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Dritter Akt

Zimmer neben dem Laden der Legros, mit Fenster und Tür im Hintergrund auf eine Seitengasse. Links in das Innere des Hauses.

 

Erste Szene

Legros. Die Verwandte. Vignon. Madame Touche. Fanchon.

Madame Touche: Ich will Ihnen sagen, Herr Legros, was sie ist. Sogleich wird sie zurück sein von ihrem Triumph, dann sage ich es ihr selbst. Eine Heilige ist sie!

Legros: Ich muß es wohl glauben.

Madame Touche: Wenn man sie gesehen hat, wie sie den Kuppelsaal betrat, wo alle diese Herren von der Akademie sie erwarteten –! Ich hatte Zutritt. Sie, Herr Vignon, hatten keinen. Aber Ihr Vetter ist auch nicht königlicher Lakai.

Vignon: Freilich nicht. Aber da ein Herr von den französischen Garden mich mit seiner Freundschaft beehrt, habe ich Madame Legros gesehen, wie sie vor der Akademie aus dem Wagen stieg. Es war, als ob ich sie nicht gekannt hätte. Eine vornehme Dame.

Madame Touche: Ich weiß es besser: eine Heilige. Und der Tugendpreis soll tausend Pfund betragen.

Vignon: Auch der Unschuldige war feierlich anzusehen. Er hatte einen gestickten Rock, einen Bart, lang und weiß, und er war bekränzt.

Verwandte: Man sagt, daß er trotzdem nur ein alter Tunichtgut sei.

Legros: Hüte deine Zunge!

Fanchon: Wie Madame Legros glücklich sein muß! Ich habe es ihr immer gewünscht.

Madame Touche: Wir alle waren immer für Madame Legros. Ganz Paris war draußen, man sprach nur von Madame Legros.

Vignon: Und in den vorteilhaftesten Ausdrücken.

Legros: Viel Ehre für mich.

Madame Touche: Und daß die Tugend Ihrer Frau Ihnen so viel Geld einträgt.

Vignon: Es scheint, daß wirklich etwas Großes geschehen ist, und daß Madame Legros, die wir alle kannten, es vollbracht hat. Das ist wunderbar, man versteht nicht immer, wer und was um einen herum ist.

Legros: Und wenn es die eigene Frau ist, durch die das alles geschieht, dann weiß man nicht mehr, was man denken soll.

Madame Touche: Früher konnte man manches denken. Aber jetzt hat sie Erfolg gehabt.

Fanchon: Sie hat den Unschuldigen befreit. Wie ich sie liebhabe!

Vignon: Freilich hörte man in der Menge auch gefährliche Äußerungen. Es gäbe mehr Unschuldige zu befreien: in der Bastille und draußen. Dies sei nur ein Anfang.

Madame Touche: Es waren übelaussehende Leute unterwegs. Wer weiß, was noch geschieht. Man zeigte sich sehr respektlos beim Erscheinen gewisser hoher Herren.

Legros: Ich und Madame Legros sind voll Respekt.

Vignon: Madame Legros hat nur das Gute gewollt. Das hindert nicht, daß mein Freund von der Garde die ernstesten Besorgnisse hegte. Paris war nie weniger sicher.

 

Zweite Szene

Die Vorigen. Volk. Madame Legros. Eine Volksmenge vor dem Fenster. Die Tür wird geöffnet.

Madame Legros tritt durch die Reihen des Volkes langsam ein, in einem weißen Schleier, das Gesicht nach oben gerichtet, mit verklärtem Lächeln.

Stimmen: Es lebe Madame Legros! ... Sie hat den Unschuldigen befreit. Die Herren und die Reichen lachten nicht mehr heute früh. Sie haben einen befreiten Unschuldigen gesehen ... Wir werden ihnen noch mehr zeigen! Man wird glücklicher leben! Alles wird billiger werden! ... Madame Legros ist eine Heilige. Seht ihr Gesicht, wie es glänzt! In unserer Gasse scheint keine solche Sonne. Madame Legros ist aus unserer Gasse, und sie ist eine Heilige. Es lebe die Heilige! Viele knien hin.

Vignon: Madame Legros, wir haben uns versammelt, um Ihnen unsere Bewunderung auszusprechen.

Ein Mann: Was will der? Hinknien!

