, als ob mir langsam eine Faust die Kehle zudrückte. Eine Angst, die schmerzliche Lust ist. Sprich! bettelt ein Wunsch in mir, der neugierig, raffgierig ist und stolz darauf, das Geheimnis um Anna Segher heute endlich wegzureißen wie einen Schleier, der ihm das Antlitz der Geliebten verbirgt. 69 Schweig! fleht ein anderer Wunsch, der fürchtet, daß es sonst vorbei ist, endgültig und hoffnungslos.

Aber schon spricht Anna Segher, und was sie sagt, klingt klar und hart wie ein Dementi, es verleugnet ihre ganze romantische Existenz, ihre postamenthafte Halbgöttlichkeit, und was übrig bleibt, ist ein Mensch, arm, krank, verurteilt wie wir, vielleicht ein wenig tapferer als wir und gewiß entschlossener, sein Urteil zu tragen – nun, hören wir ihr zu, sie hat schon angefangen, sie spricht:

»Daß ich in einem kleinen Städtchen aufgewachsen bin, weißt du. Man sieht es mir auch an, wenn man genauer hinzuschauen versteht. Es bleibt uns immer etwas von jener Atmosphäre haften, die in solchen Orten mufft, wo jeder den andern kennt und ihm auf die Finger sieht, ihn grüßt – oder nicht grüßt, je nachdem. Ich denke, es gibt mehr solcher Städtchen in der Schweiz als anderswo, und was verschlagen da die paar Großstädte viel? Die Luft über unserm Land wird in den kleinen Städtchen und großen Dörfern gebraut; Alpweide und Asphalt sind Beigewürze, Zugaben. Ich sag' das so, nicht 70 um mich wichtig zu machen, mein Lieber, sondern weil unbedeutendes Leben nur vor diesem Hintergrund einen Sinn hat. Ich hab' oft und lang darüber nachgedacht; hier fehlt einem ja nicht die Zeit zur Kulturphilosophie.

Denk dir meine Kindheit so sorglos wie möglich, abgesehen natürlich von den liebevollen Quälereien, denen das einzige Kind wohlhabender oder doch auskömmlich gestellter Eltern ausgesetzt ist. Rings um meine ersten Erlebnisse standen die Berge, sie waren die Hüter meiner Wirklichkeit, im Traum sah ich oft das Meer. Als ich später einmal einige Wochen an seinem Saum lebte, der Vater hatte mich hinbeordert, wie man das bei uns nannte, weil mein Blut zu wünschen übrig ließ, da verlor ich mich in gefährlicher Weise an seine singende Weite, die meinen ganzen kleinen und von den Bergen geformten Mädchenleib überspülte und willenlos machte. Der Arzt konstatierte, daß mich die Jodkur gestärkt habe.

Willenlos, sage ich. Es sollte sich alsbald zeigen. Wir hatten in jenem Jahr einen neuen Lehrer bekommen, nicht gerade frisch vom Seminar, aber doch 71 noch jung, unverbraucht, ein gelenkiger Bursche, allen Künsten und Spielen des Leibes zugetan, besonders den anstrengendsten und wagemutigsten, wozu ja in unserm Bergnest genügend Anlaß war. Wir nannten ihn unsern Typ; begreiflich, daß wir für ihn schwärmten, ebenso begreiflich, daß dies in einer spröden, nach außen hin eher abweisenden Form geschah. Da er nicht aus unserm Ort stammte, hatte er wenig Verbindungen, schien sie auch nicht zu suchen; ja, wenn man ihn Sonntag für Sonntag in den Gletschern und Gräten droben sah und im Winter auf Skiern, tage- und tagelang, so mußte man wohl begreifen, daß ihm nichts an Stammtischrunden, Einladungen zu Sonntagsbraten und Teekränzchen gelegen war. Es gab Leute, die ihm das übelnahmen.

Uns gegenüber zeigte er sich unbefangen, was vielleicht nicht ganz so leicht ist, wenn man die herausfordernde Art bedenkt, mit der Mädchen im reiferen Backfischalter gelegentlich ihre Verlegenheiten zu übertrumpfen versuchen. Daß wir auf ihn irgendwelchen Eindruck hätten machen können, bildete sich unsere Unerfahrenheit nicht ein. Wenn ich's heute 72 überlege, weiß ich es anders, denn ich bin wirklich alt genug, um einzusehen, was für ein Gewicht die Natur mit solch einem taufrischen, kühlhäutigen, fleischzarten Apfel in die Wagschale der Männerverliebtheit legt.

