E. Marlitt
Die zweite Frau
E. Marlitt

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7.

Es schlug eben halb elf, als sie das Parterre wieder betrat, das sich vor ihren Appartements hinzog. Graudurchsichtig, als schlüpfe der Saum der wandelnden Frau Sage durch die Gebüschlücken, lief drüben das Drahtgitter hin, der Prügelknabe, wie ihn Herr von Rüdiger heute genannt, der bleiche, schweigsame Sündenbock, schlief jedenfalls schon längst – er hatte auch weniger Teil an dem geheimnisvollen Reize, der die junge Frau unwiderstehlich nach jenem abgeschlossenen Reviere zog. Ihr Auge überflog, rückwärts gewendet, forschend das Schloß; in altersgrauer Pracht, mit seinen wuchtigen Steinbogen, seinen Kleeblättern in den gemeißelten spitzenklaren Steinrosetten der Bogenfenster und seinem Schutzheiligen dort auf dem Mauervorsprunge, stieg es auch hier wie eine Abtei in die weiße Mondlichtflut hinein. Nirgends blinkte ein Licht hinter dem Glase – nur aus dem Salon drunten quoll der Lampenschein grellgelb in das Dunkel des Säulenganges ... War es doch, als lehne dort an einem Pfeiler ein Mensch und starre lauschend nach der halboffenen Glasthür – Täuschung! Nicht ein Sandkorn bewegte sich unter den Füßen der vermeintlichen Gestalt; nicht die leiseste Bewegung zeigte, daß Atem in ihr sei – es war der Pfeilerschatten.

Nun wandelte die junge Frau unter beschleunigtem Herzklopfen drinnen auf dem weißen Sande eines schmalen Weges; die Gitterthür war hinter ihr zugefallen. Noch beschatteten die letzten Zweige der traulich herüberreichenden Wacholder- und Nußbüsche ihr Haupt; aber dort aus dem Rasenspiegel hob sich fremd der gewaltige Schaft der indischen Banane, und der schräg hereinfallende Mondschein streckte den Schatten der imposanten Blattform riesenhaft über die Grasfläche hin. Dann lief der Weg durch dunklen Busch; zahllose Feuerfunken stoben umher – die kleine Käferleuchte kam in dem Dunkel zur Geltung. Durch das Geäst droben fuhr es hastig und rauschend; ein abgerissener Zweig flog auf die Schulter der jungen Frau; hier und da griff ein kleiner Arm nach ihr, und glänzende, kluge Affenaugen bogen sich aufgeregt neugierig tief zu ihrem Gesicht herab. Unwillkürlich fuhr ihre Hand nach der Stirn, als wolle sie einen beklemmenden Traum wegwischen – züngelte da nicht auch die bunte Cobra Capella aus dem duftenden Laube, und brach nicht die plumpe Masse des Elefanten herein, das Gebüsch und sie selbst unter den wuchtigen Füßen zerstampfend? ... Sie zögerte, aber nur ein aufgescheuchtes Perlhuhn lief über den Weg, und nach einigen weiteren Schritten traten Busch und Bäume auseinander, und die Wasserflut des Teiches lag vor ihr, so still und glatt und unbeweglich, wie ein ungeheures, auf den Rasengrund hingeworfenes Silberstück; der Hindu-Tempel aber trug seine goldstrahlenden Kuppeln fest und zuversichtlich in den Nachthimmel, als führe seine Marmortreppe direkt in die heiligen Fluten des Ganges, und nicht in das Teichwasser eines deutschen Thales.

Tiefatmend und durchrieselt von jenen Schauern des Bangens, welche uns in fremder Einsamkeit so leicht überkommen und die uns gleichwohl unwiderstehlich vorwärts treiben, umschritt Liane langsam den Teich. Sie ahnte aber nicht, daß ihre dahinschwebende Gestalt im weiß nachfließenden Gewande, mit dem schöngetragenen Haupte, über dessen Stirn das schwellende Haar flimmerte, wie ein Diadem von tiefdunklem Golde, diese Landschaft voll fremdartiger Gebilde zauberhaft belebte – sie ahnte auch nicht, daß sich vorhin beim Knarren der Gitterthür der vermeintliche Schatten vom Pfeiler gelöst hatte und ihr geräuschlos, aber so konsequent folgte, als gehe von den über den Rücken herabsinkenden, im Mondlichte fast phosphoriszierenden Flechten ein magnetischer Strom aus, dem er folgen müsse.

Die weißen Wände eines niedrigen Hauses tauchten auf. Ein breiter Sandweg umlief das kleine Mauerviereck, und doch lag es wie eingebettet in Rosengebüsch, oder vielmehr in Rosenblüten – zu Tausenden dufteten sie auf hochstämmigen Kronen und niedrigem Busche, selbst drunten in den Weg herein rankten noch einzelne Zweige der Theerose – schwer, wie mondscheintrunken lagen die bleichen Kelche auf dem harten Gerölle.

Man hätte meinen können, jeder stärkere Windhauch müsse das wunderliche Haus zerblasen, so leicht und zierlich stand es da mit seinen Hohlziegeln von Rohr auf dem Dache und den Pfählen aus Bambus, welche die Veranda trugen. Es hatte große Fenster, aber geschnitzte Holzgitter lagen vor dem Glase. Zögernd trat die junge Frau auf die niedrige Verandastufe; der Fußboden war belegt mit Matten von Palmenried, so kühl, glatt und glänzend, wie sie nur der heiße Fuß des Indiers ersehnen mag. Hinter dem Holzgitter brannte Licht; es entströmte einer an der Zimmerdecke hängenden Lampe; der niedergelassene Fensterbehang von steifem, buntem Flechtwerke staute sich seitwärts, da wo das verschlungene Gitterwerk einen herzförmigen Ausschnitt bildete – durch diese Oeffnung konnte Liane einen größeren Teil des Inneren überblicken.

An der Hinterwand des Zimmers stand eine Bettstelle von Rohr; auf schneeweißen Decken lag eine Gestalt hingestreckt – war dieses außerordentlich zarte Geschöpf, das eben sein Gesicht in das Kissen einwühlte, Weib oder Kind? Weiche, weiße Mousselinfalten flossen um den hingeschmiegten Leib bis auf die Füße, die nackt, wunderklein, aber auch blutlos wächsern dort ruhten. Ein bis an die Schulter entblößter, schlanker und magerer Arm, wie er kaum dem unentwickelten dreizehnjährigen Mädchen eigen, legte sich in eigentümlicher Schwere die Hüfte entlang – breite funkelnde Goldreifen umschlossen das Handgelenk und den Oberarm; sie machten den peinlichen Eindruck, als müßten sie dieses weiße, ätherzarte Fleisch wundreiben ... Die große, robuste Frau aber, die, einen Silberlöffel in der Hand, neben dem Bett stand und ihre rauhe Stimme zu sanft bittenden Tönen zwang, kannte Liane bereits. Sie war ihr heute nach der Trauung als Frau Löhn, die Beschließerin, vorgestellt worden.

Der Löffel, den die Frau vorsichtig von ihrer breiten, glänzend sauberen Schürze fernhielt, war offenbar mit Medizin gefüllt und ein Gegenstand des Abscheues für das auf dem Bett liegende Wesen. Alles Zureden, das sanfte Streicheln mit der kräftigen freien Rechten über das tiefeingewühlte Köpfchen verfing nicht.

»Ich kann dir nicht helfen, Gabriel,« sagte Frau Löhn endlich nach der Zimmerseite hin, welche die junge Frau nicht übersehen konnte, »du mußt ihr den Kopf halten ... Sie muß schlafen, Kind, um jeden Preis schlafen.«

Der bleiche Knabe, Leos Sündenbock, trat in den Lichtkreis der Hängelampe. Behutsam versuchte er, seine Hand zwischen das Kissen und das Gesicht der dort Liegenden zu schieben. Unter dieser Berührung fuhr ihr Kopf jäh, wie entsetzt, empor und zeigte ein schmales, verzehrtes, und dennoch schönes Frauenantlitz. – Liane erschrak bis ins Herz vor dem sprechenden Blick aus übergroßen Augen, der so zärtlich vorwurfsvoll und in Todesangst flehend zu dem Knaben aufsah. Er wich zurück und ließ die Hände sinken. »Nein, nein, ich thue dir nichts!« sagte er tröstend, und seine sanfte Stimme brach in Jammer und Mitleid. »Es geht nicht, Frau Löhn – ich thue ihr ja weh! ... Ich will sie lieber einsingen.«

»Da kannst du bis morgen früh singen, Kind,« versetzte die Frau. »Wenn es so schlimm ist, wie heute, da verfängt das nicht – du weißt's ja.« Sie zuckte ratlos die Achseln, hatte aber nicht den Mut, weiter in Gabriel zu dringe. Was für ein weiches Herz schlug in der vierschrötigen Frauengestalt mit den groben scharfkantigen Gesichtszügen, die heute so barsch und unzugänglich ernsthaft der neuen Herrin bei der Vorstellung gegenüber gestanden hatte!

Liane drückte die Thür auf, die zwischen den zwei Fenstern in das Zimmer führte, und trat ein. Die Beschließerin stieß einen Schreckensruf aus und hätte fast den Inhalt des Löffels verschüttet.

»Halten Sie die Kranke!« sagte die junge Frau, »ich werde ihr die Medizin geben.«

Der plötzliche Eintritt der weißen, schlanken Gestalt mit der vornehm gelassenen Gebärde mochte förmlich lähmend auf die kranke Frau wirken – sie rührte sich nicht und sah nur groß und starr in das liebliche junge Gesicht, das sich über sie beugte – ohne jeglichen Widerstand ließ sie sich das Schlafmittel einflößen.

»Sieh, nun ist's geschehen, mein Junge,« sagte Liane und legte den Löffel auf den Tisch. »Es ist ihr kein Schmerz zugefügt worden, und sie wird schlafen.« – Sie strich sanft über Gabriels dunklen Scheitel. – »Du hast sie wohl sehr lieb?«

»Sie ist meine Mutter,« versetzte der Knabe in überströmender Zärtlichkeit.

»Es sind arme Leute, gnädige Frau, arm und gering,« fiel die Beschließerin mit harter, trockener Stimme ein. Nicht eine Biegung in diesen tiefen Tönen, nicht der leiseste Zug des ernsthaften Gesichts verriet die Weichherzigkeit und Teilnahme, die vorhin ihr ganzes Wesen charakterisiert hatten.

»Arm?« wiederholte die junge Frau und deutete unwillkürlich nach den blitzenden Armreifen und den Ketten von edlem Metall, die über den Busen der Kranken fielen. Bis zu diesem Moment hatten die Augen der letzteren unverwandt an Liane gehangen; jetzt aber malte sich Angst und Unruhe in ihren Zügen – sie klammerte die zarten Finger der Linken krampfhaft um einen Gegenstand, der an einer Kette hing – allem Anschein nach ein Flakon von Silber.

»Na, na, nur ruhig – die gnädige Frau nimmt's nicht!« beschwichtigte Frau Löhn rauh und gebieterisch. »Arm sind die Leute, sage ich,« fuhr sie gegen Liane fort. »Das bißchen Zeug da kann man doch nicht essen« – sie zeigte nach dem Geschmeide – »und eigentlich gehört's der Frau auch gar nicht; der alte gnädige Herr Hofmarschall könnte ihr auch den Firlefanz noch wegnehmen, wenn er wollte – sie hat auf der Gotteswelt nichts, gar nichts, und daß sie mit dem Jungen ihr täglich Brot im Hause gereicht kriegt und in der Bude da wohnen darf, das ist die reine Gnade von der Herrschaft, die reine Gnade.«

Diese Erklärung, so mitleidslos und in so geflissentlich scharfen und grellen Umrissen gegeben, fuhr der jungen Frau wie ein Messer durch das Herz, um so mehr, als sich Gabriel über seine Mutter bog und sie während der harten Rede streichelte, als sei sie das schutzbedürftige Kind, dem man alles zugefügte Weh durch Liebkosung vergessen machen könne ... Dieser junge, schöne Knabenkopf mit der müden seitlichen Neigung und dem schwermütigen Zug um den Mund trug das Gepräge der Duldung und sklavischen Fügsamkeit, das ihm jedenfalls eine jahrelange Mißhandlung aufgedrückt hatte. Wohl hätte Liane fragen mögen: »Wer ist diese seltsame Fremde, und wie kommt sie hierher mit ihrem Kinde, das unter einem so furchtbaren Drucke aufwachsen muß?« Allein die Furcht vor weiteren schonungslosen Mitteilungen der Beschließerin schloß ihr den Mund. Sie griff in die Tasche und legte die Schokoladefiguren auf den Tisch. »Das schickt dir Leo,« sagte sie zu Gabriel, »und ich bringe dir auch eine ›gute Nacht‹ von ihm.«

»Er ist gut – und ich habe ihn lieb,« versetzte der Knabe mit einem melancholischen Lächeln.

»Recht, mein Kind – aber es darf nicht mehr geschehen, daß du für seine Unarten gestraft wirst.« Sie legte den feinen Zeigefinger unter sein Kinn, hob den gesenkten Kopf und sah liebevoll in seine unschuldigen Augen. »Hast du nie den Mut, zu sprechen, wenn man dir unrecht thut?« fragte sie mit sanftem Ernste.

Ueber das häßliche Gesicht der Beschließerin schoß das Rot der Ueberraschung – sie kämpfte einen Moment sichtlich mit einer tiefen Rührung, aber auch nur einen Moment, dann hing ihr Auge wieder lauernd an der neuen Herrin, und sie sagte mit doppelt scharfer Stimme:

»Gnädige Frau, das schadet dem Gabriel gar nicht, und wenn sie ihm unrecht thun drüben im Schlosse, so mag er sich bedanken und die Hand dafür küssen ... Er soll ein Mönch werden; er soll ins Kloster – da heißt's erst recht schweigen und nicht mucksen, und wenn die Seele gleich aus dem Leibe fahren möchte vor Zorn und Ärger ... Den kleinen Herrn, den Leo, kann er gar nicht lieb genug haben – der setzt es immer wieder durch beim alten Herrn Baron, daß er noch dableiben darf, sonst wär' er schon längst nicht mehr bei seiner Mutter.«

Die Augen des Knaben füllten sich mit Thränen.

»Du sollst ein Mönch werden? Man will dich zwingen, Gabriel?« fragte die junge Frau rasch und dringend.

»Sage die Wahrheit, mein Sohn – wer zwingt dich?« ermahnte hinter ihr die Stimme des Hofpredigers, der heute die Trauung vollzogen. Er stand in der offenen Verandathür – schwarz hob sich seine schlanke und doch nervige Gestalt vom mondhellen Rosengebüsch draußen. Liane dachte bei diesen Umrissen überrascht an den vermeintlichen Pfeilerschatten – der Mann hatte sie belauscht und war ihr gefolgt.

Frau Löhn knixte, während der Hofprediger im Eintreten lächelnd und mit einer sehr eleganten Verbeugung sagte: »Beruhigen Sie sich, gnädige Frau – wir sind sehr harmlos in Schönwerth; mit solchen haarsträubenden Gewaltthaten, wie sie das Märchen vom Knaben Mortara der gerngläubigen Welt auftischt, befassen wir uns nicht – gelt, mein Knabe?« Er legte seine geschmeidige weiße Hand vertraulich auf Gabriels Schulter.

Wären nicht der lange, klösterliche Rock und der elfenbeinweiße Fleck auf dem Scheitel inmitten der dunkellockigen Haarfülle gewesen, man hätte nie und nimmer den Geistlichen in dieser Erscheinung gesucht. Keine Spur jener geflissentlich würdevollen Langsamkeit der Bewegungen, die oft so widerlich gespreizt wird und auf Studium und schauspielerische Vorbereitung zurückführt – keine Spur der breiten Salbung in Ton und Wort! ... Es war heute bei Tafel heiß hergegangen auf politischem Gebiet, und da hatte die metallene Stimme dieses Mannes kriegerisch und herausfordernd geklungen wie Trompetengeschmetter.

Bei seinem Eintreten hatte die Kranke das Gesicht wieder in das Kissen gedrückt und war still, als schlafe sie; aber ihr Busen hob sich in stürmischen Atemzügen – sie lag dort wie ein scheuer, zitternder Vogel, der sich unter der greifenden Hand angstvoll niederduckt.

»Was ist das heute wieder, Frau Löhn?« fragte der Hofprediger. »Sie ist sehr aufgeregt – bis in die Sakristei habe ich ihre Klagelaute gehört.«

»Ihre Hoheit, die Frau Herzogin, ist wieder einmal am Hause vorbeigeritten, Hochwürden – da geht stets der Spektakel los, das wissen wir ja,« versetzte die Beschließerin respektvoll, aber nicht ohne hörbar hervorplatzenden Aerger und Unmut.

Ein Zug von feinem Spott flog blitzschnell um seinen Mund. »Dann muß es eben ertragen werden,« sagte er achselzuckend. »Die Frau Herzogin wird auf diesen Spazierritt im ›Thal von Kaschmir‹ sicher nicht verzichten – wer würde auch den Mut haben, ein solches Opfer von ihr zu verlangen?« Er trat näher an das Bett – eine Bewegung, die ein sofortiges Aufzucken der leidenden Frau zur Folge hatte.

»Bei all Ihrer Strenge geben Sie der Kranken doch wohl zu sehr nach, beste Frau Löhn,« sagte er über die Schulter zurück zu der Beschließerin. »Wozu immer noch diese schweren Armspangen an den gelähmten Gliedern, dieses Kettenwerk auf der Brust?«

»Es wär' ihr Tod, Hochwürden, wenn ich mich an den Sachen vergreifen wollte,« sagte die Frau – das klang eigentümlich gepreßt zwischen den Zähnen. In den tiefen, schmalgeschlitzten Augen der Frau glomm es wie ein verhaltener Funke.

»Glauben Sie doch das nicht – sie ist ja schwach und abgezehrt zum Zerblasen. Diese Last bei ihrer Unbehilflichkeit regt sie mehr auf, als Sie denken ... Kommen Sie, machen wir den Versucht!«

Jetzt öffnete die Kranke ihre Augen weit – sie waren voll Entsetzen. Die Linke fest an den Busen gepreßt, stieß sie einen jener weichen und doch durchdringenden Klagetöne aus, wie sie heute nachmittag zu Liane gedrungen waren. Frau Löhn stand sofort zwischen ihr und dem Mann im schwarzen Rock, der sie bedrohte. Sie legte ihre breite, knochige Linke bedeckend auf das blasse, krampfhaft geballte Händchen.

»Hochwürden, da muß ich bitten!« protestierte sie – es lag eine seltsame Wildheit in dieser entschiedenen Haltung und Gebärde. »Das geht mich auch an! ... Wenn Sie mir sie wild machen, wer hat nachher die schlaflosen Nächte? Ich armes Weib ... Ich brauchte es freilich nicht – ich könnte es ja auch machen wie die anderen im Schlosse, die um keinen Preis einen Fuß hierhersetzen, und hätte meine Ruhe. Ich will auch gar nicht etwa sagen, daß ich's aus Liebe thue, oder aus Mitleid – ich bin ein hartes Weib und will mich nicht besser machen, als ich bin ... Die Leute gehen mich ja auf der Gotteswelt nichts an,« fuhr sie ruhiger, aber auch mürrisch und verdrossen fort. »Wenn ich hier aus und ein gehe und so viel wie möglich für Ruhe sorge, so thue ich's für meine Herrschaft, von der ich das Brot habe.«

»Frau, was ficht Sie an?« beschwichtigte der Hofprediger lächelnd – er schüttelte leise den Kopf. »Wer zweifelt denn an der Pflichttreue, dem kalten Blut der Löhn? ... Mag doch die Kranke ihr Spielzeug behalten – ich bin der letzte, der Ihnen Ihr Amt erschweren möchte.«

Mittlerweile ging die junge Frau mit unhörbaren Schritten hinaus. Sie mußte den klaren Nachthimmel über sich sehen und den Sand des Weges unter ihren Füßen knirschen hören, um zu empfinden, daß sie nicht in der Nebelwolke eines phantastischen Traumes wandle, einen so schwerbeklemmenden Eindruck machten ihr die seltsam zusammengewürfelten Menschen unter dem Bambusdache. Es war ihr, als habe sie ein Bild voll Anachronismen gesehen – jenes fremdartige, feingliedrige Wesen, das schmuckbeladen, in einer weißen Musselinwolke, wie eine indische Fürstentochter auf dem Rohrbette lag, und das hünenhafte, rauhe Weib mit dem grobkörnigen Deutsch auf den Lippen, mit der steifgestärkten Leinenschürze und dem hochaufgesteckten Hornkamm im graumelierten Zopfknäuel am Hinterkopf – ein fast unglaubliches Nebeneinander! ...

Betäubend schlugen der Hinaustretenden die Rosendüfte entgegen. Der Nachtwind hatte sich aufgemacht. Er blies durch die schwüle, vom flimmernden Silberlicht gleichsam starrende Luft und trug einen langgezogenen Harfenton über die Gärten. Die junge Frau legte unwillkürlich ihre schlanken kühlen Hände an die klopfenden Schläfen und verließ die Verandastufen.

»Das Thal von Kaschmir – das Paradies, das die erste atmende Menschenbrust nicht verstanden und für uns alle verwirkt haben soll!« sagte der Mann im schwarzen Rock, der ihr gefolgt war und nun neben ihr her schritt. »Die meisten suchen es und gehen, vom alten Fluch geblendet, blöde vorüber; – der Asket streicht es, seine Entzückungen verlachend, hart und eigenmächtig aus seinem Lebensplan, bis ein Blitz niederfährt und ihm zeigt, daß er ein Thor war, daß er den Fluch nicht ererbt, sondern durch eigene Vermessenheit auf sich geladen hat.« Seine Stimme klang verschleiert, als dämpfe auch sie der erstickend heiße Atem der Julinacht.

Liane blieb stehen und sah in eine unregelmäßigen, aber tiefbewegten Züge; sie wollte antworten – da stieg plötzlich eine klare Blutwelle in ihr Antlitz bis über die perlmutterweißen Schläfen hinauf, und ihre großen, klugen Augen wurden hart und kalt wie Stahl – unter diesem feurig beredten Männerblick ging sie nicht auf ein solch seelenbewegendes Thema ein. Sie überwand eine peinliche Empfindung und sagte sehr kühl und abweisend: »Bei solchen Klagetönen, wie ich sie eben gehört habe, kann ich unmöglich an das Paradies denken ... Wer ist die Unglückliche in dem Hause dort?«

Die Wangen des Mannes wurden blaß. Sichtlich gereizt ließ er einen finstern Seitenblick über die junge Dame hinstreifen, die mit einer einzigen stolzen Wendung ihres lieblichen Hauptes sich völlig unnahbar machte. Das war die Gräfin Trachenberg mit ihrer tadellosen Ahnenreihe hinter sich. »Wird es Ihr stolzes Gefühl nicht beleidigen, gnädige Frau, zu wissen, daß man in Schönwerth eine Verlorenen beherbergt?« sagte er mit scharfer Ironie.