Ein anderer: Früher haben Sie sie nicht bewundert, sondern hinter ihr hergeschimpft. Hinknien!

Vignon: Wir alle waren schwach.

Madame Touche kniet eilig hin: Ich war die erste, die Bescheid wußte.

Legros sieht sich verblüfft um, bekommt eine fromme Miene, kniet hin.

Madame Legros will vorwärts gehen und berührt den Scheitel der Fanchon, die vor ihr kniet: Wer ist das? Fanchon! Steh doch auf, liebes Kind! Wendet sich: Und ihr alle? Warum kniet ihr? Weil nun der Unschuldige frei ist? Das habt ihr selbst getan. Gebt nicht mir die Ehre, die ich nur eure unwürdige Sprecherin war, sondern euch selbst. Ihr alle habt es gewollt. Ihr wollt das Gute. Ihr seid jetzt erlöst von dem großen Unrecht.

Jemand, der aufsteht: Mir ist, als sei ich selbst aus der Bastille entronnen.

Ein anderer: Ich habe nichts getrunken heute, aber ich möchte laut singen.

Madame Touche: Wer heute singen wird, das ist Legros. Wie, Legros? Eine solche Frau!

Legros umringt: Es ist viel Ehre für mich. Er verneigt sich linkisch vor Madame Legros.

Madame Legros gibt ihm die Hand: Mein lieber Mann ...

Verlegenes Schweigen.

Die Menge applaudiert.

Vignon zu Madame Touche: Wenn man mir die ganze Akademie zum Geschenk macht, ich möchte nicht an Legros' Stelle sein.

Madame Touche: Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie keine Heilige zur Frau möchten?

Stimmen: Herbei, ihr Kinder! Kommt sie holen, die Heilige! Es soll ein schönes Fest werden!

Kinder in weißen Kleidern durch die Menge, die ihnen Platz macht, auf Madame Legros zu. Sie gehen um sie her und winden ihr dabei einen langen Blumenkranz um die Hüften.

Ein Lehrer gibt jedem der Kinder das Zeichen zu sprechen.

Das erste Kind: Wir danken Ihnen, Madame Legros, für den schönen Tag.

Das zweite Kind: Und dafür, daß Sie uns die Tugend gelehrt haben.

Das dritte Kind: Wir wollen es nie vergessen.

Das vierte Kind: Und wenn wir groß sind, Ihnen nachahmen.

Madame Legros: Ihr lieben Kinder! Über sie hinweg: Ich hätte euch die Tugend gelehrt? Das kann ich nicht. Ihr werdet sie vielleicht einmal erfahren wie ein schreckliches Geheimnis, das euch nicht mehr ruhen läßt. Und dann werdet ihr zweifeln lernen, ob es wirklich die Tugend ist. Aber ihr müßt an sie glauben, hört ihr? Wie könnte sonst der Unschuldige befreit werden ... Ach! Es ist schon geschehen, – und ich bin so müde.

Fanchon stützt Madame Legros: Sie sollen nun ausruhen, Madame Legros. Alle haben Sie lieb.

Stimmen: Kommt sie nicht?

Madame Touche: Man hat ein Fest für Sie veranstaltet, Madame Legros. Sie müssen den Nachbarn den Gefallen tun, sonst ist man unzufrieden mit Ihnen.

Stimmen: Auf zu Vignon! Madame Legros in unsere Mitte!

Vignon: Tatsächlich, Madame Legros, erwartet Sie in meinem Hause ein bescheidenes Mahl. Ich bitte um die Ehre.

Madame Legros: Ich bin erschöpft, Herr Vignon, verzeihen Sie. Es war zuviel für mich, Sie würden eine Kranke im Hause haben.

Madame Touche: Es scheint, wir sind ihr schon zu schlecht.

Fanchon: Quälen Sie sie nicht!

Vignon: Meine Herren, wir werden vorausgehen. Madame Legros braucht Ruhe, Sie verstehen es. Sie hat viel für uns alle getan.

Stimmen: Wir sind doch keine Barbaren. Die Heilige hat Ruhe verdient. Man zieht ab: Es lebe die Heilige!

 

Dritte Szene

Madame Legros. Legros. Die Verwandte.

Legros zur Verwandten: Schließ die Tür.

Verwandte flüstert: Was soll man nun tun?

Madame Legros in einem Sessel, sieht starr vor sich hin. Erwachend: Ist jemand hier?

