E. Marlitt
Die zweite Frau
E. Marlitt

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24.

Auf dem weiten Parterre vor dem Schönwerther Schlosse hielt die Equipage mit den Apfelschimmeln, und dicht am Portale stand der Glaswagen des Hofmarschalls. Dem wohlgenährten, gesetzten Kutscher auf dem Bocke machte sein Gespann keine Mühe. Es waren schöne, sanftmütige Pferde; sie standen wie die Lämmer, während die Apfelschimmel drüben wild schnaubend Funkenregen aus dem Kies stampften.

»Die Bestien!« knurrte der Hofmarschall, der sich im Rollstuhle die Treppe hinabtragen ließ. Er hätte gehen können; allein im Hinblick auf so manche anhaltende Stehmarter in Gegenwart der allerhöchsten Herrschaften mußte er mit seinen Kräften haushalten.

Drunten im Vestibül ging Mainau wartend auf und ab, und in dem Augenblicke, wo die Lakaien den Rollstuhl auf den Mosaikboden niedersetzten, kam auch ein Mann aus einem Seitenkorridor. Als er den alten Herrn erblickte, verdoppelte er seine Schritte und verließ das Schloß durch die große Glasthür.

Der Hofmarschall reckte sich in seinem Stuhle empor, als traue er seinen Augen nicht. »Wie, war denn das nicht der Lump, der Dammer, der Knall und Fall fortgejagt werden mußte?« rief er Mainau zu.

»Ja, Onkel.«

»Nun, in des Kuckucks Namen – wie kommt denn der Mensch dazu, so sans façon hier durch zugehen?« wandte er sich scheltend an die Lakaien.

»Gnädiger Herr, er hat in der Domestikenstube sein Abendbrot gegessen,« antwortete einer derselben zögernd.

Der Hofmarschall schnellte empor; er stand kerzengerade auf seinen kranken Beinen. »In meiner Domestikenstube? An meinem Gesindetische?«

»Lieber Onkel, über diese Domestikenstube und diesen Eßtisch habe ich doch vielleicht auch ein klein wenig zu verfügen – wie?« sagte Mainau gelassen. »Dammer hat mir Nachrichten aus Wolkershausen gebracht; er kann erst morgen zurückreiten; soll er inzwischen hier in Schönwerth hungern? ... Es war eine Taktlosigkeit von ihm, daß er deinen Weg gekreuzt hat; im übrigen war er mit meiner Erlaubnis da.«

»Ach so, ich verstehe! Du bist ja Philanthrop und hast jedenfalls aus Wolkershausen eine Besserungsanstalt, eine Art Verbrecherkolonie gemacht – sehr gut!« Der Hofmarschall ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen.

»Dammer hat den Respekt dir gegenüber aus den Augen gesetzt. Es war selbstverständlich, daß er aus Schönwerth entfernt wurde.« Mainau sprach mit unerschütterlicher Ruhe. »Aber man hatte ihn auch zu verschiedenen Malen furchtbar gereizt. Wir dürfen nicht vergessen, daß wir es mit einem Menschen, nicht aber mit einem Hunde zu thun haben, den wir für eine natürliche und gerechte Opposition peitschen.« Die hohe Röte, die bei diesen letzten Worten seine Wangen bedeckte, bewies, daß er sich recht gut des Moments erinnere, wo er sich durch seinen Jähzorn hatte hinreißen lassen, die Hand so unwürdig gegen einen Menschen zu erheben. »Zudem litt ein anderer, Unschuldiger, sein alter Vater, unter der allzu harten Strafe der sofortigen Entlassung. Er hat einen strengen Verweis erhalten und ist nach Wolkershausen versetzt worden. Damit war wohl die Sache ausgeglichen?«

»So? meinst du? Ein famoser Ausgleich zwischen dem Hofmarschall von Mainau und einem Halunken! Gut, gut – es rollt sich eben alles ab, wie es muß, und der längste Faden hat ein Ende ... Willst du die Güte haben, diesmal den Vortritt zu nehmen? Ich möchte deine wilden Bestien nicht im Rücken haben.«

»Ich warte auf meine Frau, Onkel.« Fast zugleich mit diesen Worten erscholl das Rieseln einer seidenen Schleppe vom Säulengange her, und Liane trat in das Vestibül. Mainau hatte ihr gesagt, daß die Damen in großer Toilette befohlen seien; deshalb erschien sie im silberstoffnen Brautkleide. Die einzelnen großen Smaragden ihres Brauthalsbandes funkelten als Nadeln im Haare und hielten da und dort einen kleinen Schneeglöckchenstrauß in den zurückgeschlagenen rotblonden Wellen fest.

»Ah, welche Ueberraschung für unsern Hof!« stieß der Hofmarschall heraus; er war wütend. Der Gedanke, daß sie mitkommen werde, hatte ihm augenscheinlich vollkommen fern gelegen. »Allez toujour, Madame!« sagte er, nach dem Ausgange winkend und seinen Stuhl mittels eines Ruckes selbst zurückschnellend, als sie zögerte, an ihm vorüberzugehen.

Mainau reichte ihr den Arm und führte sie hinaus. »Meine Braut ist lieblich wie Schneewittchen, aber über ihrem holden Gesicht liegt ein Trauerflor,« flüsterte er ihr zärtlich zu.

»Ich habe dir viel Ernstes mitzuteilen; mir ist, als schritte ich über glühende Kohlen,« sagte sie hastig und angstvoll. »Wären wir nur wieder daheim!«

»Geduld! Ich werde meine Mission am Hofe möglichst rasch durchführen und dann, dann fliege ich, Feinsliebchen im Arm, in die weite, weite Welt hinein.«

Er hob sie in den Wagen. Die Apfelschimmel brausten davon, und in gemächlichem Trabe folgten die Braunen des Hofmarschalls.

In der Residenz hatte man sich daran gewöhnt, die zweite Heirat des Barons Mainau – trotz der hohen Abkunft der jungen Frau – als eine Art Mesalliance anzusehen. Man erzählte sich, sie sei eigentlich nur die Beschließerin und Gouvernante; die schwarzseidene Schürze vorgebunden, den Schlüsselkorb am Arme, wandere sie durch Küche, Keller und Waschhaus; das sei ihr Element – abscheulich! Eine Baronin Mainau, die Gemahlin des reichsten Herren im Lande! ... Gott, welche reizende Naivität und Unwissenheit in solchen Dingen hatte doch das ganze Wesen der ersten Frau so anziehend, so unbeschreiblich distinguiert gemacht! Sie war nicht die Frau, sondern die Fee des Hauses, die echt aristokratische »Lilie des Feldes« gewesen. Sie war nur auf Erden gewandelt, damit man kostbare Spitzenhüllen für sie klöppele, der feinste Champagner für ihre kleine Kehle perle, und zahllosen Händen und Füßen das Glück werden sollte, ihr zartes, flaches Körperchen zu tragen, zu pflegen und zu schmücken. Hätte sie jemand gefragt, wo die Küche in Schönwerth sei, sie würde dem Unverschämten im allerliebsten Zorn mit der Reitpeitsche eins hinter das Ohr versetzt haben; dagegen war sie in den Pferdeställen zu Hause gewesen, wie in ihrem Boudoir, und der berühmte Jasminduft hatte oft das Stallparfüm in ihren Kleidern nicht zu decken vermocht; aber das war ja eben so undefinierbar aristokratisch, so köstlich originell gewesen. Die zweite Frau hatte von allen diesen guten Leuten noch keiner gesehen; man wußte aber, daß sie groß und rothaarig sei und fügte nun diesen zwei Eigenschaften als notwendige Folge robuste Schulterbreite, derbe Füße, rote Hände und die intensivsten Sommersprossen hinzu ... Weiter war man gewöhnt, den Baron Mainau als Garçon in der Residenz, am Hofe erscheinen zu sehen, und bei der letzten großen Soiree hatte er auf die boshafte Frage, wie es seiner jungen Frau gehe, achselzuckend geantwortet: »Ich vermute, gut – seit drei Tagen bin ich nicht in Schönwerth gewesen,« ... Es war ferner unumstößlich festgestellt, daß seine Abreise das Signal zur Scheidung sein werde und nun, nun trat er auf einmal in den Konzertsaal des herzoglichen Schlosses, und an seinem Arme hing ein junges Wesen, schneeig weiß von der Stirn bis auf die feine atlasbedeckte Fußspitze, von so bleicher, ernster, aber auch kalter Schönheit, als habe er sich die schneeüberrieselte Eiskönigin von den Gletscherbergen herabgeholt.

Die Frau Herzogin hatte einen ganz besonderen Glanz zu entfalten gewünscht; es war das erste Hofkonzert seit dem Tode des Herzogs und, wie man sich freudig zuraunte, auch der erste, kleine, scheinbar improvisierte Ball, mit welchem sie die hoffähige Jugend zu überraschen gedachte. Der Konzertsaal mit der anstoßenden Reihe von kleineren Sälen schwamm in weißem Tageslicht. Es troff von den mächtigen Glaskronen am Plafond, den Kandelabern in den Ecken, und im fernen Wintergarten, der die Zimmerreihe beschloß, schossen Lichtfontänen aus riesigen Lilienstengeln, aus Maiblumenglocken von weißem Glas, die sich gleichsam aus der fremdländischen Pflanzenwucht der Boscage emporranken. Was die hoffähigen Damen an Juwelen aufzubringen vermochten, es lag hingestreut auf Locken, Busen, auf schwer niedersinkendem Atlas und in hochgepuffter Gaze. Und die Seidenpracht rauschte, die flimmernden Fächer schwirrten, und alte wie junge, schöne wie häßliche Lippen flüsterten und kicherten in den Tönen der Medisance, der Schmeichelei, der heimlichen Liebe und des versteckten Neides. Dieses verworrene Geräusch verstummte einen Augenblick vollständig beim Eintritt »der Schönwerther« ... So sah sie aus, die fast mythenhaft gewordene zweite Frau? So eigenartig stolz und gelassen? So wenig berührt und eingeschüchtert durch die versammelte glänzende Hofgesellschaft? Und was war das nun wieder für eine neue Marotte des Sonderlings, des Phantasten, der sie führte! Er hatte diese Gräfin Trachenberg durch die Scheinehe in ein abscheulich schiefes Licht gebracht; er hatte sie, als schäme er sich ihrer, bisher scheu versteckt; sie war der Gegenstand mitleidiger Spöttereien gerade bei Hofe gewesen, und weil dadurch das Verhältnis nachgerade ein unhaltbares geworden, so befand sich die Bitte um Lösung desselben bereits auf dem Wege nach Rom. Da gab es keinen Zweifel mehr, und gerade da führte er sie bei Hofe auf, mit einer Ostentation, als wollte er sagen: »Seht, so schlecht ist mein Geschmack doch nicht gewesen! Selbst zum Zweck meiner Komödie habe ich es nicht über mich vermocht, meinen Schönheitssinn ganz zu verleugnen. Seht sie euch noch einmal an, die Vielbespöttelte, ehe ich sie – heimschicke!« Und die Herren meinten, er sei geradezu toll geworden vor Uebermut und Eitelkeit; etwas Harmonischeres als diese zwei hohen Gestalten nebeneinander lasse sich nicht denken. Die erste Frau sei stets wie ein Schmetterling vor ihm hergegaukelt, und wenn sie je einmal um der Etikette willen ihre Fingerspitzen auf seinen Arm gelegt und ihr schmales Figürchen an ihm in die Höhe gereckt habe, so sei das fast lächerlich gezwungener Anblick gewesen. Ehe die zweite Frau noch ihren Weg durch den ungeheuren Saal vollendet, war es bereits festgestellt, daß sie eine Loreleierscheinung und er – ein blinder Narr sei.

Man sah freilich nicht, wie er plötzlich den schönen, weißen Arm fester an sich drückte, als überkomme ihn die Reue, sein junges Weib diesen sie gierig anstarrenden Augen ausgesetzt zu haben; man hörte nicht, daß es zärtliche Worte, Worte einer jäh erwachenden heftigen Eifersucht waren, die er ihr zuflüsterte; man verstand ihn nicht, als er sie so feierlich betonend mehreren alten Damen als seine Frau vorstellte – es war eine Farce, eine neue Kaprice, in der er sich gefiel und bei welcher das arme Opfer an seiner Seite und der ganze Hof wohl oder übel mitwirken mußten – wie immer.

Die einzelnen Töne aus dem Orchester herüber schwiegen plötzlich; die Anwesenden standen wie die Statuen, und sämtliche Augen richteten sich auf die Seitenthür, durch welche die Herzogin kommen mußte. Die Flügel wurden feierlich zurückgeschlagen, und Serenissima, gefolgt von den beiden kleinen Prinzen und mehreren Damen und Herren, trat in den Saal.

In diesem Augenblicke suchte Liane unwillkürlich Mainaus Gesicht. Eine dunkle Flamme lief ihm bis über die Schläfen, und ein böses Lächeln flog um seinen Mund.

»Ah, in gelber Seide, und Granatblüten in den Locken!« sagte er leise, ohne den Blick der jungen Frau zu erwidern. »Liane, sieh dir diese schöne Fürstin genau an! So sah sie aus an jenem Ballabende, an welchem sie mir versprach, mein zu werden. Himmlische Reminiscenzen, die sie, wie es scheint, gerade heute aufzufrischen wünscht!«

Die Herzogin sah in der That überraschend schön aus. Das feurige, glänzende Gelb, das um die tief entblößten Schultern wogte, die glutvollen, ungezwungen aus den schwarzen Locken auf die Stirn fallenden Blumenkelche hoben das blutlose, wachsartige Weiß ihrer Haut in fast dämonischer Wirkung; dazu die geschmeidigen, schlangenhaft weichen Bewegungen, der seltsame, luftatmende Zug um die blaßroten Lippen, um die leicht bebenden Nasenflügel, das Flammen der großen Augen – Liane mußte unwillkürlich an die Willis denken, die den Gegenstand ihrer Leidenschaft zu Tode tanzen ... Wenn er diesem Zauber abermals verfiel? ... Die junge Frau bebte in sich hinein; sie legte ihre schönen, schlanken Finger enger um seinen Arm und schmiegte sich so fest an ihn, daß er den unruhigen Schlag ihres Herzens fühlen konnte.