»Es gibt nichts Unbeugsameres, als die tugendstolze Frau – wohl ihr! Aber auch wehe denen, die mit ihrem heißen Herzen abirren! – Ich kenne diesen keuschkalten, richtenden Frauenblick – er schneidet wie ein Schwert!« – Was für Ausdrücke von einem Priestermunde! ... Er wandte sich um und zeigte nach dem Hause mit dem Rohrdach, das bereits hinter den Rosenhecken verschwunden war. »Wer könnte sich jetzt noch denken, daß jenes gelähmte, stammelnde Geschöpf, dessen Füße und Arme bereits vom Tode berührt sind, einst in den Straßen von Benares getanzt hat? Sie war eine Bajadere, ein armes Hindumädchen, das ein Mainau über das Meer entführt hat ... Dieses sogenannte Thal von Kaschmir unter deutschem Himmel ist um ihretwillen entstanden – Tausende sind verschwendet worden, um ihr ein Lächeln zu entlocken, um ihr den Himmel der Heimat vergessen zu machen –«

»Und jetzt ißt sie das Gnadenbrot in diesem Schönwerth und ist der harten Frau auf Gnade und Ungnade hingegeben,« murmelte Liane tief erregt. »Und ihr Kind, das man mißhandelt –«

»Gnädige Frau, in Ihrem eigenen Interesse möchte ich Sie bitten, dem Herrn Hofmarschall gegenüber nicht in so scharfer Weise zu urteilen,« unterbrach er sie. »Es war sein Bruder, der mit diesem Liebeshandel der Welt ein schweres Aergernis gegeben hat – der Mann ist seit Jahren tot, aber noch heute darf man dieses Thema nicht berühren, ohne den alten Herrn in stürmische Aufregung zu versetzen. Er ist ein strenger Katholik –«

»Sein strenger Glaube gibt ihm trotz alledem kein Recht, den unschuldigen Knaben zu unterdrücken, und das geschieht – ich war Zeugin,« sagte Liane unerbittlich.

Sie betraten in diesem Augenblicke das dämmernde Boskett: die junge Dame konnte das Gesicht ihres Begleiters nicht sehen, aber sie hörte verlegenes Räuspern, und nach einem momentanen Verstummen antwortete er in sonderbar stockenden Sätzen:

»Ich habe jene Frau bereits als eine Verlorene bezeichnet – sie war treulos wie alle Hindus – der Knabe hat nicht mehr Anspruch an das Haus Mainau, als jeder andere Bettler auch, der an das Schönwerther Schloßthor anklopft.«

Liane sagte kein Wort mehr. Sie schritt rascher nach dem Ende des Laubganges – es war erstickend heiß unter den engverschränkten Aesten. Die unheimliche Vorstellung drängte sich ihr auf, dieser Glutstrom gehe von dem Manne aus, der sie begleitetet. Eine ihrer Flechten blieb, wie sie meinte, am Gesträuche hängen – sie griff danach und berührte eine jäh aufzuckende Hand. Fast hätte sie aufgeschrieen; wäre in Wahrheit der schlüpfrige Leib der Cobra über ihre Hand geglitten, sie hätte nicht erschrockener in sich zusammenschauern können, als bei dieser Berührung.

Draußen suchte ihr Blick scheu und unwillkürlich die mondbeleuchteten Züge des Priesters – sie waren sehr ruhig, fast steinern. Die kurze Strecke bis zum Ausgange schritten sie schweigend nebeneinander; als die Gitterthür hinter ihnen zuschlug, blieb der Hofprediger stehen – fast schien es, als ringe er nach dem Ausdrucke dessen, was er noch zu sagen habe ... »Dieses Schönwerth ist ein heißer Boden für zarte Frauenfüße, gleichviel ob sie aus Indien oder aus – einem deutschen Grafenhause kommen,« hob er mit gedämpfter Stimme an. »Gnädige Frau, durch die Welt geht jetzt ein Sturm, und das Feldgeschrei heißt: ›Nieder mit den Ultramontanen, mit den Jesuiten!‹ ... Man wird Ihnen sagen, ich sei der schlimmsten einer, ein fanatischer Römling – man wird Ihnen sagen, daß ich im vollsten Maße die verderbliche Macht über Hochgestellte errungen habe, welche der Jesuitenorden auf dem ganzen Erdenrund erstrebe – denken Sie darüber, wie Sie wollen ... Aber wenn Sie je in schlimmen Augenblicken – und die werden nicht ausbleiben – einer eingreifenden, stützenden Hand bedürfen, so rufen Sie nach mir – und ich werde da sein.«

Er verbeugte sich und schritt rasch und elastisch nach dem nördliche Schloßflügel. Liane eilte in den Salon zurück. Sie verschloß mit bebenden Händen die ins Freie führende Doppelthür und untersuchte mißtrauisch jeden Spalt zwischen den Vorhängen, damit kein unberufener Blick hier wieder eindringe ... Nie war ihn im Hinblick auf das, was die Zukunft bringen sollte, unheimlicher zu Mute gewesen, als in dieser Stunde – nie! Selbst nicht in jenen schrecklichen Tagen, wo der Hammer des Auktionators durch das Rudisdorfer Schloß scholl, wo ihre Mutter händeringend durch die kahlen, hallenden Säle und Zimmer lief, sich in wildester Verzweiflung auf den Boden warf, und Gott anklagte, daß er die letzten Trachenberger Hungers sterben lasse ... Damals hatte die geistesstarke Ulrike das Steuer ergriffen und in ein verhältnismäßig erträgliches Leben eingelenkt, und der Retter für sie und ihre Geschwister war – die Arbeit gewesen. Die Arbeit – eine ehrlichere Stütze, als die »eingreifende Hand« jenes katholischen Priesters! Nein, lieber sterben im Ringen mit den »schlimmen Augenblicken«, als nach ihr rufen! ...

8.

Liane entdeckte am anderen Morgen neben ihrem Ankleidezimmer ein dürftig eingerichtetes, aber freundliches Kabinett, das offenbar als Garderobe dienen sollte. Sie trug ihre Pflanzenpresse, ihre Bücher und Malutensilien herüber – hier wollte sie arbeiten. Das große Fenster gewährte ihr einen Ausblick auf malerische Partien des Gartens und darüber hinaus nach den hochaufgetürmten Waldbergen. Sie zog den Schlüssel ab und machte dem eben eingetretenen Kammermädchen begreiflich, daß die Garderobe in einem anderen Raume unterzubringen sei. Die Jungfer entschuldigte atemlos ihr spätes Erscheinen mit der Messe – noch hing der Weihrauchduft in ihren Kleidern. Der Herr Hofprediger sei zu streng, klagte sie, und wenn der kranke Mensch nur kriechen könne, in die Messe müsse er ... Er bleibe oft zwei bis drei Tage in Schönwerth, habe da seine eigenen Appartements und regiere dann immer noch viel strenger, als der Herr Hofmarschall selbst. In der Residenz sei das nicht anders; der Herr Hofprediger gelte alles bei der Frau Herzogin ... Damit war die langatmige Entschuldigung beendet, von der die Schlußworte: »Gott sei Dank, er ist eben nach der Stadt zurück!« auch für die Herrin tiefberuhigend klangen.

Ein Bedienter kam und meldete, daß das Frühstück im Eßzimmer vorbereitet sei. Dieser Speisesaal schloß die Flucht der Gemächer, welche der Hofmarschall bewohnte; aber die Fenster lagen nach Morgen und mündeten in den weiten Schloßhof. Mit schwerfälligeren Eichenmöbeln, einer größeren Anzahl von Hirsch- und Eberköpfen an den Wänden und mächtigeren Humpen auf dem Schenktische konnte auch im wuchtigen, wildmordenden und durstigen Mittelalter kein Rittersaal ausgestattet gewesen sein, als dieser große, holzgetäfelte Raum. Aus dem einen Eckkamine knisterten Funken in den breit über das Parkett hinfließenden Morgensonnenstrahl; aber die Glut der lodernden Scheite drang nicht weit über den Rollstuhl des Hofmarschalls und das daneben placierte, weißgedeckte Tischchen hinaus – der Saal war zu groß.

Mit den Gichtschmerzen in den Füßen des alten Herrn mußte es heute besser gehen – er hatte seinen Stuhl verlassen, stand aufrecht, allerdings auf einen Krückstock gestützt, in einem der Fenster und sah hinab in den Hof, als Liane eintrat. Sie sah seine ganze Erscheinung im Profil. Er war ein hoher, magerer Mann, der einst, wie alle Mainaus, schön gewesen sein mußte, nur mochten diese Gesichtslinien für einen Männerkopf immer ein wenig zu fein und gedrückt erschienen sein – die starke Vertiefung zwischen Stirn und Nasenwurzel, der geringe Raum zwischen Kinn und Nase, Eigentümlichkeiten, die vor Jahren das Gesicht jedenfalls als pikant charakterisiert hatten, waren jetzt der Sitz der ausgeprägtesten Malice.

Aus der halboffenen Thür des Nebenzimmers klang die kräftig lärmende Stimme des kleinen Leo; sie wirkte – sonderbar genug – angesichts der Erscheinung im Fenster förmlich ermutigend auf die eintretende junge Dame ... Seitwärts vom Hofmarschall, in respektvoller Entfernung, stand die Beschließerin. Sie hatte ein Buch und verschiedene Papiere – jedenfalls ein Wirtschaftsbuch samt Belegen – in der Hand, machte aber auch einen langen Hals und bemühte sich, über sie Schulter des alten Herrn in den Hof hinabzusehen ... Nicht ein Zug im Gesichte der Frau verriet, daß sie des nächtlichen Vorfalles gedenke, als die neue Herrin an ihr vorüberglitt und mit einer höflichen Verbeugung den Hofmarschall begrüßte. Er wandte sich um und erwiderte den Gruß ritterlich und gewandt, aber auch mit sichtlicher Hast – sein ganzes Interesse schien durch irgend einen Gegenstand im Hofe gefesselt zu sein.

»Da – da sehen Sie!« sagte er erregt zu der neben ihn tretenden jungen Dame und deutete durch das Fenster. »Diese infamen Rangen da unten haben in den neuen Anpflanzungen junge Stämme abgeschnitten – Gesindel das! ... Es weiß recht gut, daß die Hetzpeitsche am Nagel hängt, seit ich zum Sitzen verurteilt bin ... Na, diesmal wenigstens wird Raoul ein Exempel statuieren – es geht i h m an den Kragen – die Anpflanzungen sind sein Werk!«

Baron Mainau mußte eben von einem frühen Morgenritte heimgekehrt sein – er trug Sporen, hatte die Reitgerte in der Hand und sah bestäubt aus. Vor ihm standen die »infamen Rangen«, ein paar Dorfkinder, ein Knabe und ein Mädchen. Ein Feldhüter, an dem alles verwittert schien, nur das blanke Messingschild nicht, hatte sie eingebracht und berichtete, den Knaben an der Schulter haltend, über die Missethat in den Anlagen. Aus allen Fenstern lauschten Köpfe, und der Blick eines Stallknechtes, der breitspurig und behaglich in einem der Remisenthore stand, hing gespannt an der Reitgerte, die »der gnädige Herr« während des Berichtes spielend durch die Luft pfeifen ließ. Das kleine Mädchen weinte bitterlich in die Schürze, und das jämmerlich gesenkte Jungengesicht war weiß wie eine Kalkwand.

Der Feldhüter war zu Ende; Baron Mainau schalt heftig – seine Stimme schallte herauf. Er schwang seine Reitgerte, jedenfalls in Verheißung einer kräftigen Züchtigung bei einem Rückfalle, ein paarmal drohend über den Köpfen der kleinen Delinquenten, dann zeigte er mit derselben nach dem offenen Hofthore – das Mädchen ließ seine Schürze fallen und gab Fersengeld; der Junge folgte schleunigst, und in wenigen Augenblicken waren sie unter dem Gelächter der Schloßleute um die Ecke verschwunden.

»Der Narr, der!« murmelte der Hofmarschall wütend und hinkte vom Fenster weg zu seinem Rollstuhle – er war in der übelsten Laune. Frau Löhn schlug die Steppdecke um seine Füße, schürte das Kaminfeuer und fragte mit monotoner Stimme nach den weiteren Befehlen des »gnädigen Herrn«, indem sie auf das Wirtschaftsbuch zeigte.

»Nichts,« sagte er mürrisch, »als was ich bereits befohlen habe – kein Madeira mehr drüben im indischen Hause! ... Sie sind nicht bei Trost, Löhn, und müssen denken, das Geld falle mir aus dem Aermel. Warum nicht lieber gleich Wein- und Bouillonbäder? – Sie wären dazu im stande.«

»Mir kann's recht sein, gnädiger Herr – was geht's mich denn an?« versetzte die Beschließerin gleichmütig. »Es kann mir doch sehr egal sein, ob ich Wein oder Wasser in den Löffel gieße, den ich ihr gebe ... Der neue Doktor hat einfach gesagt: ›Sie muß Madeira bekommen‹ –«

»Der Einfaltspinsel mit seiner Weisheit soll sich zum Kuckuck scheren! Er hat nichts da drüben zu suchen.«

»An dem Tage, wo er Schloßdoktor geworden ist, hat's ihm der junge Herr Baron selbst befohlen,« referierte die Frau weiter, völlig unberührt von dem groben Ton ihres Herrn. »Er hat sie untersucht und hat mich schon zweimal gefragt – als ob ich es wissen könnte! – ob der Lähmung nicht ein Erstickungsanfall vorausgegangen wäre.«

Liane war inzwischen an den großen, runden Tisch inmitten des Saales getreten – er trug das Frühstück auf seiner Platte. Sie nahm die Kaffeemaschine vor und stand mit dem Rücke den Sprechenden zugewandt – aber sie fuhr erschrocken herum und griff nach ihrem leichten Battistkleide, ein solcher Funkenregen knisterte plötzlich vom Kamine herüber – der Hofmarschall hatte seinen Krückstock mit wütender Vehemenz zwischen die brennenden Scheite gestoßen.

»Machen Sie, daß Sie hinauskommen, Löhn!« schalt er mit funkelnden Augen und zeigte nach der Thür. »Sie langweilen mich mit Ihrem Altweibergewäsch.«

Die Beschließerin marschierte pflichtschuldigst nach der Thüre und legte die Hand derb auf das Schloß. Bei diesem Geräusch stieß er abermals heftig in die Flammen, aber er wandte das Gesicht nach der Hinausgehenden. »Löhn!« rief er sie zurück. »Sie sind das unausstehlichste Frauenzimmer, das mir je vorgekommen ist – aber Sie haben wenigstens den einen Vorzug vor dem übrigen Schloßgesindel, daß Sie in den meisten Fällen Ihre Weisheit für sich behalten ...« Er räusperte sich. – »Geben Sie ihr meinetwegen den Madeira fort, aber nur theelöffelweise – hören Sie? Theelöffelweise! – mehr ist ihr unbedingt schädlich ... Die Besuche des Doktors aber verbiete ich hiermit ein für allemal. Er inkommodiert sie mit seinen Untersuchungen und kann ihr doch nicht helfen.«

In diesem Augenblicke scholl aus dem Nebenzimmer ein zorniger Aufschrei, dem eine Flut von Scheltworten aus Leos Munde folgte – dazu hörte man den Knaben mit den Füßen stampfen.

»Holla – was ist los da drüben?« rief der Hofmarschall. »Wo steckt denn wieder einmal diese Person, die Berger –«

»Ich bin hier, gnädiger Herr,« antwortete die Erzieherin und trat mit gekränkter, aber dennoch demütiger Miene auf die Schwelle. »Ich bin immer hier im Zimmer gewesen ... Leochen war erst ganz artig, sehr artig; aber da fiel dem Gabriel eine Zeichnung aus dem Gebetbuche. Der Junge ist doch zu albern, zu dickköpfig, gnädiger Herr. Statt dem Kleinen das Blatt zu lassen, reißt er es ihm aus der Hand –«

Der kleine Leo unterbrach sie, schob sie mit kräftigen Fäusten beiseite und stürmte herein – in jeder Hand hielt er einen Papierfetzen.

»Zu zerreißen brauchte sie es doch nicht! – war das nicht dumm, Großpapa?« rief er ganz empört. »Ich wollte es gern haben, das Bild – das ist wahr – und Gabriel gab es mir nicht, durchaus nicht – da nimmt sie den wunderschönen Löwen und zerreißt ihn in zwei Stücke – sieh nur her!«

»Ich mache Ihnen mein Kompliment für die unvergleichliche Entscheidung, Fräulein Weisheit,« sagte der Hofmarschall mit beißendem Sarkasmus zu der Gouvernante, die im Bewußtsein ihres Rechts näher getreten war und nun verlegen ihre schielenden Augen wegwendete. Er nahm die Papierstücke und warf einen Blick darauf. »Gabriel!« rief er mit hartbefehlender Stimme nach dem anstoßenden Zimmer.

Der Knabe kam herüber und blieb, noch blässer als gewöhnlich, mit niedergeschlagenen Lidern an der Thür stehen.

»Du hast wieder einmal geklext?« fragte der Hofmarschall kurz – er zog seine kleinen Augen blinzelnd zusammen. Wie ein Giftpfeil fuhr der konzentrierte Blick durch die grauen Wimpern nach dem sichtbar bebenden Kinde hinüber.

Gabriel schwieg.

»Da stehst du nun wieder und thust, als könntest du nicht drei zählen, du Duckmäuser! Und drüben hinter dem Drahtgitter treibst du Allotria – ich kenne dich, Bursche. Verdirbst das teure Papier mit deinen unberufenen Stift und singst weltliche Lieder, keck wie eine Heidelerche –«

Erschüttert sah Liane nach dem Gescholtenen – das waren die Lieder, die das unglückliche Kind mit angstvollem Herzen sang, um seine aufgeregte Mutter zu beschwichtigen.

Der Hofmarschall rieb das Papier zwischen den Fingern. »Und was ist das für ein prachtvolles Papier, das du besudelt hast?« inquirierte er weiter.

Die Beschließerin, die, das Thürschloß in der Hand, das Hinausgehen vergessen zu haben schien, kam rasch um einige Schritte näher; sie hatte ein vollkommen ruhiges Gesicht – vielleicht war das starke Rot ihrer Wangen ein wenig tiefer, als gewöhnlich. »Das hat er von mir, gnädiger Herr,« sagte sie in ihrem kurzen, resoluten Ton.

Der alte Herr fuhr herum. »Was soll das heißen, Löhn? Wie kommen Sie dazu, gegen meinen ausdrücklichen Wunsch und Willen –«

»I, gnädiger Herr, zu Weihnachten nimmt man's nicht so genau; da kommt's nur drauf an, daß man für seine paar Pfennige auch einen Dank hat – und dem Jungen sein ganzes Herz hängt ja an dem Papier ... Dem Kutscher Martin seinen Kindern habe ich einen ganzen Tisch voll Kram beschert, und da hat kein Mensch etwas Unrechtes drin gefunden ... Ich kümmere mich das ganze Jahr nicht drum, ob der Gabriel malt oder schreibt – das ist ja nicht meine Sache, und ich versteh's auch nicht; aber ich hab' mir gedacht: ›I nun, wenn er auch einmal eine Muttergottes hinmalt, das kann doch keine Sünde sein‹.«

Der Hofmarschall maß sie mit einem lange, tiefmißtrauischen Blick. »Ich weiß nicht, spricht eine grenzenlose Dummheit aus Ihnen, oder – sind Sie gerieben schlau,« sagte er mit langsamer Betonung.

Frau Löhn hielt den Blick unbefangen aus. »Du lieber Gott – ein Schlaukopf bin ich mein Lebtag nicht gewesen – wird's ja wohl die Dummheit sein, gnädiger Herr.«

»Nun, dann bitte ich mir's aus, daß Sie künftig am Weihnachtsabend Ihre dummen Streiche unterlassen. Behalten Sie Ihre paar Pfennige in der Tasche für die Tage, wo Sie nicht mehr dienen und arbeiten können!« schalt er und schlug heftig mit dem Stock auf das Parkett. »Der Junge soll nicht zeichnen, absolut nicht – es zerstreut ihn ... Ist das eine Muttergottes?« zürnte er und hielt ihr das Bruchstück eines korrekt gezeichneten, im Sprung begriffenen Löwen hin. »Ich sag's ja, der Mosje treibt Allotria da drüben, und Sie sind borniert genug, ihn darin auch noch zu unterstützen ... Antworte!« herrschte er dem Knaben zu. »Was wird dein Beruf sein?«

»Ich werde in ein Kloster gehen,« lautete der leise gegebene Bescheid.

»Und weshalb?«

»Ich soll für meine Mutter beten,« sagte der Knabe – jetzt brachen Thränen unter den tiefgesenkten Lidern hervor.

»Recht – du sollst für deine Mutter beten – dazu bist du geboren, dazu hat dich Gott auf die Welt geschickte ... Und wenn du dir die Kniee wund rutschest und Tag und Nacht Gottes Barmherzigkeit anrufst – du kannst nie genug thun. Das weißt du, das hat dir der Herr Hofprediger unzählige Male wiederholt – und doch hängst du deine Seele an weltliche Dinge und legst gar deine streng verbotenen Sudeleien in das Gebetbuch – schäme dich – du bist ein miserabler Junge! ... Marsch, hinaus mit dir!«

Die geschmeidige Gestalt des Knaben verschwand hinter der Thür wie ein Schatten.

»Löhn, Sie werden drüben das Weihnachtspapier zusammensuchen und mir bringen!« sagte der Hofmarschall.

»Zu Befehl, gnädiger Herr,« versetzte die Beschließerin und strich mit der Hand sorgsam glättend über die steife Schürze – diese Hand war ein wenig unsicher, sonst aber behielt die Frau ihre ernsthafte Miene und verließ nach einer unbeholfenen Verbeugung das Zimmer.

»Der Großpapa ist aber auch zu schlimm heute,« murrte Leo leise nach der Gouvernante hin. Sie legte ihm erschrocken die Hand auf den Mund. Erbost schleuderte er sie weg, schlug nach ihr und rieb sich in sehr unartiger Weise mit dem Aermel die Lippen ab. »Sie sollen mir nicht in das Gesicht kommen mit Ihrer kalten Hand – ich kann's nicht leiden,« brummte er grob.

Vergebens wartete Liane auf einen Verweis von seiten des Hofmarschalls – er sah abgewendet in das Kaminfeuer, als habe er den derben Schlag auf die Hand der Erzieherin nicht gehört. »Du bist ein sehr unartiges Kind und verdienst Strafen, Leo,« sagte die junge Frau endlich streng.

»O bitte, das ist ja nicht so böse gemeint,« lispelte die Gouvernante, indem sie dem Knaben die Frühstücksserviette umband. »Wir vertragen uns im allgemeinen sehr gut – nicht wahr, Leo, mein Liebling?«

»Mit diesen Maximen werden Sie nicht weit kommen, Fräulein Berger,« versetzte die junge Frau. »Und für das Kind selbst ist eine solche Behandlungsweise –«

»Bitte, ich handle nach höherer Instruktion,« unterbrach sie die Gouvernante schnippisch mit einem Seitenblicke nach dem Hofmarschall, »und werde mich stets zu beeifern wissen, nach dieser Richtung hin Beifall zu erringen. – Niemand kann zweien Herren dienen und –«

»Wollen Sie mich nicht ausreden lassen, mein Fräulein?« schnitt Liane gelassen, aber mit einer so vornehmen Gebärde den Redefluß ab, daß die Erzieherin schwieg und die Augen niederschlug.