Legros: Nur wir sind es: ich und Lisette ... Die Leute sind alle zu Vignon gegangen ... Schüchtern: Man sollte vielleicht auch etwas essen.

Madame Legros: Ach ja, das Essen ... Und der Laden! Die Kunden warten. Will aufstehen.

Legros: Niemand wartet. Schon längst wartet niemand mehr.

Verwandte: Und zu essen habe ich auch nichts.

Legros: Warum denn nicht! Faules Geschöpf!

Verwandte frech: Wenn den ganzen Morgen das Haus voller Gaffer ist –. Auf einem Jahrmarkt arbeitet man nicht.

Legros: Marsch! In die Küche!

Verwandte: Geben Sie mir Geld, sonst gibt es nichts zu essen.

Legros: Du hast schon wieder das Wirtschaftsgeld für deinen Putz ausgegeben. Warte! Schlägt nach ihr.

Verwandte: Einen Augenblick! Ich bin nicht Madame Legros. Jetzt haben Sie Madame Legros zurück. Ich trete alles an sie ab, auch die Schläge.

Legros: Hinaus mit dir!

Verwandte: Unterhalten Sie sich gut mit Ihrer Heiligen. Ab.

Madame Legros: Warum willst du ihr das Geld für das Essen nicht geben?

Legros zögert; stößt hervor: Weil keins da ist.

Madame Legros: Keins da?

Legros: Wenn nichts mehr eingeht, ist es eines Tages zu Ende. Und in einem Haus ohne Hausfrau geht das schnell.

Madame Legros betroffen, steht auf: Ich habe nichts gesehn, wie lang schon nicht mehr. Die Spitzen von Alençon?

Legros: Sie sind verschleudert.

Madame Legros: Dein Geselle kommt nicht zum Essen?

Legros: Ich habe ihn fortgeschickt. Es gab keine Arbeit mehr.

Madame Legros: So sind wir denn verarmt, lieber Mann?

Legros: Du nicht, Madame Legros, du gewiß nicht. Nur ich. Du hast gut verdient in dieser Zeit. Nimmt einen Beutel aus der Kommode und stellt ihn auf den Tisch.

Madame Legros: Was ist das?

Legros: Dein Tugendpreis.

Madame Legros schlägt die Augen nieder. Nimm doch das Geld!

Legros: Das Geld der andern hab ich noch nie genommen.

Madame Legros zu ihm an den Tisch: Was mein ist, ist auch dein.

Legros: Sonst wohl, aber nicht diesmal.

Madame Legros: Du bist mein Herr und Gebieter.

Legros: Hierbei war nicht ich es, sondern der Unschuldige. Mit ihm teile das Geld. Legt den Beutel in die Kommode zurück.

Madame Legros: Ich wollte ihm alles geben, aber seine Verwandten haben es abgelehnt.

Legros: Auf einmal hat er Verwandte?

Madame Legros: Seit kurzem haben sich reiche Leute gefunden, Adelige sogar, die sagen, er sei ihr Verwandter.

Legros lacht auf: Man soll nicht behaupten, daß es ihm schlecht geht.

Madame Legros: Es ging ihm so lange schlecht!

Legros: Dafür wird er jetzt ernährt und gehätschelt. Jeder kann das von sich nicht sagen.

Madame Legros: Ich habe ihn reich gemacht und dich arm. Du wirfst es mir vor und hast recht. Verzeih mir!

Legros: Einer Heiligen habe ich nichts zu verzeihen.

Madame Legros: Ich habe getan, was mir auferlegt war!

Legros: Alle rühmen dich dafür. Ich war im Unrecht, als ich dich zurückhielt.

Madame Legros: Aber nun ist es getan. Ich muß denken, daß es getan und ganz vorüber ist.

Legros: Ich glaube nicht. Von dem, was du getan hast, bleibt doch wohl etwas übrig. Sie werden wohl noch Rechte haben an dich, dort draußen.

Madame Legros: Ich bin zu dir zurückgekehrt.

Legros: Du warst zu weit fort. Was du getan hast, ist zu außerordentlich. Nach solcher Tat wird man nicht wieder die Frau des Strumpfwirkers Legros.

Madame Legros: Ich bin es doch!

Legros: Ich muß dich verehren, sagen die Leute, und ich verehre dich auch.

