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Bohème

Als Thomas Kiriel, der Graveur, mir seine Studien gezeigt hatte, ergriff mich Bewunderung für die Arbeit dieses Menschen, der, erst neununddreißig Jahre alt, mit seiner vornehmen, der reinen Schönheit dienenden Kunst, das Glück und den Erfolg zu sich gezwungen hatte. Er hörte mich lächelnd an und sagte mit der Miene des Bedauerns:

»Ach, hätte ich doch meine schöne Jugendzeit nicht vergeudet!«

Ich war sehr erstaunt, denn ich wußte, daß er seit Jahren rastlos, von vier Uhr morgens bis in die Nacht hinein, arbeitete, sich kaum Zeit zum Essen gönnend. Er aber sagte, indem er seine hölzerne Pfeife stopfte:

»Ich habe dasselbe Luderleben geführt, wie die anderen, sehen Sie! Mit zwanzig Jahren habe ich ahnungslos Intelligenz und Gesundheit in stupiden Lumpereien vergeudet, indem ich wie ein Kutscher trank und mit armen meist hysterischen Frauenzimmern Verhältnisse hatte. Da ich sehr arm war, erschien mir dieses stolze Bohème-Leben als mein gutes Recht; die Reichen amüsierten sich doch auch. Erst später verstand ich, daß nur eine einzige Sache die Armut entschuldigt und zu Ehren bringt: nämlich die Arbeit. Und wissen Sie, wieso mir diese einfache Wahrheit aufgegangen ist? Das will ich Ihnen erzählen.«

Seine Pfeife hatte guten Zug; er sog die ersten vollen Züge ein, an denen sich der richtige Raucher am meisten erfreut. Dann nickte er mit dem Kopf und begann, nachdenkend und vertraulich:

»Es war am heiligen Abend, gegen sieben Uhr. Wir hatten schon seit Beginn des Monats gebummelt und konnten uns kaum mehr auf den Beinen erhalten. Außerdem hatten wir kein Geld, unser Kredit bei den Wirten war längst tot und begraben. Unsere Bande, ein schönes Gemengsel, bestand damals aus einem Maler, einem kleinen langhaarigen Dichter, einem Ministerialbeamten, einem herabgekommenen Lebemann und einem Photographen. Jeder hatte schon sein möglichstes für die gemeinsamen Finanzen getan: Der Beamte hatte sein ganzes Gehalt voraus verzehrt, der Photograph seine Apparate verkauft, der Lebemann einen fast noch neuen Stadtpelz ins Versatzamt getragen. Er schlotterte auch in seinem kleinen hellgelben Überzieher, der ihm kaum über den Hintern reichte. Ich hatte einen Stich an einen jüdischen Trödler verkauft. Der Dichter wieder trug einen in Kalbleder gebundenen Ronsard unterm Arm, den er am Quai für zwanzig Sous gekauft hatte und für den er nun zwanzig Franks bei allen Buchhändlern, an denen wir vorbeikamen, verlangte; ich brauche wohl nicht erst zu sagen, daß dies ein vergebliches Bemühen war. Der Maler aber hatte nichts hergegeben. Er erwartete jeden Tag einen Geldbrief aus der Provinz; wir ließen uns diese Erfindung einreden, weil er ein guter Kerl war.

Kein Geld, an einem heiligen Abend, und eine verteufelte Lust, die Weihnacht zu feiern! Saftig roch es aus den Fleischerläden. Goldgelbe Hühner, nackte Gänse drehten sich über den hellen Feuern der Speisehäuser. Die Passanten sahen so glücklich aus; unter den Armen trugen sie weiße Pakete, Flaschen, in Papier gewickelt, bauschten ihnen die Taschen auf. Es tat wohl und wehe zugleich, das zu sehen. Das Wasser lief uns im Munde zusammen, und wir fühlten ein Prickeln in der Nase.