»Erlauben Sie dagegen mir, daß ich Sie unterbreche, meine Gnädigste,« rief der alte Herr herüber. Er hatte sich nachlässig in seinen Stuhl zurückgelehnt und stippte die ausgespreizten Finger spielend gegeneinander – ein abscheulich impertinentes Lächeln schwebte um seine Lippen. »Sie waren gestern eine imposante und doch mädchenhaft reizende Braut – ich kann Ihnen versichern, daß Sie mir weit besser gefielen, als heute in dieser angenommenen Mutterwürde; die weise Miene steht Ihrem jungen Gesicht schlecht ... Sagen Sie, woher haben Sie die Neigung, sich in die Kindererziehung zu mischen? Von der erlauchten Mama ganz gewiß nicht – die kenne ich.«

Er sagte das alles lächelnd, scherzend, wobei er unablässig das Spiel mit den Händen fortsetzte und, den Kopf an die Lehne zurückgelegt, sein schöngehaltenes, schneeweißes Gebiß zeigte. »Ah – Sie haben vielleicht in der Pension den ›Emile‹ von Rousseau, seligen Angedenkens, gelesen – mit oder ohne Vorwissen der Frau Pröbstin, gleichviel! ... Diese Ideen sind einmal sehr Mode gewesen, und man hat so lange mit ihnen kokettiert, bis die meisten ihre verdrehten Köpfe unter der Guillotine gänzlich verloren ... Meine Gnädigste, wir sind abermals auf einer schiefen Bahn – die Männer, die nach uns kommen, müssen eisern sein. Da heißt es, Drachenzähne zu säen, und nicht jene sogenannten ›Samenkörner des Guten‹, wovon die heutigen Schulmeister alle Rocktaschen voll haben und mit denen sie sich so mausig machen, wenn sie ›tagen‹. Also verderben Sie künftig Ihre zarten, sehr kindlichen Züge nicht durch unzeitige Strenge, schöne Frau, und lassen Sie nach wie vor mich sorgen ... Und nun bitte ich um eine Tasse Schokolade aus Ihren weißen Händen.«

Liane stellte eine Tasse auf einen kleine Silberteller und präsentierte ihm dieselbe. Sie war äußerlich sehr ruhig und ließ sich weder durch die triumphierenden Schielaugen der Gouvernante, noch durch das fortgesetzte Spottlächeln des Hofmarschalls aus der Fassung bringen. Er blickte einen Moment zu ihr auf, ehe er die Tasse nahm – sie konnte zum erstenmale tief in diese kleinen geistvollen Augen sehen; sie waren voll funkelnder Bosheit. Dieser Mann war ihr unversöhnlicher Feind, mit dem sie ringen mußte, solange er lebte – das sagte sie sich sofort. Sie war auch viel zu klug, um nicht einzusehen, daß sie hier bei sanfter Nachgiebigkeit ohne weiteres verloren sei und unter seine Füße käme, und daß sie ihren Platz nur behaupten könne, wenn sie imponiere, das heißt womöglich »mit gleicher Münze zahle«.

Er ergriff ihre Linke und betrachtete sie. »Eine schöne Hand, eine echt aristokratische Hand!« Leicht prüfend fuhr er über die Spitze des Zeigefingers. »Sie ist sehr rauh; Sie haben genäht, – nicht gestickt – sondern genäht, meine Gnädigste, – wohl Ihre Ausstattung an Wäsche? ... Hm, diese zahllosen Stiche und Narben müssen geglättet sein, ehe wir Sie – bei Hofe präsentieren können; – der Prüfstein für eine tüchtige Kammerjungfer paßt nicht an den Finger der Baronin Mainau ... Mein Gott, wie ändern sich doch die Dinge! Was würde wohl der rote Job von Trachenberg, der reichste und gewaltigste unter den Kreuzrittern, zu diesen kleinen Wunden sagen!«

Die junge Dame sah mit einem ernsten Lächeln auf ihn nieder. »Zu seiner Zeit schändeten fleißige Hände eine Dame von Stand noch nicht,« sagte sie, »und was unsere Verarmung betrifft, mit der Sie diese kleinen Wunden in Verbindung bringen, so wäre er vielleicht weise genug, sich zu sagen, daß der Wechsel mächtiger ist, als der Menschenwille, und daß die Jahrhunderte, die nach ihm gekommen sind, nicht spurlos an den verschiedenen Geschlechtern vorübergehen konnten ... Die Mainaus sind ja auch nicht immer Verächter der Arbeit gewesen. Ich habe unser Familienarchiv oft genug durchstöbert, und weiß aus den Aufzeichnungen eines meiner Ahnherren, daß ein Mainau lange Zeit sein Burgvogt und, wie er selbst lobend ausspricht, ›ein wackerer, getreuer und vielfleißiger Mann‹ gewesen ist.«

Sie trat an den großen Tisch zurück und machte den Kaffee fertig – es war für einen Moment sehr still geworden im weiten Saale. Der Hofmarschall hatte bei den letzten Worten der jungen Frau seine Tasse so hastig zum Munde geführt, als sei er dem Verschmachten nahe gewesen; nun hörte sie hinter sich das leise Aneinanderklirren des Porzellans in seinen Händen, und als er nach einer kurzen Pause rauh und gebieterisch nach etwas geröstetem Weißbrot verlangte, da reichte sie ihm den Teller so zuvorkommend hin, als sei nicht das mindeste vorgefallen. Er griff tastend nach einigen Schnitten und sah dabei angelegentlich in die Kaminwölbung.



9.

»Mama,« sagte Leo und reckte seine kleinen Arme schmeicheln zu ihr empor, »ich will artig sein und nie wieder nach der Berger schlagen, aber lasse mich auch neben dir sitzen!«

Sie nahm ihn an ihre Seite, unbekümmert um den Zornblick, der vom Kamin herüberfuhr, und machte ihm das Frühstück zurecht. Da trat Baron Mainau durch die gegenüberliegende Thür ein. Er blieb einen Augenblick mit sichtlicher Befriedigung an der Schwelle stehen. So war es recht, so hatte er sich die neue Herrin von Schönwerth gewünscht. Da saß sie, im züchtig am Halse schließenden Battistkleide, unscheinbar, auffallend blaß und farblos neben dem prächtigen Knabengesicht, und von dem hellen Wandgetäfel hob sich das Haar rot, entschieden rot ab ... Gestern hatte ihm die imposante, anspruchsvolle Erscheinung förmlich bange gemacht. Die reizvolle Gestalt mit dem selbstbewußt getragenen, goldflimmernden Köpfchen und den entschiedenen Worten auf den Lippen hatte ihn erschreckt; sie war nichts weniger als der hochaufgeschossene, unbedeutende Rotkopf, jenes stille Mädchen mit dem furchtsamen Gemüt gewesen, wie er es für sich und die ganzen Verhältnisse in Schönwerth als einzig passend ausgesucht. Diese unliebsame Entdeckung hatte ihm bereits schwer zu schaffen gemacht und ihn bis zu diesem Augenblick mit geheimen Verdruß und Aerger darüber erfüllt, daß er doch wohl von der alten geriebenen Erlaucht in Rudisdorf überlistet und nun an eine hochmütige, anspruchsvolle Frau gebunden sei, die, auf ihre lange Ahnenreihe und äußere Vorzüge pochend, ihm seine sorglich reservierte Freiheit kümmern könne ... Nun sah er sie wieder in Amt und Würden als Hausfrau von so bescheidenem Aeußern, daß selbst die durchaus nicht hübsche Gouvernante ganz passabel neben ihr erschien ... Sie hatte seinen Knaben an ihrer Seite und der grillige Onkel schien gut verpflegt zu sein.

Mit heiterem Morgengruß kam er rasch näher. Es war, als ströme die ganze Farbenglut und Frische des jungen Sommertages mit ihm herein, so übermütig, kraft- und lebenatmend schritt der schöne Mann durch den weiten Saal. Niemand empfand das wohl tiefer, als der kranke Mann im Rollstuhl; er zog die feinen Brauen tief zusammen, und ein schmerzlicher Seufzer hob seine Brust – seine gallige Laune wurde dadurch sicher nicht gebessert.

»Nun, Raoul, wie viel von deinen gerühmten Prunus triloba-Stämmchen stehen noch in den neuen Anlagen?« fragte er spöttisch nach dem Neffen hinüber, der eben die Hand seiner jungen Frau leicht mit der Lippe berührte – ein Schatten flog über seine breite weiße Stirn, dann aber lachte er.

»Die Schlauköpfe – ›nur ein Häuschen‹ haben sie bauen wollen, und dazu waren ihnen meine prächtigen Prunus gut genug,« sagte er mit leichtem Humor. »Sie sind glücklicherweise in dem Moment erwischt worden, als sie Miene machten, das stattlichste Exemplar, meinen Liebling, zu annektieren – der Schaden ist im ganzen unbedeutend –«

»Er ist nicht unbedeutend, und wenn sie auch nur einen Zweig abgeknickt hätten,« unterbrach ihn der Hofmarschall heftig. »Es ist weit gekommen. Solange ich auf den Füßen stand, hätte keiner gewagt, auch nur ein Blatt anzurühren – diese freche Brut mußte gestraft werden, exemplarisch gestraft werden ... Ich hätte die Reitpeitsche in der Hand haben müssen.«

»Ich habe keinen Genuß dabei, solch ein heulendes, kleines Ding zu schlagen, und der Junge war mir zu blaß,« sagte Baron Mainau langsam und nachlässig, wobei er in eines der Fenster trat – welch ein Kontrast zwischen dem angenommenen Phlegma des sonst so ungestümen Mannes und dem sprudelnden Grimm seines Onkels! ... Tiefgereizt wandte der alte Herr den Kopf nach dem Neffen, der mit den Fingerspitzen leise auf den Scheiben trommelte.

»Das sind so humane Anwandlungen, die von Gevatter Schneider und Schuster wütend applaudiert werden – mit ihnen wird man allerdings über Nacht populär – bei seinen Standesgenossen macht man sich einfach lächerlich,« warf der Hofmarschall hin.

Baron Mainau ließ die Finger auf den Scheiben weiterspielen, aber das Blut stieg ihm in das Gesicht.

»Mein lieber Raoul, als ich vorhin die allerliebste Szene im Hofe mit ansah, da kam mir mit lebhaftem Erschrecken der Verdacht, es sei doch wohl wahr, was man dir nachsagt.«

»Und was sagt man mir nach?« fragte Baron Mainau, indem er sich umwandte.

»Eh – nicht heftig werden, mein Freund!« begütigte der Onkel – der schöne Mann dort stand plötzlich so gebieterisch und Rechenschaft heischend im Rahmen der Fensternische. – »Deine Ehre schädigt es weniger, du verfällst – wie gesagt – einfach dem Fluch der Lächerlichkeit, wenn du einen notorischen Verbrecher aus Humanitätsrücksichten entwischen lässest – dem Strolch, dem Hesse, der seit Jahren den Schönwerther Forst unsicher gemacht hat, soll ein ›Höherer‹ fortgeholfen haben just in dem Moment, wo ihn endlich die Gendarmerie beim Kragen nehmen wollte –«

Ein spöttisches heiteres Lächeln flog hell und ausdrucksvoll über Mainaus Gesicht hin.

»Ei, ist wirklich auch diese kleine Sünde zu deinen Ohren gekommen, Onkel?« fragte er. »Allen Respekt vor dem Kunstgewerbe der Spinne – wohin die unglückliche Fliege auch tritt, sie berührt einen heiklen Faden, der elektrische Schläge in das Zentrum zurückführt ... Dieser Mensch, dieser Hesse, war wirklich ein lästiges Individuum – er schoß mir meine Kapitalhirsche vor der Nase weg. Wenn es noch aus Passion geschehen wäre – ich hätte ein Auge zugedrückt – aber er that es aus Not – fi donc! ... Ehemals war das freilich anders; da hatten die Herren von Schönwerth das gute Recht, solch einen Eindringling ohne weiteres niederzuschießen und sich nach Belieben Handschuhleder aus seiner Haut gerben zu lassen. Himmel, muß das ein Machtgefühl gewesen sein, die Haut des lieben Nächsten über seine Finger ziehen zu dürfen!«

Bei diesen letzten Worten drehte sich der Hofmarschall um und sah scharf prüfend nach dem Sprechenden, dann wandte er ihm ungeduldig den Rücken und stieß mit dem Stock taktmäßig gegen die bronzene Kaminverzierung, daß sie unablässig klirrte.

»Die meisten dieser unserer Standesvorrechte haben uns die fatalen modernen Ideen aus der Hand gewunden,« fuhr Baron Mainau fort, »und was sie uns dafür bieten, will ich nicht ... Der Spitzbube, der den Laden ›der Gevatter Schneider und Schuster‹ ausräumt, wird genau so gestraft, wie mein Sünder, mein Wilddieb – ei, das paßt mir nicht! Er wird eingesteckt, und weil er nach der Haft erst recht nichts zu beißen und zu brechen hat, da birscht er mir schon am nächsten Abend wieder unverdrossen in meinem Revier. Da helfe ich mir, wie vordem, selber und schaffe den Burschen aus dem Wege – in Amerika schadet er mir nicht mehr.«

»Narreteien!« murmelte der alte Herr grimmig, während Baron Mainau unbefangen an den Kaffeetisch zurücktrat und Leos Lockenkopf streichelte. »Nach Tische fahren wir aus, mein Junge, wir müssen doch der Mama die Fasanerie und die anderen Herrlichkeiten von Schönwerth zeigen – bist du einverstanden, Juliane?« fragte er. Sie bejahte bereitwillig, ohne die Augen von der Stickerei zu heben, an der sie arbeitete.

Er brannte sich eine Zigarre an und griff nach seinem Hut. Liane erhob sich. »Darf ich für wenige Augenblicke um Gehör bitten?« fragte sie ... Da stand sie wieder vor ihm, hoch, schlank, unnahbar vornehm; er sah in nächster Nähe die wundervoll belebte, weiße Samthaut, wie sie das Rothaar gern begleitet, er sah in die stahlfarbenen Augen, die den seinen so ruhig und leidenschaftslos begegneten. Höflich reichte er ihr den Arm.

»Nimm dich in acht, Raoul! Die schöne Frau hat eine ganze Tasche voll interessanter Neuigkeiten aus Rudisdorf mitgebracht,« rief der Hofmarschall, scherzhaft mit dem Finger drohend, ihm nach. »Sie ist in ihren Familientraditionen bewandert, wie kaum ein Archivar. Ich habe eben hören müssen, daß ein Mainau Dienstmann bei den erlauchten Trachenbergern gewesen ist.«

Mainau ließ mit einer ungestümen Wendung den Arm sinken, auf welchem die Fingerspitzen seiner jungen Frau lagen. Schweigend, aber mit tiefverfinsterten Gesicht, schritt er allein nach der Thür, öffnete sie weit und ließ die jungen Frau an sich vorübergehen.

Sie erhob die Augen erst wieder, als sie vor einer zweiten Thür mit einer Handbewegung aufgefordert wurde, einzutreten. Von dem pompejanischen Rot der entgegengesetzten Zimmerwand flog es ihr beim Eintreten wie eine weiße Wolke entgegen – jenes schwebende junge Wesen mit der eigensinnig hochmütigen Wendung des reizenden Köpfchens, mit der flachen Brust, den schmalen Schultern und den dürftigen Kinderarmen inmitten der täuschend hingehauchten gelblichen Spitzenwogen sah in dem schweren Rahmen wie ein weißer Schmetterling aus, der, an einen Faden gebunden, vergebens strebt, weiterzuflattern. Das war die erste Frau, und Liane sagte sich mit leichtem Erschrecken, daß sie in Mainaus Zimmer stehe. Halb und halb flüchtend, näherte sie sich dem Fenster.

»Ich werde schnell zu Ende sein,« sagte sie, den Fauteuil ablehnend, den er ihr hinschob. Sie blieb stehen und legte die Hand auf die Ecke des Schreibtisches, der in dem Fensterbogen stand; dabei stieß sie unwillkürlich an eine der großen Photographien, die im Medaillonrahmen die Tischplatte schmückten.

»Die Herzogin,« sagte Mainau, wie vorstellend, mit einem halben Lächeln und schob das Bild der üppig schönen Frau vorsichtig wieder an seinen Platz. Mit einem Ruck ließ er das Rouleau um ein Stück niedergleiten – ein schmaler Sonnenstreifen zitterte auf der Stirn der jungen Dame und zwang sie, die Augen niederzuschlagen. »Nun,« sagte er, bei der Beschäftigung dem Fenster zugewendet, »darf ich deine Wünsche hören, Juliane? Stehen sie wirklich in Beziehung zu Rudisdorf, wie der Onkel meinte? – Er war sehr schlechter Laune, der alte Herr – deine Bemerkung hat ihn offenbar gereizt –«

»Notwehr,« versetzte Liane gelassen, aber sehr bestimmt.

»Wie, er hat es dennoch wieder gewagt, dich zu kränken? Ich habe sein Wort –«

»Lassen Sie das!« unterbrach sie ihn mit einer ihrer ruhig edlen Handbewegungen. »Ich halte den Mann für sehr krank und vergesse das keinen Augenblick. Der wirklichen Böswilligkeit aber werde ich so lange entschieden zu begegnen wissen, bis sie sich nicht mehr hervorwagt.«

Mainau sah über die Schulter zurück mit einer Art von grübelnder Prüfung in ihr Gesicht. »Das klingt sehr vernünftig,« sagte er langsam. »Auf diese Weise werden wir den Frieden haben, den ich so sehnlich für mein Dasein wünsche ... Glaube mir, nichts stört einem das Behagen beim Reisen so konsequent und gründlich, als wenn man sein Haus nicht so bestellt weiß, wie es sein sollte.«

»Darüber eben wollte ich mit Ihnen reden. Sie –«

Er lächelte heiter und belustigt. »Das geht aber wirklich nicht mehr, Juliane.,« unterbrach er sie. »Wer dieses Gespräch mit anhören könnte, der müßte doch laut auflachen ... Es hilft dir nichts, einmal mußt du dich entschließen, das ›Sie‹ mit dem ›Du‹ zu vertauschen – schon um der Schloßleute willen, die darin nur einen ganz unpassenden Respektsausdruck sehen würden. Und den Nimbus will ich nicht, oder vielmehr – was schlimm, aber wahr ist – ich verdiene ihn nicht bei meinen vielen Fehlern.«

Wie unwillkürlich überflogen seine Augen bei diesen Worten den Schreibtisch und die tiefe Fensterwölbung, in welcher das große, prächtig schnitzte Möbel stand. Liane folgte diesem Blicke. Es war in der That eine Schönheitsgalerie, die alle diese Bronzerahmen an der Wand umfaßten – hier und da ein schönes aristokratisches Frauengesicht mit schwärmerischen Augenaufschlag oder stolz zurückgeworfenem Kopfe und dazwischen Tänzerinnen in den verwegensten Stellungen und Toiletten. Inmitten des Tischaufsatzes aber, da, wo am passendsten Leos Bild gestanden hätte, lag auf weißem Samtkissen und unter einer Glasglocke ein ziemlich verblaßter hellblauer Atlasschuh.

Der jungen Dame war diese Art von Kultus unter den Kavalieren nicht neu; ihre Mitschülerinnen im Stifte hatten genug davon zu erzählen gewußt; hier aber sah sie den ersten Beweis und errötete heftig. Mainau bemerkte es.

»Reminiszenzen aus der unglücklichen Zeit, wo man ›gerast‹ hat,« sagte er heiter und klopfte mit dem Zeigefinger so hart an die Glasglocke, daß ein scharfer Ton durch das Zimmer schrillte. »Mein Gott, ich habe den Anblick herzlich satt – aber ›ein Mann, ein Wort!‹ ... In einer begeisterungsvollen Stunde gelobte ich der Trägerin, diesen Zeugen ihrer Triumphe in Ehren zu halten, und da liegt er nun, und bei jedem Briefe, den ich schreibe, verwundet dieses blaue Gegenüber durch seine mehr als respektable Länge und Breite meinen Schönheitssinn und meine Eitelkeit, indem es mir sagt, ich sei dazumal doch ein gewöhnlicher dummer Junge gewesen ... Aber nun noch einmal, Juliane!« brach er, ernster werdend, die Selbstironisierung ab. »Ich bitte dich ernstlich, nunmehr in den unbefangenen Umgangston einzulenken, der dir deine Stellung im Hause weit mehr erleichtern wird, als du denkst ... Wir wollen gute Freunde sein, Juliane, ein paar wackere Kameraden, die sich vertragen, ohne die gegenseitigen Ansprüche in das Bereich der Sentimentalitäten hinaufzuschrauben. Und du sollst sehen – so viel Wankelmut man mir auch nachzusagen weiß, – in der Freundschaft bin ich zuverlässig und habe ich nie betrogen.«

»Ich gehe darauf ein, schon um Leos willen,« versetzte sie, mit seltenem Takte die eigenthümliche Lage auffassend, in der sie sich doch nun einmal befand. »Ich habe um diese Unterredung gebeten, um dir zu sagen, daß das Kind in den unzuverlässigsten Händen ist, daß du sofort Schritte thun mußt –«

Er ließ sie nicht ausreden. »Die überlasse ich dir!« rief er ziemlich ungeduldig. »Jage diese Person auf der Stelle fort, wenn es dir beliebt, aber lasse mich aus dem Spiele! ... Ich bitte dich um Himmels willen, mache es nicht wie Valerie! Die hätte mich a u c h am liebsten zum Büttel im Hause gemacht und hat anfänglich Thränen der Erbitterung genug geweint, weil ich mich nicht herbeiließ, ihrer Kammerfrau für jede schlecht gesteckte Schleife einen Verweis zu erteilen ... Nur kein Echauffement daheim, Juliane – nur das nicht! ... Je ruhiger, leidenschaftsloser und gleichmäßiger das häuslicher Leben in Schönwerth verläuft, desto dankbarer werde ich meinem guten Kameraden sein ... Im übrigen hat sich ja der Onkel bereits mit einer neuen Gouvernante im Verbindung gesetzt, die sehr empfohlen wird.«

Liane zog einige Papiere aus der Tasche. »Es wäre mir sehr lieb, wenn sie nicht käme,« sagte sie. »Vielleicht siehst du gelegentlich in diese Blätter – es ist in wenigen Augenblicken geschehen – sie enthalten meine Schulzeugnisse aus dem Stifte. Ich bin grammatisch vollkommen fest in den neueren Sprachen, und was die Aussprache betrifft, so nimmst du dir vielleicht die Mühe, selbst zu urteilen. Die Zeugnisse sind auch in anderen Fächern günstig; trotz alledem würde ich nicht wagen, mich zum Unterrichte des Knaben anzubieten, dürfte ich mir nicht sagen, daß ich mit Ernst und Lust gelernt habe ... Du würdest mich glücklich machen, wolltest du die Lebensaufgabe, die ich mir gestellt habe, acceptieren und die Erziehung deines Kindes einzig und allein in meine Hände legen.«

Er war einigemale rasch im Zimmer auf und ab gegangen und blieb jetzt mit sichtlichem Befremden in seinen Zügen vor ihr stehen. »Die Sprache ist mir neu aus Frauenmunde – ich habe sie noch nicht gehört,« sagte er. »Ich würde ihr auch unbedingt glauben, wärst du um zehn Jahre älter und im Leben erfahrener, Juliane.« Sein Blick flog spöttisch und halb verächtlich über die Schönheitsgalerie in die Fensternische und blieb dann einen Augenblick an der spitzenumwobenen ersten Frau hängen.