Madame Legros: Sei mein Mann wie früher!

Legros: Ich habe vor dir gekniet.

Madame Legros: So soll nun ich mich hinknien? Sie versucht es. Sieh, ich bin so schwach. Nun scheint mir, was ich getan habe, ganz umsonst. Ich wollte, du hättest wieder deine laute Stimme, wenn du zu mir sprichst, und faßtest mich hart an. Verzeih mir, lieber Mann, verzeih, daß ich einen Unschuldigen aus dem Turm befreit habe.

Legros wendet sich zur Tür.

Madame Legros: Du willst nicht? Du liebst mich wohl nicht mehr? Ach! Im Grunde war es dir wohl ganz recht, daß ich soviel vom Hause fort war? Mein Platz ist wohl besetzt?

Legros: Soll ich mir von einer Heiligen die Suppe kochen lassen? Strümpfe verkaufen ist kein Geschäft für eine Heilige.

Madame Legros vor der geschlossenen Tür: Hüte dich, Legros, daß ich nicht wirklich fortgehe!

 

Vierte Szene

Madame Legros. Die Verwandte.

Verwandte: Wenn Sie essen wollen, Madame Legros, können Sie in die Küche kommen. Aber es gibt nur Kartoffeln.

Madame Legros: So? Ich kann in die Küche kommen? Und kann ich mich auch in mein Bett legen, – wenn ich nicht finde, daß man es mir inzwischen beschmutzt hat?

Verwandte: Ich bin nicht schmutziger als Sie.

Madame Legros: Ein Ungeziefer bist du! Hast dich eingeschlichen und willst mich fortbeißen! Aus dem Hause mit dir!

Verwandte: Fortschicken kann mich nur Herr Legros, und der wird sich hüten, denn er braucht mich.

Madame Legros: Wozu? Wage, es zu sagen!

Verwandte: Und wenn ich es sage? Zu allem, wozu eine Frau im Hause dient. Sie hatten Herrn Legros verlassen, da habe ich mich seiner angenommen.

Madame Legros: Hast du ihn auch geliebt?

Verwandte: Was macht Ihnen das?

Madame Legros: Denn ich – ich habe ihn geliebt!

Verwandte: Bis Sie sich in den Unschuldigen verliebten.

Madame Legros: Viper! Stürzt auf die Verwandte los.

Verwandte flüchtet hinter den Tisch: Es ist doch wahr! Dafür sind Sie eine Heilige geworden. Und ich, die ich mich des Herrn Legros annahm, soll beschimpft werden?

Madame Legros: Ich dreh dir den Hals um!

Verwandte: Eine schöne Heilige! Das erzähl ich dem Herrn Legros. Wenn er Sie nur schon los wäre, hat er gesagt. Ab.

 

Fünfte Szene

Madame Legros. Chevalier. Dann Volk.

Madame Legros sinkt gegen die Wand: Wenn er mich nur schon los wäre! Wohin mit mir ... Eine schöne Heilige. Ist durch so viel Schande gegangen. Kein Mittel war ihr zu schlecht. Nicht einmal – o Gott – das Versprechen ihres Leibes ... Es ist nicht aus, Legros spricht wahr. Jemand dort draußen hat Rechte an mich. Richtet sich auf: Was fürchte ich? Wen hab ich denn noch ... Er soll kommen!

Chevalier steht in der Tür.

Madame Legros schreit auf, streckt die Hände vor.

Chevalier: Nicht erschrecken, bitte! Ich weiß wohl, daß ich nicht in dieses Fest hineinpasse. Doch konnte ich es mir nicht versagen, Ihren Triumph mit anzusehen: den Triumph einer Heiligen. Man erlebt das nicht alle Tage. Sieht sich um. Aber ich glaubte, hier würden mehr Leute sein.

Madame Legros: Sie sehen, man hat mich allein gelassen. Das Fest ist nicht für mich. Die andern feiern ohne mich.

Chevalier: Ihnen aber schulden sie es, daß sie feiern dürfen.

Madame Legros: Der Unschuldige ist frei, so ist für mich nun alles aus.

Chevalier: Das klingt, als bereuten Sie.

Madame Legros stark: O nein!