»Raoul!« flüsterte sie zu ihm hinauf, ihn erinnernd, daß sie da sei. Er fuhr überrascht herum; dieser zärtlich weiche Herzenston von ihren Lippen traf zum erstenmal sein Ohr; zum erstenmal lag ihre ganze Seele unverschleiert in den großen stahlfarbigen Augen, welche die seinigen suchten – angesichts der eintretenden Herzogin, des ganzen Hofes verriet ihm ein einziger angstzitternder Laut, daß seine Liebe erwidert werde.

Die fürstliche Frau hemmte sekundenlang ihre Schritte; sah es doch aus, als falle aus den Lüften ein schwarzer Schleier verdüsternd über die strahlende Erscheinung; die schöngebogenen Brauen zogen sich finster zusammen. Dort die milchweiße, silberbestreute Robe, die wie ein Mondstrahl unter all den bunten Toiletten flimmerte, schien sie sehr zu befremden; die Frau Herzogin teilte offenbar die allgemeine Verwunderung über das Erscheinen der jungen Frau am heutigen Abende, aber sie schritt sofort weiter, winkte huldvoll grüßend nach allen Seiten, bevorzugte den so lange ferngebliebenen Hofmarschall, indem sie ihm die Hand zum Kusse reichte und ihn in gnädiger und schmeichelhafter Weise aufs neue willkommen hieß, und machte es mit glänzender Gewandtheit möglich, im langsamen Vorüberschreiten eine lange Reihe der Eingeladenen mit einigen passenden Worten zu beglücken. Der edelsteinbesetzte Fächer in ihrer Hand sprühte einen bunten Funkenregen, und die gelben Gazewogen schwebten über der nachrieselnden Atlasschleppe wie ein leicht aufsteigendes Dunstgewölk, das die Sonne vergoldet. So stand sie plötzlich vor Liane.

»Ei, sieh da! Wir haben gemeint, die gelehrte Einsiedlerin von Schönwerth sei den geselligen Freuden so abhold, daß eine direkte Einladung zu unserem harmlosen musikalischen Abende gar nicht gewagt worden ist,« sagte sie kaltblütig und gleichsam entschuldigend, daß die junge Frau eigentlich nicht eingeladen sei.

Liane wurde dunkelrot und sah erschrocken zu ihm auf, der sie hierhergebracht hatte; aber es schien, als bemerke er den Verdruß nicht, der die fürstliche Dame so unfein werden ließ.

»Hoheit, man läßt Ausnahmen gelten, wenn große Wandlungen an uns herantreten,« sagte er in seinem gefürchteten, in Spottlust förmlich getränkten Tone; »aus dem Grunde habe ich die Baronin veranlaßt, mich heute zu begleiten – wir reisen in den nächsten Tagen ab.«

»Wirklich, Baron Mainau?« rief die Herzogin freudig überrascht. »Diese Orientreise kreist in Ihrem Blute wie ein Fieber. Ich glaube, Sie würden Sie antreten, und wenn die Welt in Flammen stünde ... Gut denn! Sie werden endlich reisemüde und dann vielleicht auch ein wenig – umgänglicher zu uns zurückkehren.« Ihr Gesicht hatte sich aufgehellt; aber gerade, weil sie eben die Bestätigung erhalten, daß die glühend ersehnte Katastrophe in den nächsten Tagen unwiderruflich eintreten werde, empörte sie doppelt die stolze Ruhe und Zuversicht, mit welcher diese junge Frau neben Mainau verharrte. Stand sie nicht mit einem Fuße bereits auf dem Heimwege, der sie nie wieder nach Schönwerth zurückbringen sollte, die Geschiedene? Und doch fiel es ihr nicht ein, die Hand zurückzuziehen, die so fest, »so auf ihr gutes Recht pochend« auf Mainaus Arm lag.

»Sie werden sich freuen, Ihr stilles Rudisdorf wiederzusehen?« fragte sie mit einem feindseligen Seitenblicke nach den verhaßten feinen Fingerspitzen.

»Ich habe die Reise nach Rudisdorf aufgegeben, Hoheit,« versetzte Liane beklommen und verlegen; es war ihr peinlich, das auszusprechen, aber der direkten Frage gegenüber gab es kein Ausweichen.

Die Herzogin wich unwillkürlich zurück; die graziös gehobene Hand mit dem Fächer glitt schlaff an der knisternden Atlasrobe nieder. »Wie? Sie bleiben?« – Ein spöttisches Lächeln zuckte um die entfärbten Lippen. »Ah, ich verstehe! Sie sind großmütig und wollen unsern guten Hofmarschall nicht verlassen,« setzte sie rasch hinzu, wobei sie huldvoll das Haupt gegen den alten Herrn neigte, der allmählich näher gekommen war. Er hatte, trotz des stark summenden Geräusches im Saale, mit gespanntem Ohre doch jedes Wort erfangen. Jetzt fuhr er in zürnendem Schrecken empor.

»Hoheit, ich muß unterthänigst bitten – Ihr alter getreuer Hofmarschall hat mit diesen Entschließungen durchaus nichts zu schaffen,« erklärte er, im feierlichen Proteste die Hand auf das Herz legend.

»Das ist wahr; der Onkel hat dabei gar keine Stimme gehabt,« bestätigte Mainau vollkommen ruhig und ziemlich laut. Fast schien es, als spräche er zu den Umstehenden und nicht zu der Herzogin. »So sehr ich auch stets wünschen muß, ihn in treuen, fürsorgenden Händen zurückzulassen, in dem Falle stehe ich mir doch selbst am nächsten. Ich konnte mich nicht zur Trennung entschließen; deshalb hat meine Frau in ihrer selbstlosen Güte eingewilligt, mit mir zu gehen.«

Das klang so selbstverständlich, so ernst und würdevoll, als habe sich dieser Mund nie in verletzendem, frivolen Spotte verzogen, als habe es nie eine Zeit gegeben, wo er die schlanke, schweigende Frau an seiner Seite mitleidslos den bösen Zungen, der gehässigsten Beurteilung überlassen, ja, sie in dieselbe hineingedrängt.

Die Herzogin setzte plötzlich ihren hastig und rauschend entfalteten Fächer in Bewegung, als sei es erstickend schwül im weiten Saale geworden. »Also eine neue Kaprice, Baron Mainau?« sagte sie, vergeblich bemüht, ihrer Stimme einen spöttisch heiteren Klang zu geben. »Bisher haben Sie eifersüchtig alles von sich gewiesen, was den Nimbus des interessanten Reisenden irgendwie schmälern konnte – Sie wollten allein Märchenprinz sein ... Und nun auf einmal dieses Erscheinen an der Seite einer modernen Lady Stanhope – nicht übel! Das muß verblüffen, ganz besonderes Aufsehen erregen.«

»Sicher nicht lange, Hoheit,« sagte Mainau ruhig lächelnd, »da ich mit meiner ›Lady Stanhope‹ nicht im Oriente reisen, sondern auf meinem einsam gelegenen Gute Blankenau in Franken leben werde.«

Serenissima wandte sich ab und gab mit einer sichern Bewegung das Zeichen zum Beginne des Konzerts. Wer sie näher kannte, zitterte. Mit diesen unnatürlich weit geöffneten Augen in dem totenhaft weißen Gesichte, mit den streng zusammengezogenen Lippen und dem fast brutal entschlossen vorgeschobenen Kinne gab sie nie einer Bitte Gehör, war sie nie einer sanfteren Regung zugänglich.

25.

Die herzogliche Kapelle spielte meisterhaft, und die Primadonna sang hinreißend. Ihre Hoheit die Frau Herzogin gab selbst das Signal zum rauschenden Applaus und überhäufte die fremde Sängerin in den Pausen mit Beweisen ihrer Huld und Gnade. Es verlief alles so glatt, so scheinbar zwanglos und die festen Linien der Etikette innehaltend, daß Liane meinte, doch nur ihr treibe die innere qualvolle Unruhe, eine ahnungsvolle Bangigkeit das Blut fiebernd durch die Adern. Sie konnte das bleiche Medusenprofil der Herzogin nicht ansehen, ohne heiß zu erschrecken. Dort, inmitten einer Offiziersgruppe, seltsam den Glanz der Galauniformen unterbrechend, saßen zwei schwarze Gestalten, der Hofmarschall und der Hofprediger. Die junge Frau hätte aus den Zügen des alten Herrn fast lesen können, was er, leidenschaftliche erregt, seinem Nachbarn unablässig zuflüsterte und in das Ohr zischelte, aber sie wandte in aufquellendem Zorn die Augen weg. Der Priester fixierte ungescheut und so dämonisch ausdrucksvoll ihr Gesicht, als schwebe ihm jenes furchtbare »Ich werde alles dulden, schweigend und ohne Gegenwehr; aber abschütteln werden sie mich nicht« auf den Lippen ... Sie fürchtete ihn nicht mehr. Der hochgewachsene Mann, der neben ihrem Sitze mit verschränkten Armen an der Wand lehnte, beschützte sie; er war mächtig und willensstark genug, die Viper, die zerstörend nach seinem häuslichen Glück züngelte, zu zertreten ... Hätte sie nur erst diesen Saal mit den geschmückten Menschen im Rücken gehabt! Aber die Erlösungsstunde schlug noch nicht. Die wundersame Mär, daß Mainau mit seiner jungen Frau nach Franken übersiedeln wolle, war wie ein Losungswort von Mund zu Mund geflogen, und nun, nach dem Konzerte, strömten die Wißbegierigen herbei, um aus dem Munde der Betreffenden selbst die Bestätigung zu hören. Und dann wurde Mainau die Auszeichnung zu teil, mit der Frau Herzogin den Ball zu eröffnen.

»Bitte, führen Sie mich in den anstoßenden Saal!« befahl sie, den Walzer unterbrechend, in welchen sich die Polonaise aufgelöst hatte. »Zu viel Gaslicht und zu viele Menschen! Die Hitze ist wahrhaft tropisch.«

Sie traten über die Schwelle. Die anderen Paare flogen weiter in wirbelndem Reigen.

»Sie spielen Ihre neue Rolle unvergleichlich, Baron Mainau,« sagte die Herzogin halblaut, während sie im Weiterschreiten mehreren erschrocken emporspringenden Herren zuwinkte, sich nicht stören zu lassen – sie thaten sich gütlich am Büffett.

»Darf ich erfahren, wie das Stück heißt, das der Hof aufführt, und bei welchem ich mitwirke, ohne es zu wissen?« versetzte er, auf den leichten, frivolen Ton eingehend, den sie angeschlagen.

»Mephisto!« Sie hob graziös drohend den Fächer. »Nicht wir spielen; dazu sind wir zu gedrückt, zu müde und unelastisch – dank den aufreibenden inneren Kämpfen. Wir haben auch nicht die Gabe, wie der geniale Baron Mainau, einen mächtigen Impuls immer wieder so wirksam, so packend auf die Szene treten zu lassen ... Soll ich Ihnen wirklich sagen, daß man sich drüben im Saale zuraunt, es sei heute der zweite Akt des ›Drama mit der Rachetendenz‹ aufgeführt worden?«

Bei diesen Worten betraten sie den Wintergarten. In raschem Weitergehen hatten beide nicht bemerkt, daß in dem letzten, anscheinend leeren Salon dennoch zwei Menschen saßen, der Hofmarschall und sein Freund, der Hofprediger. Sie hatten Fruchteis und Champagner vor sich stehen; aber ein aufmerksames Auge hätte sehen können, daß das Eis zerschmolz und der köstliche Sekt unberührt verschäumte.

Mainau zog mit einer raschen Wendung seinen Arm an sich, so daß die Hand der Herzogin ihre Stütze verlor und herabsank ... Sie waren allein unter Palmen, unter einem grünen Regen tropischer Schlingpflanzen, der von der Glasdecke niedersank. Wie die vom Wunderbaume mit Gold überschüttete Aschenbrödelgestalt stand die schöne, blasse Frau in gelbem Atlaskleide da, dem das blendende Gaslicht metallisch glitzernde Farbenströme entlockte.

»Vollständig gekühlte Rache hat keinen zweiten Akt; sie stirbt wie die Biene in dem Augenblicke, wo sie den Stachel eingesenkt,« sagte Mainau mit leicht erblaßtem Gesichte.

Die Herzogin sah ihn mit funkelnden Augen an. »Ah, Pardon! Da haben sich also die guten Leute da drüben geirrt,« sagte sie, die schönen Schultern emporziehend. »Nun denn, ein anderes Motiv! Das aber, was Sie uns in augenblicklicher, eigensinniger Laune oktroyieren möchten, glaubt man Ihnen so wenig, wie man imstande ist, zu denken, der prächtige Granatbaum dort mit seinen glühenden Blüten fühle Neigung, im – Gletschereis zu wurzeln ... Mag Ihnen diese blonde Gräfin Juliane mit ihrer studierten Denkermiene imponieren, in Wirklichkeit geliebt wird eine solche Frau nie.«

»Sie sprechen von jener Leidenschaft, die auch ich einmal empfunden,« versetzte Mainau in hartem, eiskalten Tone. Es empörte ihn, den geliebten Namen von diesen Lippen aussprechen zu hören. »Wie wenig Wurzel gerade sie schlägt, hat sie am schlagendsten dadurch bewiesen, daß sie so vollständig – sterben konnte.«

Die Herzogin fuhr aufstöhnend zurück, als habe er eine todbringende Waffe gegen sie gezückt.