Es wurde beschlossen, zunächst auf Montmartre Absinth zu trinken. Wohlgemerkt, wir kamen vom Ende von Montparnasse. Es war ein gutes Stück Weges; aber die Hoffnung auf einen kreditierten Absinth bei einem Cafétier mit künstlerischen Bestrebungen hielt uns aufrecht. Der Absinth, das war die Hauptsache für uns! Das kam noch vor dem Hunger, vor der Liebe. Es war unser Haschisch; er vergoldete unsere Lumpigkeit, machte uns reich, mächtig, glücklich.

Wir erklimmen Montmartre, und was sehen wir? Das Café ist geschlossen, ein Partezettel hängt an der Türe. Da erinnerte sich der Photograph, daß er irgend jemanden, einen Kunden, kannte, der in einer Brasserie auf dem Boulevard Sebastopol sein Spiel zu machen pflegte. Schnellschritt! Triefend langen wir dort an. Eben war der Gast fortgegangen, zu einem Rendezvous. Der Photograph vollführte einen Geniestreich, pumpte den Kellner um vierzig Sous an und wir gingen den Absinth anderwärts trinken.

Aber das genügte nicht, der Abend mußte ja gefeiert werden! Mit leerem Bauch und schlotternden Beinen wankten wir wieder nach Batignolles hinauf. Der Maler spürte es wie eine glückliche Verheißung im Magen: Heute, heute mußte der Geldbrief gekommen sein, den er seit Monaten erwartete; die Hausmeisterin würde wohl zehn Franks vorstrecken, bis der Briefträger morgen das Geld ausliefert. Wir gingen darauf ein, ohne daran zu glauben, und wir taten wohl daran.

Die Post hatte dem Maler nichts gebracht als eine Gasthausrechnung und eine Vorladung zum Friedensrichter. So liefen wir denn die Cafés ab. Einer von uns trat ein, durchquerte den Saal, um zu sehen, ob er nicht einen guten Freund zum Anpumpen finden könnte, und ging wieder hinaus. Aber nur der Ministerialbeamte hatte Glück; ein Freund zahlte ihm ein Glas Bier unter der Bedingung, daß er für ihn in die Billardpartie einspringe. Als er zurückkam, stiegen wir melancholisch die Straße hinauf. Da hob der Lebemann einen erleuchteten Blick zu den Fenstern eines ersten Stockwerkes. Dort strahlte Licht, festlich bewegte Schatten glitten hinter rosaroten graziösen Vorhängen hin, während auf einem erstickten Piano eine epileptische Polka gehackt wurde. Der Lebemann kannte da jemanden, und vielleicht …

»Wartet auf mich!«

Er läutete und verschwand.

Während wir ihn erwarteten, schlugen wir je zwei und zwei, die Fußsohlen aneinander. Der einsame Fünfte stampfte in die Mauer, daß sie abbröckelte. Nach fünf Minuten kam der Lebemann zurück, strahlend, ganz verändert. Einen Louisdor hatte er, wie ein goldenes Monokel, ins Auge gesteckt. Wie war er dazu gekommen, von wem hatte er es? Niemand fragte danach, wir waren viel zu hungrig.

Sofort ließen wir uns in einer Kneipe nieder und verzehrten dort zwei Dutzend harte Eier. Das Essen wurde als notwendiges Übel genommen, kräftigend, aber sparsam. Der Rest des Geldes mußte vertrunken werden. Wir tranken also und zogen durch Wirtshäuser und Cafés. Und dieser armselige verdächtige Louisdor hatte uns wahrhaft Glück gebracht. Überall trafen wir jetzt Kameraden, überall bot man uns zu trinken an! Um Mitternacht nahm ein reicher Idiot uns alle zum Souper zu Foyot mit. Stockbesoffen kamen wir von dort heraus. Von da ab wurde unsere Odyssee ganz planlos. Ein langer Gänsemarsch riß uns zum Boul, Mich' mit. Der Photograph erhielt in einer Rauferei von einem Polizisten einen Faustschlag aufs Auge. Der Hut des Malers wurde von einem Wagen überfahren. Dreimal verloren wir den Ministerialbeamten, der absolut unter einer Brücke schlafen wollte. Um drei Uhr morgens endlich fanden wir uns, mit leeren Taschen und in öder Stimmung, in einer Kneipe am Boulevard Clichy gestrandet, wo der kleine Dichter ein Frauenzimmer kannte.