Chevalier: Sie haben einen Erfolg erlebt, den niemand für möglich hielt. Was Sie für Ihre Zukunft und die der Ihren an Vorteil daraus ziehen konnten, haben Sie verschmäht, – leicht ironisch – und ich bewundere Sie dafür. Jedenfalls aber haben Sie die angenehmsten Emotionen genossen, und ganz Paris spricht von Ihnen. Sie sind berühmt, man hat sich vor Ihnen beugen müssen. Er verbeugt sich.

Madame Legros wendet den Kopf weg.

Chevalier unsicher: Sie wollen das nicht hören? Sie erwarten von mir andere Worte? ... Ja, ich bin gekommen, um Ihnen etwas anderes zu sagen.

Madame Legros zuckt zusammen.

Chevalier: Der Mißverständnisse hat es zwischen uns genug gegeben. Sie haben mich genug verachtet. Sie hören mir zu mit der Miene eines Opfers. Ich kann das nicht länger ansehn. Ich muß Ihnen sagen –. Es ist so schwer. Hören Sie denn! Sie sind, Madame Legros, das erste menschliche Wesen, vor dem ich in Beschämung stehe. In den andern, so jung ich bin, habe ich mich nie getäuscht, wenn ich sie verachtete. Ich habe geliebt und dabei verachtet. Ich habe sogar getötet und dabei verachtet ... Ich war stolz, ohne Illusionen zu sein. Im Grunde meines Herzens habe ich längst gewußt, wer Sie seien: aber ich wollte nicht glauben. Das Laster der Erkenntnis in mir sträubte sich gegen Sie. Ich hätte Sie gern entlarvt, um nicht gestehen zu müssen, daß es etwas gäbe, das alle nur erheuchelten, das ich so sehr ersehnte und doch nur mit Hohn nennen mochte, die Tugend – und um diese ungeheure Zärtlichkeit zu ersticken! Stürzt vor sie hin, legt die Stirn in ihre Hand.

Madame Legros über ihn gebeugt: Sie, in diesem Augenblick, haben mehr Tugend als ich.

Chevalier: Ich glaubte Sie einst im Haß zu lieben, als Feindin, die man unterwirft und schändet. Und Sie waren vielmehr die, die mich erhob und mich wider meinen Willen mit den Menschen befreundete. Soll ich das Geheimste sagen? Ich wünschte mir, Ihnen zu folgen, mit Ihnen unterzugehen in allen den Unbekannten, denen Sie einen Unschuldigen befreit und die Unschuld zurückgegeben haben. Steht auf. Sie dürfen lächeln. Ich mache schon selbst den Vorbehalt, daß mich das alles nicht angekommen wäre, wenn Sie nicht schön wären, und wenn ich Sie nicht liebte.

Madame Legros: Solche Liebe habe ich erfahren. Sie ergriff mich, als vom Turm der Brief fiel.

Chevalier: Sei meine Schwärmerei nun kindisch oder erhaben, ich will mich nicht schämen. Nehmen Sie mich hin. An ihre Brust.

Madame Legros: Kind! Was soll ich mit Ihnen noch beginnen? Ich habe vollendet, was zu tun war.

Chevalier: Ja: hinter Ihnen liegt als getanes Werk, wovon ich nur träume. Was geht es Sie an, daß einer durch Sie erschüttert und außer sich gebracht wird. Sie haben Ihr Werk vollendet und sind nun heimgekehrt.

Madame Legros: Das ist das Schwerste: heimzukehren.

Chevalier: Das ist das Unsägliche. Sie stehen hier, und diese Hände hängen herab, als sei nichts geschehen. Wenn einer, den Sie bezwangen, in dieses Zimmer tritt, findet er darin die Frau, die vormals hier war. Was bleibt danach zu erleben? Ich gehe.

Madame Legros: Nicht dieselbe Frau. Auch Sie müssen hören. Ich bin nicht so stark, wie Sie sagen. Was ich tat, hat mich wohl schwächer gemacht. Vorhin dachte ich mich fort, mit einem, der mich nehmen will, nur fort und unter einen Willen. Ich bin so müde.

Chevalier: Ihre Müdigkeit ist heilig.

Madame Legros: Auch ich will nicht, daß Sie mir danken. Denn ich habe Sie verraten.

