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Zweiter Akt

Garten der Comtesse d'Orchat. Hohe Bosketts. Davor ein Tisch mit Sesseln. Ein Gittertor mit vergoldeten Lanzen und Wappenschildern schließt hinten den Garten. Draußen eine Wiese und Volk, das während bestimmter Szenen durch das Gitter späht, die Hände um die Gitterstäbe. Ein großer goldstrotzender Türhüter ist immer beschäftigt, die Leute zu verjagen.

 

Erste Szene

Marquise im Rollstuhl, vor einem Boskett. Ein Lakai hinter ihr. Comtesse sitzt am Tisch. Abbé, Baron stehen. Zwei Lakaien servieren Limonade.

Comtesse zum Baron: Nur ein Glas Limonade, mein Lieber, eine Minute Schatten, und ich gebe Ihnen Revanche ... Madame de Sarclé, einen Ballspieler wie Herrn de Clairvaux gibt es nicht wieder. Freilich, mit ernsten Dingen darf man ihn nicht bemühen. Die Angelegenheit dieses Unschuldigen läßt ihn durchaus gleichgültig. Dafür ist mein kleiner d'Angelot zu brauchen. Er hat mir Eintritt in die Bastille verschafft, zu dem Unschuldigen.

Abbé: Madame d'Orchat ist die erste und einzige Dame in Paris, die ihn gesehen hat.

Marquise: Und was haben Sie gesehen?

Comtesse: Es roch bei dem Unschuldigen wie in einem Kaninchenstall.

Marquise: Da Sie zuweilen auch Schäferin sind, ist dieser Geruch Ihnen nicht unbekannt.

Abbé: Madame d'Orchat hat mit bewundernswerter Beredsamkeit dem Unschuldigen ihre schönen Empfindungen gezeigt.

Baron: Was ein Unschuldiger nicht alles zu sehen bekommt! Man möchte ihn beneiden ... Und wie sah er aus?

Comtesse: Fragen Sie nicht danach!

Baron: Was sagte er?

Abbé: Sie verstehen, Clairvaux, er empfängt nicht alle Tage Gräfinnen.

Comtesse: Man müßte ihn herrichten, man müßte ihn zähmen. Es wäre ein Traum, ihn hier einer Gesellschaft vorzuführen. Bedenken Sie, ein Unschuldiger.

Abbé: Es wäre ein Triumph.

Comtesse: Herr de Launay, der Gouverneur der Bastille, ist nicht galant. Er will ihn mir nicht leihen.

Marquise: So unschuldig ist niemand, daß man ihn dafür feiern müßte.

Abbé: Und die dreiundvierzig Jahre des Leidens, Marquise?

Marquise: Die gehören Gott. Sie haben nicht das Recht, daran zu rühren.

Comtesse: Sie sind streng, Madame, – und wenn ich es sagen darf, Sie verstehen nicht mehr alles, was wir fühlen.

Marquise: Zu meiner Zeit verstanden wir, daß das Leiden eine Gnade ist, die uns zu Auserwählten macht.

Comtesse: Man soll es lindern! Man soll es abschaffen! Sie sprechen nach der alten Mode, Madame.

Abbé leise: Man würde nicht glauben, daß auch sie einmal sich ganz gut amüsiert hat.

Marquise: Ich bin alt, aber das hat den Vorzug, daß ich gerade so lange gelebt habe wie der, den Sie den Unschuldigen nennen, und daher ihn kenne, besser, glauben Sie mir, als Sie, die Sie ihn gesehen haben.

Abbé wie vorher: Sie verliert den Zusammenhang.

Baron: Wenn wir Ball spielen gingen?

Comtesse: Madame, die Herren zwingen mich, weiterzuspielen.

Marquise: Lassen Sie mich ruhig allein.

Comtesse: Aber man soll mich rufen, – zu den Lakaien – sobald Madame Legros kommt. Zur Marquise: Das ist die Frau aus dem Volk, der der Unschuldige geschrieben hat. Sie geht umher und spricht von nichts anderem.

Abbé: Wer nicht zufrieden ist, ist ihr Mann.

Baron: Ich wäre es auch nicht.

Comtesse: Sie ist sehr rührend. Sie spricht Unbekannte auf der Straße an, um Sympathien für den Unschuldigen anzuwerben. Sie wartet unermüdlich in Vorzimmern. Hat sie nicht neulich den Wagen des Prinzen von Conti angehalten?

Baron: Das tun auch die Opernmädchen, und wahrscheinlich mit mehr Erfolg.

Comtesse: Hier wird sie Erfolg haben! Eine Sensation! Der Chevalier d'Angelot wird sie uns herbringen. Den Unschuldigen kann ich nicht haben. Aber ich habe Madame Legros.

Abbé: Seine Prophetin.

Marquise: Auch wir ließen uns Komödianten kommen.

Abbé leise: Nicht sehr liebenswürdig. Aber so waren die alten, frommen Zeiten.