»Ist es so, wie Sie sagen,« fuhr er unerbittlich fort, »daß eine solche Frau selten geliebt wird – wohl mir! Dann werde ich Qualen, die ich früher nie gekannt, und die jetzt oft an mich herantreten, die Qualen der Eifersucht, allmählich wieder von mir abschütteln können ... Und nun will ich Euer Hoheit sagen, weshalb ich heute in Begleitung ›dieser blonden Gräfin Juliane‹ hier bin. Es ist kein Akt der Rache, sondern der Buße, der öffentlichen Abbitte meiner beleidigten Frau gegenüber.«

Die fürstliche Dame lachte so überlaut und krampfhaft, als sei sie wahnsinnig geworden.

»Verzeihung!« rief sie wie atemlos, wie halb erstickt vor Lachen, »aber das Bild ist zu drastisch. Der kühne Duellant, respektive Raufbold – Pardon! – der tapfere Soldat, der gefürchtete Spötter und Leugner aller Frauentugenden – bußfertig vor der Gräfin mit den roten Flechten! Nach Jahren noch wird man sich amüsieren über den Löwen, der sich fromm vor dem Spinnrocken niederduckt.«

Er trat einen Schritt zurück. Ueber dieser Stirn schwebte die gefeierte Krone der Herrscherin; in ihre Hand war es gelegt, für den minderjährigen Landesfürsten zu entscheiden über Leben und Tod, Wohl und Wehe im Volke – und da stand sie vor ihm, in bacchantischem Gelächter sich schüttelnd, bar selbst der Würde, die die einfachste Frau aus dem Volke zu bewahren versteht.

»Hoheit, der Duellant, respektive Raufbold, braucht nicht viel wirklichen Mut,« sagte er mit finsterer Stirn, »weit mehr Willenskraft und innere Ueberwindung kostet es zum Beispiel dem Spötter Mainau, dem frivolen Frauenverächter, die innere Umkehr zu bekennen, den ›guten Leuten da drüben‹ zu zeigen, daß der eifrige Fürsprecher der Konvenienzehe keinen innigeren Wunsch hat, als – die eigene Frau zu erobern. Aber diese Sühne schulde ich ›der blonden Gräfin Juliane‹, dem reinen Mädchen mit der enthusiastischen Künstlerseele, mit den unerschrockenen eigenen Gedanken ... Ich habe mir die Buße auferlegt, ehe ich mir gestatte, mein neues Glück mir anzueignen.«

Der Fächer war den Händen der Herzogin entfallen; er schaukelte funkelnd an der feinen Kette, die vom Gürtel niederhing. Mainau den Rücken zuwendend, stand die schöne Frau vor einem vollblühenden Orangenbaume und zupfte hastig an den Blüten, als gönne sie diesen schönbelaubten Zweigen nicht, auch nur eine einzige Frucht zu tragen ... Sie war still geworden; kein Laut kam von ihren Lippen, in dem nervösen Spiele der Hände aber lag etwas wie unterdrückte Verzweiflung, und da kam ihm doch eine Regung von Bedauern.

»Ich möchte, ich könnte alle Tollheiten meines Lebens ungeschehen machen,« sagte er weiter; »es ist da so vieles, dessen ich mich schämen muß, weil es gegen Edelmut und Rittersinn verstößt ... Meine innerste Natur werde ich freilich nicht ändern. Ich hasse, die mich hassen und ›die Milch der frommen Denkungsart‹ wird nie die Pulse sänftigen, aber deswegen bereue ich doch, wo ich zu wild in der Rache gewesen bin ... Hoheit, ich wünsche lebhaft, daß auch da Ruhe und Glück einziehen möchten, wo ich einst Fluch und Unheil herabzubeschwören gesucht habe.«

Die Herzogin fuhr mit einem total veränderten Gesicht herum. »Ei, wer sagt Ihnen denn, mein Herr von Mainau, daß ich nicht glücklich bin?« fragte sie den Baron mit höhnischer, kalter Stimme. Sie reckte ihre üppige Gestalt empor und sah plötzlich aus, als stehe sie vor dem Thronsessel und erteile einem Untergebenen Audienz. Die Herrscher haltung gelang, nicht aber der Herrscherblick; aus den schwarzen Augen brach das furienhaft wilde Feuer des tiefgereizten Weibes. »Glücklich? Ich bin es! Ich darf meinen Fuß auf den Nacken derer setzen, die ich glühend hasse, denn ich habe die Macht. Ich kann vernichtend da eingreifen, wo man den Traum von Glück und Seligkeit träumt, denn ich habe die Macht ... Mächtig sein, heißt glücklich sein für den stolzen, ehrgeizigen Frauengeist. Merken Sie sich das, Freiherr von Mainau! Ihr frommer Wunsch war vollkommen überflüssig, wie Sie sich sagen werden.«

Sie schritt nach dem Ausgange; aber an der Schwelle blieb sie stehen, und durch die lange Reihe der offenen Thüren zeigend, wandte sie den Kopf über die Schulter zurück. »Da kommt sie, mild und bleich wie eine kühle Mondnacht,« sagte sie, und ihre kleinen, weißen Zähne blitzten unter der im diabolischen Lächeln noch hochgezogenen Oberlippe. »Wahrhaftig, Baron Mainau, Sie sind zu beneiden ... Aber eines möchte ich Ihnen raten: Gehen Sie nicht nach Franken! Sizilien ungefähr möchte die Temperatur haben, in der sich das Anfrösteln von so viel strenger Tugend und selbstbewußter Weiblichkeit ertragen läßt.«

Liane kam an der Seite eines Kammerherrn, mit dem sie die Polonaise getanzt, langsam wandelnd daher. Die Herzogin verließ den Wintergarten, während Mainau auf die Schwelle desselben trat, um seine Frau zu erwarten. An der gegenüberliegenden Thür blieb das näherkommende Paar stehen, um die rasch, mit hocherhobenen Kopfe und stolzem Nacken heranschreitende Herzogin vorüber zu lassen; aber dicht vor der jungen Frau blieb sie stehen.

»Liebe Frau von Mainau,« sagte sie mit etwas belegter, aber vollkommen fester Stimme, »man wird Sie uns entführen ... Sie sind in der That berufen, Mann und Haus ›mit linden und doch starken Armen‹ zu umfassen. Halten Sie fest, damit Ihnen das Phantom nicht dennoch entschlüpft in dem Augenblicke, wo Sie es am sichersten zu umschließen wähnen! Der Schmetterling muß fliegen – es ist seine Lebensbedingung ... Und nun Glück auf den Weg, schöne Braut!« Mit leichter Grazie hob sie ihre weißen Arme, und die krampfhaft geballten Hände öffnend, ließ sie einen Regen zerdrückter, fast unkenntlich gewordener Orangenblüten über die Schulter und Arme der jungen Frau niederrieseln.

Sie nahm den Fächer wieder auf. »Herr von Lieven, ich wünsche den nächsten Galopp mit dem Grafen Brandau zu tanzen,« wandte sie sich mit lauter, voller Stimme an den Kammerherrn.

Er flog davon, um den schönen, schlanken Lieutenant zum Tanz mit Ihrer Hoheit »zu befehlen«. Leicht mit dem Fächer grüßend, rauschte die fürstliche Dame an der sich verneigenden jungen Frau vorüber und begab sich in den Konzertsaal zurück.

»Der Schmetterling fliegt nicht mehr – sei ruhig!« sagte Mainau heiter lächelnd, indem er Liane über die Schwelle des Wintergartens an sich heranzog und sie mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit an seine Brust drückte. »Er ist überhaupt nie Schmetterling aus wirklicher Neigung gewesen, und hätte er seine Liane gleich gefunden, so brauchte er jetzt nicht so viel tolle, verzweifelte Streiche zu bereuen.«

Sie wand sich scheu und schweigend aus seinen Armen und deutete nach dem anstoßenden Salon zurück; sie hatte die beiden Herren in der Ecke sitzen sehen; jetzt hörte sie, wie sie aufstanden und der Herzogin in den Saal folgten.

»Ach, da sind Sie ja – wo haben Sie denn gesteckt, Herr Hofmarschall?« fragte die stolze Fürstin; Graf Brandau stand vor ihr und beugte seine hohe Gestalt fast bis zu Erde, während der Hofmarschall sichtlich beklommen in ihre Nähe trat. »Man hört ja wunderliche Dinge. Baron Mainau will nach Franken übersiedeln; werden Sie mitgehen?«

Der Hofmarschall prallte vor Entsetzen zurück. »Ich, Hoheit?« rief er mit alterierter Stimme. »Eher in die Gruft! Eher will ich von Haus zu Haus betteln gehen, als auch nur noch einen Tag im Zusammenleben mit meinem – entarteten Neffen verbringen ... Ich bleibe in meinem Schönwerth, und wenn Euer Hoheit dann und wann einen Sonnenstrahl der Huld und Gnade in das einsame Leben eines alten treuen Dieners werfen wollen, indem Sie Schönwerth nach wie vor als Ziel der Spazierritte wählen –«

»Herr von Mainau,« unterbrach sie ihn frostig mit harter Stimme, wobei sie ihre Hand auf den Arm des Grafen Brandau legte, »ich höre, der Sturm hat heute nacht Ihre prächtige Musa umgebrochen – sie war es ja hauptsächlich, wie Sie sich erinnern werden, die mich immer wieder in das Thal von Kaschmir gezogen hat – vorüber, vorüber! ... Zudem muß ich Ihnen gestehen, daß ich bis zu dieser Stunde das Grauen nicht los werde in der Erinnerung an die gräßliche Pulvergeschichte, durch welche der Erbprinz und sein Bruder um ein Haar auf Ihrem Grund und Boden verunglückt wären. Sie werden begreifen, daß Jahre vergehen müssen, ehe ein Mutterherz solche Schrecknisse überwindet.«

Von der Tribüne erbrauste ein feuriger Galopp, und die schöne Herzogin flog, nach einem hochmütigen Kopfneigen gegen den vernichteten Höfling, im Arm ihres Tänzers dahin – »seltsam wild und aufgeregt«, wie sich einige alte, skandalsüchtige Damen in das Ohr zischelten. Der Hofmarschall aber sah ihr mit aschfahlem Gesichte und schlotternden Knieen einen Augenblick wie versteinert nach. Unfaßlich, unerhört! ... Erhoben sich nicht die stolzen Vorfahren in der Ahnengruft und stießen mit den Händen nach ihm? That sich nicht die Erde auf, um ihn, den Unseligen, den Gebrandmarkten zu verschlingen? Er war in Ungnade gefallen, er, der Leib und Seele dem Bösen verschrieben hätte, um nur nie ein solches Unglück zu erleben! Und da war es, ohne sein Verschulden, und hing wie eine schwarze Wetterwolke über seinem Haupte! Und nach zehn Minuten kreiste »die köstliche und unbezahlbare Neuigkeit« auf den Lippen der Neider und Mißgünstigen, und hundert Augen und Finger richteten sich schadenfroh auf den gestürzten Hofmarschall; er verschwand aus dem Saale.

Bald nach dem Glaswagen des Hofmarschalls fuhr auch die Equipage mit den Apfelschimmeln am Portale des herzoglichen Schlosses vor.

»Meine Mission ist erfüllt – nun darf ich die Braut heimführen,« flüsterte Mainau Liane zu, indem er sie in den Wagen hob.

26.

Er saß wieder droben und lenkte das Gespann, und sie lehnte in der Wagenecke, aber nicht wie damals, als unscheinbare, graue Nonne mit der Kälte und Resignation im Herzen – über die weißen Atlaspolster breitete sich das kostbare, einst verschmähte Brautkleid; aus dem Haare zuckte der grünfunkelnde Strahl der Smaragden, und die schönen, klugen Augen der jungen Frau verfolgten aufglänzend jede Bewegung der prächtigen Männergestalt, der gegenüber sie den Widerstand des verletzten Stolzes, der kalten, strengen, trotzigen Zurückhaltung nun so vollständig aufgegeben.

Es war eine warme, lautlose Mondnacht, durch die sie fuhren. Das bleiche Nachtgestirn schwebte droben, eine über das dunkle Blau hingerollte Silberkugel; aber zwischen Himmel und Erde wogte jenes glänzende Flimmern, das schleierartig die Konturen verwischt. Dort hinter dem regungslosen Parkteiche ballten sich die majestätischen Lindenwipfel des Maienfestes zu dunklen, gestaltlosen Massen; in ihrem Schatten verschwand das Fischerdörfchen so spurlos, als habe eine Riesenfaust die fürstliche Spielerei auf den Grund des Gewässers versenkt ... Liane wußte nicht, daß dort zum erstenmal ihr Name vor der Herzogin genannt worden war, daß man »die Gräfin mit den roten Flechten« unter jenen Linden beschworen hatte, um sie ein jahrelang genährtes Rachewerk wider Willen ausführen zu lassen. Dennoch wandte sie, in sich hineinfröstelnd, den Kopf weg; der ungeheure, nachtschwarze Baumkomplex und die bleifarbene, totenstille Wasserfläche gaben ein gespenstisches Bild. Die junge Frau hatte ohnehin mit unheimlichen Empfindungen zu kämpfen. Sie wußte, daß in dem Glaswagen, der weit vor ihnen Schönwerth zurollte, auch der Hofprediger saß; er war dem Hofmarschall wie sein Schatten gefolgt. Sie hatte ihn vom Garderobenzimmer aus einsteigen und den Schlag zuwerfen sehen ... Dieser entsetzliche Priester war bereits da, wenn sie das Schönwerther Schloß zum letztenmal betrat; er hatte in der That die Kühnheit, die zähe Beharrlichkeit, mit der das Raubtier seinem Wilde auf der Ferse folgt ... Eine heiße Angst überlief sie, als der Wagen den Wald verließ und in das liebliche, von Mondlicht erfüllte Schönwerther Thal hinabbrauste. Dort unten flog eben die Equipage des Hofmarschalls hin; man sah die Glasfenster aufblinken, ehe sie hinter dem Maßholderbusch verschwand. Liane mußte all ihren Mut, ihre Vernunft aufbieten, um Mainau nicht zu bitten, daß er an Schönwerth vorüberfahre und sie noch in dieser Nacht nach Wolkershausen bringe ...