Chevalier: Sie – mich? Lacht auf. Das wäre das letzte, was ich zu lernen hätte. Besinnt sich. Ich will nicht wissen, wann und wie. Beichten Sie einem Würdigeren! Schonen Sie mich! Mein Glaube an das Gute soll ein Leben lang sich auf diese eine Stunde berufen. Ich weiß, er wird es schwer haben. Auch Sie wird das Leben zu anderem entführen, als es die Rettung eines Unschuldigen war.

Volk zieht am Fenster vorbei, mit Getrommel und gellenden Pfiffen. Dann Rufe: Madame Legros! Zur Bastille!

Chevalier: Es kommt schon, Sie zu holen. Aber nicht jene, die Sie in Not und Zweifeln sehen werden: nur ich habe Sie gekannt, in meiner höchsten Stunde. Leben Sie wohl, Madame Legros! Er will hinaus. Männer mit Piken und Äxten vertreten ihm die Tür.

Ein Mann: Da ist Madame Legros! Sie sollen mit uns kommen. Sie sind die Freundin des Volkes.

Ein anderer: Sie haben einen Unschuldigen befreit.

Alle: Ehre der Freundin des Volkes!

Der Erste: Aber es sind noch andere Unschuldige in der Bastille.

Der Zweite: Und draußen. Kommen Sie mit uns, an unserer Spitze!

Rufe: Zur Bastille!

Madame Legros: Meine Herren, haben Sie Nachsicht; was soll ich tun?

Der Erste: Uns führen!

Madame Legros: Ich weiß nicht, wohin. Ich habe getan, was zu tun war. Der Unschuldige ist frei.

Der Zweite: Jetzt ist es an uns. Wenn Sie dabei sind, Madame Legros, werden wir siegen.

Madame Legros: Über wen? Der Unschuldige ist frei.

Der Erste: Begreifen Sie doch, daß es mehr zu tun gibt. Wir alle leiden.

Madame Legros: Ich habe es getan. Der Unschuldige ist frei.

Der Erste: Sie will nicht!

Der Zweite: Sie verrät uns!

Rufe: Zur Bastille! Schleppt sie mit!

Madame Legros wird umringt und angefaßt: Verschont mich, liebe Herren!

Chevalier: Fort da! Zieht den Degen.

Rufe: Ein Adeliger! An die Laterne mit ihm! Hündin! Du verrätst uns mit den Adeligen!

Chevalier: Packt euch!

Ein Mann: Pack dich selbst! Sticht nach ihm.

Andere stechen nach ihm: Macht ihn tot!

Chevalier sinkt auf der Schwelle zusammen.

Madame Legros schreit: Mörder! Ihr seid Mörder!

Rufe von Frauen: Sie auch! Tötet sie auch!

Madame Legros breitet die Arme aus: Wagt es!

Gemurmel: Sie hat den Unschuldigen befreit. Man weicht zurück.

Madame Legros: Ein menschliches Herz habt ihr durchbohrt in dem Augenblick, da es am höchsten schlug, höher als eures, höher als meins ... Ach! wozu schlug es, wozu befreite ich den Unschuldigen! Sie kniet bei der Leiche hin.

Die Menge zieht ab: Zur Bastille!

Es dunkelt.

 

Sechste Szene

Madame Legros. Legros.

Legros: Deine Freunde waren wieder da. Sie sind ein wenig zu lärmend, muß man sagen ... Um Gottes willen, was liegt da?

Madame Legros: Hilf mir, Legros! Ist er tot? Das ist furchtbar.

Legros: Ich glaube, es ist aus. Ein Toter auf unserer Schwelle! Man wird mich fragen, wie das zugeht, – und wenn ich's nicht sagen kann –. Greift sich um den Hals. Das hast du davon, Madame Legros. So enden deine Geschäfte. Mich und dich bringen sie an den Galgen.

Madame Legros: Ich weiß nicht mehr, wie das alles kommt. Habe Mitleid mit mir, lieber Mann!

Legros: Nun siehst du wohl, daß dein Mann für alles sorgen muß. Horcht, stürzt nach links, ruft durch einen Türspalt: Schier dich in die Küche! Daß du dich nicht rührst! Kehrt zurück. Die Gasse ist leer. Ich trage den da vor die Tür des Wundarztes, klopfe an und mache mich um die Ecke. Was geht das alles uns an. Wasche die Schwelle! Und schweige! Schweig still! Die Tür schließend, ab mir der Leiche des Chevalier.

 

Siebente Szene

Madame Legros. Ein Akademiker.