Comtesse: Auf Wiedersehen, Madame. Meine Herren ...

Comtesse, Abbé, Baron links ab.

 

Zweite Szene

Marquise. Dann Madame Legros. Chevalier.

Marquise: Baptiste, lege mir das Kissen zurecht. Schiebe mich tiefer in das Boskett. Zu meiner Zeit richtete man seinen Garten nicht so ein, daß man dem Volk ein Schauspiel bot.

Madame Legros: Ich bin müde. Ich habe zu so vielen Menschen gesprochen, daß ich keine Gesichter mehr sehe und meine Stimme kaum höre. Sobald sie den Türhüter sieht: Mein Herr, ich komme nicht aus nichtigen Gründen. Es handelt sich um ein ungeheures Unrecht.

Chevalier: Madame, ich bitte Sie, Sie verlieren Ihre Zeit.

Der Türhüter: Madame ... Herr Chevalier, die Frau Gräfin erscheint sofort.

Madame Legros: Jeder Mensch muß es erfahren. Denn jeder Mensch ist mitschuldig, daß es geschehen konnte. Ein Unschuldiger, mein Herr, der dreiundvierzig Jahre im Kerker verbringt!

Der Türhüter: Ich höre mit Bedauern davon.

Madame Legros: Seine Qual in all der Zeit war so groß, daß wir uns schämen müssen, mein Herr, gelacht und geatmet zu haben.

Chevalier gibt dem Türhüter ein Trinkgeld.

Der Türhüter: Ich schäme mich, Madame.

Madame Legros auf die beiden Lakaien zu: Und Sie, meine Herren, Sie werden sich nicht weigern, ein Unrecht gutzumachen, das Ihre Kinder Ihnen vorwerfen würden! Es handelt sich um etwas Ungeheures, das Verbrechen von Generationen, die Erbsünde ...

Ein Lakai: Madame, das ist für die Frau Gräfin bestimmt. Ich werde die Frau Gräfin rufen. Ab.

Madame Legros zu dem Chevalier: Aber Sie, mein Herr! Sie wenigstens können es nicht ertragen, daß ein so schmachvolles Leiden die Welt entehrt. Unter unsern Füßen hier, wenn wir uns regen, stöhnt ein lebendig Begrabener, dem wir wehe tun. Er ist immer mit uns, überall ...

Chevalier: Madame Legros, ich bin der Chevalier d'Angelot.

Madame Legros: Ach ja, ich vergaß ...

Chevalier: Sie vergaßen, daß auch ich das alles schon auswendig weiß. Seit Wochen höre ich Ihnen zu, wie Sie es hersagen, in den Salons und auf den öffentlichen Plätzen. Ich habe mich schon gefragt, ob Sie es nicht allmählich glauben: ja, ich selbst hätte Ihnen fast geglaubt.

Madame Legros: Hören Sie auf Ihr Herz! Helfen Sie mir!

Chevalier: Dann sage ich mir, daß Sie mit einer Ausdauer, die ich bewundern muß, Zwecke verfolgen, so weittragend, daß ich sie nur ahnen kann.

Madame Legros: Einen Unschuldigen zu retten!

Chevalier: Wo werden Sie enden? Sie wären, wenn wir einen anderen Monarchen hätten, geschaffen für eine jener Mätressen, die den Haß und die Gier des Volkes bis in das königliche Bett wälzen, zusammen mit ihrem hübschen Fleisch.

Madame Legros: Sie beschimpfen mich – und sich selbst.

Chevalier: Ich gebe Ihnen zu, daß Sie viel wagen. Bei Ihnen zu Hause geht es drunter und drüber. Geschäft und Ehe, Sie haben alles hinter sich gelassen.

Madame Legros: Mich verließ alles, seit ich erkannt habe, was das Wichtigste ist.

Chevalier: Und täglich kann eine der Aufruhrszenen, die Sie veranstalten, Sie an den Galgen bringen. Das ist viel für ein Wesen von so zarten Reizen.

Madame Legros: Ich fürchte nichts mehr!

Chevalier: Und natürlich auch nicht die Bedingung, unter der ich Ihr Verbündeter geworden bin.

Madame Legros: Nichts.

Chevalier: Wenn ich Sie ansehe: diese gefährliche Feindin mit dem rosigen Schimmer unter den gesenkten Wimpern – Engel und Henker –: ich weiß nicht, ob ich ihr die Knie küssen möchte oder den Profoß rufen!

Madame Legros: Sie werden noch erfahren, daß dieses geheimnisvolle Geschöpf nichts war, nichts, als die Stimme eines Unschuldigen.

Chevalier: Ihr Unschuldiger, bei meinem Glück, er soll aus dem Turm, – ob ich damit dem Himmel einen Gefallen tue oder der Hölle. Sie wissen noch nicht, was heute geschehen wird. Für die Person, die hierher kommen wird, müssen Sie Ihre ganze Kraft aufbieten.

Madame Legros: So mächtig ist sie?

