Eugenie Marlitt
Die zwölf Apostel
Eugenie Marlitt

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Wer zu der Seejungfer wollte, der mußte durch den düstern, von alten verfallenen Gebäuden eingeschlossenen Klosterhof. Im Flügel rechts befand sich eine Tür, deren hoher, gewölbter Bogen noch sehr schöne Spuren eines kunstreichen Meißels trug; an der Tür selbst aber waren einzelne Bretter aus dem Gefüge gewichen, was seltsam kontrastierte mit dem ungeheuern Schloß und den massiven eisernen Beschlägen, die für alle Zeiten gemacht zu sein schienen. Dieser Eingang führte in ein kellerartiges Gewölbe; am Ende dieses tiefen Ganges lief eine schiefe, halsbrechende Treppe in das obere Stockwerk. Hier wohnte die Seejungfer, und da war es licht und sonnenhell, wenn auch klein und eng – man vergaß in dem saubern Wohnstübchen mit dem ungeheuren Kachelofen und den weißgescheuerten tannenen Möbeln sofort den unheimlichen Eingang.

An dem offenen Fenster, das hinaus auf die Mauer führte, saß Magdalene. Zu ihren Füßen stand ein Korb mit frisch gebügelter Wäsche, und der Fingerhut an der Hand und ein Stück Leinenzeug auf ihrem Schoße zeigten, daß sie beschäftigt war, die Wäsche auszubessern. Aber die Nadel ruhte. Betrachtete man diese hohe Mädchengestalt, so mußte sich unwillkürlich der Blick des Beschauers fragend nach der Zimmerdecke richten, ob sie wirklich beabsichtige, so niedrig, schief und angeräuchert hängenzubleiben über diesem schönen Haupte, das so stolz auf dem Nacken saß, über dieser ausdrucksvollen Stirn und den wunderbaren Augen darunter...

Das altmodische Schränkchen mit den Glastüren und den grünen Wollvorhängen stand offen. Die Bücherreihen darin sahen nicht mehr neu aus, einige davon erschienen sogar recht abgegriffen, auch standen sie durchaus nicht so schön steil da wie die wohlgeordneten Truppen vornehmer Bibliotheken, die zwar ausgezeichnet equipiert werden, sehr selten aber ins Treffen kommen – man sah vielmehr einzelne, die flüchtig und halb hineingesteckt waren, um vielleicht infolge eines raschen Gedankens gleich wieder bei der Hand zu sein. Es standen ehrenwerte Namen auf den kleinen roten Vignetten, Namen, vor denen die ganze Welt sich beugt und die hier in einem ärmlichen Erdenwinkel den ganzen Segen ihres Wirkens in ein von der sogenannten Welt völlig ausgeschlossenes Gemüt streuten. Der alte Maler, der Magdalene im Zeichnen unterrichtet hatte, war ein vielseitig gebildeter Mann gewesen. Er hatte das junge Mädchen zuerst auf den kostbaren Schatz im Glasschranke aufmerksam gemacht und ihr nach und nach selbst die Bücher in die Hand gegeben, wie sie in strenger Reihenfolge ihrem sich ungemein rasch entwickelnden, feurigen Geist nützen mußten. Nach stillschweigender Übereinkunft zwischen ihm und der Seejungfer brachte er stets die langen Winterabende im warmen, gemütlichen Stübchen derselben zu und las, von Suschens unermüdlich schnurrendem Spinnrad akkompagniert, Magdalene vor oder erklärte ihr die Stellen, die ihr dunkel geblieben waren. Als ein von der undankbaren Welt vergessener Mann war er jedoch nicht ohne Bitterkeit. Ein entschiedener Feind der meisten sozialen Einrichtungen, zog er oft mit schneidender Ironie gegen dieselben zu Felde und beleuchtete grell ihre Lächerlichkeiten und Widersprüche. Daß diese Saat üppig aufschoß in einem jungen Herzen, dessen heißes Empfinden überall an die zurückweisenden Schranken der Welt stieß und so in sich verglühen mußte, konnte wohl nicht anders sein. Auf diese Weise kam es, daß, während der Geist des jungen Mädchens jubelnd das Reich der Ideale betrat, welches ihr alter Freund in den Werken großer Meister vor ihr aufschloß, ihr Gemüt einem finstern Dämon verfiel, dem tiefsten Mißtrauen gegen die Menschen, geschöpft aus den Lebenserfahrungen des verbitterten Alten und aus einer trüben Kindheit.