In dem Augenblicke, wo der Wagen vor dem Schlosse hielt, stand Frau Löhn, wie aus der Erde gewachsen, am Schlage. »Seit einer Stunde ist alles vorüber, gnädige Frau,« flüsterte sie mit fliegendem Atem. »Der mit dem geschorenen Kopfe ist vorhin auch wieder mitgekommen. Er ist im stande und verlangt mir heute Nacht noch die Schmucksachen für den alten Herrn ab; das erste Mal ist's auch so gewesen.«

»Ich komme,« sagte Liane. Sie sprang aus dem Wagen, während Frau Löhn über den Kiesplatz nach dem indischen Hause zurückkehrte. Jetzt trat ein schwerer, ein furchtbarer Moment an die junge Frau heran: sie mußte Mainau den Vorgang an Onkel Gisberts Sterbebette mitteilen; sie mußte ihm alles sagen, was sie wußte, dann sollte er mit ihr hinübergehen und das verhängnisvolle kleine silberne Buch selbst an sich nehmen.

Er hatte die Beschließerin nicht bemerkt und führte Liane ahnungslos nach ihren Appartements. Beide prallten zurück, als sie aus dem blauen Boudoir in den anstoßenden Salon traten – auf dem Tische, inmitten des Zimmers, brannte eine Lampe, und daneben stand der Hofmarschall, aufrecht, in kerzengerader Haltung, nur die Rechte leicht auf die Tischplatte stützende.

»Verzeihen Sie, gnädige Frau, daß ich in Ihre Räume eingedrungen bin,« sagte er mit monotoner, kalter Höflichkeit. »Aber es ist zehn Uhr vorüber. Ich war im Zweifel, ob Ihr Gemahl geneigt sein würde, mir heute noch einige Augenblicke, behufs einer Auseinandersetzung, zu gewähren, und da es geschehen muß, so habe ich es vorgezogen, ihn hier zu erwarten.«

Mainau ließ den Arm seiner Frau fallen und trat mit festen Schritten auf den alten Herrn zu. »Da bin ich, Onkel! Ich wäre auf denen Wunsch auch sehr gern hinaufgekommen. Was hast du mir zu sagen?« fragte er gelassen, aber mit der Haltung eines Mannes, der nicht gewillt ist, sich irgend eine Ungehörigkeit bieten zu lassen.

»Was ich dir zu sagen habe?« wiederholte der Hofmarschall mit unterdrückter Wut. »Vor allem möchte ich mir den Titel ›Onkel‹ verbitten ... Du hast, wie du heute morgen selbst sagtest, zwischen dir und deinen Standesgenossen das Tischtuch zerschnitten! Ich stehe aber zu ihnen mit Kopf und Herzen, mit Gut und Blut; der Riß trennt dich mithin auch von deines Vaters Bruder, unwiderruflich und für immer.«

»Ich werde den Verlust zu tragen wissen,« versetzte Mainau mit tieferblaßtem Gesichte, aber ruhiger, klarer Stimme. »Die Zukunft wird zeigen, was du gewinnst, indem du alles auf eine Karte setzest. Ein sogenannter guter Freund raunte mir in aller Eile zu, als ich das herzogliche Schloß verließ, du seiest um meinetwillen eklatant in Ungnade verfallen« – bei dem so ruhig ausgesprochenen Wort »Ungnade« hob der Hofmarschall aufschreckend die Hände, als wolle er die Bezeichnung der furchtbaren Thatsache hinter die Lippen des Sprechenden zurückdrängen – »eine solche erbärmliche, kleine Revanche, an einem Unbeteiligten verübt, kann höchstens Ekel erregen, und du hast nichts Eiligeres zu thun, als deine einzigen Verwandten abzuschütteln, mit allem zu brechen, was deinem Leben, deiner einsamen Zukunft in Wirklichkeit einen Zweck, einen Halt zu geben vermag? Und das muß unerbittlich zur Stunde, noch in dieser Nacht geschehen, damit du morgen in der Frühe deine völlige Lostrennung von den ›Tiefgefallenen‹ rapportieren und um Gotteswillen die Wiederkehr der herzoglichen Gnade erbitten kannst? ... Was verlierst du denn an –«

»Was ich verliere?« schrie der Hofmarschall. »Das Augenlicht, die Lebensluft! Ich sterbe, wenn diese – diese fürchterliche Ungnade auch nur Monate andauert ... Wie du darüber denkst, ist deine Sache – ich schere mich nicht darum.« Er taumelte, unfähig sich länger auf den Füßen zu halten, in den nächsten Lehnstuhl.

Mainau wandte ihm in unverhohlener Verachtung den Rücken. »Dann bleibt mir freilich kein Wort mehr zu sagen,« murmelte er achselzuckend. »Ich hatte gemeint, noch einmal an die großväterliche Liebe für Leo appellieren zu müssen –«

»Aha, da sind wir ja bei dem Punkte angekommen, der einzig und allein mich vermocht hat, noch einmal mit dir zusammenzutreffen ... Mein Enkel, das Kind meiner einzigen Tochter –«

»Ist mein Sohn,« unterbrach ihn Mainau, sein Gesicht ihm voll zuwendend, mit tiefer Ruhe. »Er bleibt selbstverständlich bei mir.«

»Mit nichten! ... Für die erste Zeit magst du ihn nach Franken schleppen – das kann ich freilich nicht verhindern; aber schon nach einigen Monaten wirst du erfahren, was es heißt, Mächtige im weltlichen und im geistlichen Regiment brüsk herauszufordern.«

»Fast könnte ich mich fürchten,« sagte Mainau mit verächtlicher Ironie, »stünde ich nicht da auf meinen eigenen Füßen ... Ich weiß, wo du den Hebel ansetzen willst. Weil ich meinem katholisch getauften Kinde eine protestantische Mutter und einen freisinnigen Theologen als Religionslehrer gegeben habe, so ist die Kirche berechtigt, die ihr gehörige Seele zu reklamieren, respektive zu retten. Die Rechte des Vaters kommen denen des päpstlichen Stuhles gegenüber selbstverständlich gar nicht in Betracht. Wer wird denn um eine solche unerhebliche Kleinigkeit rechten in einer Zeit, wo der Endspruch des weltlichen Herrschers, die Beschlüsse der Volksvertretung als Seifenblasen von Rom aus ignoriert werden! ... Ich könnte mich auf die Linie stellen, wo der erbitterte Kampf gegen die klerikale Anmaßung entbrannt ist, wenn ich nicht vorzöge, die schwarze Schar allein, als einzeln Angegriffener, auf der Mensur zu erwarten – mag sie kommen!«

»Sie wird kommen – darauf verlasse dich! Deine frevelhafte Opposition wird gezüchtigt werden, wie sie es verdient, und wie es alle Treugesinnten wünschen müssen,« rief der Hofmarschall in namenloser Erbitterung. »Poche du nur auf deinen Geist, auf den Kopf, mit dem du glaubst durchrennen zu können – gerade mit ihm wirst du kläglich Fiasko machen! Frage morgen alle, die drinnen bei Hofe sind! Nicht einer wird dir zugeben, daß du heute abend im vollen Besitze deiner Geisteskräfte gewesen bist. Ein Mensch mit seinen gesunden fünf Sinnen, einem ungetrübten Gehirne –«

»›Trägt nicht seinen Kopf fest auf dem geraden Rücken, sondern kriecht und scherwenzelt vor den Mächtigen‹, willst du sagen?«

»Ich will sagen: Dein Thun und Treiben, dein ganzes Gebaren ist in den letzten Tagen ein so auffälliges geworden, daß ein ärztlicher Ausspruch wird entscheiden müssen,« schrie der alte Herr blind vor Wut.

»Ah! Das ist die Bresche, durch welche mir die weltliche Macht beikommen wird.« Eine tiefe Blässe überflog sekundenlang die Wangen des schönen Mannes. Er war tief ergrimmt; aber die Arme über der Brust verschränkt, sagte er leichthin, wenn auch in beißendem Tone: »Ich wundere mich über dich. Es ist eines so gewiegten Diplomaten und Hofmannes nicht würdig, im Zorne einen ganzen geheimen Feldzugsplan zu verraten ... Also wenn der Kampf mit den Klerikalen glücklich ausgefochten ist, dann tritt der Gerichtshof auf und erklärt den Mann für ›unzurechnungsfähig‹, eben weil er gekämpft hat, und weil eine ganze große Hofgesellschaft – Ihro Hoheit, die Frau Herzogin an der Spitze – eidlich erhärtet, daß er eines Abends nicht bei Sinnen gewesen ist.«

Der Hofmarschall erhob sich. »Ich muß bitten, die erhabene Frau vor meinen Ohren nicht zu verunglimpfen,« protestierte er kurz mit seiner abscheulich schnarrenden Stimme. »Uebrigens habe ich dir diesen sogenannten geheimen Feldzugsplan geflissentlich mitgeteilt. Du sollst ihn wissen, weil ich den Handel nicht bis zum äußersten kommen lassen möchte, weil ich als ein Mainau mich verpflichtet fühle, einen Skandal, ein öffentliches Aergernis von unserem Namen so lange wie möglich abzuwehren. Ich kann aber auch von meiner Forderung nicht um ein Jota abgehen, schon um meines heimgegangenen, strenggläubigen Kindes willen, und deshalb frage ich dich kurz und bündig: Willst du mir Leo freiwillig überlassen, an dem ich ein heiliges Anrecht habe, so gut wie du –«

Er kam nicht weiter. Mainau unterbrach ihn mit einem hellen, scharfen Auflachen. In dem Momente glitt die junge Frau unbemerkt in das Ankleidezimmer und von da in den Säulengang. Nicht einen Augenblick länger durfte sie zögern. Das beispiellos anmaßende Auftreten des Hofmarschalls ließ nur zu deutlich erkennen, daß er auf mächtige Streitkräfte zu gunsten seiner unberechtigten Forderung pochen durfte. Der siegesgewisse, erbärmliche Höfling mit den mörderischen Händen mußte heute zum zweitenmale stürzen – jetzt aber durch die eigenen schwere Schuld! ... Wie that ihr das Herz weh im Mitgefühle für Mainau! Wie liebte sie ihn, der so mannhaft gegenüberstand den unvermeidlichen Folgen, die seine Neigung für die heraufbeschworen!

Sie vergaß, daß sie Capuchon und Mantille im Salon zurückgelassen; sie sah auch nicht, wie die auf den Lärm der streitenden Stimmen horchenden Lakaien im Vestibül zurückwichen vor der eilig daherrauschenden Frauengestalt, die, Haupt und Nacken unbedeckt und feenhaft geschmückt, in die Mondnacht hinausflog.

Der indische Garten breitete sich hin, so fremdartig, so silbern funkelnd im Mondlichte, wie in jener ersten Nacht, die sie in Schönwerth verlebt – aber welch ein Kontrast zwischen heute und damals! Noch in diesen nächtlichen Stunden brachen die morschen Verhältnisse unter den Streichen der Nemesis zusammen, wie der Sturm mit einem Griffe die gewaltige Banane dort umgestürzt hatte.

Die flüchtigen Füße der jungen Frau berührten kaum den Boden. Desto unheimlicher klang das schwere Rauschen des starren Schleppsaumes in die atemlose Nachtstille hinein ... Beim Betreten des dunklen Laubenganges, des Lieblingsaufenthaltes der Affen und Papageien, hemmte sie zusammenfahrend ihre Schritte; kein Rauschen der Tiere in den Zweigen, wohl aber das Knirschen des Kieses unter einem starken Fußtritte hatte ihr Ohr berührt.

»Wer ist hier?« fragte sie, vorsichtig nach dem Ausgange zurückweichend.

»Der Jäger Dammer, gnädige Frau,« meldete eine hörbar verlegene Stimme.

Sie atmete befreit auf und ging weiter, während der junge Mann eilig vor ihr her schritt und sich, ehrerbietig grüßend, am jenseitigen Ausgange postierte. Ein Blick zur Seite machte ihr draußen sofort klar, was den Jäger hierher geführt hatte – das purpurrote Gesicht auf die Brust gesenkt, stand eines der hübschen Hausmädchen da und knixte – es handelte sich um ein Rendezvous zwischen zwei jungen Leuten, welche die Versetzung des Burschen für längere Zeit getrennt hatte. War es doch, als sei Liane ein Alp von der Brust genommen durch die Gewißheit, daß Menschen in der Nähe seien.

Die Thür des indischen Hauses war verschlossen. Hinter den Fenstern hingen die steifen Matten, und die zerbrochenen Glasscheiben der Thür waren einstweilen durch Bretter ersetzt. Auf Lianes leises Klopfen wurde mit vorsichtiger Hand eine der Matten ein wenig seitwärts geschoben. Gleich darauf öffnete sich geräuschlos die Thür.

»Wäre der Schwarze gekommen, er hätte nicht herein gedurft,« flüsterte Frau Löhn, indem sie den Riegel wieder vorschob.