»›Der Löwe hat noch nicht Blut geleckt!‹ pflegen wir der siegesgewissen Unerfahrenheit gegenüber zu sagen ... Wer weiß es, in vielen dieser Köpfe haben vielleicht auch ›tugendsame Lebensaufgaben‹ gespukt, bis – die Gesellschaft sie in ihren Strudel gezogen hat,« fuhr er fort und deutete mit der Hand nach den Bilderreihen. »Du bist im Stifte erzogen, und kaum in dein Elternhaus zurückgekehrt, sahst du – verzeihe! – die Rudisdorfer Herrlichkeiten zusammenbrechen ... Du weißt ja nicht, welchen hinreißenden Zauber das Leben bietet, das – die Frau Gräfin Trachenberg bis auf die Neige ausgekostet hat.«

Bei der Erwähnung ihrer verschwenderischen Mutter errötete die junge Dame bis über die Schläfen. »Was soll ich dir antworten,« versetzte sie leise, »da du ja doch nicht glaubst, daß auch die Mädchenseele stark genug sein kann, das Warnende im Beispiele einzusehen? ... Laß uns ganz aufrichtig untereinander sein, wie es guten Kameraden ziemt,« fuhr sie rasch und energisch fort. »Ich habe meinen Lebensplan festgestellt, so gut wie du den deinigen, und werde an ihm halten. Vor allem möchte ich dich dringend bitten, nichts mehr in das obere Fach meines Schreibtisches zu legen – mir machen diese Geldrollen namenlose Angst, und – was soll schließlich aus ihnen werden?«

»Und das soll ich dir glauben, Juliane?« lachte Mainau auf. »Das soll ich dir glauben, nachdem du mich gestern versichert hast, du würdest das Vorrecht, den Hermelin zu tragen, zu behaupten wissen? ... Wo willst du ihn denn tragen? Doch nicht im Schulzimmer? – Du wirst ihn majestätisch über das Parkett der Hofsäle gleiten lassen, und daß dann noch mehr dazu gehört, das wirst du sehr schnell einsehen. Es wird eine Zeit kommen, wo du mich bittest, dein Nadelgeld zu erhöhen. – Diese da« – er zeigte auf das Bild der ersten Frau – »hat das aus dem Grunde verstanden, und du – du wirst es auch lernen.«

»Nie!« rief die junge Frau entschieden. »Niemals! ... Und nun laß dir zu meiner Verteidigung sagen: Ja, ich bin stolz auf meine Ahnen – es waren Ehrenmänner von Geschlecht zu Geschlecht – ich kenne nichts Lieberes, als in den Blättern ihres Lebens nachzuschlagen. Aber auf diese Verdienste kann ich mich ja nicht stützen, wenn es darauf ankommt, mich selbst geltend zu machen. Ich würde mich auch niemals dieses ererbten Glanzes Leuten gegenüber bedienen, die auf äußere Stellung kein Gewicht legen. Nur da, wo mir die Anmaßung, der Uebermut des begüterten Adels entgegentritt, da klopfe ich auf mein Ahnenschild, daß es klingt.«

Er stand einen Moment schweigend mit untergeschlagenen Armen vor ihr. »Ich möchte wohl fragen: ›Warum zeigst du diese Augen erst in Schönwerth, Juliane?‹« fragte er langsam.

Sie wandte die Augen, die ihn so beredt und glänzend angesehen, erschrocken weg. »Darf ich nun um eine definitive Entscheidung bitten?« fragte sie unsicher und mit einer peinlichen Verlegenheit ringend. »Darf ich für Leo Mutter und alleinige Erzieherin zugleich sein, und wirst du beim Hofmarschall dahin wirken, daß auch er mir freie Hand läßt?« setzte sie wieder gefaßt und dringend hinzu.

»Er wird Schwierigkeiten machen,« antwortete Mainau und strich sich mit der Hand über die Stirn; »aber das soll mich nicht abhalten, dir unbeschränkte Vollmacht zu erteilen ... Wir werden ja sehen, wer in deiner Natur siegt – ob die selbstgewählte Lebensaufgabe mit ihren vielen Schattenseiten, oder – die Weltdame, die Tochter der Prinzessin Lutowiska.«

»Ich danke dir, Mainau,« sagte sie fast kindlich froh und herzlich, indem sie seine letzte, sehr ironische Bemerkung ignorierte.

Er griff nach ihrer Hand, um sie zu küssen – sie wandte sich ab und schritt rasch nach der Thür. »Ist nicht nötig bei guten Kameraden – wir werden uns auch so verstehen,« rief sie mit einem reizend heiteren Lächeln über die Schulter zurück und ging hinaus.

10.

Frau Löhn hatte es jetzt schlimm, wie sie sich auszudrücken pflegte. Sie nickte zu dieser Behauptung stets mit dem steifgehaltenen Kopfe und stieß grimmig den tadellos sitzenden Hornkamm tiefer in ihr graues Zopfbündel. Ihre Kranke machte ihr schwer zu schaffen; sie war sehr aufgeregt, weil ja die Frau Herzogin alle Tage – »selbst wenn der liebe Herrgott Spitzbuben regnen ließ« – am indischen Hause vorbeiritt. Seltsam – in den Hofkreisen hatte man sicher vorausgesetzt, Mainaus plötzliche Vermählung, »dieser halbverrückte, abenteuerliche Schritt«, werde seine Beziehung zum Hofe sofort lösen und die ehemalige Gunst in erbittertste Feindseligkeit wandeln – es kam ganz anders. Die Eingeweihten flüsterten sich zu, die Herzogin sei wie erlöst aus ihrer starren Haltung, seit sie wisse, daß die Verbindung im vollsten Sinne des Wortes eine Konvenienzheirat sei, die auch der alte Hofmarschall tödlich anfeinde und allmählich wieder zu lösen hoffe. Um was diese Scharfsinnigen aber nicht wußten, das war eines der tiefen Rätsel der Frauennatur, die im stolzen Herzen der Aristokratin, wie in dem der Grisette schlummern – die Herzogin hatte den schönen, übermütigen Mann nie leidenschaftlicher und demutsvoller geliebt, als nachdem er sie so furchtbar, so eklatant gestraft, ja, moralisch fast mit Füßen getreten hatte ... »Der Rotkopf«, wie die neue Herrin des Schönwerther Schlosses von Hofdamenlippen genannt wurde, war kein Gegenstand der Eifersucht mehr, seit die Herzogin im Fluge durch den »Nonnenschleier« gesehen und keinerlei Reize entdeckt hatte. Während die erste Frau durch prachtvolle Toiletten und ihre pikante, Lebenslust und Vergnügungssucht atmende Erscheinung ein Schmuck, ein jederzeit umschmeichelter Gast des Hofes gewesen war, hatte Mainau die zweite gar nicht einmal vorgestellt. Er bewohnte nach wie vor, oft auf mehrere Tage allein, wie ein Garçon, seine elegante Mietwohnung in der Residenz und sprach unbefangen von seiner bevorstehenden Reise nach dem Orient ... Das alles genügte, um die Herzogin zu überzeugen, daß mit dem vollzogenen Strafakt der glühende Rachedurst des leidenschaftlichen Mannes für immer gelöscht und das weitere Geschick des dazu benutzen Werkzeuges ihm sehr gleichgültig sei. Nun ritt sie wieder fast täglich durch den Schönwerther Park, und zwar in sehr gehobener Stimmung.

Seit die Erzieherin das Schloß verlassen, was auf Mainaus Befehl schon wenige Tage nach der Besprechung mit Liane geschehen war, kam auch der Hofprediger öfters als je nach Schönwerth – er erteilte Leo selbst den Religionsunterricht ... Es hatte einen schlimmen Auftritt zwischen Onkel und Neffen gegeben; die Dienerschaft war der Meinung gewesen, die Splitter müßten umherfliegen, so wütend hatte der Stock des Kranken das Parkett bearbeitet – eine völlig nutzlose Erhitzung, denn eine halbe Stunde später war Leos Schlafzimmer neben das der jungen Frau verlegt worden, und von diesem Augenblicke an trat sie in alle Rechte der Mutter ein und wurde als solche im Hause streng respektiert. Denn obgleich die Schloßleute sich zuraunten, der Hofmarschall könne die junge Frau nicht ausstehen, und »der junge Herr mache sich doch auch gar nichts aus ihr«, so verhehlten sie sich dabei nicht, daß man ihr die Gräfin auf zehn Schritte ansehe und nie den Mut finde, ihr unhöflich zu widersprechen. Anfangs staunten sie freilich, wenn diese »Zweite«, so schweigsam und lautlos wie die weiße Frau, plötzlich unter ihnen erschien, um nach »dem Rechten« zu sehen; aber sie gewöhnten sich um so schneller an »diese Eigenheit«, als auch die sonst so spröde Beschließerin widerspruchslos ihre Leinenschränke vor den grauen, prüfenden Augen der Herrin öffnete.

Liane vermied seit jenem Gespräch, mit Mainau allein zu sein, und ihm fiel es nicht ein, sie zu suchen. Er hatte auch nie wieder Gelegenheit gehabt, sich über ihre Augen zu wundern. Selbst bei den anregendsten Gesprächen und Debatten zwischen ihm und dem Hofprediger am Theetisch sah sie so still auf ihre schönen, unermüdlich an einem Teppich stickenden Hände nieder, daß Mainau überzeugt war, sie gehe im Geiste Leos Vokabeln durch, oder zähle die Seifenstücke, die man in der Waschküche verbraucht habe. Er, der die »deutsche Langeweile« floh, wie tödliches Gift, er hatte sie grundsätzlich mit dieser »stillen, passiven Natur« in sein Haus verpflanzt. Dazu waren alle seine neuen Anlagen im Parke fertig, es blieb ihm, wie er sich ausdrückte, für das nächste halbe Jahr nicht eine einzige Aufgabe in der Heimat zu erfüllen, und so rüstete er sich energisch zur Abreise ... »Das Vagabundenblut der Mainau« siede in ihm, sagte er eines Abends beim Thee lachend zum Hofmarschall.

Der alte Herr wurde spitz und verbat sich in seinem und seiner edlen Vorfahren Namen dergleichen Bezeichnungen – es kam zu einem scharfgeführten Wortwechsel, der grelle Schlaglichter auf die Vergangenheit warf ... Während Liane, scheinbar indolent, Stich um Stich weiter stickte, sah sie im Geiste die drei Brüder Mainau, die vor circa fünfunddreißig Jahren viel von sich reden gemacht hatten – sie waren schön, vornehm und gesucht gewesen ... Der Greis dort mit dem tadellos frisierten grauen Kopf, dem fortgesetzt fahlrote Lichter der inneren Erregung über die Wangen flackerten, er hatte recht, wenn er gegen das Vagabundenblut protestierte. Ihm, dem mittleren dieser Brüder, wäre es unmöglich gewesen, in einer anderen, als der Hofatmosphäre seine Lebensluft zu suchen. Er hatte immer nach den höchsten Zielen gestrebt, wie die Gräfin Trachenberg zu sagen pflegte, wenn sie andeuten wollte, daß sie ihm einen Korb gegeben habe ... »Standesgemäß« am Hofe placiert, hatte er sich auch »standesgemäß« eine ebenbürtige Gemahlin durch die damals regierende Herzogin »anbefehlen« lassen und konnte sich mit gutem Gewissen sagen, daß seine feinen Sohlen nie das grobe Pflaster der Alltäglichkeit berührt hatten. Sein ältester Bruder dagegen war frühzeitig ausgeschwärmt; er war in die Eisregion des Nordpols vorgedrungen und hatte nomadenhaft die Jagdgründe der Indianer durchstreift, und wenn er einmal wieder »das kleine Klatsch- und Hofnest in dem deutschen Erdenwinkel« aufgesucht, dann hatten seine Extravaganzen und Rücksichtslosigkeiten eine Gänsehaut um die andere über den Rücken des brüderlichen Höflings laufen lassen. Einmal aber war es einer schönen, reichen Erbin gelungen, ihn festzuhalten; er hatte sich mit ihr vermählt und war genau so lange in der Residenz verblieben, um dem jungen lieblichen Geschöpf nach einem schweren Wochenbette die Augen zuzudrücken, seinem verwaisten Kindes bei der Taufe den Namen Raoul zu geben und sein Testament zu machen. Dann hatte er den Staub von den Füßen geschüttelt und es schließlich der deutschen Gesandtschaft in Brasilien überlassen, Nachricht von ihm zu geben – er war am Fieber gestorben.

Das alles kam zur Sprache, und Liane fühlte sich einen Augenblick versucht, den ihr angetrauten Mann zu bedauern, der so früh schon allein gestanden – aber wozu denn? ... Er war reich, schön, voll sprühender Lebenskraft, und in seiner Unabhängigkeit rücksichtslos gegen andere bis zur äußersten Grenze. Die ganze Welt mit ihren Genüssen lag ihm zu Füßen, und über eine strenge Auswahl derselben hatte sich sein Feuerkopf wohl niemals Skrupel gemacht. So saß er dort neben dem keifenden Greis und sah den blauen Dampfringen seiner Zigarre nach, wie sie dem Fenster zuschwebten, um sich mit dem Goldhauch der letzten Abendsonnenstrahlen zu mischen.

»Liebliches Schönwerth,« rief er mit lächelndem Pathos, wobei sein ausgestreckter Arm einen weiten Bogen über die draußen sich hinbreitende, unvergleichlich schöne Landschaft beschrieb. »Vielbeneideter Besitz! Dich verdanken wir einzig diesem verfemten Wandertrieb. Onkel Hofmarschall sähe noch aus den Fenstern seiner Amtswohnung in der Residenz, wenn Gisbert von Mainau hinter dem Ofen sitzen geblieben wäre.«

Der Hofprediger hatte neulich recht gehabt mit seiner Behauptung, daß man den dritten und jüngsten Bruder nicht nennen dürfe, ohne den alten Herrn außer Fassung zu bringen. Er fuhr empor; aber das Ungewitter, das über einen unvorsichtigen Untergebenen sicher losgebrochen wäre, reduzierte sich auf ein Geplänkel von feinen Eissplittern. Während er hastig, als mache er sich reisefertig, sein neben ihm liegendes rotseidenes Taschentuch nebst den verschiedenen Flakons in die Tasche steckte, sagte er:

»Pardon, es wird Zeit, daß ich mich zurückziehe – für Abendluft und Kraftgenialität sind meine Nerven nun einmal mimosenhaft empfindlich – wer kann sich robuster und derber machen, als er ist? ... Ja, das liebe Alter! Ich habe die französischen Moden immer so gern gehabt, und jetzt bin ich so bärbeißig, oder vielmehr so spottsüchtig, es lächerlich zu finden, wenn der deutsche Nachahmungstrieb auch versucht, in den Fußstapfen großer Onkels zu gehen ... Mein bester Raoul, du hast viel von Onkel Gisbert – wer wollte die Aehnlichkeiten leugnen? – und da du das schön findest, so mache ich dir mein Kompliment darüber; ja, ich muß sogar lebhaft wünschen, daß du dich treulich an den Weg hältst, den er gegangen – jener Wandertrieb, er ist ja schließlich doch in dem heißen Sehnen und Trachten nach dem rechten Ziele, nach dem ewigen Heile aufgegangen.«

»Mein Gott, ja – wie kläglich! Der arme Onkel, er war siech und – fromm geworden,« versetzte Mainau kalt lächelnd, während der Hofmarschall mit der silbernen Handklingel förmlich Sturm läutete.

Sein Kammerdiener erschien, um ihn in das Schlafzimmer zu fahren. Mainau schob den Dienstfertigen beiseite und rollte den Stuhl eigenhändig bis zur Thür.

»Du erlaubst wohl, daß ich Leos Großpapa den schuldigen Respekt erweise«, sagte er höflich, wenn auch in sehr reserviertem Tone zu dem Hofmarschalle, der steif das Haupt neigte; dann schloß er die Thür hinter dem fortrollenden Fahrstuhle und kehrte an den Theetisch zurück.

Die junge Frau hätte am liebsten ihre Arbeit zusammengelegt und wäre auch gegangen; denn sie war allein mit ihm und hatte keine Lust, ihn, der so geistreich mit dem Hofprediger und seinem Onkel zu disputieren wußte, in solchen seltenen Momenten immer nur über die alltäglichsten Dinge reden zu hören, wobei er gar nicht verbarg, daß er mit Ueberwindung in die Kühle einer phantasielosen, prosaischen Welt herabsteige. Aber sie fand keinen schicklichen Vorwand, das Zimmer zu verlassen; es war noch nicht Zeit, Leo zu Bett zu bringen, der Gabriel einen Zügel um den Arm gebunden hatte und ihn über die draußen vor der Glasthür niedersteigende Freitreppe lärmend auf und ab jagte. Sie rückte deshalb ihren Stuhl näher an das Fenster, um unter dem voller hereinfallenden Abendlichte eine feurige Kaktusblüte fertig zu sticken.

»Graut dir nicht vor der phantastischen Familie, in die ich dich versetzt habe, Juliane?« fragte Mainau mit halben Lächeln nach einer kleinen Pause, während welcher er sich eine frische Zigarre angesteckt hatte. »Du hast gesehen, dem Onkel sträubt sich jedes Haar auf dem Kopfe bei dem Verdachte, es könne sich ein Tropfen unseres ›Narrenblutes‹ in seine Adern verirrt haben – er hat in seiner Art recht, der Mann der Regeln und Formen –, und du mit deiner unverrückbar ruhigen, sehr vernünftigen Anschauungsweise stehst zu ihm – soweit kenne ich dich bereits.«

Mainau hielt inne, wie in Erwartung einer bestätigenden Antwort; aber sie sah in nicht einmal an. Sie meinte, es sei überflüssig, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, was er gar nicht wünschte. Prüfend bog sie den Kopf zurück und verglich eine eben eingesetzte Schattierung mit dem Ganzen. Ihre zarten Lippen lagen sanft geschlossen aufeinander, und die bleiche Samthaut ihrer Wangen nahm nicht einen Hauch von Röte an; bei der ausgeprägtesten Lieblichkeit, die den beobachtenden Mann in diesem Momente abermals frappierte, hatte der junge Frauenkopf mit den seitwärts gewendeten Augen doch die Leblosigkeit eines Steinbildes, und unwillkürlich mußte er denken, ob es denn wirklich einzig und allein der Familienstolz vermöchte, diese tief in das Innerste zurückgezogene Seele aufzuregen – im nächsten Augenblick erfüllte ihn eine tiefe Genugthuung darüber, daß es so und nicht anders sei.

»Das ist doch eine reizende Zeichnung,« sagte er und deutete auf die Kaktusblüte. »Ich begreife, wie sich eine stille Frauennatur in diese Art von Beschäftigung so tief versenken kann, daß ihr von der lärmenden Außenwelt viel Unerquickliches entgeht. Du hast den Differenzen zwischen dem Onkel und mir kaum Beachtung geschenkt?« Das klang so wohlwollend nachsichtig, als wünsche er zu hören, daß sie in der That so indolent gewesen sei.

»Ich habe genug gehört, um mich zu wundern, daß du dein mir aufgestelltes Programm selbst so wenig respektierst,« versetzte sie gelassen. »Du wünschest ein ruhiges, leidenschaftslos und gleichmäßig verlaufendes Familienleben, und hast doch vor wenigen Augenblicken alles gethan, um den Hofmarschall zu reizen.« – Sie nannte den alten Herrn nie Onkel.

»Liebe Juliane, das ist ein kleines Mißverständnis,« rief er lachend, indem er aufstand. »Das Programm ist nicht so bitterernst gemeint, solange ich da bin, solange ich den Zügel in der Hand habe und lenken kann, wie ich will – ich werde mich doch wahrhaftig nicht selbst ertränken in diesem stagnierenden Wasser der Langeweile!«

»Ich will nur nicht, daß man sich zankt, wenn ich auf Reisen bin,« fuhr er fort. »Gott im Himmel – was für eine Flut von lamentablen Briefen stürmt da von allen Seiten auf solch einen unglücklichen Abwesenden ein! ... Was hat nur Valerie allein in dieser Beziehung gesündigt! ... Im dunkelsten Winkel meines Schreibtisches liegen sie noch, diese Boten der – Liebe. Ich habe sie damals pflichtschuldigst mit einem zärtlichen Rosenbande umwickelt, aber berührt hat meine Hand sie nie wieder, aus Angst vor den herausplatzenden Geistern der Zwietracht, der Herrschsucht und der kindischen Launen ... Und dabei kam ich doch immer erst in zweiter Linie – die kleine Frau hatte den vortrefflichen Beichtvater, den Hofprediger, zur Seite, dem sie ihr Herz stets in der ersten Aufwallung rückhaltlos auszuschütten pflegte.«

Ein böses Lächeln erschien und verschwand wie ein Blitz auf dem schönen Gesichte.

»Bah, was willst du?« sagte er plötzlich nach längerem Schweigen wieder – er war in die offene Glasthüre getreten und hatte dem Spiele der beiden Knaben zugesehen. »Gerade auf meine Art und Weise, mit dem Onkel zu verkehren, bin ich stolz, ungefähr so eingebildet, wie ein Kind auf die Heldenthat, ein Stück Kuchen nicht anzubeißen, das der Mutter mitgebracht werden soll. Sahst du mich jemals jähzornig? Frage die lieben Nächsten – die Haut wird dir schaudern, was sie alles von meiner brutalen Heftigkeit zu erzählen wissen ... Hier beherrsche ich mich, allerdings zuvörderst in dem Wunsche, auch einmal ein wenig – wie andere Glückliche ihr ganzes lebenlang – in die Wonne der Selbstbewunderung versinken zu können.«

Die junge Frau warf einen Blick nach ihm hinüber, welcher dem seinen begegnete. Da war nicht eine Spur jener Flamme, die blitzähnlich von Auge zu Auge züngelt und das Verständnis zweier Menschen vermittelt. Sie sagte sich, daß über die vom Schicksale verzogene, durch Frauengunst verhätschelte Männerseele dort nichts auf Erden je Gewalt haben werde, als das eigene stürmische Wünschen und Wollen, und er griff achselzuckend nach seinem Hute und meinte, in den grauen Augen die Zahl der Stiche lesen zu können, die sie während seiner Rede mit dem roten Seidenfaden gemacht hatte.

»Ich gehe,« sagte er. »Nimm dich in Acht, Juliane – es wird dämmrig, und unsere tapferen Schloßleute verschwören Leben und Seligkeit, daß Onkel Gisberts Schatten dort in dem Fensterbogen sein Wesen treibe – er hatte sich im Todeskampf hierher tragen lassen. Doch was rede ich – sündenlosen Seelen, wie der deinen, passiert dergleichen nicht.«

»Andere Geister haben nur Macht über und, je nachdem wir sie fürchten oder lieben,« versetzte sie einfach, ohne den Spott in seiner Stimme zu beachten. »Ich fürchte Onkel Gisberts Schatten nicht, möchte ihn aber wohl fragen, weshalb er gewünscht hat, gerade hier zu sterben.«

»Das kann ich dir auch sagen. Er hat einen letzten Blick auf sein Thal von Kaschmir werfen wollen,« erwiderte er lebhafter. Er trat dicht neben sie und zeigte über sie hinweg nach dem Garten. »Dort unter dem Obelisken hat er sich begraben lassen ... Ach, du kannst das Monument nicht sehen; es liegt zu sehr seitwärts – dort.« Er nahm plötzlich ihren Kopf mit sanftem Drucke zwischen seine Hände, um ihrem Blicke die Richtung zu geben – seine Finger versanken tief in den rotgoldenen Haarmassen. Die junge Frau fuhr empor, schüttelte heftig seine Hände ab und starrte ihn mit weitgeöffneten Augen beleidigt, in unverstelltem Widerwillen an. Er stand einen Augenblick fassungslos vor ihr – eine dunkle Glut schoß über sein Gesicht.

»Verzeihe! Ich habe dich und mich erschreckt ... Ich wußte nicht, daß dein Haar bei der Berührung solche Funken sprühe,« sagte er mit unsicherer Stimme, indem er von ihr wegtrat.

Sie saß schon wieder und bückte sich über ihre Stickerei. Das war dasselbe ruhige »Insichzusammenschmiegen« der elastischen Gestalt, wie vorher, aber Mainau fiel es nicht mehr ein, zu denken, daß diese Frau die Stiche ihrer Nadel zähle. Sein Auge haftete auf dem schmalen Streifen ihres Nackens, der erst so gleichmäßig perlmutterweiß zwischen den niederhängenden Haarflechten geleuchtet – jetzt sah er ein dunkles Rosenrot unter der Haut fließen. Er griff nicht wieder nach dem Hute, den er hingeworfen – er war erbittert über das unberechenbar hervorbrechende verneinende Element in »diesem rothaarigen Frauenkopfe«, noch zorniger aber auf sich selbst, daß er im harmlosen Sichgehenlassen eine Niederlage erlitten, noch dazu durch eine ungeliebte Frau. Darüber hinweg half nur ein völliges Ignorieren des Geschehenen.