Magdalene hatte den Kopf an die Fensterbekleidung gelehnt. Sie merkte es nicht, daß eine kleine Weinranke von draußen hereinkam und sich schmeichelnd auf ihr Haar legte; auch den kleinen vorwitzigen Sperling sah sie nicht, der nahe an ihre Schulter herantrippelte und Brotkrumen suchte, die sie ihm oft hinstreute. Sie blickte träumerisch vor sich hin und hielt in der herabgesunkenen Hand mehrere zusammengeheftete Papiere. Es waren alte, vergilbte Blätter, eine Anzahl von dem verstorbenen Leberecht zierlich geschriebener Verse enthaltend – Gedichte voll Schwung und Glut, voll tiefen Leides und schmerzlicher Resignation. Auf dem Titelblatt stand: »An Friederike«.

Langsame Tritte draußen auf der knarrenden Treppe schreckten das junge Mädchen aus ihrem Nachsinnen auf. Sie eilte nach der Tür und nahm der eintretenden Seejungfer einen leeren Korb und den Mantel ab, den sie sorgfältig an den Nagel hing, dann schob sie der Muhme den alten Sorgenstuhl des verstorbenen Schusters hin und holte den Nachmittagskaffee aus der Küche. Die Seejungfer sah ihrer Geschäftigkeit freundlich zu, gleichwohl hatte sie einen etwas mürrischen, unzufriedenen Zug um den Mund, der sich auch durchaus nicht unterdrücken lassen wollte.

Sie sagte deshalb, nachdem sie die schwarze Bürgerhaube der Schonung wegen mit einer buntkattunenen Hausmütze vertauscht hatte: »Höre, Lenchen, ich bin der Frau Schmidt begegnet. Sie wollte mir zehn Groschen geben, weil du sie durchaus nicht genommen hättest, sagte sie. Guck, mein Töchterchen«, fuhr die Alte fort, »es heißt in der Bibel: ›Brich dem Hungrigen dein Brot‹, das hat mir mein seliger Vater oft genug gesagt, obgleich es bei uns nicht ein einziges Mal vorgekommen ist, daß sich ein anderer an den Spruch gehalten hätte, und wir waren manchmal recht in Not. Na, das tut nichts, ich hab' mich mein Lebtag an das Wort Gottes gehalten, soviel ich konnte; aber es hat alles seine Grenzen... Da hast du nun einen ganzen Tag fest gearbeitet an dem Leichenkarmen für der Schmidt ihr Kind, hast viel schönere Rosen und andere Sachen daraufgemalt, als du bei weit reicheren Leuten schon gemacht hast – und nun nimmst du nicht einmal das Geld dafür, das du sauer genug verdient hast... Zehn Groschen sind für uns viel Geld, Lenchen, und der Schmidt ihr Kind wär' ebenso selig geworden, wenn sie ihm ein Sträußchen Buchsbaum auf den Sarg gelegt hätte, statt des Sprüchleins und der gemalten Blumen auf dem weißen Seidenband.«

»Muhme, das ist nicht Euer Ernst!« entgegnete das Mädchen, und seine erst von einer sanften Freundlichkeit beseelten Züge nahmen einen Ausdruck von Strenge an. »Seht mich einmal an, Muhme. Wißt Ihr noch, wie die Schmidt die Hände fast blutig rang und verzweiflungsvoll weinte und schrie, als ihr der liebe Gott das kleine Mädchen, den Trost ihrer Augen, ihre ganze Glückseligkeit auf dieser Welt, nahm?... Könnt Ihr Euch nicht denken, daß darin noch ein geringer Trost, eine wehmütige Freude liegt, wenn wir das, was wir begraben müssen, wenigstens bis zu dem Augenblicke, wo es unseren Blicken entzogen wird, mit den höchsten äußeren Ehren, die wir zu geben vermögen, mit jedem sichtbaren Ausdruck unserer Zärtlichkeit überhäufen können? Und soll eine arme Mutter darin nicht gerade so fühlen wie eine reiche?... Seid nicht bös, Muhme, ich konnte das Geld nicht nehmen, an dem die Tränen des armen Weibes hingen.«

»Ja, da sprichst du nun wieder wie ein Buch, und unsereins kann nichts darauf sagen. Aber, Lenchen, wenn du's immer so machen wirst, da wirst du dein Lebtag zu nichts kommen.«

»Seid ohne Sorgen, Muhme«, erwiderte das junge Mädchen nicht ohne einen Anflug von Bitterkeit. »Ihr wißt selbst am besten, wieviel Leichenkarmen mir schon bezahlt worden sind, ohne daß ich nötig gehabt hätte, mich zu weigern... Ihr habt das Geld der Schmidt gelassen, nicht wahr, Muhme?«

»Ja freilich, da du's nicht nehmen wolltest, da durft' ich schon gar nicht, aber geärgert hab' ich mich doch, hab's auch gleich dem Jakob gesagt, der gerade dazukam. Aber der ist nicht um ein Haar anders als du. ›Recht hat das Lenchen‹, sagte er und ließ mich stehen.«

Der Blick der Seejungfer fiel jetzt auf das geschriebene Heft, das noch auf dem Tische lag.