Nun, wie dem sei, ich brauche mich nicht besser zu machen, als ich war, genug: eines Tages, kurz nach der Schlußfeier unserer Schulklasse und bevor ich ins Welschland fuhr, wo man mich diesmal um der Kochkunst und Lebensart willen hinbeordert hatte, erscheint unser Lehrer bei meinem Vater, der damals im Schulrat saß – wo sitzt ein braver Bürger nicht in einem Städtchen, das seine Männer nötig hat? – kommt unser Lehrer und fragt meinen Vater, der von ihm irgendwelche Erörterungen von Schulproblemen erwarten mochte, um die Hand seiner Tochter. Genau in dieser feierlichen Form, ich kriegte es bei der Suppe zu hören, der Vater nahm kein Blatt vor den Mund und erzählte mit Behagen und Laune alle Einzelheiten der kurzen Werbung, die ihm spaßhaft vorkam. Die Mutter sah mich mit langem Blick an und legte vorsichtig den Finger an 73 ihre Lippe, aber der Vater fuhr mit der Hand in der Luft umher und sagte lächelnd: Soviel wird das Kind doch noch vertragen!

Ich vertrug es allerdings. Mir war, als ob ich einen Faustschlag irgendwo in den Nacken bekommen hätte, aber ich ertrug ihn ohne Schrei. Ich war bestürzt und schwieg. Nach dem Essen, ich seh' mich heute noch genau, stand ich lange vor dem Spiegel in meinem Zimmer. Was ich betrachtete, weiß ich nicht und wußte ich wohl auch damals nicht. Ich suchte etwas, in meinen Augen, hinter meiner Stirn, in meiner Brust; aber was? An eines erinnere ich mich: an das grünliche Licht, das der nahe Wald am Berghang durch das offene Fenster hereinspiegelte, und daß ich bleich und fremd für meine eigenen Augen in diesem grünen Lichte stand, wie eine Nixe tief im Wasser, auf das die Sommersonne brennt. So sagte ich damals zu mir, ich weiß es heute noch; ich muß also wohl noch sehr kindlich und von harmlosen Vorstellungen erfüllt gewesen sein, wenn eine Werbung nichts andres als Märchenbilder in mir weckte. Sie war natürlich von meinem Vater abgewiesen 74 worden. Nicht unfreundlich, aber bestimmt, wie er zur Mutter sagte. Und nicht endgültig, sondern vorläufig, mindestens für ein Jahr. Ich sei noch ein Kind, und den jungen Mann kenne hier am Orte auch noch niemand so genau; eine Probezeit von einem Jahr sei angebracht und vorderhand das äußerste, was mein Vater zugestehen könne. Von mir selber war gar nicht die Rede bei diesen Verhandlungen und Abmachungen.

Ich sagte schon, ich war willenlos. Wie hätte ich sonst mich einer Maßnahme gefügt, die immerhin mit meiner Zustimmung rechnete, ohne sich ihrer im geringsten zu versichern? Wie wäre ich sonst, ohne den jungen Mann noch einmal zu sehen, von dem ich bloß einen schülerhaften Abschied genommen hatte, in meine welsche Haushaltungsschule gereist, und zwar beschleunigt, als gelte es meine Sicherheit? Ich tat alles, was man mir vorschrieb, mit einer Willenlosigkeit, die mir heute unerklärlich ist, und wie im Traum, immer das einschläfernde Singen des Meers um mich; ich war betäubt und die Besinnung kam mir erst in der Fremde.

75 Da aber war es schauerlich, wie Halt um Halt, Traum um Traum von mir abfiel. Mein Herz schuppte sich, war wund, lag bitter wie ein Salzblock in mir. Meine Gedanken schnurrten wie die Räder eines tollgewordenen Uhrwerks, bis ihre Verzahnung stumpf wurde und ihr Gewicht aus der Kette fiel. Ich schrieb nach Hause, regelmäßig jede Woche, aber ein einziges Mal schrieb ich von dem, was mich Tag und Nacht quälte, und daß ich glaube, den Mann zu lieben, der um mich geworben habe. Ich erhielt keine Antwort darauf. Ich schämte mich, daß ich es geschrieben hatte.

Du schaust mich an und willst mich fragen, warum ich nicht dem Manne selber schrieb, ihm ganz einfach sagte, wie es um mich stand. Es wäre das richtige gewesen, für mich die Erlösung aus meiner Starre, die mich inwendig zu zersetzen begann, und für ihn die letzte Rettung vor einem Wahn, der ihn befiel und von mir wegtrieb. Aber wie hätte ich das Richtige tun können, wie hätte ich zu einem Manne das sagen können, was der Mann mir nicht zu sagen gewagt hatte? Wer trug die 76 Schuld? das hab' ich mich seither oft gefragt, und ich weiß keine Antwort.