»Ich möchte wirklich wünschen, Onkel Gisbert könnte wiederkommen und da hinabsehen,« sagte er, in den spukhaften Fensterbogen tretend – er sprach sehr ruhig. »Dreizehn lange Jahre liegt er dort unter dem roten Marmor; unterdes haben seine indischen Pflanzenlieblinge unter dem nordischen Himmel eine Ausdehnung erreicht, wie er sie vielleicht selbst nicht geträumt hat. Das ist auch häufig ein streitiger Punkt in Schönwerth. Die ganze Pflanzenherrlichkeit muß mit dem Eintreten der rauhen Jahreszeit unter riesige Glashäuser gesteckt werden, und die exotische Thierwelt verlangt sorgfältige Pflege – das kostet viel Geld. Der Onkel macht jedes Jahr neue Anstrengungen, die kostspielige Schöpfung womöglich von der Erde wegzurasieren, und ich leide entschieden nicht, daß auch nur ein Blatt abgepflückt wird.«

»Und das Menschenleben, das der deutsche Edelmann unter den nordischen Himmel entführt hat?« fragte sie hinüber – ihre melodische Stimme verschärfte sich.

Er stand rasch wieder neben ihr. »Du meinst die Frau im indischen Hause,« sagte er. »Da, sieh dir einmal den Burschen an!« – Er deutete auf Gabriel. Leo war auf den Rücken des Knaben gesprungen. Die feingliedrige Gestalt des improvisierten Pferdes bog sich geduldig trabend unter dem wilden Peitschenschwinger. – »Das ist der Typus der Menschenrassen, die als kostbarstes Kleinod über das Meer gebracht worden ist – feig, hündisch unterwürfig und treulos, sobald die Verführung an sie herantritt ... Der Knabe ist mir unsäglich zuwider. Ich würde ihm ein paar blaue Flecken der Satisfaktion auf dem Rücken meines Jungen weit eher verzeihen, als diesen hündischen Unterwerfungstrieb hinter einem gottähnlichen Menschengesichte ... Leo, wirst du gleich heruntergehen!« schalt er hart, mit grimmig gerunzelten Brauen zu offenen Thür hinaus.

Gabriel stieg eben die letzten Stufen herauf. Er war sehr erhitzt durch die unruhige Last, die er auf seinen Schultern treppauf getragen; trotzdem erschien sein Gesicht bleich, wenn auch die schöne Linie des Ovals so fest und gesund verlief, als begrenze sie gelbangehauchten Marmor.

»Mache, daß du heimkommst!« befahl Baron Mainau barsch und drehte ihm den Rücken.

Das kindlich naive, und doch melancholische Lächeln, das beim Ersteigen der letzten Stufe um die ausatmenden Lippen des Knaben geflogen war, verschwand – der Schrecken trieb ihm den letzten Blutstropfen aus dem Gesicht. Es durchschnitt der jungen Frau das Herz, zu sehen, wie er trotzdem mit zärtlicher Aufmerksamkeit das Kind des harten Mannes auf den Boden gleiten ließ, wie er sich nicht versagen konnte, noch einmal liebkosend mit der geschmeidigen Hand über Leos Lockenkopf hinzustreichen ... Der arme Prügelknabe! Seine junge Seele war in die Hand der strengen Kirche und der orthodoxesten Aristokratie gegeben, und der herrische Mann dort, der sie mittels seiner Energie beschützen konnte, er trat blind und vorurteilsvoll in tödlicher Verachtung auch noch mit dem Fuße darauf.

»Gute Nacht, mein liebes Kind!« rief sie hinaus, als der Knabe unhörbar die Treppe hinabhuschte. Zugleich legte sie ihre Arbeit zusammen und erhob sich. Im Bewußtsein ihrer vollkommenen Einflußlosigkeit ließ sie kein Wort zu Gunsten des mißhandelten Kindes fallen, aber so, wie sie jetzt dastand, war ihre ganze Erscheinung ein Protest gegen das Verfahren des rauhen Schloßherren.

Er sah sie einen Augenblick schweigend von der Seite an; dann bemühte er sich, seine Zigarre aufs neue in Brand zu stecken.

»Siehst du die köstliche Musa dort?« fragte er kalt und zeigte nach einer Banane im indischen Garten. »Sie strebt dankbar empor zu dem kalten Himmel, während das fremdländische Menschengeschmeiß sich sofort hinabverirrte bis in die Region der – Stallbedienung. Da kenne ich kein Erbarmen.«

Die junge Frau stand mit dem Rücken nach ihm und ordnete die Stickwolle im Arbeitskorbe – sie hob die Wimpern nicht.

»Willst du wohl die Güte haben, mich auch einmal anzusehen?« sagte er plötzlich streng. Er fiel zum erstenmal aus dem Umgangstone des guten Kameraden und sprach als Herr und Gebieter – er war beleidigt. »Es hätte noch gefehlt, daß sich meine Frau mit dem ganzen Rüstzeug ihrer tugendhaften Verachtung, ihres moralischen Uebergewichts umgürte, um dieses – Bastards willen!«

Ein ähnlicher Schrecken durchfuhr sie wie daheim, wenn unvermutet die gebieterische Stimme der Mutter ihr Ohr berührt hatte. Sie wandte ängstlich des entfärbte Gesicht nach ihm – in diesem Augenblicke der Bestürzung war es das lieblichste, unschuldigste Mädchengesicht, das mit großen, erschreckten Augen zu ihm hinsah.

Sein Blick voll Aerger und Verdruß milderte sich sofort.

»Mein Gott, wie blaß du bist, Juliane! Du siehst mich ja mit Augen an, wie Rotkäppchen den bösen Wolf ... Nun ist's wohl auch um unser gutes, kameradschaftliches Einvernehmen geschehen – wie? – Das sollte mir leid thun,« sagte er mit einem Achselzucken des Bedauerns, als wollte er seine Angst um die sorgfältig kultivierte Langeweile im Schlosse Schönwerth ausdrücken.

»Ich will dich ein wenig über die Verhältnisse aufklären,« setzte er hinzu, nachdem er einmal im Salon rasch auf und ab geschritten war. »Als Onkel Gisbert nach langer Abwesenheit in die deutsche Heimat zurückkehrte, war ich ein Knabe von vierzehn Jahren, der den ›indischen Onkel‹ vergötterte, ohne ihn je gesehen zu haben. Man wußte, daß er sein Erbteil auf dem Handelswege vertausendfacht hatte; man erzählte sich Dinge von seinem Leben und Treiben, die recht gut unter den Märchen von ›Tausend und eine Nacht‹ hätten figurieren können – und doch, als er Schönwerth noch von Benares aus ankaufen und nach seinem Sinne einrichten ließ, da sperrten die Pfahlbürger unserer guten Residenz Mund und Nase auf ... Ich werde ihn nie vergessen, niemals – den schönen Mann mit den eigenartigen Gebärden und dem genialen Kopf, in welchem bereits die finsterste Schwermut brütete. Sein Thal von Kaschmir war sein Idol, und hinter dem Drahtgitter atmete ein Wesen, das er vom Reisewagen in die Sänfte und von da in das indische Haus hatte tragen lassen, und die so glücklich gewesen waren, ›die blasse Lotosblume des Ganges‹ während dieser Prozedur auf den Armen zu halten, sie schwuren, es sei kein Frauenleib, sondern ›eine Nixe aus Luft und Duft zusammengeblasen‹ gewesen.«

Den Eindruck machte es noch, jenes fremdländische Geschöpf, das, halb Weib, halb Kind, drüben auf dem Rohrbette lag, eine Luftgestalt, die scheinbar nur die metallenen Ketten und Ringe an der Erde festhielten.

»Außer dem Onkel Hofmarschall und dem Hofprediger, der damals noch ein simpler Kaplan war, verkehrten nur wenige in Schloß Schönwerth – die stolze Haltung des Besitzers scheuchte alles zurück,« fuhr Mainau fort. »Ich selbst habe nur einmal die Gunst genossen, ihn auf drei Tage besuchen zu dürfen – und da erging es mir wie den neugierigen Frauen im ›Blaubart‹.« Er lachte belustigt vor sich hin und stippte die Asche von seiner Zigarre. »Um Blut und Leben ging es freilich nicht, aber der Onkel verbat sich einfach das Wiederkommen ... Die Indierin hinter dem Drahtgitter spukte mehr, als es gut war, in meinem heißen Jungenkopfe. – Bekreuze dich, Juliane! Es ist ein toller Reigen von Narrheiten um der Frauenschönheit willen, auf den ich zurückblicken muß – ich bin durch reißende Flüsse geschwommen, um eine weggewehte Busenschleife zu erhaschen, und habe landesüblich Champagner aus Ballettschuhen getrunken – warum sollte ich da nicht auch über das Drahtgitter von Schönwerth klettern, um das Weib zu sehen, das Onkel Gisbert ›wie toll‹ lieben sollte? Die Thür war zwar nicht verschlossen, und die ›Lotosblume‹ wurde nichts weniger als in Gefangenschaft gehalten; aber ich bin überzeugt, sie hat von dem bartlosen Neffen ihres Herrn und Gebieters nicht belästigt sein wollen, und deshalb war mir das Umherwandeln im Thale von Kaschmir verboten ... Nun also, ich kroch unter stürmischem Herzklopfen durch das Gebüsch und sah nicht eher auf, als bis – der Onkel vor mir stand. Er sagte kein Wort; aber der mitleidig lächelnde Spott, der seine düsteren Augen für einen Moment förmlich erhellte, beschämte mich dergestalt, daß ich meinen ganzen gewaltigen Jünglingsstolz vergaß und schleunigst Fersengeld gab... Noch denselben Morgen hielt, ohne daß Befehl gegeben, mein Reisewagen vor dem Schönwerther Schloßthore; der tödlich bestürzte Junge wurde von dem Onkel unter freundlichem Abschiedsgruße ohne weiteres hineingeschoben und in das Institut zurückgeschickt – das war kaltes Wasser.«

Er trat lächelnd in das Fenster und sah hinüber nach dem indischen Garten. Es dämmerte stark – das niedrige Rohrdach des indischen Hauses verschwamm bereits mit den Wipfeln der Rosenbäume, und nur auf den goldglänzenden Kuppeln des Tempels sammelten sich noch schwarze Reflexe des verlöschenden Abendlichtes.

»Ich habe den Onkel erst wiedergesehen,« sagte er nach einer Pause sich umwendend, »als sein letzter Wunsch erfüllt erden sollte, als der Arzt im Begriff war, seine Leiche mit einem zersetzenden Präparat zu tränken. Man hatte mich von der Universität zur Beisetzung nach Schönwerth berufen ... Da lag er entstellt in weißen Atlasdecken – statt der Rosendüfte von Kaschmir flossen häßliche Weihrauchwolken über ihn hin; kein Nachtigallenthon drang durch die schwarzumhüllten Fenster – dafür umflüsterten ihn gemurmelte Gebete, und aus geistlichem Munde wurde er gepriesen, daß er zur rechten Stunde noch aus der Irre auf den wahren Heilsweg zurückgekehrt sei – unrühmlich genug für diese Dogmen« – unterbrach er sich grollend – »daß die Seele sie erst annimmt, wenn sie vom kranken Körper angesteckt ist, wenn alle Nervensaiten verstimmt und gebrochen sind und das arme Gehirn urteilslos und beängstigt in den Nebelwolken des herannahenden Todes schwimmt! – Ja, das war das Ende, der jammervolle Schluß eines märchengeschmückten Lebens voller Ideale.«

Die junge Frau stand noch vor dem Arbeitskorbe – sie war sich selbst nicht bewußt geworden, daß sie die bunten Wollsträhnen unzähligemal aus- und eingepackt hatte ... Dort wölbte sich der mächtig geschwungene Fensterbogen, in welchem Onkel Gisbert gestorben war, gestorben mit dem Blicke auf seine indische Schöpfung, und mit diesem Bilde »aus der Irre« war die Seele heimgegangen, trotz aller Weihrauchwolken und sonstigen kirchlichen Apparate und Anstrengungen ... Ein graues, spukhaftes Dämmerlicht kroch in Fensterbreite über das Parkett und ließ in schwarzen Umrissen ein riesiges Kreuz auf die Eichentafeln fallen; es floß auch über den erzählenden Mann, dessen Stimme alle Register der heitersten Selbstverspottung bis zum Ingrimm durchlaufen hatte.

»Ich wußte, daß ein Kind im indischen Hause geboren worden war,« fuhr er nach einem augenblicklichen Schweigen fort. »Ich hatte es auch auf dem Arme der Frau Löhn gesehen – damals rührte mich das kleine Geschöpf mit dem melancholischen Gesichte ... Es war kein Testament da, und nach meiner moralischen Überzeugung war der Knabe als erster Erbe anzusehen. Ich sprach das aus – da wurde mir ein Zettel vorgelegt. Onkel Gisbert war an einem furchtbaren Halsübel gestorben; er hatte schon monatelang vor seinem Tode kein Wort mehr gesprochen und sich nur noch mittels der Feder verständlich machen können – solche Zettel sind viele da – hier« – er zeigte auf einen Rokokoschreibtisch mit hohem Aufsatze – »in diesen sogenannten Raritätenkasten des Hofmarschalls sind sie aufbewahrt. Jener eine Zettel verstieß in strengen Worten die Frau im indischen Hause als eine Treulose und verlangte auf das Bestimmteste, daß ihr Knabe im Dienste der Kirche erzogen werde. Dagegen ließ sich nichts thun, und ich wollte auch gar nicht mehr; ich war empört und bin es noch heute, daß selbst ein Mann wie er unter der Schlangenfalschheit des Weibes schwer leiden mußte ... Der Onkel und ich waren die rechtmäßigen Erben. Wir traten die Hinterlassenschaft an ... Nun war ich selbst Herr im indischen Garten; nun trat sie mir nicht mehr entgegen, die prächtige Gestalt des Onkels, mit ruhig verschränkten Armen und dem feurigen Schwerte des Spottlächelns – und im Hause mit dem Rohrdache lag die vergötterte Lotosblume wie von einem rächenden Blitzstrahle getroffen –«

»Nun, durftest du sie sehen,« kam es wie unwillkürlich von Lianens Lippen.

Er fuhr mit einer Gebärde voll Abscheu herum.

»Meinst du? – Mit nichten! Ich war geheilt für immer! Ein treuloses Weib stoße ich nicht mit der Fußspitze an. Und dann« – er schüttelte sich – »ich kann keinen so kranken Menschen sehen; jede gesunde Fiber in mir empört sich dagegen ... Die Frau ist wirr im Kopfe, gelähmt an allen Gliedern und schreit zu Zeiten, daß einem die Ohren gellen – sie stirbt seit dreizehn Jahren. – Ich habe sie nie gesehen und vermeide, so viel ich kann, den Weg am indischen Hause.«

Liane legte den Deckel auf den Korb und rief nach Leo, der sich unterdessen mit Steinwerfen drunten auf dem Kiesplatze die Zeit vertrieben hatte. Während Mainaus Erzählung war ihr gewesen, als müsse sie zu ihm treten und, das Geschilderte warm miterlebend, zu ihm aufsehen – nun zischte der häßliche Schlangenkopf des empörendsten Egoismus plötzlich wieder empor und trieb sie weit weg von dem Uebermütigen, der im unüberwindlichen Kraftgefühle sich selbst gegen jede Heimsuchung gefeit wähnte und das ihn widerwärtig Berührende ohne weiters beiseite schob, um sich den Lebensgenuß in keiner Weise verkümmern zu lassen.

»Sage dem Papa gute Nacht, Leo!« ermahnte sie den Knaben, der stürmisch auf sie zuflog und sich an ihren Arm hing.

Mainau hob ihn empor und küßte ihn. »Nun wirst du nicht wieder nach der Frau im indischen Hause fragen, Juliane?«

»Nein.«

»Ich hoffe auch nie mehr das oppositionelle und zärtliche ›Gute Nacht, mein liebes Kind‹ zu hören. Du begreifst, daß ich so handeln muß –«

»Ich bin langsam im Denken und brauche Zeit, um mir ein Urteil zu bilden,« unterbrach sie ihn. Sie verbeugte sich leicht und verließ mit Leo den Salon.

»Schulmeister!« murmelte er verdrießlich zwischen den Zähnen, indem er ihr den Rücken wandte ... »Bah, sie paßt vortrefflich,« dachte er gleich darauf erheitert und rief nach seinem Pferde. Er ritt noch nach der Residenz, um den Spätabend und die Nacht dort zu verbringen.

Eine Stunde später sagte er im adligen Kasino zu Freund Rüdiger: »Ich habe das große Los gezogen: Meine Frau singt nicht, malt nicht und spielt auch nicht Klavier, – Gott sei gedankt, ich werde nie durch Dilettantenaufdringlichkeit ennuyiert! ... Sie sieht manchmal hübscher aus, als ich ihr anfänglich zugetraut; aber sie hat keinen Esprit und nicht die geringste Neigung zum Kokettieren – sie wird mir nie gefährlich werden ... Bei weitem nicht so beschränkt, wie ich meinte, und viel weniger sentimental, denkt sie doch sehr langsam und wird ihre im Pensionate empfangenen Anschauungen mit der zähen Beharrlichkeit phantasieloser Menschen zeitlebens festhalten – desto besser für mich – Ihre Briefe an mich kann ich jetzt schon analysieren – steife Stilübungen einer ernsthaften Pensionärin mit Wirtschaftsberichten als Vorwurf – sie werden mir keine schlaflose Nacht verursachen ... Leo hat sich sehr an sie attachiert und lernt gut, und dem Onkel scheint sie zu imponieren durch ihre Ruhe, ihre natürliche Kälte und den Trachenbergschen Hochmut, den sie in geeigneten Momenten prächtig herauszukehren versteht – in vierzehn Tagen reise ich.«

11.

Die Frau Herzogin hatte sich mit ihren beiden Knaben beim Hofmarschall angemeldet – das konnte nicht auffallen. Zu Lebzeiten ihres Gemahls hatte der Hof fast ganze Tage in Schönwerth verlebt; denn der Hofmarschall stand hoch in Ehren und wurde stets mit Gnadenbeweisen überschüttet, als ein »in unerschütterlicher Treue ersterbender Anhänger« des herzoglichen Hauses. Selbst während des Trauerjahres, wo sich die hohe Frau mit musterhafter Strenge von allem fernhielt, was auch nur den leisesten Anstrich einer geselligen Vergnügung annehmen konnte, hatte sie auf ihren Spazierritten durch das Thal von Kaschmir öfter den Nachmittagskaffee im Schönwerther Schlosse eingenommen. Freilich war dabei ihr schönes Gesicht unter der schwarzen Krepprüsche stets wie in Leid versteinert erschienen, und selbst der Hofmarschall mit seinen geübten Höflingsblicke hatte sich allmählich der Ueberzeugung hingegeben, diese gebeugte Witwe müsse ihren Gemahl in der That innig geliebt haben. Während der Zeit vor und nach Mainaus Vermählung war sie nicht im Schlosse eingekehrt und hatte es bei einem hinübergesandten Gruß bewenden lassen, weil ja der alte Freund schlimmer als je von seiner Gicht geplagt wurde.

Nun erschien eines Nachmittags Herr von Rüdiger und beglückte ihn mit der Nachricht, daß die kleinen Prinzen morgen, wie bisher jedes Jahr geschehen, sich höchst eigenhändig Frühtrauben und Zwergobst von den Spalieren im Schönwerther Schloßgarten zu pflücken wünschten ... Man saß gerade beim Dessert. Der Hofmarschall erhob sich wie verjüngt; er lehnte seinen Krückstock in die Ecke und machte mit zusammengebissenen Zähnen und einem schielenden Seitenblicke nach dem Spiegel einen Gehversuch ohne Stütze bis nach dem nächsten Fenster; von dort aus winkte er Liane zu sich und gab ihr Befehle für Küche und Keller.

»Da haben wir's!« sagte Mainau zu der jungen Frau – er war ihr gefolgt, als sie das Zimmer verlassen hatte. »Ich bin gern auf deinen Wunsch eingegangen, dich erst nach meiner Rückkehr vorzustellen; nun zwingt dich die Herzogin, morgen vor ihr zu erscheinen.« Er zuckte mit einem schwer zu beschreibenden Gemisch von verhaltenem Lachen, geschmeichelter Eitelkeit und boshaftem Spotte die Achseln. »Da gibt es kein Ausweichen mehr.«

»Ich weiß es,« erwiderte sie mit vollkommener Gelassenheit und zog ein Notizbuch aus der Tasche, um im langsamen Weitergehen die Befehle des Hofmarschalls flüchtig zu notieren.

»Schön – deine Gemütsruhe in allen Lagen und Verhältnissen ist wahrhaft bewunderungswürdig. Nur auf eins möchte ich dich ein wenig aufmerksam machen – du erlaubst es wohl, Juliane? Die Herzogin hat für allzu gesuchte Einfachheit in Toiletteangelegenheiten sehr leicht ein verwundendes Spottlächeln – deine Neigung –«

»Ich hoffe, du traust mir so viel Takt zu, daß ich zu unterscheiden weiß, wo ich meiner Neigung oder den Pflichten meiner Stellung zu folgen habe,« unterbrach sie ihn freundlich ernst und steckte den Bleistift in das Notizbuch.

Sie hatten mittlerweile die Korridorthür vor Mainaus Appartements erreicht. Dort standen ein paar neue Reisekoffer von Juchtenleder, die man während des Diners gebracht hatte. Mainaus Augen leuchteten auf bei ihrem Anblick, als sähe er sich schon über Berg und Thal, weit, weit weg von Schloß Schönwerth, in die Welt hineinfliegen. Er hob einen der Koffer empor und prüfte die Beschläge – währenddem stieg Liane in die Schloßküche hinab, um mit Frau Löhn und dem Koch zu verhandeln.

Der Hofmarschall hatte es stillschweigend acceptiert, daß sie die Oberaufsicht über das Hauswesen in die Hand genommen. Damit hatte sie sich freilich wie auf Brennesseln gebettet. Unausgesetzt mußte sie ringen mit dem schmutzigen Geiz des alten Herrn, der um jeden Pfennig feilschte. Sein grenzenloses Mißtrauen, die Furcht, bestohlen und betrogen zu werden, machten sich stündlich in fast ekelerregender Weise geltend. Dazu kam sein unverminderter Groll über die verhaßte zweite Heirat Mainaus – die junge Frau stand fortwährend in Waffen ihm gegenüber. Sie wußte, daß er jeden ihrer Schritte belauerte, soweit es ihm möglich, daß sogar die Briefe aus der Heimat durch seine Hände gingen, ehe sie zu ihr gelangten, Die Briefe der Geschwister mochten ihm unverfänglicher erscheinen – sie trugen selten die Spuren eines Attentates. Dagegen war vor einigen Tagen ein Schreiben ihrer Mutter eingelaufen – das erste seit Lianens Verheiratung. Sie konnte sich nicht verhehlen, daß das Siegel erbrochen gewesen war, und das empörte sie doppelt im Hinblick auf den Inhalt. Die Gräfin Trachenberg erging sich in Klagen über ihr Leben, das ihr die schrecklichsten Entbehrungen auferlege. Von ärztlicher Seite sei ihr eine Badereise dringend zur Pflicht gemacht worden; Ulrike hüte jedoch das Einkommen wie ein Drache und bewillige ihr keinen Groschen; sie wende sich daher an »die Lieblingstochter« und ersuche sie, ihr einen kleinen Teil ihres reichen Nadelgeldes zufließen zu lassen. Daß der Hofmarschall diesen Brief in der That gelesen hatte, bestätigte ihr der stechende, boshaft fixierende Blick, mit welchem sie an jenem Tage bei ihrem Erscheinen im Eßzimmer begrüßt wurde ... Diese fortgesetzten Kämpfe blieben Mainau verborgen. In seinem Beisein hütete der Hofmarschall Gesicht und Zunge mit der Meisterschaft des gewiegten Höflings, und ihn zu verklagen bei dem Manne, der um jeden Preis Frieden sehen wollte, fiel der jungen Frau nicht ein.