»Was hast du denn da?« fragte sie.

»Geschriebenes vom Vetter Leberecht«, sagte das Mädchen. »Es lag in einem Buch ganz droben im Glasschrank. Ich hatte bis jetzt die Klammern daran nicht aufgemacht; aber heute, als ich den Schrank innen säubern wollte, da stürzte es herunter, und da fiel das Heft heraus.«

»Ja«, sagte die Alte, und eine tiefe Rührung überflog ihre Züge, »das sind schöne Liederverschen, die der Leberecht wahrscheinlich aus seinen Büchern abgeschrieben hat... Ich hab' ihm oft in seiner Krankheit dies Schreibbüchlein aufs Bett legen müssen, bis er's am Tage vor seinem Tode selbst in das große Buch geschoben hat.«

»Muhme Suschen, hat denn der Vetter Leberecht ein Mädchen liebgehabt?« fragte plötzlich Magdalene.

Die Seejungfer, die bei aller Rührung eben ein Stück Semmel zum Munde führen wollte, hielt so erstaunt inne, als sei sie eben gefragt worden, ob der Wald blau sei und der Himmel grün.

»Was du aber auch immer für närrisches Zeug aufs Tapet bringst!« sagte sie endlich. »Der Leberecht, der stille, ernsthafte Mensch, der weder rechts noch links sah und immer seinen Weg fein gesetzt ging – nein!«

»Nun, deswegen könnte er doch geliebt haben.«

»Ja, wen denn?... Es gab freilich damals hübsche Bürgerstöchter genug, und die Weiberstühle waren immer zum Brechen voll, wenn er predigte, aber angesehen hat er keine. Er ging ja auch zu gar keiner Menschenseele und steckte den ganzen Tag zu Hause. Nur einigemal in der Woche kam er zu dem gestrengen Herrn Bürgermeister Werner und gab dem Jungen Stunden.«

»Waren auch Töchter da?«

»Freilich, eine – na, du wirst doch nicht gar glauben, daß der Leberecht so dumm gewesen sei, sich in die Friederike zu verlieben, das stolzeste Mädchen in der ganzen Stadt?... Nein, das hätte der Leberecht nie getan, und wenn er's auch bis zum Kandidaten gebracht hatte – er war doch nur ein Schustersohn, und das hat er nie vergessen. Da wäre er aber auch schlecht angekommen, denn Werners ganze Sippschaft hatte einen gar erschrecklichen Stolz. Nun, sie waren ja auch reich und vornehm genug!... Tausend noch einmal, in dem Hause soll es hoch hergegangen sein! Manchmal sonnabends kam der Bediente und lud den Herrn Kandidaten auf einen Löffel Suppe zum Sonntag ein. Da ging denn der Leberecht auch immer hin und nahm seine Geige mit – er soll recht schön gespielt haben, ich verstand's nicht. Und da mußte er immer nach Tische der Familie ein Stückchen aufspielen, und die Friederike sang auch... Aber er hat auch viel Ärger dort gehabt, denn der Junge, dem er das Lateinische beibringen mußte, hat ihm viel zu schaffen gemacht, er war gar ein böser, nichtsnutziger Range... ist nachher aber doch ein vornehmer Mann und Bürgermeister geworden.«