Madame Legros läuft durch das Zimmer, hält sich den Kopf und stöhnt. Sie sieht sich angstvoll nach der Schwelle um. Es klopft. Sie schreit auf. Als es nochmals klopft: Herein!

Akademiker: Es wird Nacht, Madame, ich sehe nicht deutlich, ob ich die große Ehre habe, vor Madame Legros zu stehen.

Madame Legros: Ich bin die Frau des Strumpfwirkers Legros, mein Herr.

Akademiker: So sind Sie die Heldin, die wir heute in der Akademie krönen durften. Vielmehr, Ihre Anwesenheit bei uns war unsere Krönung, die Krönung unseres Werkes. Madame, erlauben Sie, daß ich in Ehrfurcht diese Hände berühre, die den Kerker der Vernunft geöffnet haben.

Madame Legros zieht die Hand zurück.

Akademiker: Mein Besuch scheint Ihnen unwillkommen. Ich verstehe, daß große Taten viel Überdruß hinterlassen an den Menschen, denen sie doch galten.

Madame Legros: Ich bin krank, mein Herr, verzeihen Sie mir.

Akademiker: Ihre Hand ist zu heiß. Aber auch Ihre Miene, Madame, sieht verstört aus und läßt nichts mehr von der erhabenen Freude merken, mit der Sie heute den Ruhmesworten unseres Redners zuhörten. Ich gestehe, daß ich die Befreierin des Gefangenen Latude nicht wiedererkannt haben würde.

Madame Legros: Wundert Sie das, mein Herr? Für die Frau des Strumpfwirkers Legros war das alles zuviel: die lange Arbeit der Seele, der Kampf gegen alle, und dann die Verbrechen.

Akademiker: Die Verbrechen?

Madame Legros: Glauben Sie denn, daß Hände, die eine Bastille aufmachen, rein bleiben können?

Akademiker: Mein Kind, Sie fiebern. Die Vernunft sagt uns, daß wir durch das Gute siegen werden, und daß das Ziel das Glück aller ist.

Madame Legros läuft umher: Und meine Angst und mein Herzklopfen sagen mir, daß ich nun eine Verbrecherin bin. Ein Mensch, hören Sie, ein Mensch, der mir glaubte, war es: und eben ihn verriet ich und ließ ihn sterben! Habe ich nicht alle verraten? Bin ich nicht schuldig, daß alle sterben?

Akademiker: Der Unschuldige lebt, und er ist frei!

Madame Legros bleibt stehen, atmet auf: Ja, er ist frei.

Akademiker: Und wenn er nochmals zu befreien wäre?

Madame Legros: Ich nicht! Ich tue es nicht mehr! Sie sinkt hin, schluchzt: Ich bin nun verbraucht und verdorben.

Akademiker: Armes Geschöpf, das eine Heldin war! So werden andere nach dir zur Tat machen, was die Vernunft beschließt.

Entferntes Trommeln. Rufe: Zur Bastille!

Madame Legros: Ich will nicht hören.

Akademiker: Das ist der Gesang, Madame Legros, den Sie angestimmt haben. Ich ehre Sie, aber ich gehe nun weiter. Er öffnet die Tür, er gleitet aus. Was ist das?

Madame Legros: Auf solcher Schwelle, mein Herr, färben sich die Sohlen. Sie ist schlüpfrig. Hüten Sie sich!

Akademiker: Wir steigen hinüber und gehen weiter. Ab.

 

Achte Szene

Madame Legros. Legros.

Legros tritt durch die offene Tür ein.

Madame Legros läuft ihm entgegen: Rette mich!

Legros: Was gibt es? Wer war da?

Madame Legros: Ein Feind! Sie lassen mir keine Ruhe.

Legros: Das darfst du sagen. Aber jetzt ist dein Mann da. Wir wollen einmal sehen, ob die Leute hier noch lange ein und aus gehen werden wie bei sich zu Hause. Mach Licht, ich schließe die Läden. Er geht auf die Straße hinaus, legt die Fensterläden vor.

Madame Legros zündet die Kerzen an: Komm schnell zurück! Ich ängstige mich. Draußen geht jetzt so viel vor.