Es war in der dritten Nachmittagsstunde, als Liane in den Salon trat, dessen Glasthür auf die große Freitreppe mündete – von dieser Freitreppe aus wollte der Hofmarschall die Herzogin beim Vorfahren begrüßen. Er war bereits im Salon anwesend und sprach mit dem Hofprediger, der neben ihm saß.

Als die junge Frau hereintrat, war es, als fliege mit ihr ein verklärender Schein in das Zimmer. Sie trug eine mäßig lange Schleppe von seeblauem Seidenstoff, den Oberkörper dagegen umschloß Samt von einer tieferen Nüance. Das schimmernde, gesättigte Blau und der dunkle Goldglanz der Haarwellen über der Stirn dieser mädchenhaften Frau waren von wundervoller Wirkung. Weite, offene, mit Seide gefütterte Aermel fielen bis weit über die Hüften hinab und ließen die Arme völlig frei, die, wie die Büste im viereckigen Ausschnitt, von einem weißen Spitzenchemisette wie von einem Schleier leicht umrieselt erschienen. Selbst im silberstoffnen Brautkleide war die tadellose Gestalt der »Trachenbergerin«, die köstlich reine und klare Hautfarbe dieses »Rotkopfes« nicht so zur Geltung gekommen, wie heute.

»Noch viel zu früh, meine Gnädigste!« rief ihr der Hofmarschall entgegen. »Die Herzogin kommt nicht vor vier Uhr.« Er fixierte mit unverkennbarem Aerger das riesige Boukett, das die junge Frau in der Hand hielt. »Mein Gott, was für eine Blumenverschwendung! Sie müssen ja das ganze Warmhaus geplündert haben, meine Liebe! ... Raoul ist ein Narr mit seinen Gloxinien, Generiaceen und wie diese kostspieligen Südamerikanerinnen alle heißen mögen! ... Kosten Unsummen und dienen zu nichts, als in unberufenen Händen zu verwelken – von der Hausfrau verlangt man nicht, daß sie ballmäßig erscheint.«

Liane war stehen geblieben und hatte ihn auspoltern lassen. Sie hätte ihm entgegnen können, daß seine Tochter die köstlichsten Bouketts in Uebermut oder schlechter Laune oft in Atome zerpflückt und auf den Boden verstreut habe, um sie mit ihren kleinen Füßen zu zerstampfen – aber sie begnügte sich zu sagen: »Mainau hat gewünscht, daß ich der Herzogin diese Blumen bei der Begrüßung überreiche.«

»Ah so – dann bitte ich tausendmal um Verzeihung!« Er sah nach seiner Uhr. »Wir haben Zeit, und die will ich benutzen, um Ihnen etwas mitzuteilen, das mir höchst fatal und peinlich ist – ich kann aber leider das Geschehene nicht ändern ... Sie haben heute morgen ein Kistchen nach Rudisdorf an die Gräfin Ulrike abeschickt. Ich habe es gern, wenn alle Poststücke vor meinen Augen in den Blechkasten gelegt werden, der jeden Morgen nach der Stadt abgeht ... Ich weiß nicht, was für ungeschickte Hände es gewesen sind, denen man die kleine Kiste anvertraut hat – genug, sie wurde mir zerbrochen übergeben.« Er zog unter seinem Stuhle das Kistchen hervor, von welchem ein Stück Deckel lose herabhing.

Im ersten Augenblick schoß eine helle Glut über das Gesicht der jungen Frau, dann aber wurde sie auch ebenso schnell totenbleich, selbst die in fast harter Weise geschlossenen Lippen erschienen völlig farblos – man hätte meinen können, sie müsse an den jäh nach dem Inneren zurücktretenden Blutwellen ersticken ... Ihr Blick fiel unwillkürlich auf den Hofprediger, der eine Bewegung machte – seine beredten heißen Augen hingen an ihrem Gesicht mit einem seltsamen Gemisch von düsterer Glut und angstvoller Besorgnis. Dieser eine Blick gab ihr sofort die Haltung zurück. Sie legte das Boukett auf einen Tisch und trat näher.

»Ich muß etwas zur Sprache bringen, was mich tief verlegen macht,« fuhr der Hofmarschall affektiert zögernd fort – er räusperte sich und strich mit der Hand über die Oberlippe, als wolle er in seiner Verlegenheit einen Bart streichen, der nicht vorhanden war; dabei aber funkelten seine kleinen, geistvollen Augen die junge Frau fest und gleichsam behexend an wie die furchterweckenden Lichter des heimtückischen Katzengeschlechts. »Uebrigens sind wir ja ganz unter uns, meine beste kleine Frau, und es wird nie über diese Wände hinausdringen, daß Sie sich in einem kleinen Irrtume befunden haben – wie ich vermute.« Langsam griff er in die Brusttasche seines Fracks und nahm eine kleine Schmuckkapsel heraus. »Dieser Gegenstand fiel mir entgegen, als ich, ärgerlich über diese Ungeschicklichkeit unserer Leute, das Kistchen ein wenig zu hastig aufnahm.« Sein feiner Zeigefinger mit dem tief einwärts gekrümmten bleichen Nagel drückte auf die Mechanik und der atlasgefütterte Deckel sprang auf. Ein schöner Amethyst, von kleinen Brillanten umgeben, ließ sein rotblaues Feuer aufsprühen. Die Steine waren in Rosettenform gefaßt, um als Brosche oder auch am Halsbande getragen zu werden.

»Verzeihen Sie, wenn ich mich irre,« sagte er, ihr den Schmuck hinhaltend, fast sanft, »aber ich wollte drauf schwören, daß ich diese hübsche, kleine Rosette oft am Halse meiner Tochter gesehen habe – ist es nicht ein Stück aus Raouls Familienschmucke?« –

»Nein,« versetzte Liane vollkommen ruhig und nahm die Rosette von der dunklen Samtunterlage – sie schob die Goldplatte von der Rückseite weg. »Das Wappen des Fürsten von Thurgau kenne Sie jedenfalls, Herr Hofmarschall – haben Sie die Freundlichkeit, sich zu überzeugen, daß es hier im Innern der Rosette eingraviert ist. Ich habe es von meiner Großmama, väterlicherseits, geerbt – Sie werden sich dabei sagen müssen, daß dem Enkelkinde dieser Prinzessin von Thurgau ein derartiger Mißgriff, oder, wie Sie ›vermuteten‹, Irrtum, ganz unmöglich ist ...«

»Um Gott – liebe, kleine Frau,« rief er, jetzt mit einer wirklichen Verlegenheit ringend, »habe ich mich denn so ungeschickt ausgedrückt, daß Sie mich so total mißverstehen konnten? Unmöglich! Man kann doch nicht etwas aussprechen, woran die Seele nicht denkt. Uebrigens habe ich ja immerhin recht, wenn ich an einen Irrtum, das heißt an eine Verwechslung glaubte – in unserem Hause existiert in der That dasselbe Schmuckstück.«

»Ich weiß es – der Koffer mit Raouls Familienschmucke steht in meinem Ankleidezimmer; ich habe bald nach meiner Hierherkunft die einzelnen Stücke mit dem Verzeichnisse verglichen.«

»Das heißt, Sie haben sofort Besitz ergriffen, was ich Ihnen keinen Augenblick verdenke, meine Gnädigste. Angesichts dieses Reichtums haben Sie ferner vollkommen recht, wenn Sie die Brosamen einstiger Herrlichkeit an Ihr Haus, respektive an Ihre Schwester Ulrike zurückverschenken – Sie brauchen sie nicht mehr, und ihr werden sie willkommen sein.«

Eine grenzenlose Erbitterung lag in diesen Tönen, der abscheulichste Hohn in dem Lächeln, das die Lippen des alten Herrn häßlich verzog. Liane rang hart mit sich selbst, um keine Thräne im Auge aufkommen zu lassen – sah er diesen Zeugen einer inneren Niederlage, dann war sie verloren. Sie nahm das Kistchen vom Fußboden und stellte es auf den Rokokoschreibtisch »mit den Raritätenkästen«, neben welchem der alte Herr saß.

»Sie irren, Herr Hofmarschall,« erwiderte sie, ihm fest in das Gesicht blickend, »ich werde das Andenken Ihrer Frau Tochter ehren und die Juwelen, mit denen sie sich geschmückt hat, nie tragen. Ich habe sie nur revidiert, weil ich für ihre Vollständigkeit einstehen muß ... Sie irren ferner, wenn Sie meinen, ich schicke den Schmuck nach Rudisdorf, um mit ›diesen Brosamen einstiger Herrlichkeit‹ meine Schwester zu schmücken – meine Ulrike, wie würde sie lächeln bei diesem Gedanken!« – Sie stemmte ein auf der Tischplatte liegendes Papiermesser zwischen das Kistchen und den Deckelrest und hob den letzteren ab. Mit hastigen Händen nahm sie einen Stoß Fließpapier voll getrockneter Pflanzen heraus und legte ihn seitwärts, ebenso einen in Seidepapier gehüllten flachen Gegenstand, anscheinend ein Bild – dann drehte sie das leere Kistchen um und klopfte mit der Hand leicht auf den Boden desselben. »Außer dem Erbstücke von meiner Großmama enthält es nichts von klingendem Geldeswerte,« sagte sie herb, mit fliegendem Atem, und sah stolz auf den Mann mit der ordinären Denkweise nieder, dem jetzt doch ein leichtes Rot der Beschämung über die fahlen Wangen huschte – diese Züchtigung hatte er vollkommen verdient.

»Gott im Himmel, wozu diesen Beweis?« rief er. »Soll ich um Vergebung bitten, wo es mir nicht eingefallen ist, zu beleidigen? Wie konnte ich mir je anmaßen, Zweifel an Ihre Wahrhaftigkeit zu setzen! ... Ich glaube Ihnen stets aufs Wort, meine Gnädigste, glaube Ihnen alles, selbst wenn Sie mir in diesem Augenblicke versichern wollten, daß Sie das Schmuckstück lediglich in die Heimat zurücksenden, um es – dem Schoßhunde Ihrer Frau Mama um den Hals zu hängen.«

Seine Stimme klang impertinent – der grimmige Spott jagte der jungen Frau das siedende Blut nach den Schläfen. Sie war im Begriff, den Hofmarschall den Rücken zu kehren und das Zimmer zu verlassen – da sah sie, wie der Hofprediger, der sich bis dahin schweigend verhalten hatte, die verschränkten Arme mit einer heftigen Bewegung löste und dem alten Herrn einen Seitenblick zuwarf, als wolle er ihn mit seinen glühenden Augen erdolchen ... Wollte er ihr zu Hilfe komme, sie verteidigen? ... War das einer der »schlimmen Augenblicke«, wo er von ihr gerufen zu sein wünsche? Nie, nie reichte sie diesem Priester auch nur eine Fingerspitze zum gemeinsamen Vorgehen, der mit eherner Faust, mit aller ihm zu Gebote stehenden weltlichen Macht die Menschenseelen knebelte, die in sein Bereich gerieten.

»Zu solchen Absurditäten verirrt sich allerdings mein Gehirn nicht,« sagte sie sich rasch beherrschend, um jedem Laut von den Lippen des Geistlichen zuvorzukommen. »Ich bin eine Tochter der Trachenberger und die haben es stets mit dem Leben zu ernst genommen, um so kindisch frivol zu sein ... Wozu soll ich es verschweigen? Die ganze Welt weiß, daß wir verarmt sind – ich schicke die Rosette meiner Mutter, um ihr eine Badereise zu ermöglichen.«

»Ei, was wollen Sie mir da weismachen?« lachte der Hofmarschall auf. »Oder soll ich Sie der engherzigsten Knickerei beschuldigen? Sie beziehen Nadelgelder bis zu dreitausend Thalern –«

»Ich glaube, es ist einzig und allein meine Sache, wie ich über diese Gelder verfügen will,« unterbrach sie ihn mit ernster Abwehr.

»Sehr wohl – ich habe nicht das Recht zu fragen, ob Sie sie in Staatspapieren anlegen, oder Ihre Musselintoiletten davon bestreiten ... Uebrigens, was mögen Sie für Begriffe vom Wert der Schmucksteine haben!« Er stippte verächtlich mit dem Finger gegen das auf dem Tische liegende Etui. – »Das Ding ist keine achtzig Thaler wert ... Ihr Götter, achtzig Thaler für die Badereise der Gräfin Trachenberg!«

»Das Stück ist bereits einmal taxiert worden,« versetzte sie, ihre Fassung tapfer genug behauptend. »Ich weiß, daß der Erlös für den Zweck nicht ausreichen wird. Eben darum habe ich« – sie stockte plötzlich, während eine heiße Röte ihr zartes Gesicht überflog. Sie hatte sich hinreißen lassen, weiter zu gehen, als ihr die Klugheit gebot.

»Nun?« fragte der Hofmarschall – er bog sich vor und sah ihr mit boshaftem Lächeln unter das Gesicht.

»Ich habe einen Gegenstand beigefügt, den Ulrike nicht unter vierzig Thalern verkaufen wird,« sagte sie nach einem tiefen Atemholen mit leiserer, bei weitem nicht mehr so zuversichtlicher Stimme, als vorher.

»Ei, was für merkwürdige Hilfsquellen stehen Ihnen zur Verfügung, gnädige Frau? ... Ist es dieser Gegenstand?« – Er zeigte nach der Seidepapierumhüllung, auf die sie unwillkürlich die Hand gelegt hatte. »Es ist ein Bild, wie ich vermute –«

»Ja.«

»Eine Arbeit Ihrer eigenen Hände?«

»Ich habe es gemalt.« – Sie preßte die verschränkten Hände auf die Brust, als fehle ihr der Atem. Wie ein Blitz flog die Terrasse des Rudisdorfer Schlosses an ihrem geistigen Auge vorüber, und sie sah das von Mutterhand verächtlich hinausgeschleuderte Pflanzenbuch auf den Steinfliesen liegen.

»Und das Bild wollen Sie nun verkaufen?«

»Ich habe es vorhin schon gesagt.« – Sie sah nicht auf. Sie wußte, daß sie in ein funkelndes Auge voll grausamen Triumphes blicken würde, so langsam lauernd war die Frage gestellt worden – es war das empörende Spiel zwischen Katze und Maus.

»Sie haben bereits einen Liebhaber dazu, wie ich denke – irgend einen guten, reichen Freund und Mäcen, der in Rudisdorf verkehrt und pflichtschuldigst dergleichen – Kunstwerke bezahlt?« –

Jetzt war sie Herr ihrer furchtbaren inneren Aufregung geworden – die Ruhe, die ein rascher, fester Entschluß gibt, kam über sie. »Diese Art von Erwerb, die der Bettelei gleicht wie ein Ei dem anderen, habe ich selbstverständlich verschmäht und meine Arbeiten lieber an den Kunsthändler verkauft,« sagte sie vollkommen gelassen.

Der Hofmarschall fuhr empor, als sei er gestochen worden.

»Das heißt mit anderen Worten, Sie haben sich vor Ihrer Verheiratung das Brot durch Ihrer Hände Arbeit verdient?«

»Zum Teil, ja! ... Ich weiß, daß ich mich durch dieses Bekenntnis vollends in Ihre Hände gebe, weiß, daß ich mir die Stellung hier im Hause noch unerträglicher mache, aber ich will das weit lieber auf mich nehmen, als die Last der Verheimlichung, welche die Seele verdirbt. Ich will und darf hier nicht fortsetzen, was ich, um die Mama nicht aufzuregen, in Rudisdorf immer und immer wieder gethan habe.«

»Tausend noch einmal, da hat mir ja Raoul einen kostbaren Ersatz für mein stolzes, vornehmes Kind, meine Valerie, in das Haus gebracht!« rief der Hofmarschall bitter auflachend, während er sich in den Stuhl zurückwarf.

Der Hofprediger war aufgesprungen und griff nach der Hand der jungen Dame; aber sie wich mit abwehrend ausgestreckten Armen vor ihm in die Tiefe des Zimmer zurück.

»Sie wüten gegen sich selbst, gnädige Frau,« rief er fast demütig bittend. »Geben Sei zu, daß Sie jetzt in der höchsten Aufregung, in einer Art von Trotz Dinge aussagen, die, ruhig betrachtet, sich ganz anders verhalten!«

»Nein, Herr Hofprediger, das gebe ich nicht zu – es wäre gegen die Wahrheit. Ich wiederhole es ganz ausdrücklich: diese meine Hände haben bereits Geld verdient, haben um den Erwerb gearbeitet! ... In diesem Augenblicke, wo ich den Eindruck sehe, den mein Geständnis gemacht hat, atme ich auf.« – Ein bitteres Lächeln flog über ihr reizendes Gesicht. »Ich weiß, daß dem scharfen Blicke des Herrn Hofmarschalls nichts verborgen bleibt – er hätte früher oder später den wahren Sachverhalt doch erfahren; dann wäre mir lebenslänglich ein Vorwurf aus meinem Schweigen gemacht worden, und ich hätte mir den Anschein gegeben, als schäme ich mich meiner Vergangenheit – Gott soll mich behüten! ... Wäre es Ihnen in der That lieber, zu hören, daß ich vor meiner Verheiratung von Almosen gelebt hätte?« wandte sie sich an den Hofmarschall. »Sie verachten die adlige Hand, die arbeitet, weil ihr keine ererbten Revenüen zu Gebote stehen? Wie sollen dann die anderen Stände Respekt vor dem Geburtsadel haben, wenn er selbst meint, sein Wappen dürfe nur auf einem goldenen Hintergrunde liegen? Zertrümmert er mit diesem Tanz um das goldene Kalb nicht selbst die Idee, die ihn über die anderen Stände erhebt? ... Gott sei Dank, unser Jahrhundert zeigt uns Standesgenossen genug, die zu adlig denken, um sich der ausübenden Kunst zu schämen!«

»Kunst!« lachte der Hofmarschall abermals auf – »Kunst, die Kleckserei, die der Zeichenlehrer im Stift den hochgeborenen Fräuleins nach ein und derselben Schablone eintrichtert und« – er hatte dabei das Bild ergriffen und schlug das Seidenpapier zurück – das letzte Wort ging unter in einer Art von Zischlaut – war es Schrecken oder Beschämung, die dem Manne eine Flamme nach der andern über das fahle Gesicht jagte? Er lehnte wiederholt, als überkomme ihn eine Schwäche, den Kopf mit zugesunkenen Lidern an die Stuhllehne zurück, und als ihm der Hofprediger betroffen näher trat, da breitete er die Hand über das Bild, als wolle er ihm den Anblick vorenthalten.

Die junge Frau hatte den tiefen Eindruck, den sie im indischen Hause empfangen, auf dem Papier fixiert, allerdings in etwas idealisierter Weise. »Die Lotosblume« lag nicht auf dem Rohrbette, dem Marterroste, an den sie die Lähmung seit dreizehn Jahren schmiedete – in schwellendes, samtweiches Rasengrün schmiegte sich der zarte Frauenleib, dem der Stift die elastischen Formen der Jugend zurückgegeben hatte. Das war die Bajadere aus Benares, wie sie der deutsche Edelmann über das Meer gebracht hatte. Den Oberkörper halb aufgerichtet, stützte sie den Kopf in die Hand. Angereihte Goldmünzen lagen verstreut über Stirn und Scheitel und hingen neben den langen schwarzen Flechten auf den Busen nieder, auf das goldgesäumte purpurseidene Jäckchen, das nur die Schultern und einen kurzen Teil der Oberarme deckte; die gewaltigen zerfransten Blätter einer Musa warfen einen günstigen Halbschatten über die liegende Gestalt, während im fernen Hintergrunde das Sonnenlicht auf der Marmortreppe des Hindutempels in dem leichtbewegten Teichwasser glitzerte ... In Wasserfarben ausgeführt, war die Zeichnung, besonders in der Staffage, fast skizzenhaft hingeworfen – man sah, sie wurde aus der Hand gegeben, ohne ganz vollendet zu sein; aber in den Linien lag die geniale Sicherheit des Meisters. Der Kopf mit den schwermütig dämmernden Augen in dem dämonisch schönen, schmalen Gesichte, die Art und Weise, wie sich die nackten, an den Knöcheln goldberingten Füßchen in den Rasen drückten, so daß einzelne Halme darüber hinschwankten, die unnachahmlich graziöse Biegung der Taille und Hüften unter den weichen Falten des Bajaderenschleiers – das alles war sorgfältig, mit großer Freiheit und doch kräftig ausgeführt und machte das Bild in der That zu einem Kunstwerke, das der Hofmarschall eben noch so sehr angezweifelt hatte.

Er gewann übrigens ziemlich rasch seine Fassung wieder. »Ei, sie da – selbst diese junge Frau mit der passiven, kalten Außenseite hat ihre ganz beträchtliche Dosis weiblicher Neugier, die sie daheim in den Familienarchiven und hier im indischen Garten ›das Pikante‹ unseres Hauses aufstöbern läßt,« sagte er beißend. »Sie haben sich ja meisterhaft in die vergangenen Zeiten zu versetzen gewußt – das läßt auf peinlich sorgfältige Studien schließen. Aus eben diesem Grunde aber werden Sie auch begreifen, daß dieses Bild die Mauern von Schönwerth nie verlassen darf. Daß wir Narren wären und ein Stück Schande unseres Hauses – es sei leider gesagt – noch einmal an die große Glocke der Oeffentlichkeit schlagen ließen, und zwar durch eine Frau, die unter dem Vorwande töchterlicher Liebe und Aufopferung als Künstlerin in der Welt brillieren möchte! ... Meine Liebe, das Bild bleibt in meinen Händen – ich werde der Frau Gräfin Trachenberg so viel Geld zur Badereise schicken, wie sie wünscht.«

»Ich danke, Herr Hofmarschall – ich protestiere im Namen meiner Mutter,« rief Liane zum erstenmal mit leidenschaftlicher Heftigkeit. »Sie wird stolz genug sein, lieber zu Hause zu bleiben.«

Der Hofmarschall stieß ein schallendes Gelächter aus. Er erhob sich mühsam, schloß einen der Raritätenkästen auf und nahm ein kleines rosenfarbenes Billet heraus, das er entfaltete und ihr hinhielt. »Meine Gnädigste, lesen Sie diese Zeilen und überzeugen Sie sich, daß eine Frau, die einen ehemaligen Anbeter um viertausend Thaler Darlehen zur Tilgung heimlicher Spielschulden bittet, ganz sicher nicht so penibel ist, seine wohlmeinende Freundeshand mit der Unterstützung zu einer heißgewünschten Badereise zurückzuweisen ... Sie hat damals die Viertausend mit glühender Dankbarkeit entgegengenommen, deren Zurückgabe dann leider – der Konkurs verhindert hat.«

Automatenhaft, mit versagenden Blicken, ergriff die junge Frau das kompromittierende Papier und schwankte seitwärts nach dem Fenster. Sie konnte und wollte sie ja nicht lesen, die wohlbekannten unschönen Züge von mütterlicher Hand – schon die Aufschrift »mon cher ami« traf sie wie ein Messerstich – sie wollte nur für einen Moment den Augen der zwei Herren entrückt sein und trat in die Nische; aber erschrocken fuhr sie zurück. Der Fensterflügel war geöffnet, und da draußen auf der Freitreppe, mit dem Rücken nach dem Hause und die Hände auf das Steingeländer gestemmt, keine zwei Schritte von ihr entfernt, stand Mainau unbeweglich – von allem, was im Salon vorgefallen war, konnte ihm kein Wort, auch nicht die leiseste Silbe verloren gegangen sein. Hatte er wirklich den ganzen Wortwechsel mit angehört und sie mit ihrem heimtückischen Gegner allein ringen lassen, dann war er ein Elender. Sie war ja himmelweit entfernt, Liebe von ihm zu heischen, aber den ritterlichen Schutz durfte er ihr nicht versagen, den gewährte ja auch ein Bruder der Schwester.