Ueber die Tote auf dem Rohrbette war ein weißes Leinentuch gebreitet, und in einem Lehnstuhl lag Gabriel erschöpft in tiefem Schlafe. Die Beschließern hatte eine wärmende Decke über ihn gelegt, dessen abgehärmtes Antlitz sich totenhaft von dem dunklen Polster abhob. Unruhig flackerte der Lichtschein darüber hin, den ein vielarmiger, mit Wachskerzen besteckter Silberleuchter verbreitete.

»Auch ein Rest aus der alten Zeit, den ich vor dem geizigen alten Manne drüben im Schlosse gerettet habe,« sagte die Beschließerin, auf den prachtvollen Leuchter zeigend; »das arme Ding da ist mehr als jede andere Schloßfrau gewesen, und da soll sie nun auch die letzten Ehren haben.«

Mit sanfter Hand schlug sie das Leinentuch zurück. Das Herz der armen Lotosblume schlug nicht mehr, und doch sah es aus, als höbe sich die schöne frische Seerose auf ihrer Brust noch unter gleichmäßigen Atemzügen. Auch über das Kleid und das Kopfkissen der Toten lagen die weißen Wasserblüten hingestreut.

»Gabriel hat sie gebracht,« sagte Frau Löhn; »es waren ihre liebsten Blumen, und der arme Teufel hat manchen Schlag vom Schloßgärtner gekriegt, wenn sie ihn am Teiche ›beim Holen‹ erwischt haben.«

Bei diesen Worten hob sie sanft das Köpfchen vom Kissen, während Liane mit bebenden Händen die Kette darüber streifte; ebenso leicht ließ sich das kleine silberne Buch aus den erkalteten Fingern lösen; sie leisteten nicht den geringsten Widerstand mehr ... Die junge Frau legte die Kette um den Nacken und steckte das verhängnisvolle Schmuckstück in den Busen.

»Morgen!« sagte sie mit halb erstickter Stimme zu Frau Löhn und ging hinaus. Eine namenlose Beklemmung, das unerklärliche Gefühl, als habe sie mit dem kältenden Silber auf der Brust ihren eigenen Untergang auf sich genommen, machte ihr den Herzschlag stocken ... Umsonst ließ sie ihre Blicke von der Veranda aus über das von Rosengebüsch begrenzte Terrain hinschweifen; umsonst lauschte sie mit zurückgehaltenem Atem auf irgend ein Zeichen, daß ein menschliches Wesen in ihrer Nähe sei. Der Jäger und sein Mädchen hatten jedenfalls, durch ihr Erscheinen erschreckt, den Garten verlassen. Sie schauerte in sich zusammen bei dem Versuchte, die Verandastufen hinabzusteigen und weiterzugehen, und dennoch schämte sie sich, die Frau, die hinter ihr die Thür wieder verriegelt hatte, abermals herauszuklopfen und um ihre Begleitung zu bitten. Und zögern durfte sie nicht mehr; jede Sekunde Zeit, die den unnatürlichen Kampf verlängerte, welchen Mainau um sein Kind kämpfen mußte, hatte sie zu verantworten.

Sie flog die Stufen hinab durch das Rosengebüsch – da – da stand das Entsetzliche, dessen Nähe sie gefühlt hatte, wie der Vogel die seines Todfeindes – da stand die schwarze Gestalt mit aschbleichen, verwüsteten Zügen, und der geschorene Fleck inmitten der dunkellockigen Haarmassen dämmerte gespenstig, als die unheimliche Erscheinung feierlich grüßend das Haupt neigte.

Im ersten Augenblicke machte der Schrecken der jungen Frau das Blut gerinnen, dann aber wallte ein Gefühl der Erbitterung, des Zürnens in ihr auf, wie sie nie solches vorher empfunden. Und dieses Gefühl siegte; es machte sie hart, schonungslos ... Ihr Kleid mit einer ausdrucksvollen Gebärde an sich heranziehend, als dürfte nicht einmal sein Saum den ihren Weg kreuzenden Mann streifen, wich sie aus und wollte weitergehen, ohne seinen Gruß zu beachten; aber er vertrat ihr aufs neue den Weg, er wagte sogar seine Hand auf ihren entblößten Arm zu legen, um sie zurückzuhalten; sie erbleichte bis in die Lippen bei der Berührung. Die Hand mit einer kraftvollen Bewegung von sich schleudernd, nahm sie stumm den kostbaren Spitzenärmel, der von ihrer Schulter niederhing, und strich mit dem Gewebe wiederholt über die Stelle, die seine Finger berührt hatten.

»Erbarmungslose!« stieß er hervor. »Sie kommen von einer Sterbenden –«

»Von einer Toten, Herr Hofprediger, von einer, die im Heidentume gestorben ist, und deshalb, wie wir Christen sagen, gestorben ist an Leib und Seele.

Ob Gott wirklich die Menschenseelen nur annimmt aus der Hand der Priester, mag sie auch fälschen und vor nichts zurückschrecken, was die Geister als Schemel unter die Füße der Priestermacht zu werfen vermag? Sie müssen es ja wissen ... Gehen Sie mir aus dem Wege, Herr!« gebot sie stolz und heftig. »Den echten Predigern des Christentums unterwerfe ich mich in Ehrfurcht – und, Gott sei Dank, wir haben deren noch! Sie aber haben mich selbst in Ihre verwerflichen karten sehen lassen; nicht eine Spur von Weihe liegt auf Ihrer Stirn, und deshalb wundere ich mich auch nicht über Theaterphrasen, wie ich sie eben gehört aus Ihrem geistlichen Munde. Lassen Sie mich vorüber!«

»Wozu diese Eile?« fragte er hohnvoll, aber doch im Tone heftiger innerer Bewegung. »Sie kommen noch rechtzeitig genug, um zu sehen, wie sich der unheilbare Bruch zwischen Onkel und Neffen vollzieht, wie der interessante Herr von Mainau alle alten Bande und Beziehungen von sich wirft, um ausschließlich Ihnen zu gehören!« – Er hatte also wieder draußen unter den Säulen, vor der Glasthür gestanden und dem Streite gelauscht; er war ihr dann gefolgt, wie in jener ersten Nacht. In diesem Augenblicke gelang es ihr, an ihm vorüberzukommen – sie betrat notgedrungen den Uferrasen des Teiches, weil er auch jetzt schon wieder neben ihr her ging. »Ja, Ihnen ausschließlich, gnädige Frau!« wiederholte er beißend. »Ihre gestrige Drohung, zu gehen, hat ihn ohne Zweifel zu Ihren Füßen geführt – wie und wann? – ich gäbe ein Glied meines Körpers drum, wenn ich das wüßte ... Aber ich sah heute abend im Konzertsaale diesen Triumph auf Ihrem schönen Gesichte glänzen – Sie sind stolz darauf – wie lange? ... ›Der Schmetterling muß fliegen!‹ sagte die Herzogin – er muß fliegen, der strahlende Falter, damit die Welt das schillernde Farbenspiel seines originellen Wesens bewundern kann, sage auch ich. Ein Jahr des geträumten, stolzen Glückes gebe ich Ihnen – nicht einen Tag länger.«

»Nun gut,« versetzte sie, mit strahlenden Augen den Kopf zurückwerfend – im unwillkürlichen, fortgesetzten Ausweichen vor der andrängenden Gestalt des Geistlichen war sie allmählich dicht an den Rand des Ufers getreten – da blieb sie stehen, die Hände inbrünstig über der Brust verschränkt, und auf dem mondbeglänzten, lieblichen Antlitze lag ein Ausdruck von Verzückung. »Ein einziges Jahr denn! Aber ein Jahr voll unaussprechlichen Glückes! Ich liebe ihn, ich liebe ihn bis in alle Ewigkeit, und nehme dieses Jahr der Gegenliebe dankbar aus seinen Händen.«

Ein halb unterdrückter Schrei, wie ihn nur Wut und Verzweiflung ausstoßen können, rang sich aus der Brust des Mannes.

»Sie belügen sich selbst,« stieß er hervor, »um das Gefühl des gesättigten Trachenbergschen Stolzes darüber zu beschönigen, daß dieser Mainau für einen Augenblick wirklich niedergeworfen zu Ihren Füßen liegt ... Sie können ihn nicht lieben, der Sie oft genug in meiner und anderer Gegenwart mit der schneidendsten Kälte behandelt, der der ganzen Welt gezeigt hat, daß es ihm widerstrebt, diesen schönen Körper auch nur mit seinem Atem zu berühren; er hat Sie beleidigt, wie ein Mann das Weib nicht schmählicher beleidigen kann – und das hätten Sie nie gefühlt? Es hätte Sie nie erbittert, und triebe Ihnen nicht noch zur Stunde die Glut der Demütigung in das Gesicht? Sehen Sie in diesen klaren Spiegel hinab!« er zeigte auf die durchsichtige Wasserfläche, die fast an ihre atlasschimmernden Füße schlug. – »Sehen Sie in Ihre eigenen Augen hinein! Sie können nicht wiederholen, daß Sie ihm für seine augenblickliche herablassende Laune das Wonnegeschenk Ihrer Liebe hinwerfen wollen.«

Sie sah in der That seitwärts in die Flut hinaus – aus namenloser Furcht vor den Augen, die sie anglühten.

»Sie lieben ja diesen See, schöne Frau,« sagte er mit seltsam gedämpfter Stimme, als handle es sich um ein Geheimnis. »Sie haben mir verraten, daß Sie seine weichen Wellen meiner Berührung weit vorzögen. Sehen Sie, wie er lockt und schmeichelt!«

Jäh zusammenschreckend fuhr sie empor und sah ihm mit einer wilden Angst in das Gesicht.

»Fürchten Sie sich vor mir?« fragte er sardonisch lächelnd. »Ich will ja nichts von Ihnen, als angesichts dieses reinen, klaren Spiegels die Erklärung, daß Sie für ›Jenen‹ die Neigung und für mich der Abscheu nicht so erfüllt, wie Sie mich überzeugen möchten.«

Sie raffte ihre ganze Willenskraft, ihr n ganzen Mut zusammen. »Unerhört! ... Was ficht Sie an, mir eine Erklärung abzufordern? Ich bin Protestantin, und nicht Ihr Beichtkind; ich bin die Herrin von Schönwerth, und Sie der Gast; ich bin eine Frau, die ihr gegebenes Wort erfüllt, und Sie ein eidbrüchiger Priester. Ich könnte Sie einfach meinen Stolz fühlen lassen und schweigend gehen, aber weil Sie drohend vor mir stehen, sollen Sie wissen, daß ich mich nicht vor Ihnen fürchte, daß ich Sie vom Grunde meiner Seele verachte, schon deshalb, weil Sie so plump die erste und einzige Liebe eines Frauenherzens anfechten und zu entweihen suchen.«

Sie hob den Fuß zum Gehen, aber zwei Arme umschlangen sie. »Darf ich nicht, dann soll auch er Sie nie berühren,« murmelte es vor ihrem Ohre. Sie wollte aufschreien, aber heiße Lippen preßten sich wild auf die ihren ... dann ein Stoß, und die schlanke Frauengestalt stürzte kopfüber in die aufzischende Flut ... Ein furchtbarer Schrei gellte über das Wasser hin, aber nicht die Hinabgestürzte stieß ihn aus – vom Laubgange flog das Hausmädchen her, ihr nach der Jägerbursche ... »Wir haben's gesehen, elender Mörder!« schrie sie wie toll, beide Arme weit ausbreitend, um den nach dem Laubgange fliehenden Priester aufzuhalten; »Hilfe, Hilfe! Haltet ihn!« ... Mit einem einzigen Griffe schleuderte der wie wahnwitzig fortstürzende Mann das Mädchen aus dem Wege und verschwand im Laubgange.

Inzwischen hatte der Jäger den Teich erreicht und den Rock von sich geworfen. Gerade hier war das Ufer nicht sumpfig und seicht; es stieg fast senkrecht hinab in die verrufene Tiefe. Das Wasser war so durchsichtig klar und ungetrübt, wie inmitten des Teiches. Im ersten Momente schlossen sich die Wellen über dem hinabgeschleuderten Körper; dann aber – es sah geisterhaft schön aus – wogte der starre Silberstoff des Gewandes empor; er sog das Wasser nicht ein und breitete sich wie ein glitzerndes Schwanengefieder weit entfaltet über den Teichspiegel hin, und darüber erschien der wasserüberströmte Frauenkopf mit den Juwelen im Haar; er sank tief in den Nacken zurück, während die weißen Arme hoch in der leeren Luft vergebens nach einem Halt griffen. Jetzt zitterte ein schwacher Hilferuf von den Lippen der jungen Frau herüber. Seltsam, der steife Silberbrokat schien sie zu tragen.

Der Jäger schwamm gut; er mußte sich aber ziemlich weit hinarbeiten, denn die Wucht des Stoßes hatte die unglückliche Frau sofort weitab vom Ufer getrieben; dennoch gelang es ihm, einen ihrer Arme zu erfassen in dem Augenblicke, wo der Körper abermals zu sinken begann; er zog ihn an sich, und langsam aber sicher schwamm er mit der Geretteten dem Ufer zu. Noch hatte er den festen Boden nicht erreicht, als es im Garten nach verschiedenen Richtungen hin plötzlich lebendig wurde. Das markerschütternde Aufschreien, das Hilferufen des Mädchens war sowohl im indischen Hause wie im Vestibül des Schlosses gehört worden, Frau Löhn kam durch das Rosengebüsch gestürzt – sie sah noch, die Hände über den Kopf zusammenschlagend, wie ihre Herrin abermals unterzugehen drohte, und vom Schlosse stürmten die Lakaien her, gerade rechtzeitig, um die Halbbewußtlose an das Land zu ziehen ...

27.