Legros: Auch noch die Tür. Nun werden sie uns in Ruhe lassen. Flüstert: Ich glaube wohl, daß niemand mich gesehen hat. Der Tote sitzt vor der Tür des Wundarztes. Es war ein wenig gefährlich, ihn bis dorthin zu tragen. Aber ich habe ihn aus menschlicher Achtung nicht in die Gosse werfen wollen.

Madame Legros weint laut.

Legros: Du hörst das nicht gern. Ich sage es auch nur, damit du weißt, daß wir wenig zu fürchten haben, – und man kann sagen: nichts. Denn heute abend sind in Paris noch einige andere vornehme Herren ums Leben gekommen. Wer will da den unsern herausfinden.

Madame Legros: Du sprichst, als seien wir selbst die Mörder. Ich bin nicht schuldig an diesem Blut! Ich nicht!

Legros: Nein, du nicht. Und auch sonst läßt sich nicht sagen, daß einer schuldig ist, außer den Herren selbst.

Madame Legros: Er war der Beste von allen!

Legros: Danach fragt man jetzt nicht mehr. Man sagt sich in Paris, daß ein Unschuldiger dreiundvierzig Jahre in der Bastille verbracht hat, und daß es daher gleich ist, ob die, die sterben, schuldig sind oder unschuldig. Man sagt, die Bastille müsse fallen. Heute oder morgen soll es Ernst werden. Und das Zeichen zu alledem, sagt man, hat Madame Legros gegeben.

Madame Legros: Es ist nicht wahr! Ich war bei dir, lieber Mann, du kannst es bezeugen. Den ganzen Tag bin ich nicht mehr ausgegangen.

Legros: Aber die vorigen Tage? Da warst du wenig daheim, Madame Legros.

Madame Legros: Verzeih mir! Verzeih doch endlich! Es war wie ein hartes Geschick, das mich befiel. Ich mußte folgen. Ich habe dich nicht gern gekränkt, lieber Mann.

Legros: Weißt du denn, Madame Legros, ob du mich eigentlich gekränkt hast? Wenn hier Unrecht geschehen ist, so habe wohl auch ich das meine begangen und brauche deine Verzeihung, wie du meine.

Madame Legros: Schick sie fort, Legros!

Legros: Hier hab ich schon den Platz in der Post für morgen früh. Ehe der Tag graut, setze ich selbst sie hinein und gute Reise! In ihrem Dorf mag sie immerhin ausplaudern, was sie heute doch vielleicht gesehen hat.

Madame Legros: Du bist gut! Du liebst mich noch immer?

Legros: Das fühlst du wohl ... Es ist nicht recht, wenn die Frau dem Mann über den Kopf wächst.

Madame Legros: Du bist stark! Nur dir will ich gehorchen und dienen.

Legros: Aber was du getan hast: wenn es mir auch Kopfzerbrechen gemacht hat, so verstehe ich doch, daß es etwas Gutes war.

Madame Legros: War es etwas Gutes?

Legros: Ich bin ein Bürger von Paris und weiß so gut wie einer, daß wir nach Vernunft und Tugend handeln sollen. Nur denkt man immer, ein Fremder und Weitentfernter mag damit anfangen. Und nun war es meine eigene Frau. Dahinein habe ich mich nicht leichter gefunden, als jeder andere getan hätte.

Madame Legros: Nun ist es wieder, wie es immer war. Du bist mein Mann und Herr.

Legros: Es ist so, und ist auch wieder nicht so. Denn dazwischen liegt, was du getan hast, und das werde ich nicht vergessen. Die andern, daran zweifle nur nicht, werden es vergessen. Vielleicht auch werden sie es dir vorwerfen und uns verfolgen. Man weiß nicht, was für Zeiten kommen.

Madame Legros: Dann habe ich dich und du mich.

Legros: Ich werde dich ehren, liebe Frau, auch wenn ich dir befehle.

Umarmung.

Legros: So viel habe ich dir seit unserem Hochzeitstage nicht mehr gesagt.

Madame Legros: Jetzt will ich an die Arbeit gehen.

Legros: In der Nacht?

Madame Legros: Hier auf der Kommode, die sehr verstaubt ist, liegt noch immer das Häubchen des Fräuleins Palmyre. Endlich befestige ich daran die Schleifen.

Legros: Das war ein schwerer Tag. Sie haben dich zuerst gekrönt und gefeiert. Dann kam wohl noch Schwereres.

Madame Legros: Und nun befestige ich die Schleifen.

Vorhang.

 


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