»Eh – geben Sie mir das Papier zurück, kleine Frau!« rief der Hofmarschall herüber – er mochte fürchten, sie werde es in die Tasche stecken, weil sie unwillkürlich die Hand sinken ließ. »Für Sie, in Ihrer Oppositionslust, muß man einen Dämpfer in den Händen haben – Sie sind eine nicht zu unterschätzende Gegnerin – ich habe Sie heute kennen gelernt; es steckt Nerv und Rasse in Ihnen – Sie haben mehr Geist, als Sie zu verraten wünschen ... Bitte, bitte, geben Sie mir mein allerliebstes, kleines, rosenfarbenes Briefchen!«

Sie reichte ihm den Brief hin; er ergriff ihn hastig, um ihn wieder im Kasten zu verschließen.

In dem Augenblick trat Mainau auf die Schwelle der Glasthür; diesmal nicht mit jener eleganten Lässigkeit, jenem oft verletzenden Gemisch von Langeweile und pflichtschuldiger Höflichkeit, mit welchem er stets im Versammlungszimmer der Familie einzutreten pflegte – er sah stark erhitzt aus, als habe er eben einen anstrengenden Ritt zurückgelegt.

Der Hofmarschall fuhr zusammen und sank in den Stuhl zurück, als der hohe Mann so unerwartet erschien, und wie eine dräuende Wetterwolke einen dunklen Schatten in das Zimmer warf – man hatte kein Geräusch von Schritten auf den Steinstufen gehört. »Mein Gott, Raoul, wie hast du mich erschreckt!« stieß er heraus.

»Weshalb? Ist es etwas Absonderliches, wenn ich von drunten heraufkomme, um die Herzogin zu empfangen, wie du auch?« versetzte Mainau gleichgültig – er sah über den kranken Mann im Rollstuhl hinweg wie in atemloser Spannung nach der Stelle, wo seine junge Frau stand ... Sie hatte die Linke auf die Ecke des Schreibtisches gestützt; an den duftigen Kanten des Spitzenärmels sah man, daß diese Hand heftig bebte. Die boshafte Mitteilung des Hofmarschalls über ihre Mutter hatte sie zu tief getroffen, sie fühlte, daß diese Erschütterung lebenslang in ihr nachzittern werde – trotzdem erkämpfte sie sich eine aufrechte, ungebrochene äußere Haltung, und die grauen Augen unter den leicht zusammengezogenen Brauen begegneten dem Blick ihres Mannes fest und finster, sie machte sich auf neue Kämpfe gefaßt.

Vorläufig schritt er nach dem großen Tisch inmitten des Salons, nahm die dort stehende Karaffe und goß etwas Wasser in ein Glas. »Du siehst fieberhaft aus, Juliane – ich bitte dich, trinke!« sagte er, ihr das Glas hinreichend.

Sie wies es erstaunt, nicht ohne Entrüstung zurück – er bot ihr einen Schluck Wasser, um die Aufregung zu dämpfen, die er mit einigen strengen, energischen Worten, ihrem unversöhnlichen Feind gegenüber, hätte verhindern können.

»Lasse dich durch diese Fieberrosen nicht erschrecken, bester Raoul!« beruhigte der Hofmarschall, während Mainau das Glas wegstellte. »Es ist das Fieber der Debütantin, das heißt der Debütantin in Schloß Schönwerth – draußen in der Kunstwelt, respektive im Laden der Kunsthändler, ist die schöne Frau als Gräfin Trachenberg längst mit Glück aufgetreten – was sagst du dazu, du geschworener Feind aller weiblichen Raphaele, Blaustrümpfe und dergleichen? Da sieh 'mal her, was für ein Talent sich heimlicherweise, um den Ehekontrakt herum, in Schönwerth eingeschmuggelt hat! Nur schade, daß die Verhältnisse mich zwingen, dieses Blatt zu konfiszieren.«

Mainau hatte das Bild schon ergriffen und betrachtete es. Liane sah mit Herzklopfen, wie ihm das Blut in die gebräunten Schläfen stieg. Sie erwartete jeden Augenblick einen gegen »die Stümperei« gerichteten Spottpfeil hinnehmen zu müssen; aber ohne den Blick von dem Blatt in seiner Hand wegzuwenden, sagte er nur in kaltem Ton über die Schulter zu dem alten Herrn: »Du wirst nicht vergessen, daß das Recht zu konfiszieren oder zu erlauben in diesem Fall einzig mir zusteht ... Wie kommt das Bild hierher?«

»Ja, wie kommt es hierher?« wiederholte achselzuckend und sichtlich verlegen der Hofmarschall. »Durch die Ungeschicklichkeit unserer Leute, Raoul – das Kistchen, in welchem es verschickt werden sollte, wurde mir zerbrochen übergeben.«

»Ei, das werde ich streng untersuchen. Solche grob ungeschickte Hände dürfen nicht straflos ausgehen,« sagte Mainau. Er legte das Bild ohne ein Wort des Beifalles, oder auch nur des Tadels wieder hin. »Und was ist das?« fragte er und nahm das Fließpapier mit den getrockneten Pflanzen in die Hand; obenauf lag ein dünnes, beschriebenes Heftchen. »Lag das auch in dem verunglückten Kistchen?«

»Ja,« sagte Liane an Stelle des Hofmarschalls, fest, fast rauh, wie im Trotze der Verzweiflung. »Es sind getrocknete, wildwachsende Pflanzen, wie du siehst – einige Gattungen aus dem Orchideengeschlecht, die man in der Umgebung von Rudisdorf nur äußerst selten findet ... Magnus verkauft Herbarien nach Rußland, und ich habe bei der Zusammenstellung ihm stets geholfen ... Habe ich auch mit dieser harmlosen Beschäftigung gegen die Etikette, die Ansichten im Hause Mainau verstoßen, so bedaure ich den abermaligen Mißgriff.« – Sie streckte Mainau, der das Heftchen mit den Augen überflog, bitterlächelnd ihre edelschönen Hände hin. – »Du wirst mir bezeugen müssen, daß keine Tintenflecken an den Fingern sind, und daß ich niemals die Sünde begangen habe, dich auch nur mit einem Wort über dieses bißchen lückenhafte botanische Wissen zu langweilen ... Dank der Ungeschicktheit deiner Leute stehe ich vor deinen Augen wie entlarvt, und muß still halten.« – Mit einer lieblichen sanften Gebärde legte sie die schlanken, biegsamen Hände an die Schläfen, als wolle sie die klopfenden Pulse beschwichtigen. »Es thut mir leid, daß ich wider Willen diese Szene veranlaßt und gegen dein mir aufgestelltes Programm, dieses – lasse es mich nur einmal, nur dieses einzige Mal aussprechen! – dieses grausam ausgeklügelte Programm geistiger Tötung – verstoßen habe. Meine Schuld war es nicht – es geschieht auch nicht wieder ... Nur eines habe ich noch zu sagen, ich muß die Beschuldigung des Herrn Hofmarschalls, daß ich in der Kunstwelt mit meinen kleinen Leistungen aufgetreten sei, um zu brillieren, entschieden zurückweisen ... Als ich mein erstes Bild den Blicken der Oeffentlichkeit ausgesetzt wußte, da hat mich wochenlang das Fieber geschüttelt – nicht aus Angst um den Erfolg, nein, vor Beschämung über mein Wagnis; das Geld aber, das man dafür in meine Hand legte, hat mir bittere Thränen erpreßt, weil ich einen Teil meiner Seele, meines Empfindens verkauft hatte – und doch mußte es immer wieder geschehen.«

Der Hofprediger war während dieser peinlichen Szene, die fast den Charakter einer Inquisitionssitzung trug, im Hintergrund des Salons auf und ab gegangen. Seine Hände lagen ruhig gefaltet auf dem Rücken, aber die breite Brust wogte und hob sich schweratmend, als ringe er mit einem Erstickungsanfall; ein einziger Blick hätte die beiden Herren überzeugen müssen, daß der Mann im langen schwarzen Rock, mit dem elfenbeinbleichen Fleck der Tonsur auf dem Haupte, heftig mit sich kämpfte, um nicht wie ein gereizter Tiger auf sie loszustürzen ... Bei den letzten Worten der jungen Frau trat er in die Glasthür und sah angestrengt, die Hand über die Augen haltend, seitwärts über den Park hinweg, wo die Linie der Chaussee, schmal und blendend, für eine kurze Strecke bloßgelegt erschien. »Ich habe recht gehört,« rief er tief aufatmend in das Zimmer zurück, »die Herzogin wird gleich hier sein.«

»Ah, sehr gut, wir waren auf dem besten Wege, sentimental zu werden!« sagte der Hofmarschall. »Vorwärts denn!« Er erhob sich; seine schmale lange Gestalt mit nicht zu unterdrückendem Aechzen hoch aufreckend, trat er vor den Spiegel, zupfte an der weißen Halsbind, goß eine Odeurflut über das Taschentuch und besprengte Frack und Weste mit den köstlich duftenden Tropfen; dann nahm er den Hut in die Hand und ging halb steifbeinig, halb zusammenknickend hinaus. Die junge Frau aber legte ruhig die Papiere in das Kistchen und versuchte den Deckel daraufzudrücken.

»Nun, Hochwürden,« sagte Mainau zu dem Geistlichen, der wie ein Fels an der Thür verharrte – er wartete offenbar darauf, daß Mainau vor ihm den Salon verlasse. »Vergessen Sie, daß die Frau Herzogin es Ihnen sehr übel vermerken wird, wenn der übliche Weihespruch aus Ihrem Munde sie beim Aussteigen nicht begrüßt?«

Beider Blicke begegneten sich – spöttisches Befremden in Mainaus Augen und glühender, unverhohlener Ingrimm in denen des Geistlichen trafen aufeinander – es sprühten Funken.

»Bitte, bitte, nach Ihnen, Herr Hofprediger!« protestierte Mainau mit der Hand hinauswinkend, aber keineswegs in ritterlich achtungsvollem Zurücktreten vor der geistlichen Würde – sondern als höflich gebietender Schloßherr, wobei er ein sarkastisches Lächeln nicht zu unterdrücken vermochte. »Sorgen Sie sich nicht um mich – ich werde im rechten Moment unten stehen,« versicherte er.

Der Hofprediger ging mit einer leichten Kopfneigung hinaus. Mainau verfolgte den Zipfel des schwarzen Rockes, wie er langsam zögernd von Stufe zu Stufe glitt – dann wandte er sich plötzlich um, und mit einem feurigen Aufblicke seiner dämonischen Augen trat er rasch auf die junge Frau zu und streckte ihr beide Hände entgegen.

»Wozu das?« fragte sie, unbeweglich wie eine Statue auf ihrem Platze verharrend. »Soll das ein Akt großmütiger Verzeihung sein? Ich appelliere nicht an sie, denn ich habe nichts verbrochen. Ich bin mir bewußt, weder meine Pflichten als Leos Mutter, noch die der Hausfrau und dame d'honneur in irgendeiner Weise durch meine kleinen Studien beeinträchtigt zu haben. Die Pflanzen habe ich auf meinen Spaziergängen mit Leo gesammelt und bereits das ABC der Botanik für ihn daran geknüpft. Gemalt und geschrieben aber habe ich nur in den frühesten Morgenstunden, wo niemand meiner bedurfte ... Ist es dein Wunsch und Wille, daß ich auch diesen erholenden Beschäftigungen entsage, dann soll und muß es geschehen. Aber ich gebe dir zu bedenken, daß, wenn der Mann das Recht für sich beansprucht, allen Unannehmlichkeiten, aller Langeweile des Familienhauses ohne weiteres den Rücken zu kehren und jahrelang in der Fremde umherzuschweifen, der Frau wenigstens einige Erholungsstunden nicht versagt werden dürfen, in denen sie sich über die stündlichen Plackereien und Anfechtungen während seiner Abwesenheit erheben kann ... Wie bereits versichert, unterwerfe ich mich auch in diesem Punkte, jedoch nicht als deine blind und gehorsam nachgebende Frau, sondern als Leos Mutter. Ich habe die mütterlichen Pflichten übernommen und werde meine Aufgabe durchführen – wäre das nicht, dann ginge ich jetzt nicht der Herzogin entgegen, sondern, wie es der eben stattgefunden Auftritt und meine Sehnsucht fordern – in die Heimat zurück ...«

Sie nahm ihre Schleppe auf, ergriff das Boukett und wollte mit vornehm ruhiger Haltung an ihm vorüberschreiten; aber er vertrat ihr den Weg. Fast überkam es sie wie Furcht und Angst, als sie so nahe vor ihm stand – ein blühend kräftiges, von einem ungestümen Geist beseeltes Männerantlitz tief erbleichen zu sehen, hat stets etwas Erschreckendes für die Frauenseele.

»Noch einen Augenblick!« sagte er, die Hand aufhebend, beherrscht, aber mit tiefer Bitterkeit. »Du irrst, wenn du meinst, ich habe dich mit meiner Verzeihung behelligen wollen – in der Weise kann ich mich dir vorhin unmöglich genähert haben. Ich bin nicht so verstandesüberlegen wie du, um genau das zu analysieren und zu kontrollieren, was in meinem Innern vorgeht – ich lasse mich hinreißen, es unbedenklich auszusprechen, wie es emporquillt, und so mag es vorhin weit eher das Verlangen gewesen sein, dich um Verzeihung zu bitten, als der Wunsch, dich zu demütigen. Entweder du hast kein Verständnis für den Gesichtsausdruck anderer – was ich bei deiner außerordentlichen künstlerischen Begabung nicht annehmen kann – oder die stolze, tief verletzte Gräfin Trachenberg hat nicht verstehen wollen. Ich glaube das letztere und respektiere deinen Wunsch und Willen, der eine innere Ausgleichung zurückweist ... Trotz alledem müssen wir und doch der Welt als friedliches Ehepaar präsentieren,« fuhr er, wieder in seine leicht frivole Ausdrucksweise verfallend, fort, »und darum habe die Güte, deine Fingerspitzen auf meinen Arm zu legen, wenn wir die Treppen hinabsteigen.«

12.

Zwei Equipagen waren drunten vorgefahren; in der ersten, die am Fuß der Freitreppe hielt, saßen die allerhöchsten Herrschaften; die zweite, in ehrerbietiger Entfernung haltende hatte den Prinzenerzieher und die Hofdame gebracht. Noch hatte sich die Herzogin nicht erhoben, um auszusteigen; sie streckte huldvoll und herzlich dem Hofmarschall die Hand entgegen und war mitten in einem Redesatze, der ihre Freude über sein Wiedererstandensein von dem bösen Gichtanfall aussprach, als Mainau mit seiner jungen Frau droben auf der Treppe erschien. Ein Feuerblick aus den schwarzen Augen flog hinauf – einen Moment stockten die Worte auf den Lippen der fürstlichen Frau; sie wandte hastig, wie überrascht und fragend den Kopf nach der Hofdame, die bereits ausgestiegen und an den Wagenschlag der herzoglichen Equipage getreten war und nun auch tiefbetroffen die näher kommende junge Dame fixierte – dann aber wurde der unterbrochene Satz rasch mit einer graziösen Handbewegung zu Ende gesprochen, und die Herzogin verließ, vom Hofprediger unterstützt, den Wagen.

Ja freilich, wer hätte auch denken können, daß die graue, ängstlich in die Wagenecke gedrückte »Nonne« in so majestätischer Weise die Herrin von Schönwerth repräsentieren werde, wie sie jetzt mit rauschender Schleppe, die Hand auf den Arm ihres Mannes gelegt, herniederstieg? Wer hätte gedacht, daß diese Frau den Fluch der verpönten Haarfarbe so unbefangen trage, um das flimmernde Rot in seiner ganzen Flechtenwucht über den Rücken hinabfallen zu lassen, und daß das Sonnenlicht in Schönwerth so schmeichlerisch und lügenhaft diese wogenden, rotlockigen Massen zu einem wie aus Goldspitzen gewobenen Glorienschein über der Stirn wandeln werde?

Die zwei Frauen standen sich gegenüber. Man sagte der Herzogin nach, sie bemühe sich, nach Ablegen der Trauer, in außerordentlich frischen und hellen Toiletten noch einmal die Mädchenjugend heraufzubeschwören, und das bestätigte sich heute in auffallender Weise. Sie war in rosenfarbene Seide gehüllt, die ein weißer, kleiner Spitzenfichu bedeckte – auf dem runden Brüsseler Strohhütchen steckte ein Strauß von Apfelblüten.

Einen Augenblick senkte es sich wie ein Schatten über die Züge der fürstlichen Frau – die klugen, stahlfarbenen Augen begegneten den ihren in so stolzer Unbefangenheit, und die Taufrische dieses jungen Gesichts ließ sich auch in allernächster Nähe absolut nicht wegleugnen – aber ein Seitenblick auf Baron Mainau machte sofort das sonnige Lächeln um ihre Lippen wieder aufstrahlen. Die Leute hatten recht, wenn sie behaupteten, er habe ohne jegliche Spur von Neigung gewählt. Er stand kalt, wie eine Marmorstatue neben seiner jungen Frau, die sich bei seinen sie kurz und frostig vorstellenden Worten ehrerbietig, jedoch nicht allzu tief, verneigte und der Herzogin das Boukett übergab.

Es wurde sehr huldvoll entgegengenommen, und die Herzogin hätte sich vielleicht noch mehr in jenen liebenswürdigen Phrasen erschöpft, welche die meisten als Reliquien eines solchen Vorstellungsmomentes zeitlebens im innersten Herzensschrein aufbewahren, wäre nicht ihr Blick auf den Hofmarschall gefallen – er stand hilflos zusammenknickend, mit fest aufeinandergebissenen Zähnen da, fahl wie ein Gespenst. »Ich habe meine Kräfte überschätzt,« stammelte er, »und bin untröstlich, um die Gnade bitten zu müssen, daß ich mich eines Fahrstuhles bedienen darf.«

Auf einen Wink der Herzogin wurde das Möbel gebracht, und der Kranke sank hinein – ein bitterer Augenblick für den Mann, der einst vielbegehrt und gefeiert auf leichten Höflingssohlen die Gestirne des Hofes umschwebt hatte. Kreischend rollte der schwere Stuhl über den Kies nach dem Park, dem ja heute der Besuch der fürstlichen Gäste galt ... Die schöne, rosenfarben-strahlende Herzogin rauschte plaudernd an Mainaus Arm vorüber – noch nie hatte sie sich so zwanglos heiter und angeregt gezeigt, und doch saß der Mann, der einst gemeint, einzig durch seine glänzende Unterhaltungsgabe diesen stolzen, zurückhaltenden Frauengeist Funken zu entlocken, schweigend in seinem Stuhl – er war vergessen. Die Prinzen stürmten mit Leo jubelnd vorbei – sonst hatten sie sich an die Frackschöße des Hofmarschalls gehangen, ohne ihn war kein Spiel zustandegekommen – jetzt war es so selbstverständlich, daß er alt und siech dahinrollte und plötzlich zum Statisten wurde auf seinem eigenen Grund und Boden – eine niederschmetternde Erfahrung für ein gefeiertes Höflingstalent, noch lebend zu den Toten geworfen zu werden! ... Und zu alledem schritt auch noch der »Rotkopf« dort so anmaßend und selbstbewußt als Herrin von Schönwerth dahin, ja, der alte Höfling sagte sich erbittert, daß sich diese Gräfin von Habenichts wahrhaftig vermesse, größer, edler und vornehmer in der Haltung zu sein, als die Frau Herzogin selbst – er hätte ersticken mögen vor Aerger und Ingrimm!

»Mit Verlaub, meine Gnädigste!« rief er in schneidenden Tönen der jungen Frau zu, als sie sich im Vorübergehen bückte, um eine kleine, in den Samtrasen verirrte Kartäusernelke zu pflücken. »Heute werden keine Orchideen oder sonstiges Unkraut für Rußland gesammelt!«

Mainau fuhr mit dunkelrotem Gesicht herum – er hatte vielleicht eine scharfe Replik für den Hofmarschall auf den Lippen; aber nach einem Blick auf die junge Frau, die so »hochmütig schweigend« und gelassen die kleine, rote Blume in den Gürtel steckte, zuckte er wie in grollender Ungeduld die Achseln und nahm, rasch weitergehend, das unterbrochene Gespräch mit der Herzogin wieder auf.

Der Parkteil, in welchem das köstliche Schönwerther Obst gezogen wurde, lag neben dem indischen Garten, im Schutze der Berge, deren glückliche Gruppierung es möglich machte, in kühler, spröder Zone ein Stück indischer Wunderwelt am Leben zu erhalten. Die konzentrierten Sonnenstrahlen, die hier, unbehelligt von Nord- und Weststürmen, den Schaft der Bananen hoch in die Lüfte trieben, reiften auch Prachtexemplare von Pfirsichen, die empfindlichsten Trauben- und Obstsorten an Spalieren und Kordons und auf den Pyramidenstämmchen, die gruppenweise in weiten Rasenflächen standen. Diese Anlagen, die allerdings mehr den Gaumen als das Auge reizten, liefen schließlich in den Wald aus – selbstverständlich nicht sofort in die uralte, prächtige Wildnis, wie sie tiefer hinein und höher hinauf mit ihrem wirren Gestrüppe und Unterholz einer Fahrstraße widerwillig Raum gab – eine bedeutende Strecke noch schlängelten sich die hellen saubergehaltenen Linien der Fußwege um die Stämme, und unter der ersten Ahorngruppe breitete sich eine weiße, kühlbeschattete Kiesfläche hin.

Auf dieses Kiesrund sah auch die Giebelseite des sogenannten Jägerhäuschens. Es war ein hübscher, kleiner Bau aus Ziegelsteinen mit blanken Fenstern und den obligaten Hirschgeweihen auf dem Dache und konnte gewissermaßen als eine Station zwischen dem Schlosse und dem eigentlichen, zur Schönwerther Herrschaft gehörigen Forsthause gelten, das, über eine halbe Wegstunde entfernt, tief und einsam im Walde lag. In diesem Häuschen war ein Jägerbursche mit den Jagdhunden einquartiert; Mainaus reicher Gewehrschrank stand unter seiner Kontrolle, und bei Festivitäten figurierte er in Galauniform als Jäger des Herrn Barons.

Sollte ein wenig Idylle gespielt werden, dann verlegte man sie unter die Ahorngruppe vor dem Jägerhause – es war einer der lieblichsten Punkte von Schönwerth; man atmete unverfälschte Waldluft und sah doch den farbensprühenden Hindutempel inmitten einer fremdartigen Vegetation herüberschimmern, während sich fern die Zinnen und Mosaikdächer des Schlosses in mittelalterlicher Romantik über den köstlichen Baumschlag der vorderen Parkpartien malerisch erhob.