Als ich nach einem Jahr heimkehrte, die Mutter hatte mich geholt und in ihrer unbeholfenen Art versucht, mich auf der Reise schon auszuforschen oder vorzubereiten, je nachdem, sie wußte sich wohl auch nicht recht zu helfen und war gewohnt, den Entscheiden des Vaters nicht vorzugreifen – daheim angekommen, Aug in Auge mit meinem Vater und von ihm besonders zärtlich in seiner etwas rauhen, rührenden Art empfangen, machte ich die erste und letzte Szene meines Lebens: ich forderte, meinen Geliebten sofort zu sehen, ich berief mich auf das vollendete Probejahr, auf das immerhin abgegebene Versprechen meines Vaters und auf meinen nun entschlossenen Willen, auf meine in der Einsamkeit gewachsene und unerschütterliche Liebe. Es waren große Worte, aber kleinere hätten es hier in Gottes Namen nicht getan, und ich habe sie nur ein einziges Mal gebraucht. Es war kein Mißbrauch.

Bestürzung, Heftigkeit und Milde bei meinen Eltern, die Mutter in Tränen, vom Vater endlich mit 77 stockender, stoßender Stimme die Wahrheit, die in seinem Munde wie ein Vorwurf klang: Der junge Mann, immer schon verschlossen und ein unzutraulicher Einzelgänger – so sagte der Vater und so sagte er zu mir – sei gänzlich menschenscheu und absonderlich geworden, vielleicht habe ihn die Probezeit grundlos erschreckt, wer könne das wissen?, ihn in den Wahn getrieben, als werde er von jemandem beaufsichtigt, ja sogar verfolgt, als sei ihm sozusagen das ganze Städtchen aufsässig und auf den Fersen – kurz und gut, er zog sich mehr und mehr von uns zurück, die wir doch nicht den geringsten Span mit ihm hatten, im Gegenteil, er mied uns als ob wir die Pest hätten, floh auf Wochen in die Berge hinein, wohnte in verlassenen Hütten, einmal auch im Freien, in einer Felsrunse mitten im Winter, während der Schulzeit, notabene, ein Wildmann, ganz und gar aus den Fugen. Es ging nicht mehr. Er mußte seinen Abschied nehmen. Er verschwand.

Wo er sei? fragte ich schroff. Achselzucken, Schweigen. Ich wolle ihn sehen. Der Vater sagte: Den sieht keiner mehr wieder. Ich werde ihn suchen! schrie 78 ich. Du findest ihn nicht, sagte der Vater, und nochmals: er ist verschwunden, hab' ich dir gesagt. Da zerbrach etwas in mir.

Vier Wochen später war ich hier oben, krank. Der Arzt zuckte die Achseln: Es muß sich langsam vorbereitet haben, ein plötzlicher Ausbruch von solcher Heftigkeit ist undenkbar. Ich war gleichgültig, lag zuerst ein ganzes Jahr im Bett, ein Muster an Geduld, leider nicht an Erfolg, dann versuchte man dies und das – alles! Nun, du weißt es ja. Ich blieb hier. Ich werde hier bleiben. Ich kann mir nicht denken, daß ich anderswo leben könnte. Ich glaube, meine Krankheit war der letzte anständige Ausweg für mich.«

»Anna!« stöhne ich. »Hat denn kein Arzt daran gedacht, dich dort zu heilen, wo du wirklich krank bist?«

Nun lächelt Anna, etwas nachsichtig, etwas müde. »Hier ist kein Irrtum. Neurose, meinst du? So einfach ist die Sache doch nicht. Und wenn sie es wäre – ich habe jetzt zu viel auf die andere Karte gesetzt. Eine Plastik wegsuggerieren? Ach nein!«

79 Ich schaue über die Terrasse, alle Tische sind leer, die Stühle stehn ungeordnet umher, als wären sie in einem heimlichen Gespräch überrascht worden, das augenblicklich verstummt, wenn man scharf hinsieht. Schluß mit dem Geflüster . . .

»Anna«, frage ich hart, »hast du noch etwas von dem Mann gehört, der dich liebte?«

»Nichts«, sagt sie, »er ist verschwunden. Der Vater behielt recht. – Komm, wir sind die Letzten.«

Wir verlassen die Flüsterecke. Wir bezahlen und gehn. Die Promenade ist farblos, kühl, wie erloschen. Das ganze Tal liegt schon im Schatten. Die Sonne streift nur noch die hohen Weidhänge über dem Wald. Alles Licht hat sich in den glasgrünen Himmel zurückgezogen. Eine Kirchenglocke beginnt zu bimmeln.


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