Kraftlos auf die Bänke hingelümmelt, sahen wir zu, wie diese Person, Volumina mit Namen, die Losung zählte. Sie war gut vierzig Jahre alt, hatte eine Brust wie eine Amme und die müden Augen der Freundinnen älterer Herren, die über nichts mehr außer Fassung kommen. Als sie Kassa gemacht hatte, setzte sie ihren Hut auf, nahm ihre Jacke und faßte den Dichter unter ihren mütterlichen Arm, denn er konnte kaum mehr senkrecht stehen.

›Also komm, Bubi!‹

Mechanisch folgten wir ihnen. Aber auf der Gasse ergriff uns alle tiefste Niedergeschlagenheit, auf dem leeren Boulevard, im Dunkel, in der Kälte, bei dem Gedanken, daß sich nun jeder allein in seine Wohnung schleppen müsse. Trunkenheit und Ermüdung hatten uns ganz heruntergebracht. Schweigend, einer hinter dem anderen trottend, mit tiefen Seufzern begleiteten wir den Dichter und sein Weib bis zu ihrer Türe. Dort aber erhoben wir bittere Klagen bei dem Gedanken an die Trennung. Der Maler drohte, sich in den Rinnstein zu legen, der Photograph schluchzte laut, der Lebemann nieste und klapperte mit den Zähnen, ganz erfroren in seinem gelben Überzieherchen. Wir sahen alle so abgeschlagen und heruntergekommen aus, waren in so kläglich verlumpter Zerrüttung, daß der Dichter, von Mitleid ergriffen, das Weib bewog, uns zu ihr kommen und alle sechs in ihrem Zimmer schlafen zu lassen. Sie willigte ein, unter der Bedingung, daß wir keinen Lärm machen und die Stiefel ausziehen, bevor wir die Stiege hinaufgehen. Da stiegen wir nun, alle sechs, in Zocken hinter ihr her und pferchten uns kichernd in ein dunkles muffiges Zimmer hinein.

Als das Licht angezündet war, öffnete das Weib die Türe zu einer finsteren Kammer und hob das Licht über ein kleines Bett, wo ihre Tochter lag, ein Kind von vier Jahren, blond und rosig, das sehr ruhig, mit geballten Fäustchen, ganz allein dort schlief. Sie neigte sich über das Kind, streichelte und küßte es. Das Kind lächelte, ohne zu erwachen. So unvermittelt war das Auftauchen dieses hübschen kleinen menschlichen Antlitzes unter unseren schweinischen Gesichtern – denn wir sahen aus wie abgemattete Tiere – daß ein großes Schweigen über uns lag und unser Rausch sich halb verflüchtigte. Schweigend legte sich jeder hin, wie er konnte: Der Photograph in ein Fauteuil, der Maler, in einen Teppich gewickelt, auf die Erde, der Beamte zu Häupten und der Lebemann zu Füßen des Diwans, der Dichter zu dem Weibe ins Bett und ich wie ein Jagdhund zusammengerollt auf der kleinen Matratze des Kindes, vorsichtig, um es nicht zu berühren.

»Zerquetschen Sie es mir wenigstens nicht!« hatte die Mutter gesagt.

Fünf Minuten, nachdem die Kerze verlöscht worden war, schnarchte alles. Ich allein konnte nicht schlafen.