Bei solchen Festen mit ländlichem Anstriche funktionierte auch niemals der Schloßkoch in Person – da stand Frau Löhn am schneeweißen Kachelherde des Jägerhäuschens und kochte Kaffee. Das war seit Jahren hergebracht, und die breitschultrige Gestalt im unsterblichen schwarzseidenen Staatskleide durfte unter der Thür des Hauses so wenig fehlen, wie die kläffenden oder faul in den Sand hingestreckten prächtigen Rüden ... Das ernsthafte Gesicht unter der Haube mit den stereotypen schottischen Bändern lachte zwar niemals, und der »Hofknix« fiel stets zum Erbarmen aus; aber der Kaffee war delikat und alles, was aus den Händen der Frau kam, so sauber und appetitlich auf köstlichem Weißzeuge geordnet, daß man ihr herbes, mürrisch trockenes Wesen stillschweigend mit in Kauf nahm.

War es heute schwüler als sonst in der kleinen Küche, oder hatte ihr das Arrangement viel zu schaffen gemacht – die Frau sah echauffiert aus, und wäre es bei diesem ausgesprochen harten Charakter nicht fast undenkbar gewesen, man hätte meinen können, sie habe geweint, so fieberhaft glimmend lagen die Augen unter der stark gewölbten Stirn.

»Sind Sie krank, liebe Löhn?« fragte die Herzogin leutselig.

»Ei, beileibe nicht, Hoheit! Danke unterthänigst für gnädige Nachfrage – frisch und gesund wie ein Fisch im Wasser!« versetzte sie fast erschrocken mit einem raschen Seitenblicke nach dem Hofmarschall ... Sie brachte eine Anzahl weißer, feingeflochtener Weidenkörbchen, die von den kleinen Prinzen sofort mit Beschlag belegt wurden. Der Kaffeetisch blieb für den ersten Moment verödet; die Kinder stürmten in die Obstplantage, und in ehrerbietiger Entfernung stand der Schloßgärtner und sah in stiller Verzweiflung zu, wie die kleinen Vandalen ohne Auswahl und Schonung die aufopfernd gepflegten Spaliere plünderten und das feine Obst polternd in die Körbe warfen.

Der Hofmarschall hatte sich auch hinüberrollen lassen – es mußte gehen, der klägliche Eindruck seiner Hilflosigkeit mußte verwischt werden, und sollte es unter tausend Martern geschehen. Er erhob sich und stelzte ein großes, üppig belaubtes Weinspalier entlang, das bis an das Drahtgitter des indischen Gartens lief. Wirklich glückte es ihm, zu Fuße und in ziemlich strammer Haltung den Kaffeetisch wieder zu erreichen, an welchem sich die Herzogin eben niedergelassen hatte. Mit eitlem Lächeln überreichte er ihr in einem Körbchen mehrere von ihm selbst abgeschnittene Frühtrauben – aber das Lächeln erlosch plötzlich; er wurde rot vor Schrecken.

»Mein Ring!« rief er aufgeregt; er warf hastig das Körbchen auf den Tisch und besah den dünnen Zeigefinger seiner Rechten, an welchem vor wenigen Minuten noch ein kostbarer Smaragd gefunkelt hatte.

Alle, mit Ausnahme der Herzogin, sprangen auf und suchten. Der Ring, »der immer so fest gesessen hatte«, wie der Hofmarschall klagend versicherte, war von dem mager gewordenen Finger jedenfalls beim Traubenpflücken niedergeglitten und zwischen dem Weinlaube versunken – aber wie aufmerksam man auch suchte, er fand sich nicht.

»Das Schloßgesinde wird später unter meiner speziellen Aufsicht das Suchen fortsetzen,« sagte Mainau, an den Tisch zurückkehrend – aus Etiketterücksichten mußte dieses fatale Intermezzo abgekürzt werden.

»Ja später – wenn er in irgend einer Rocktasche rettungslos versunken sein wird,« erwiderte der Hofmarschall mit einem finsteren Lächeln. »Traue einer den Domestiken! Sie verkehren hauptsächlich an diesem Weinspalier – der Hauptweg läuft ja vorüber ... Hoheit mögen verzeihen, wenn mich die Sache ein wenig alteriert!« wandte er sich bittend an die Herzogin. »Aber der Ring ist mir sehr wertvoll als ein seltsames Vermächtnis Gisberts. Wenige Tage vor seinem Tode übergab er mir denselben in Gegenwart von Zeugen, wobei er die Worte niederschrieb: ›Vergiß nie, daß du den Siegelring am 10. September erhalten hast!‹ – Er hat ihn mir speziell vererben wollen, und das rührt mich bis auf den heutigen Tag ... Hoheit wissen, daß ich mit diesem Bruder nicht harmoniert, daß ich im Gegenteil seinen stürmischen, gegen die Moral verstoßenden Lebensgang stets entschieden verurteilt habe – aber mein Gott, das Herz behauptet doch seine Rechte. Ich habe ihn trotz alledem lieb gehabt, und deshalb würde mich der Verlust tief schmerzen –«

»Abgesehen von dem wirklich fabelhaft hohen Werte des Steines selbst,« warf Mainau trocken hin. Er saß bereits wieder neben der Herzogin, während die anderen eben zurückkamen.

»Nun ja doch, in zweiter Linie allerdings – wer wollte das leugnen?« sagte der Hofmarschall mit affektiertem Gleichmut – fast zugleich aber schob er mit einem Rucke – die Bewegung sah ziemlich desperat aus – seinen Stuhl mehr seitwärts; von da aus konnte er die ganze Wegstrecke an dem verhängnisvollen Spalier überwachen. – »Der Smaragd ist kostbar und die Gravierung eine selten Arbeit, eine Art Wunder ... Es ist auch ein kleines Geheimnis dabei. In der Nähe des Wappens macht sich ein kleiner Punkt bemerklich – man meint, ein winziger Splitter sei von dem Steine abgesprungen; unter der Lupe aber tritt einem scharf ausgeprägt ein schöner Männerkopf entgegen. Tief in Wachs oder feinen Lack eingedrückt, gilt dieses Siegel in meinen Augen mehr als eine Namensunterschrift.«

»Wir werden jetzt Kaffee trinken und dann gehe ich auch mit suchen,« sagte die Herzogin liebenswürdig. »Der interessante Ring muß sich wiederfinden.«

Frau Löhn ging inzwischen mit dem großen silbernen Kaffeebrette herum. Sie verzog eine Miene; in die eingetretene sekundenlange Stille hinein knisterte ihr Seidenkleid und der Sand unter ihren kräftig ausschreitenden Füßen. Plötzlich klirrte aber auch das Geschirr auf der Platte aneinander, als mache in Zusammenschrecken die Hände der Frau unsicher. Der Hofmarschall, dem sie in diesem Augenblick präsentierte, sah überrascht empor und folgte der Richtung ihres Blickes – Gabriel kam den Weingang herauf.

»Was will der Bursche?« fragte er sie scharf fixierend.

»Hab' keine Ahnung, gnädiger Herr,« versicherte sie bereits wieder sehr ruhig.

Gabriel schritt direkt auf den Hofmarschall zu und überreichte ihm mit tiefgesenkten Lidern den verlorenen Ring. – Es waren schön gebogene, schlanke Finger, die das Kleinod zierlich gefaßt hielten – eine fleckenlos saubere Kinderhand, zaghaft und scheu dargeboten – und doch stieß sie der Hofmarschall mit sichtlichem Widerwillen zurück, als sie die seinige leicht berührte.

»Stehen da nicht Teller genug?« schalt er, auf den Tisch zeigend. »Und hast du dir bei deinem Verkehr im Schlosse so wenig Manier angeeignet, daß du nicht einmal weißt, wie man anständigerweise einen Gegenstand überreicht? ... Wo hast du den Ring gefunden?«

»Er lag am Drahtgitter – ich erkannte ihn gleich – ich habe ihn immer so gern an Ihrer Hand gesehen,« sagte der Knabe schüchtern und gleichsam um Vergebung bittend, daß er den Ring sofort an die rechte Adresse zurückgegeben.

»So – in der That? Sehr schmeichelhaft!« – Der Hofmarschall wiegte spöttisch den Kopf und steckte den Smaragd an den Finger. »Löhn, geben Sie ihm ein Stück Kuchen und fragen Sie, was er will!«

Die Beschließerin griff in die Tasche und brachte einen Schlüssel zum Vorschein. »Den hast du holen wollen – gelt?« sagte sie zu Gabriel – er bejahte. »Die Frau will trinken, und ich habe den Himbeersaft eingeschlossen –«

»Larifari – es läuft genug Dienerschaft herum. Er konnte herüberschicken; aber der Mosje ist verwöhnt und meint, er müsse schlechterdings bei allem sein, was im Schlosse vorgeht – und das heute, wo ihm der Herr Hofprediger in Ihrem Beisein die Beteiligung an jedem Vergnügen streng untersagt hat! Haben Sie das vergessen, Löhn? ... Er soll sich vorbereiten,« wandte er sich an die Herzogin, »wir haben heute morgen festgestellt, daß er in drei Wochen endlich nach dem Seminar abgeht – es ist die höchste Zeit.«

Liane sah überrascht zu der Beschließerin auf. Also darum hatte diese Frau heute morgen vor ihren Augen so eigentümlich zweck- und ziellos in der Wäschekammer hantiert und den feinsten Damast vom groben Gespinst nicht zu unterscheiden gewußt, sie, diese Autorität in Leinenangelegenheiten! Darum hatte sie den Schlüsselbund verlegt, ein unerhörtes Begebnis! ... So steinern und stumpf auch diese Frau erschien, so rauh und gefühllos sie auch im Beisein anderer dem Knaben begegnete – Liane hatte längst im stillen vermutet, daß sie ihn abgöttisch liebe ... Jetzt stand sie da, wortlos und dunkelrot im Gesicht – für alle anderen eine geärgerte Frau, die ein unverdienter Vorwurf tief erbittert, in Lianes Augen aber ein angstvolles Mutterherz, das schon die Erwähnung einer gefürchteten Thatsache heftiger schlagen macht.

Die Herzogin fixierte den Knaben durch die Lorgnette. »Sie haben den Beruf des Missionars für ihn im Auge?« fragte sie kopfschüttelnd den Hofprediger. »Meines Erachtens paßt er ganz und gar nicht für den Knaben.«

Dieser Ausspruch wirkte wie elektrisierend auf Liane; zum erstenmal hörte sie eine auflehnende Ansicht gegen den Machtspruch des Geistlichen und des Hofmarschalls ausprechen, noch dazu von Lippen, die mit einigen beschützenden Worten das Geschick eines Menschen sofort in andere Bahnen lenken konnten ... Dort saß freilich der alte Herr, gespannt aufhorchend – ein Nervenschauer überlief sie bei dem Gedanken, ihn geflissentlich gegen sich aufzureizen; alle, die sich hier um den Tisch reihten, waren mehr oder minder dem Knaben ungünstig gesinnt oder gleichgültig gegen sein Geschick – wie kalt musterte Mainau eben »den feinen Jungen«, der wie ein Angeklagter sich nicht von der Stelle traute, die ihm doch unter den Füßen brennen mußte! – Die junge Frau nahm ihren Mut zusammen – war es denn nicht ein Frauenherz, an das sie appellierte?

»Gabriel trägt bereits eine Mission in sich, Hoheit – es ist die des Künstlers,« sagte sie, die schöne Fürstin nicht ohne Befangenheit, aber doch beharrlich ansehend. Aller Augen richteten sich erstaunt auf die Lippen, die bis dahin noch nicht gesprochen hatten. – »Ohne alle und jede Anleitung hat er den Stift bereits mit einer Sicherheit führen gelernt, die mich in Erstaunen setzt. Ich habe auf Leos Spieltisch Zeichnungen von ihm gefunden, mit denen er jede akademische Prüfung so bestehen kann, daß er unentgeltlich aufgenommen wird ... In dem Knabenkopf steckt ein seltsames Kompositionstalent, eine glühende Hingabe an die Kunst, die sich durchringt und durchkämpft, wie es eben nur der Genius vermag ... Hoheit haben recht, er paßt nicht zum Missionar – dazu gehört der innere Trieb, die Konzentration aller Geisteskräfte auf diesen einen Punkt, die ganze Energie der Seele, in der kein anderes Ideal leben darf – es wäre grausam gegen den Knaben selbst und ein Unrecht gegenüber der Kunst, wollte man ihn zwingen.«

Die Herzogin sah sie groß, mit unverhülltem Befremden an. »Sie haben mich total mißverstanden, Frau von Mainau,« sagte sie sehr gemessen. »Meine Bemerkung galt der schlaffen Körperhaltung, der sichtlich kränklichen Konstitution des Knaben, nicht aber seiner geistigen Befähigung, oder gar seiner Lust und Liebe zur Sache – da sage ich ganz entschieden: ›Er muß passen!‹ ... Es thut mir wahrlich leid, daß es Frauenseelen gibt, die nicht der Ansicht sind, daß vor diesem heiligsten Lebenszweck jeder andere verschwinden muß ... Mögen aufrührerische Männerköpfe ihr bißchen Wissen, das sich doch zumeist auf falsche Schlüsse stützt, an die Stelle des Heiligsten setzen – es ist traurig genug, daß es geschehen darf – wir Frauen aber sollen deshalb doppelt beflissen sein, in Phalanx gegen dieses Vorstürmen zu stehen, indem wir festhalten am einzigen Heil, indem wir glauben und abermals glauben, und uns niemals verführen lassen, zu grübeln.«

»Hoheit, das heißt aber der Frauenwelt ihre Aufgabe allzu leicht machen; das heißt auch zugleich dem Aberglauben, dem Glauben an eine spukhafte Geisterwelt, an die Gewalt des Satans – wozu leider der Frauenkopf so leicht geneigt ist – Thür und Thor zu öffnen.«

Ein Geräusch von Stuhlrücken und verlegenem Räuspern wurde plötzlich laut, während die junge Frau, die eben gesprochen, sich ruhig und unbeweglich verhielt. Ihr gegenüber saß ihr Mann – seine Hand lag auf dem Tische und wiegte einen Kaffeelöffel auf dem Finger. Er hielt den Kopf vorgeneigt, wobei sein Blick unter den tief gesenkten Brauen hervor nicht einen Moment von dem zarterröteten Gesicht wich, das sich ausschließlich der Herzogin zuwendete. Jetzt beim letzten Wort sah sie wie zufällig seitwärts – ihr Blick traf ihn so tödlich kalt, als kenne sie ihn nicht. Eine jähe Glut schoß über seine Wangen – er warf klirrend den Löffel hin, worüber die Herzogin lächelte.

»Nun, Baron Mainau, das regt Sie auf? ... Wie denken Sie darüber?« fragte sie mit schmeichelnd verlockender Stimme.

Seine Lippen verzogen sich in bitterem Spott. »Hoheit wissen sehr gut, daß die Frauen, die an Hexen und Gespenster glauben, etwas Verführerisches für uns haben,« versetzte er in seinem frivolsten Ton. »Die Frau ist reizend in ihrer Hilflosigkeit und Furcht; wir ziehen sie, wie ein Kind, beschwichtigend in unsere Arme, und damit kommt – die Liebe.« – Seine Augen verfinsterten sich und streiften durchbohrend seine Frau. – »Eine Pallas Athene dagegen haucht uns eisig an, wie die Gletscherjungfrau – wir wenden ihr den Rücken.«

War das dieselbe Frau, die am Hochzeitstage bleich und gespensterhaft wie der Todesengel an der einziehenden Braut vorübergebraust war? ... Strahlender Triumph verklärte das schöne Gesicht und machte es wahrhaft hinreißend in seinem Ausdruck.

»Und Sie?« neigte sie sich zu dem Hofprediger, der mit übereinandergeschlagenen Armen ihr gegenüber saß; er fuhr wie aus tiefem Nachsinne empor – die Frau Herzogin berief alle ihre Heerscharen, wie es schien, gegen diese junge Frau, die sich unterfing, selbständig zu denken. »Haben Sie keine Waffen gegen den Antichrist in sanfter, weiblicher Gestalt?« fragte sie fast scherzhaft.

»Hoheit werden die Gnade haben, sich zu erinnern, daß ich dergleichen Erörterungen am Kaffeetische nicht billige,« versetzte der Hofprediger streng und hart – er war plötzlich der allmächtige Beichtvater, der diese hochgeborene Seele unter der Faust hielt. – »Lassen wir das alles einstweilen dahingestellt sein und begnügen wir uns mit der Ueberzeugung, daß Frau von Mainau mit ihrem Ausspruch das Hereinragen einer übersinnlichen Welt in die Wirklichkeit sicher nicht leugnen will.«

Er wollte ihr abermals zu Hilfe kommen – sie brauchte einfach billigend das Haupt zu neigen, und der Kampf war beendet; aber damit mußte sie lügen und reichte dem Priester in der That die Fingerspitzen – zum zweitenmal wies sie heute seine rettende Hand zurück.

»Dieses Hereinragen einer übersinnlichen Welt in die Wirklichkeit leugne ich allerdings,« sagte sie mit etwas bebender Stimme – die neben ihr sitzende Hofdame rückte geräuschvoll von ihr weg. »Ich glaube nicht an die Wunder und himmlischen Visionen, wie sie die Kirche lehrt. Wollte der Allmächtige uns Boten aus dieser übersinnlichen Welt schicken, dann müßten sie auch ihre Spuren tragen – so aber haben die guten Engel ein schönes und das böse Prinzip ein verzerrtes, abstoßendes, aber immer menschliches Antlitz – die Flügel, die den Seraph herabtragen, und das häßliche Kennzeichen ›des Bösen‹ sind der Tierwelt entlehnt, Himmel und Hölle erscheinen ausgeschmückt mit den Elementen, die unseren Erdball beleben und halten – wir können eben mit unseren Vorstellungen nicht über ihn hinaus, und nur in der originellen Auffassung alles dessen, was uns umgibt, sei es in Tönen, Bildern oder Worten, waltet unsere Phantasie.«

Ein sekundenlanges tiefes, unheimliches Schweigen folgte auf die letzten Worte – die schöne Herzogin saß wie versteinert da, nur ihre Augen glitten in verzehrender Unruhe, fast angstvoll, zwischen Mainau und seiner jungen Frau hin und her. Er hatte vorhin klar genug ausgesprochen, daß ihn solch ein selbständiges, mit kaltem Verstand forschendes weibliches Wesen anwidere – aber das dort war ja keine geharnischte Pallas Athene, sondern die lieblichste Mädchenerscheinung, die mit Herzklopfen und unter abwechselndem Erröten und Blaßwerden der Macht der Ueberzeugung nachgab und sie in melodisch sanften Tönen aussprach. Seinen Gesichtsausdruck konnte die Fürstin nicht sehen; er hatte sich halb abgewendet – seine Haltung zeigte aber so vollständig die geringschätzige Ruhe und Blasiertheit, in die er sich meist hüllte, daß man hätte meinen mögen, er werde unter gleichgültigem Achselzucken auf jede Anrede spöttisch sagen: »Lasset sie doch reden – was geht's mich an?«

»Sie stehen dem Standpunkte des strenggläubigen Christen so fern, gnädige Frau, daß ich auf eine Polemik hier an Ort und Stelle nicht eingehe, so gewiß ich auch des siegreichen Ausgangs auf meiner Seite bin,« unterbrach der Hofprediger mit seiner tiefen, schönen, etwas verschleierten Stimme die momentane Stille – er mußte ihr antworten, sie hatte ihn dazu gezwungen. »Ich will Ihnen aber gewissermaßen Konzessionen machen, indem ich den biblischen Standpunkt verlasse und Sie an einen der größten Dichter erinnere, der seinen grübelnden Helden sagen läßt: ›Es gibt mehr Dinge zwischen Erd' und Himmel, als eure Schulweisheit sich träumen läßt‹.«

»Wohl war – doch ich verstehe darunter das geheimnisvolle Walten der Naturkräfte. Die meisten unserer Mitlebenden betrachten noch immer die Natur als etwas Selbstverständliches, über das sie nicht nachzudenken brauchen, weil sie es ja sehen, hören und begreifen können – daß aber eben dieses Sehen, Hören und Begreifen das Wunder ist, fällt ihnen nicht ein. Und nun dichtet man dem weisen Schöpfer willkürliche Eingriffe in seine ewigen Gesetze an, oft nur um winziger menschlicher Interessen willen, ja, die Kirche geht noch weiter – sie läßt untergeordnete Geister dieses vollendete Gewebe zerstörend durchbrechen, lediglich, um irgendein Hirtenmädchen oder sonst eine einsame Seele von Gottes Dasein zu überzeugen, und nennt das ›Wunder‹. Wie kläglich und theatralisch aufgeputzt erscheinen sie neben Gottes wirklichem Schaffen und Walten – ein ganzer Wolkenhimmel voll Engelsköpfen versinkt neben der treibenden Wunderkraft, die einen kleinen, bunten Blumenkelch aus der Erde steigen läßt ... Es ist wohl wahr, ›Gott läßt sich nicht spotten‹ – er läßt sich nicht spotten in dem, was eins ist mit ihm, in der Natur, und wie streng er unser Festhalten an ihr fordert, beweist er, indem er sie als Selbsträcherin auftreten läßt, wenn wir uns an ihr versündigen.«

Der Hofprediger sah ihr mit demselben Ausdrucke in das Gesicht, mit welchem er heute schon einmal angstvoll und flehend ihr zugerufen hatte: »Sie wüten gegen sich selbst, gnädige Frau!«

»Und vergessen Sie ganz den Begründer Ihrer Kirche – Luther, der dem bösen, Gott gegenüber wirkenden Prinzipe selbst einen Thron, eine Macht auf Erden eingeräumt hat, wie es zuvor nie besessen?« fragte er wie beschwörend.

»Er würde in unserem Jahrhunderte nicht allein das Tintenfaß, sondern auch seine gewaltige Feder gegen diese Ausgeburt der menschlichen Phantasie richten –«

»Genug, genug!« rief der Hofmarschall empört und streckte der jungen Frau Schweigen gebietend die Hand entgegen. »Hoheit, verzeihen Sie, daß Sie an meinem Tische dergleichen irreligiöse Auslassungen ertragen mußten,« wandte er sich mit unheimlicher Ruhe zu der Herzogin. »Frau von Mainau hat die verlassene Stille im Rudisdorfer Schlosse ausgenutzt und Studien gemacht, die durch ihre Nüchternheit auf ihren Ursprung zurückführen – Studien bei Wasser und Brot.«

Die Herzogin erhob sich rasch – sie mußte; als Fürstin und Frau durfte sie nicht gestatten, daß es in ihrer Gegenwart zu einem ausgesprochenen Familienzerwürfnisse komme. »Gehen wir nun hinüber, Obst zu pflücken!« sagte sie mit so heiterer Liebenswürdigkeit, als sei nichts vorgefallen. Sie setzte ihr Hütchen vorsichtig auf die Locken und ergriff ihren Sonnenschirm. »Wo mögen die Prinzen stecken? Ich höre und sehe nichts von ihnen, Herr Werther,« sagte sie zu dem Prinzenerzieher, der sofort davonstob ... Den Hofprediger an ihre linke Seite winkend, legte sie ihre Hand auf den dargebotenen Arm Mainaus – er führte sie, ohne noch einen Blick auf seine Frau zu werfen, nach den Plantagen – die Hofdame folgte schleunigst, und so stand Liane plötzlich, wie eine Geächtete, allein unter den Ahornbäumen.

»Fühlen Sie nichts, meine Gnädigste? – Sie haben heute das Genick gebrochen,« sagte der Hofmarschall malitiös, während er langsam an ihr vorbeigefahren wurde.


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