»War denn Friederike schön?«

»Na, ob die schön war! Das will ich meinen... Du kennst sie ja, es ist die jetzige alte Frau Rätin Bauer. Man sieht freilich jetzt nichts mehr davon, sie hat ein ebenso runzeliges Gesicht wie ich auch – junge Springer, alte Stelzner – lautet das Sprichwort; aber damals, ja damals!... Ich habe sie einmal gesehen, wie sie zu einer Hochzeit ging, und das habe ich mein Leben lang nicht vergessen können. Da hatte sie ein steifseidenes Kleid an, das war blau wie der Himmel; es schleppte hinten lang nach und rauschte entsetzlich, und die ganze hohe Frisur war mit Rosen besteckt, frisch vom Stock, wie sie im Garten gewachsen waren... Ach ja, ich weiß noch, dazumal war's mit dem Leberecht nahe am Ende. Ich wollte ihm noch eine kleine Freude machen und setzte mich an sein Bett und erzählte ihm vom Hochzeitszug und von Werners Friederike, die er doch so gut kannte – wie lustig und stolz sie ausgesehen hatte und was für ein stattlicher Herr sie führte... Da machte er mir aber ein Paar Augen, die vergeß' ich in meinem ganzen Leben nicht – nachher steckte er den Kopf tief ins Kissen, und am andern Morgen ist er gestorben. Ich mein' immer, er hat da noch einmal an den vielen Ärger gedacht, den er mit dem bösen Jungen gehabt hat.«

Magdalene sah tiefbewegt auf die alte Frau, die so ahnungslos und ruhig erzählte, wie sie dem über alles geliebten Bruder unwissend den letzten Todesstoß beigebracht hatte. Während ihrer Erzählung hatte die Alte die Brille aufgesetzt und einen schadhaften Strumpf auf die linke Hand gestülpt, dem sie wacker mit Nadel und Faden zusetzte.

»Die Friederike hat nachher den Rat Bauer geheiratet«, fuhr die Seejungfer in ihren Mitteilungen fort, »und es ist dazumal ein Gesperr in der Stadt gewesen über den vornehmen Bräutigam, daß kein Kaiser und kein König neben ihm aufkommen konnte. Aber Hochmut kommt vor dem Falle, und man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Der Herr Rat hat kein Geld in der Hand leiden können – es mußte alles hinaus, und wie er gestorben ist, da war nichts mehr zu finden, und in der Friederike ihrem großen Geldkasten, da hielten die Mäuse Kirchtag... Dazu kam nun noch das Unglück, daß ihre Tochter im ersten Kindbett starb und ihr Tochtermann, weil er schlechte Streiche gemacht hatte, davonging. Dazumal hat sie mich gedauert – aber all das Schicksal hat sie nicht mürbe gemacht; sie hielt sich strack und steif wie immer, und in den Trauerkleidern hat sie eben nicht anders ausgesehen als vorher auch.«

»Ihr Enkelkind, die Antonie, kenne ich wohl von der Schule her«, sagte Magdalene, und um ihre Lippen glitt ein herber Zug. »Sie saß immer so steif eingeschnürt in den tadellos gehaltenen Kleidern auf ihrem Platz, und ihr gelbes Haar war so glatt an die Schläfen gestrichen, daß es wie ein Spiegel glänzte. Sie tat unendlich vornehm, so daß die anderen Kinder mit einer wahren Ehrfurcht zu ihr aufsahen... Ich haßte sie, denn sie hinterbrachte stets dem Lehrer die kleinsten Vergehen, die in der Klasse vorkamen, und konnte so zufrieden lächeln, wenn recht harte Strafen zudiktiert wurden. Es empörte mich, wenn sie uns auch noch als Muster eines wohlgesitteten Kindes vorgestellt wurde.«

»Ja, Lenchen, das ist nun einmal der Welt Lauf. Zu meiner Zeit war's geradeso, da waren die Ratstöchter auch immer die gescheitesten und die besten – das muß wohl so in der Art liegen... Das kannst du mir aber glauben, wenn die Frau Rätin ihren Bruderssohn, den jungen Herrn Werner, nicht hätte...«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach sie, und viel eher hätte sie wohl des Himmels Einsturz erwartet als das, was sie sah. Der junge Mann, dessen Name noch halb auf ihren Lippen schwebte, trat, sich tief unter der niedrigen Tür bückend, in das Stübchen und bat, nachdem er freundlich gegrüßt, um den Schlüssel zu der Liebfrauenkirche, den, wie er höre, die Jungfer Hartmann seit letzterer Zeit in Verwahrung habe.

Die Seejungfer knickste und riß ihre gläsernen Augen weit auf; das junge Mädchen aber schrie diesmal nicht, wie vor einigen Tagen auf dem Turm; sie machte auch keine Bewegung, um fortzulaufen – langsam erhob sich ihre schlanke Gestalt vom Stuhle, ja, es sah fast aus, als wüchse sie zusehends. Ihr Gesicht war schneeweiß geworden bis in die festgeschlossenen Lippen; aber in ihren Augen, die sie auf den Eintretenden richtete, funkelte es wie ein zorniger Blitz.


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