Frau Löhn kniete auf dem Rasen und hielt den Oberkörper der jungen Frau in den Armen. Sie weinte und schrie laut, als das Mädchen mit heiserer, gebrochener Stimme den entsetzten Leuten zuflüsterte, was geschehen war. Die Kleine hatte das saubere weiße Batistschürzchen abgenommen und trocknete sanft das niederrieselnde Wasser von Gesicht und Schultern der Herrin. Diese belebende Berührung und das laute Jammern der Beschließerin gaben der jungen Frau sehr schnell die Besinnung zurück. »Still, still, Frau Löhn!« flüsterte sie, sich aufrichtend. »Der Herr darf nicht erschreckt werden ...« Mit einem lieblichen Lächeln reicht sie ihrem Retter herzlich die Hand, dann stellte sie sich mittels einer energischen Bewegung auf die Füße. Die Bäume schwankten, wie vom starken Winde bewegt, vor ihren Augen, und der Weg zu ihren Füßen nahm eine wunderlich schlängelnde Bewegung an; es war ihr, als wandle sie in greifbarem Nebel, und dennoch ging sie vorwärts, und ihre Hand fuhr erschrocken nach dem Nacken – da hing die Kette noch – das wichtige Dokument lag nicht im See.

Mit jedem Schritt weiter verlor sich der Schwindel, der so beängstigend ihren Kopf gefangen gehalten, immer mehr; sie ging hastiger und wandte sich nur dann und wann, den Finger auf die Lippen legend, nach den ihr folgenden Leuten um, wenn ein Laut der Entrüstung ihr Ohr traf.

Im Vestibül lief die übrige Dienerschaft durcheinander. Man wußte, daß etwas Unerhörtes geschehen sei; aber keiner konnte sagen, was und wo. Die dienstthuenden Lakaien waren aus der Halle verschwunden, und ein fernes, wildes Schreien hatte man in der Küche und in den Gängen auch gehört, der Kutscher des Hofmarschalls aber schwur aufgebracht, er habe Seine Hochwürden keuchend, mit hochgehobenen Armen, wie einen Rasenden über den Kiesplatz stürzen und hinter dem nördlichen Flügel verschwinden sehen ... Dazu scholl aus den Gemächern der »gnädigen Frau« unausgesetzt die aufgeregte, zornbebende Stimme des Hofmarschalls, manchmal unterbrochen von einem mahnenden oder auch heftig drohenden Ausruf des jungen Herrn ...

Da trat Liane auf die Schwelle und schritt an den erschreckt Zurückweichenden vorüber, das Gesicht blutlos und starr, wie das einer Wachsfigur; von den langen Flechten rieselten die Wasserbäche unaufhörlich über das silberrauschende Kleid, das sie als rollende Perlen abstieß, und die lange Schleppe zog einen breiten, feuchtglänzenden Streifen über das Steinmosaik des Fußbodens; es machte den Eindruck, als käme »die gespenstische Wasserfrau« direkt vom Grunde des Sees, um eine Seele hinabzuholen ...

Sie verschwand im Säulengange, und Hanna flog ihr nach in das Ankleidezimmer; dem Mädchen sträubte sich das Haar vor Entsetzen; sie hatte eben noch mit halbem Ohr erfangen, was die hereintretenden Leute den anderen mitteilten; sie hörte das Stimmengewoge hinter sich in Ausrufen der Wut, der Erbitterung gipfeln.

In angstvoller Hast kleidete sich die junge Frau um. Sie sprach nicht; aber ihre Zähne schlugen hörbar wie im Fieberfroste zusammen. Durch die Thür des anstoßenden Salons drang die scharfe, schrille Stimme des Hofmarschalls unermüdlich herüber, man konnte jede Silbe verstehen ... Er erging sich mit einer wahren Wollust in Schmähungen seiner verstorbenen Brüder und des »Landstreicherlebens«, das sie geführt. Er griff in die fernste Vergangenheit zurück, um darzuthun, welch eine lange Kette von Leiden und Anfechtungen er, der echte Sohn seiner Väter, der allein den Nimbus und die Prinzipien des Edelmannes zu bewahren verstanden, um dieser »zwei Hirngestörten« willen habe erdulden müssen ... Jeden drohenden Einwurf Mainaus, jede Zurückweisung in die Schranken der Selbstbeherrschung belachte er verächtlich – was konnte ihm der erzürnte Mann anhaben, der unablässig, in höchster Aufregung das Zimmer durchmaß? Morgen mußte er Schönwerth verlassen, und wenn sie auch beide gleiche Rechte an die Besitzung hatten, so war doch nach allem, was die boshafte Zunge des einen an Beleidigungen gegen den anderen geschleudert, ein ferneres Zusammentreffen, ja auch nur das Atmen ein und derselben Luft beiden für alle Zeiten undenkbar geworden. Und daß der Herr Hofmarschall, der Stolz des Hauses Mainau, das Feld nicht räumte, verstand sich von selbst.

Hanna hatte die Flechten ihrer Dame einigermaßen getrocknet und ihr ein schwarzes Hauskleid übergeworfen. Sie erschrak über diesen »Mißgriff in der Eile« und bebte zurück, so entgeistert, so fahlweiß hob sich das Gesicht mit den bläulichen, krampfhaft zusammengezogenen Lippen von dem tiefen Schwarz.

»Gnädige Frau – nicht hinüber!« bat sie angstvoll und griff unwillkürlich nach dem Kleide der jungen Frau, die auf die Salonthür zuschritt; heiße, zitternde Finger schoben die zurückhaltende Hand weg und zeigten nach der Thür, die in den Säulengang mündete. Die Kammerjungfer ging hinaus; sie hörte, wie hinter ihr der Riegel vorgeschoben wurde.

»Du wirst nicht leugnen, daß sich auch eine tüchtige Dosis dieses Narrenblutes bereits bei Leo geltend macht. Er nimmt leider, zu meiner Verzweiflung, nur allzuoft jenen ›genialen Chic‹ an, der zum Fluch für unsere einst so respektable, ehrenfeste Familie geworden ist,« sagte drinnen der Hofmarschall. »Nur eine strenge und gottesfürchtige Erziehung kann da helfen; ich sage nochmals, nur die großväterliche, nötigenfalls eiserne Hand wird ihn retten – und das soll geschehen, so wahr ich dereinst auf einen gnädigen Richter hoffe. Und wenn du deine väterlichen Ansprüche von einem Gerichtshof zum anderen schleppst, Leo ist mein! ... Uebrigens hast du ja Ersatz – deinen Adoptivsohn Gabriel! Ha, ha, ha!«

Da wurde der Thürflügel zurückgeschlagen, und die junge Frau trat in den Salon. Sie stand dem in einem Lehnstuhl hohnlachen zurückgesunkenen alten Herrn gegenüber.

»Gabriels Mutter ist tot,« sagte sie langsam vorschreitend.

»Mag sie zur Hölle fahren!« schrie der Hofmarschall wie wütend.

»Sie hatte eine Seele so gut wie Sie, und Gott ist barmherzig,« rief Liane. Das Blut kehrte in ihre Wangen zurück. »Sie sind strenggläubig, Herr Hofmarschall, und wissen, daß er ein unbestechlicher Richter ist ... Mögen Sie auch in die Wagschale den ›stets behaupteten‹ Nimbus des Edelmannes, die strenge Ausübung der Standespflichten werfen, sie wird dennoch zu leicht befunden ... Wo ein Richter zu entscheiden hat, da müssen auch Ankläger sein, und sie steht jetzt vor ihm und zeigt auf die Fingermale an ihrem Halse.«

Der Hofmarschall hatte sich anfänglich scheinbar galant vorgebeugt und die Sprechende unbeschreiblich malitiös angelächelt. Bei den letzten Worten fiel er zurück; als ihm der Unterkiefer vor sprachlosem Schrecken herabsank und den meist so impertinent zugespitzten Mund weit offen erscheinen ließ, da sah es aus, als berühre ihn die überraschende Hand des Todes ... Mainau aber, der bei Lianes Eintreten am entgegengesetzten Ende des Salons gestanden, kam jetzt auf sie zu; er schien kaum gehört zu haben, was sie gesprochen; er vergaß den verzweifelten Kampf, den er eben um sein Kind kämpfte, den beispiellosen Zorn, der in ihm kochte, über dem Anblick der Frau, die, so seltsam verändert an Stimme und Erscheinung, wieder eingetreten war ... Er schlang den Arm um sie und zog sie näher an das Lampenlicht; er wollte ihr den Kopf in den Nacken biegen, um das Gesicht voll beleuchten zu lassen, und legte die Hand auf ihren Scheitel – entsetzt fuhr er zurück.

»Was ist das?« schrie er auf. »Dein Haar trieft von Nässe. Was ist mit dir vorgegangen, Liane? Ich will es wissen.«

»Krank ist die Gnädige!« rief der Hofmarschall mit klangloser Stimme herüber; er saß bereits wieder aufrecht und legte mit einer ausdrucksvollen Gebärde den Zeigefinger an die Stirn. »Ich sah es sofort an ihrer gespreizten, theatralischen Haltung, und ihre letzten Worte bestätigen vollkommen, daß die Dame an Nervernaffektionen, respektive Visionen leidet. Lasse den Arzt holen!«

Liane wandte die Augen mit einem kalten, verächtlichen Lächeln von ihm weg und ergriff Mainaus Hand. »Du sollst alles erfahren – später, Raoul ... Ich habe dir schon heute einmal angedeutet, daß ich dir Schweres mitzuteilen habe. Die Tote im indischen Hause –«

»Ah, da ist ja wohl die Erscheinung wieder!« lachte der Hofmarschall heiter auf. »Wo haben Sie denn eigentlich das Phantom gesehen, meine Gnädigste?«

»Vor der Thür des roten Zimmers, Herr Hofmarschall. Ein Mann schlang die Hände um den kleinen Hals der armen Bajadere und drückte ihr die Kehle zu, bis sie für tot auf den Boden niedersank.«

»Liane!« rief Mainau in leidenschaftlicher Angst. Er zog sie an sich und zog ihren Kopf beschwichtigend an seine Brust: er glaubte immer noch eher an eine plötzliche Geistesstörung dieses geliebten Wesens, als – an einen Mordversuch in »dem höchst ehrenhaften Schönwerth«.

Der Hofmarschall erhob sich in demselben Augenblicke. »Ich gehe – ich kann keinen gehirnkranken Menschen sehen.« Er sagte das mit dem ausgesprochensten Abscheu in Stimme und Gebärden; aber er vermochte nicht allein zu stehen und griff mit unsicher tastender Hand nach der Armlehne des Stuhles.

»Beruhige dich, Raoul! Ich werde dir beweisen, daß ich nicht ›gehirnkrank‹ bin,« sagte Liane. Sie wand sich von ihm los und trat dem alten Herrn näher.

Lianes sonst so liebliches Antlitz mit den weichen Zügen erschien wie versteinert in Entschlossenheit und Härte. »Herr Hofmarschall,« fuhr sie in ihrer Rede fort, »der Mann verfolgte die schöne Indierin auch nachts durch die Gärten, um sie dem armen Sterbenden im roten Zimmer zu rauben; sie mußte sich hinter Schloß und Riegel flüchten vor ihm. – Sieh hin, Raoul,« unterbrach sie sich und deutete auf den Hofmarschall, der vernichtet in sich zusammengesunken war, »Herr von Mainau will dir dein Kind entreißen, unter dem Vorwande, daß der einzige ehrenfeste, unbescholtene Mann der Familie auch nur den einzigen jungen Träger des Namens erziehen dürfe, aber seine Hand hat ein Menschenleben schwer geschädigt, und die Intrige, durch die Gabriel und seine Mutter verstoßen worden sind, wirft unauslöschliche Flecken auf den ›Nimbus des Edelmannes‹. Du kannst ruhig sein angedrohtes Vorgehen abwarten; Leo wird ihm nie zugesprochen werden.«

Hatte sie gemeint, der Schuldige sei unter der Wucht der Anklagen und des so plötzlich aufgerüttelten Gewissens vollständig zusammengebrochen, so war das ein Irrtum gewesen. Schon bei dem Hinweise auf seine geknickte Haltung hatte er sich mittels eines energischen Ruckes steif aufgerichtet; bei der Anschuldigung bezüglich Gabriels und seiner Mutter nickte er wiederholt, wie amüsiert, mit dem Kopfe, und jetzt brach er in schallendes Hohngelächter aus.

»Das Tableau meiner Verbrechen ist ja famos zusammengestellt, schöne Frau ... Ich sag's ja, diese Weiber mit den roten Flechten sind Teufel im kühl ausgesonnenen Intrigieren. Tausend noch einmal, was für pikante Sachen! ... Und das wird theatralisch effektvoll vorgetragen im eilig übergeworfenen schwarzen Trauergewande, das Sie, beiläufig gesagt, blaß und unschön wie ein Gespenst macht –«

»Onkel, kein Wort weiter!« rief Mainau erbittert und zeigte zum erstenmale nach der Thür.

»Schön, schön – ich werde gehen, wenn es mir beliebt. Aber jetzt bin ich der Angegriffene und bin es mir schuldig, Licht in diese Geschichte zu bringen ... Was Sie so plötzlich so siegesgewiß, so unglaublich herausfordernd mir gegenüber macht, gnädige Frau – ich kann mir's denken. Während wir hier stritten, sind Sie voll leichtverzeihlicher Neugier hinübergegangen, um das ›unglückliche Weib‹ sterben zu sehen. Das gibt einen köstlichen Nervenreiz; das kajoliert den schauerbedürftigen diabolischen Zug in der weiblichen Natur –«

»Ich bitte dich, Raoul, thue nichts, was du später bitter bereuen müßtest!« rief Liane, mit beiden Armen Mainau umschlingend, der, außer sich, auf den giftigen Sprecher losstürzen zu wollen schien.