Ich blieb nicht nur wach, sondern wurde auch von seltsamen, blitzartigen, fieberhaften Gedanken bestürmt, wie sie der Rausch gebiert. Zunächst die Feststellung meines Zustandes; ich wiederholte mir: ›Ich bin betrunken, fürchterlich betrunken!‹ Dann, als ich bei einem Mondstrahl, der ins Zimmer glitt, die emporgestreckten Füße des Photographen sah und seine, offen gestanden, sehr zweifelhaften Strümpfe, ergriff mich ein großer Ekel vor meinen Kameraden. ›Wie kann man nur so viehisch sein!‹ Ihr verschieden tönendes Schnarchen, worein sich noch das des Weibes mengte, machte mir förmlich den Eindruck eines Schweinstalles, wo die angefressenen Tiere schlafend grunzen. Da sagte ich mir: »Ich gehöre ja auch dazu, wenn ich auch nicht schnarche wie die anderen.«

In diesem Augenblick glitt etwas Sanftes, Warmes über mein Gesicht; es war die Hand des Kindes. Unwillkürlich küßte ich sie, in leichter Rührung über diesen reinen Schlummer. Sofort schmiegte sich die Kleine, von der Körperwärme angezogen, an mich, legte mir das Ärmchen um den Hals, wie sie es wahrscheinlich auch bei ihrer Mutter zu tun pflegte. Arme Unschuld! Ich dachte nun an all das Sonderbare und Unerbittliche dieses Schicksals: dieses arme Wesen, aus einer zufälligen Begegnung geboren, in einer Nacht vielleicht wie diese, und dann vom Vater elend verlassen. Der Vater! Kannte man ihn überhaupt? Und was wird später ihr Leben sein! Prostituierte, wie ihre Mutter!

Sicherlich, mein Wachen war nicht sehr heiter. War es den harten Eiern zuzuschreiben, der Weihnachtfeier oder dem Alkohol? Aber mein Gewissen machte mir die schwersten Vorwürfe: ›Wie nett,‹ sagte es, ›wie reizend, bei Kellnern Geld zu pumpen, dessen Herkunft man nicht kennt, bis zum Umfallen zu saufen, Körper und Geist täglich mehr in eine schmierige Faulheit, in die Freuden eines zweifelhaften Zigeunerlebens zu verstricken! Das ist die Jugend, sie muß sich austoben! Aber ist das auch wirklich so lustig? Unterhalte ich mich eigentlich dabei?‹

Und ich dachte an meine Mutter, die gute alte Frau, die, voll Angst wegen meiner Streiche, sich recht traurig zu Bette gelegt haben wird. Ich sah nun ihr kleines, schmales Bett vor mir, ihren leichten Schlaf einer Alten, so rein, wie der des Kindes an meiner Seite. Geräuschlos richtete ich mich auf, zog meine Stiefel an, und über meine Kameraden wegschreitend, kam ich leise zur Tür, dann auf die Stiege. Einmal auf der eisigen Straße, atmete ich freier. Ganz Paris mußte ich durchqueren. Um sieben Uhr war ich zu Hause und schlich lautlos in den fünften Stock hinauf und in mein Zimmer.

Ich zündete die Lampe an, nahm mein Werkzeug und begann zu arbeiten, mit der ganzen Hingabe und dem Ernst eines Betrunkenen. Ich machte keine gute Arbeit, aber der Wille war da. Ich rackerte noch um neun Uhr, als meine Mutter, unruhig, in der Meinung, ich sei noch nicht zu Hause, in mein Zimmer kam.

Sie war sehr bleich und blieb ganz verblüfft stehen. Als ich sie so sah, begann ich zu weinen, da mir einfiel, sie sei alt und eines Tages würde ich sie nicht mehr sehen. Sie tröstete und pflegte mich, denn ich lag die nächsten drei Tage krank. Dann ging ich wieder an die Arbeit, und diesmal allen Ernstes.«

Kiriel klopfte auf der Ecke eines Schemels seine erloschene Pfeife aus und schloß:

»Seitdem war mein Bohème-Leben zu Ende.«


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