»Der weiblichen Natur,« wiederholte der alte Herr hämisch lächelnd, da Mainau, zornig den Boden stampfend, ihm den Rücken zuwandte. »Möglich, daß die gelähmte Zunge der ›armen Bajadere‹ im Delirium des Sterbens noch einmal – es soll ja dergleichen vorkommen – so viel Beweglichkeit zurückerhalten hat, verwirrtes Zeug zu lallen, sehr möglich sogar. Aber welcher vernünftige Mensch nimmt dergleichen für bare Münze, oder formuliert gar solch mirakulöses Zeug zu ehrenkränkenden Anklagen? ... Meinen Standesgenossen, wie sie auch heißen mögen, dürften Sie mit diesen allerliebsten Neuigkeiten nicht kommen. Man kennt mich und würde von der zweiten Frau meines Schwiegersohnes einfach behaupten, daß sie mit Ränken umzugehen wisse.«

»Sprich weiter, Liane! Ich fürchte, die Herren Standesgenossen werden Dinge zu hören bekommen, die den Begriff vom angeborenen Adel kläglich zu schanden machen,« sagte Mainau schneidend. »Aber sprich zu mir! Du hörst ja, der Herr Hofmarschall hat mit der Sache nichts zu schaffen, mich aber spannt sie auf die Folter.«

»Die Frau im indischen Hause war tot, als ich hinüberkam; über ihre Lippen ist dreizehn Jahre lang kein verständliches Wort gekommen, und so ist sie auch gestorben,« versetzte die junge Frau; sie verstummte für einen Moment wieder und schloß die Augen; ein abermaliger Schwindel überfiel sie. Sie stützte sich fest auf die Tischplatte und fuhr rascher fort: »Was ich zu sagen habe, weiß ich von einem Zeugen, der seit Onkel Gisberts Rückkehr aus Indien in Schönwerth gewesen ist, einem Zeugen, der nicht faselt, sondern genau weiß, daß er das, was er behauptet, nötigenfalls beschwören muß.« Sie sprach in der That zu Mainau, als sei der Mann mit der aufhorchenden, nicht zu unterdrückenden Besorgnis in den gespannten Zügen hinausgegangen, und sie erzählte, wie er sich, unterstützt von dem Geistlichen, zum Herrn von Schönwerth gemacht, mit welcher raffinierten Grausamkeit Onkel Gisbert von der Frau getrennt worden war, die er bis zu seinem letzten Atemzuge geliebt hatte ... Dazwischen klang spöttisches Kichern oder ein gemurmelter Fluch zu ihr herüber, aber sie ließ sich nicht beirren. Nur als der Name der Löhn zum erstenmale auf ihre Lippen trat, da mußte sie innehalten.

»Die Bestie! Diese Natter!« unterbrach sie der Hofmarschall in einem Gemische von Wut und schrillem Auflachen. »Sie ist Ihr Gewährsmann, meine Gnädigste? ... Sie haben mit dem rohesten, ungeschliffensten Weibe der gesamten Schönwerther Dienerschaft geklatscht und wollen nun daraufhin mich, mich angreifen?«

»Weiter, Liane!« drängte Mainau mit bleichem Gesichte. »Lasse dich nicht irre machen! Ich sehe bereits allzu klar.«

»Mögen Sie auch alle diese Behauptungen der Löhn zu entkräften verstehen, weil Sie allerdings mit scharfem Auge selbst über jeden, auch den kleinsten Vorgang in Schönwerth gewacht haben – eines können Sie nicht bestreiten, denn Sie wissen nicht darum, Sie haben keine Ahnung von dem Geschehenen,« wandte sich die junge Frau noch einmal an den Hofmarschall selbst, »die Indierin war, trotz Ihrer Wachsamkeit, wenige Tage vor seinem Tode noch einmal bei Onkel Gisbert; er ist gestorben mit der Ueberzeugung, daß sie unschuldig verleumdet worden ist.«

»Bah, Sie tragen die Farben allzu dick auf, liebe kleine Frau. Sie sollten wissen, daß das jedweder Darstellung die Grundbedingung, die Glaubwürdigkeit, nimmt,« versetzte der alte Herr mit gut gespielter spöttischer Nachlässigkeit; allein so erloschen, so gleichsam aus vertrockneter Kehle sich ringend hatte seine Stimme noch nicht geklungen. »Von dieser rührenden Szene weiß ich allerdings nichts – sehr begreiflich! Sie wird schließlich, wie alles andere auch, auf die pure nackte Erfindung hinauslaufen ... Uebrigens sehe ich nicht ein, weshalb ich so lammgeduldig dieses nichtswürdige Intrigengespinst länger anhören soll. Ich bin droben in meinen Appartements jederzeit zu finden für den – Gerichtsdiener, den Sie mir so liebenswürdig auf den Hals schicken möchten – ha, ha, ha! ... Gehen Sie jetzt schlafen, gnädige Frau! Sie sind entsetzlich bleich und sehen aus, als stünden Sie nicht fest auf den Füßen; ja, ja, das Dichten greift an, sagen die Leute ... Gute Nacht, meine schöne Feindin!«

»Bitte, Onkel!« rief Mainau und trat vor die Thür, auf welche der Hofmarschall sehr eilig zuschritt. »Ich habe dich mit unerhörter Geduld und Langmut stundenlang mich und meine Familie verunglimpfen lassen – jetzt fordere ich von dir, daß du in meinem Beisein das Ende der Mitteilungen erwartest, wenn du nicht den letzten Rest von deiner ›Kavalierehre‹ in meinen Augen verlieren willst.«

»Poltron!« zischte der Hofmarschall zwischen den Zähnen und warf sich in den Stuhl zurück.

Die junge Frau erzählte den Vorfall an Onkel Gisberts Sterbebett. Es war totenstill im Zimmer geworden, in dem Moment aber, wo sie beschrieb, wie der Sterbende die zwei Siegel mit so peinlicher Sorgfalt unter das Geschriebene gedrückt, da fuhren die beiden Zuhörer empor.

»Lüge, infame Lüge!« schrie der Hofmarschall.

»Ah!« rief Mainau, als falle plötzlich ein grelles Licht in tiefe Nacht. »Onkel, die Herzogin und ihr Gefolge werden bezeugen müssen, daß sie den Siegelring gesehen haben, den Smaragd, von welchem du beiläufig erzähltest, er sei dir vor Zeugen am 10. September von Onkel Gisbert feierlich übergeben worden. Und jener Zettel, den er auf diese Weise einigermaßen rechtskräftig zu machen sucht, existiert er noch, Liane?«

Die junge Frau nahm schweigend, mit bebenden Händen die Kette vom Nacken und legte sie in seine Hand.

Das kleine Schmuckstück war allerdings wie »zugehämmert«; keine Spur von Mechanik ließ sich entdecken. Mainau nahm die starke Klinge eines Taschenmessers und schob sie zwischen das Gefüge – ein starker Druck, und der dünne Deckel zerbrach ... Lässig, aber doch so glücklich zusammengebrochen, daß die emporstehenden Enden die zwei Siegel vor jedweder verwischenden Berührung geschützt hatten, lag ein Zettel in dem schmalen Behälter, jedenfalls noch so, wie ihn die Indierin von ihrem küssenden Lippen weg hineingelegt hatte.

»Diese Abdrücke sind, noch dazu unter dem Schutze einer so klug eingeleiteten Maßregel, für mich eine absolute Bürgschaft, so gut wie für dich, Onkel, der du selbst erklärt hast, ein solcher Abdruck gelte dir mehr als die eigenhändige Unterschrift.«

Keine Antwort, kein Laut erfolgte.

»Hier die scheinbar defekte Stelle des Steines, sie tritt klar und scharf hervor. Morgen bei Tageslichte, unter der Lupe, werden wir den schönen Männerkopf bewundern können ... Und hier unten das Datum, zweimal unterstrichen: ›Geschrieben in Schönwerth am 10. September‹.«

Er legte einen Augenblick in unbeschreiblicher Bewegung die Hand auf die Augen, dann entfaltete er das Papier. »An mich adressiert? An mich?« rief er erschüttert ... Er trat näher an das Lampenlicht und las den Inhalt mit lauter Stimme.

Der Sterbende erklärte gleich zu Beginn, er sei infolge seines geistigen und körperlichen Gebrochenseins der Gefangene seines Bruders und des Geistlichen. Er habe, obgleich in dem Wahne, daß die Indierin treulos sei, dennoch zu ihren gunsten testieren wollen; allein es sei alles geschehen, ihn zu verhindern; selbst der Arzt sei bestochen gewesen und habe seine Bitten um eine gerichtliche Kommission stets als einen im Fieberdelirium ausgesprochenen Wunsch ignoriert. In solchen Momenten seien dann alle beflissen gewesen, ihm das Vergehen, die moralische Gesunkenheit der verstoßenen Frau und das Strafbare seiner früheren Beziehungen zu ihr in den schwärzesten Farben hinzustellen, und er, in seiner grenzenlosen Hinfälligkeit und oft bis zum Wahnsinne geängstigt durch Halluzinationen, habe sich gefügt ... Nun aber wisse er, daß man ihn fluchwürdigerweise hintergangen habe. Er wisse, daß ihm ein Sohn geboren sei, dessen Existenz man ihm verschwiegen habe. Er wisse ferner, daß sein Bruder das Weib seines Herzens mit glühender Leidenschaft verfolge und ihr jedes, auch das kleinste Erbteil zu entziehen suche, um die Unglückliche ganz in seine Hand zu bringen ... Unter all den Schurken, die ihn in eiserne Ketten geschnürt, sei nicht einer, der ihm einer mitleidigen Regung fähig schiene; wohl aber erinnere er sich in diesem Augenblicke namenloser Verlassenheit seines jugendlichen Neffen »mit dem tollen, heißen Kopfe, aber großmütigen Herzen«. Angesichts des nahenden Todes, der ihn stündlich bedrohe, wende er sich an ihn mit seiner letzten Bitte. Er halte es dabei für seine Pflicht,, auszusprechen, daß die Indierin makellos an Ruf und Sitten und nicht, wie man gefabelt, eine Bajadere gewesen sei, als sie sein eigen geworden. Er erkenne ferner den kleinen Gabriel als seinen Sohn an und beschwöre seinen Neffen, die beiden verfolgten unglücklichen Wesen zu schützen und ihnen zu ihren Rechten zu verhelfen, so zwar, daß ihnen der dritte Teil seiner gesamten Hinterlassenschaft ungeschmälert überantwortet und seinem Kinde der Familienname des Vaters zuerkannt werde ... Frau Löhn, die treue Seele, solle dem Neffen, der Sicherheit wegen, persönlich den Zettel übergeben, dessen Glaubwürdigkeit er noch in der Weise verbürgen wolle, daß er unmittelbar nach geschehenem Abdrucke das Siegels den Smaragdring in die »ungetreuen« Hände des »entarteten« Bruders lege.

»Schön, schön! Der Herr Landstreicher hat mich ja sehr schmeichelhaft geschildert – dies der Dank für meine unermüdliche Pflege, die vielen schlaflosen Nächte!« sagte der Hofmarschall sich erhebend mit nervös zuckendem Gesichte, während Mainau das Dokument in seine Brusttasche steckte. »Er ist eben ein charakterloser Bursche bis zu seinem letzten Atemzuge gewesen, den die zwei lügnerischen Weiberzungen windelweich gemacht haben ... Bah, mich ärgert nur, daß ein Geschöpf, wie diese Löhn, mich düpieren durfte.«

Mainau trat von dem Sprechenden weit zurück, mit Ostentation zeigend, daß nun auch er jede Beziehung zu dem »ehrenfestesten, respektabelsten Manne der Familie« als gelöst ansehe.

»Soll ich morgen als Bevollmächtigter Gisberts von Mainau das« – er drückte die Rechte bezeichnend auf die Brusttasche – »vor Gericht niederlegen?«

»Eh, man wird sich die Sache überlegen ... Man hat ja auch seine Dokumente. Es wird sich herausstellen, wer siegt, ob du mit diesem Wische oder die Kirche mit dem Zettel, der im Raritätenkasten liegt. Der Hofprediger ist ja auch noch da, ein anderer Zeuge als Frau Löhn, die Beschließerin! ... Hm, ich glaube, das famose Schriftstück, das du so zärtlich an dein Herz genommen, wird dir mehr Kopfschmerzen machen, als du denkst ... Einstweilen nimm dich der Dame dort an! Die nichtswürdige Intrige, die sie so liebevoll und bereitwillig in Szene gesetzt, scheint sie doch ein wenig mitgenommen zu haben.«

Schon während Mainau las, hatten unheimliche Nervenschauer die junge Frau überrieselt. Es war ihr, als habe ein blutroter, wallender Nebel das Zimmer erfüllt, der auf und ab flutend das verstörte Gesicht des gegenübersitzenden Hofmarschalls fratzenhaft verzerre ... Nun breitete sich eine tiefe, eisige Nacht über sie hin. Ein halb irres Lächeln erzwingend, streckte sie beide Hände nach der Richtung aus, wo Mainau stand, und brach, von seinen Armen aufgefangen, mit einem dumpfen Schrei bewußtlos zusammen ... Fünf Minuten später brauste eine Equipage nach der Stadt, um Aerzte an das Bett der schwererkrankten Herrin von Schönwerth zu holen.

28.

Es waren liebliche, sonnenglänzende Herbsttage, die über das Schönwerther Thal hinzogen. Der warme, weiche Lufthauch trug schwer an den Düften der Resedabeete und des reifenden Obstes, und der wilde Wein breitete seine wuchtige Purpurfahne über graue Turmmauern und die majestätischen Säulenbündel der offenen Gänge.

Vor zwei Fenstern im Erdgeschosse des Schlosses hingen zugezogene blaue Vorhänge; ein Fensterflügel stand offen, und das dufterfüllte Nachmittagslüftchen stieß an die schweren Seidenfalten und schob sie wie mit mutwilliger Kinderhand auf einen kurzen Moment auseinander. Dann flog stets ein feuriger Sonnenpfeil durch die blaue Dämmerung drinnen und weckte glitzernde Reflexe in dem rotgoldenen Haargespinst, das auf der weißen Bettdecke lag ... Wochenlang hatten Leben und Tod um den dort ruhenden, jungen, tieferschöpften Frauenleib erbittert gerungen; seit gestern aber hofften die Aerzte wieder, und jetzt, in dem Augenblicke, wo das Sonnenlicht abermals wie ein zitterndes Goldstäbchen bis auf die sanft atmende Brust hineinschlüpfte, hoben sich die blonden Wimpern, und der erste verständnisvolle Blick brach aus den verschleierten Augen. Er fiel auf den Mann, der zu Füßen des Bettes saß. Das war sein Platz gewesen, von der Stunde an, wo er die Bewußtlose auf ihr Schmerzenslager niedergelegt – da hatte er zum erstenmal in seinem bisher so sorgenlosen, dem Genusse hingegebenen Leben alle Stadien jener unbeschreiblichen Seelenangst durchlaufen, die uns am Krankenbette wünschen läßt, selbst zu sterben, weil jeder Nerv in uns unausgesetzt auf der Folter liegt und weil wir meinen, nach dem letzten Herzschlage dort müsse es tiefe, grausame Nacht werden für immer.

»Raoul!« – Wer ihm gesagt hätte, als er in der Rudisdorfer Schloßkirche von diesen Lippen das »Ja« so gleichgültig hingenommen, sie würden ihn binnen kurzem mit einem einzigen geflüsterten Laut in einen Wonnerausch versetzen! ... Er zog die schmale Hand an sich und bedeckte sie mit Küssen, dann legte er den Finger auf den Mund. Die Augen irrten mit lächelndem Ausdrucke weiter – wie wurden sie weit und glänzend! Vom Tische her, den Löffel mit der Medizin sorgsam in der Hand haltend, trat die unschöne Dame mit dem brennendroten, starren Haare, dem sommersprossenbedeckten Gesichte, an das Bett – ihre Ulrike. Noch in jener furchtbaren Nacht hatte Mainau die Schwester telegraphisch herbeigerufen; sie war seine Stütze, sein Halt geworden, das häßliche Mädchen mit dem besonnenen, willenskräftigen Kopfe und dem Herzen voll zärtlicher, aufopfernder Mutterliebe für sein junges Weib. Keine andere Hand, als die ihre, hatte Liane berühren dürfen. Er hatte damit schwere Opfer an Kraft und Hingebung auch für sich gefordert, und sie waren freudig gebracht worden.

Beide legten mit bittend erhobenen Händen der Kranken Schweigen auf; aber sie lächelte. »Wie geht es meinem Kinde?« flüsterte sie.

»Leo ist gesund,« sagte Mainau. »Er schreibt täglich ein halbes Dutzend zärtliche Briefe an die kranke Mama – dort liegen sie aufgestapelt.«

»Und Gabriel?«

»Er wohnt im Schlosse, hat sein Zimmer neben dem Hofmeister, der ihn unterrichtet, und wartet sehnsüchtig auf den Moment, wo er seinem schönen, mutigen Anwalte dankbar die Hand küssen darf.«

Die Augen schlossen sich wieder, und die Kranke fiel in einen tiefen Genesungsschlaf.

Acht Tage später schritt sie an Mainaus Arme zum erstenmal wieder durch ihre Gemächer. Es war der letzte Tag im September und noch wölbte sich ein kristallblauer Sommerhimmel droben; noch taumelte selten ein angekränkeltes Blatt zur Erde. Die Kronen der hochstämmigen Rosen strotzten in unerschöpflicher Blütenfülle, und auf den Rasenflächen lag ein jugendgrüner Flaum wie im Frühling! Die Welt draußen strahlte, als könne es nie Nacht, nie Winter werden.

Die junge Frau blieb im Salon, der Glasthür gegenüber, stehen. »Ach, Raoul, es ist doch himmlisch, zu leben und –«

»Und, Liane?«

»Und zu lieben,« sagte sie und schmiegte sich an seine Brust. Fast in demselben Momente schauerte sie aber auch in sich zusammen und horchte mit erschreckten Augen auf ein dumpfrollendes Geräusch draußen.

»Leo fährt mit seinen Ziegenböcken durch die Halle,« beschwichtigte Mainau. »Sei unbesorgt, der Fahrstuhl, der dich in deinen Fieberphantasien Tag und Nacht verfolgt hat, rollt schon längst nicht mehr durch das Schönwerther Schloß« ... Es geschah zum erstenmal, daß er der unseligen Ereignisse wieder gedachte; aber er biß sich sofort auf die Lippen. »Ich bin dir Erklärungen, vor allem Beruhigung schuldig, Liane, und der Arzt hat auch jede Mitteilung erlaubt; aber es ist mir noch unmöglich, darüber zu sprechen, so wenig, wie ich imstande bin, den indischen Garten zu betreten, wo das Furchtbare geschehen ist. Ulrike, unsere weise, verständige Schwester, wird dir im blauen Boudoir alles sagen, was du wissen willst und mußt.«

Nun lag sie wieder auf dem Ruhebette, und der blauatlassene Wolkenhimmel hing über ihr ... Was zwischen heute und ihrem ersten Eintreten in dieses kleine, blaue Boudoir lag, es war genug des Schlimmen für ein ganzes langes Frauenleben, und sie hatte es in wenigen Monaten durchleiden müssen. Und doch durfte kein Glied in der Kette fehlen, die zwei gleichgültig nebeneinander verharrende Geister allmählich entzündet und schließlich so rasch zusammengeführt hatte ... Noch sah sie nicht mutig und innerlich befreit auf das Ueberwundene zurück; sie wußte ja nicht, was nach jenem Augenblicke gekommen war, wo sie zusammenbrechend den Hofmarschall in all seiner Impertinenz, seinem ungebrochenen Uebermute drohend und hohnlächelnd vor Mainau hatte stehen sehen. Dieses Bild war ihr in der Seele haften geblieben, und wie der unverwüstliche Jasminduft von Zeit zu Zeit, als schüttle ihn die Geisterhand der vorüberschwebenden, »aus Spitzen gewobenen Seele« höhnisch aus den Atlasfalten der Wände, sie unheimlich anhauchte, so traten die furchterweckenden Gestalten vor sie hin und ließen sie nicht ruhig werden ... Ulrike saß neben ihr. Frau Löhn trat eben ein und brachte ein Körbchen voll Trauben, welche Mainau für die Damen abgeschnitten hatte. »Von dem Spalier, das dem Herrn Hofmarschall allein gehörte,« sagte sie. »Es sind die besten Trauben im ganzen Garten; die schönsten schickte er immer der Frau Herzogin, und die anderen wurden für teures Geld – verkauft, nicht einmal der kleine Baron Leo kriegte eine Beere.«

Mainau hatte sie offenbar instruiert; sie erwähnte – was bisher streng verboten gewesen war – so sicher die früheren Verhältnisse.

»Wann hat der alte Herr Schönwerth verlassen?« fragte Liane unumwunden.

»Gleich am anderen Morgen, gnädige Frau. Er kam in der Nacht vom Säulengange her und war so böse und bissig, wie ich ihn mein Lebtag nicht gesehen – na, ich wußte ja, wo ihn der Schuh drückte. Wir standen noch alle in der Halle. ›Na, was steht ihr da und gafft und horcht? Und gleich die ganze Gesellschaft beieinander? Geh' hinauf zum Herrn Hofprediger,‹ sagte er zu dem Anton, ›ich lasse ihn dringend bitten, in mein Schlafzimmer zu kommen.‹ Der Anton stand da wie ein Geist, und alle anderen machten sich aus dem Staube. ›Na, was wird's?‹ fuhr er den Burschen an, und da sagte ihm der, was geschehen war, und daß er den Herrn Hofprediger nicht holen könne, weil er auf und davon sei. Ich stand hinter der Treppe – den Anblick vergess' ich in meinem ganzen Leben nicht ... Der Anton mußte ihn die Treppe hinaufführen. Ins Bett ist er nicht gekommen; er hat die ganze Nacht gepackt; nur ein paarmal ist er 'nübergegangen und hat die Thür aufgemacht und in die dunkle Stube geguckt und hat gemeint, der mit dem geschorenen Kopfe müsse absolut drin sein ... Am anderen Morgen, Punkt sieben Uhr, fuhr er zum Schloßthore 'naus.«

»Er ist ein ganz erbärmliches Subjekt, dieser Herr Hofmarschall,« sagte Ulrike, während Frau Löhn einen Teil der Trauben auf den Kiesplatz hinaustrug, wo Leo noch mit seinen Ziegenböcken auf und ab fuhr. Gabriel war der Insasse des Wagens. »Von seinem Enkel hat er keinen Abschied genommen; er muß ihn geradezu vergessen haben ... Er hat nach wenigen Tagen nur insofern ein Lebenszeichen gegeben, als er durch seinen Anwalt den dritten Teil von Onkel Gisberts Hinterlassenschaft reklamieren ließ ... Schönwerth wird verkauft werden. Mainau will diese Besitzungen nie wieder betreten, wenn er sie einmal im Rücken hat. Schon ein Aufblinken des Teiches von ferne versetzt ihn in eine unbeschreibliche Aufregung ... Nach Franken geht er aber vorläufig nicht, später allerdings, denn er will seine Güter so viel wie möglich, selbst beaufsichtigen ... Weißt du, Herzchen, wo dir diesmal der Weihnachtsbaum brennen wird? Im weißen Saale zu Rudisdorf, auf der Stelle, wo Papa uns immer bescherte. Mainau hat von den Gläubigern Schloß und Park auf Jahre hinaus gemietet; dort sollst du völlig genesen. Ich gehe vor euch zurück, um alles einzurichten; die neuen Möbel sind bereits bestellt. Magnus schreibt mir, die alte Lene renne wie toll vor Freude im Schlosse umher, und juble, daß die schöne, ›vornehme‹ Zeit wiederkomme ... Mama werden wir freilich nicht in unserer Mitte haben. Sie ist ebenso glücklich wir Lene, aber darüber, daß ihr Mainau ihr die Wahl gelassen hat zwischen Rudisdorf und einem andauernden Aufenthalte in Dresden, den er bestreiten will. Selbstverständlich ist sie nicht einen Augenblick im Zweifel gewesen und wird nur noch so lange in Rudisdorf verbleiben, um dich und deinen Mann anständigerweise zu begrüßen, dann geht endlich, wie sie mir schreibt, ein Strahl der Lebenssonne für eine einsame, unverdient leidende Frau auf – das sind eben Ansichtssachen, Kind ... Frau Löhn geht mit uns. Mainau will sie stets in deiner Nähe wissen, weil sie so goldtreu ist. Er möchte sie auch noch nicht von Gabriel trennen, der noch einige Zeit den vortrefflichen Unterricht des Hofmeisters genießen, dann aber als junger Herr von Mainau behufs seiner künstlerischen Ausbildung nach Düsseldorf gehen soll. Dein Retter aber, der Jäger Dammer, ist wohlbestallter Förster in Wolkershausen geworden und wird schon in zwei Monaten seine kleine, tapfere Försterin heimführen ... Das wäre so ziemlich alles, was ich dir auf Wunsch deines Herrn und Gemahls mitzuteilen habe; er schmeichelt sich, es sei alles auf diese Weise nach deinem Sinne eingerichtet ... Sieh, liebes Herz, ich gehöre nicht zu den überschwenglichen Seelen, aber mir ist es stets, als müsse ich eine Dankeshymne anstimmen, wenn ich sehe, wie mein Liebling geliebt wird. Und was meinst denn du dazu, daß ich, Ulrike Gräfin von Trachenberg, in eigener Person das große Wirtschaftsgebäude in Rudisdorf von den Gläubigern gemietet habe, um eine ausgedehnte Blumenfabrik zu errichten? Mainau billigt meinen Entschluß vollkommen; er gibt mir – selbstverständlich leihweise – das Einrichtungskapital und hofft zuversichtlich mit mir, daß es mir glücken wird, durch Thätigkeit und Arbeit allmählich etwas von dem wieder frei zu machen, was Uebermut und Verschwendung in die Haft der Sequestration gebracht haben. Gott gebe mir Kraft dazu!«

Sie schwieg, während die junge Frau, die verschränkten Hände auf die Brust gedrückt, mit geschlossenen Augen und einem entzückten Lächeln dalag, kaum atmend, als könne ein einziger Hauch alle diese lieblichen Gebilde der Zukunft verwehen; nur ein Schatten flog darüber hin. »Der Schwarze, Ulrike!« fuhr sie empor.

»Er ist spurlos verschwunden,« versetzte die Schwester. »Man glaubt allgemein, daß er sich unter klösterlichen Schutz geflüchtet hat. Er kann dir nichts mehr anhaben; sei ruhig! In die Oeffentlichkeit darf er sich nie wieder wagen; der Vorfall macht ein derartiges Aufsehen, und die gesamte protestantische Bevölkerung ist so aufgebracht, daß selbst seine Beschützerin, die Herzogin, es für nötig befunden hat, sich für längere Zeit nach Meran ›zur Heilung ihrer angegriffenen Brust‹ zurückzuziehen –«

Mainau trat ein. Die beiden Knaben folgten ihm.

»Raoul, wie soll ich dir danken?« rief die junge Frau.

Er lachte und setzte sich neben sie. »Du mir danken? Lächerlich! Ich habe mir als rechtschaffener, unverbesserlicher Egoist alles wohlüberlegt zu einer glücklichen Zukunft eingefädelt; daß es aber auch so himmlisch schön werden wird, wie ich mir träume, das liegt allein in den Händen meiner – zweiten Frau


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