Chevalier: Daß ich diese Person herbringe, ist so viel, als küßte ich Ihnen die Knie.

Madame Legros: Sie helfen zu einem Werk, mein Herr, das allen Menschen die verlorene Unschuld wiedergeben wird. Ja, der Unschuldige wird unter uns sein, und mit ihm der Himmel selbst!

Marquise: Auch wir ließen uns Schauspieler kommen.

Chevalier hin zu ihr: Madame, verzeihen Sie, ich bemerkte Sie nicht.

Marquise: Es stört Sie doch nicht, daß ich Ihnen zusah? Ich sah das so oft.

Chevalier: Schwerlich sahen Sie schon einmal eine Madame Legros. Links ab.

 

Dritte Szene

Madame Legros. Marquise.

Madame Legros: Madame, ich bin gekommen, Sie an einen Unschuldigen zu erinnern. Sie haben ihn vergessen, alle haben ihn vergessen, und doch ist die Bastille so groß, man sieht sie von überall.

Marquise: Früher bestimmten wir, was gespielt werden sollte.

Madame Legros: Madame ...

Marquise: Schweigen Sie, schamlose Komödiantin! Sie tragen Ihre Gefühle zur Schau, wie andre ihren entblößten Busen. Sie haben Ihre Seele abgerichtet und können die Stimme davon überfließen lassen, sobald ein Boskett nicht ganz leer ist, sondern eine alte Frau darin sitzt. Ein Unschuldiger und dreiundvierzig Jahre einsamer Qual: haben Sie es einmal empfunden? Um so schlimmer, denn nun haben Sie es mißbraucht, und es ist eine Rolle geworden, die Sie können.

Madame Legros bedeckt das Gesicht: Das ist furchtbar. Ich bin ganz leer, ganz schlecht. Man soll mich fortschaffen ... Einmal war ich doch erfüllt und wahr. Es war ein großer Augenblick, ich sah ihn, im offenen Himmel, er sprach mit mir, und ich teilte es allem Volk mit. Aber sie verstanden mich nicht. Wie wenige haben mich seitdem verstanden, und es sind doch Tausende, die es wissen müssen ... Aber auch ich kann nicht in jeder Stunde fühlen, was so ungeheuer ist; – und so heißt es denn schwindeln und schwatzen. Ich muß doch handeln, damit der Unschuldige gerettet wird. Und vom Handeln bin ich nun wohl schlecht geworden.

Marquise milder: Haben Sie denn bedacht, was das sagen will, einen Menschen retten? Der, den Sie den Unschuldigen nennen, ist alt geworden, ohne daß Sie von ihm wußten, und nun wollen Sie ihn retten.

Madame Legros: Nun weiß ich, wie schrecklich sein Leben war, und daß er es nicht verdient hat!

Marquise: Verdienen ist ein hochmütiges Wort. Sehen Sie mich an! Sie wissen von mir nicht mehr als von jenem. Wollen Sie sagen, daß ich es nicht verdient hätte, mein Leben hinter Mauern zu verbringen? Es hätte mir geschehen können, – denn eine von uns Zwillingsschwestern mußte ins Kloster, weil wir nicht reich genug waren für unseren großen Namen. Es traf nicht mich, es traf meine Schwester, die besser war als ich. Wenn ich jetzt zurückdenke, weiß ich warum: Gott wollte sie belohnen und bewahren.

Madame Legros: Haben Sie denn nicht geliebt?

Marquise: Lieben Sie Gott!

Madame Legros: Gott braucht mich nicht. Wen braucht er, er hat den Unschuldigen vergessen, wie alle andern ihn vergessen haben. Ich aber bin da, mein Herz schlägt: es schlägt so stark, daß Mauern davon stürzen sollen!

 

Vierte Szene

Die Vorigen. Comtesse. Chevalier. Abbé. Baron.

Comtesse: Die Herren ließen mich nicht früher los vom Ballspiel.

Abbé: Der Unschuldige wartet schon so lange.

Comtesse: Mit diesen Dingen scherzt man nicht.

Chevalier: Wenigstens nicht in Gegenwart einer Frau aus dem Volk.

Baron: Der Chevalier hat Furcht.

Chevalier: Nein, aber Respekt vor der Leidenschaft.

Comtesse umarmt und küßt Madame Legros: Liebe Legros, wir wollen Freundinnen sein. Ihr Unschuldiger gefällt mir zum Entzücken. Wäre nur der Gouverneur galanter –

Madame Legros: Ich verstehe Sie nicht, Madame.

Comtesse: Ich erwarte Gäste. Sie werden nett sein, nicht wahr? Sie werden allen Ihre Geschichte erzählen? ... Ich weiß, Sie tun alles aus wahrer Begeisterung für die Tugend. Und auch ich, als ich nun dem Unschuldigen gegenüberstand, ich mußte mir die Augen bedecken.

Abbé: Und die Nase zuhalten.

Madame Legros: Sie können ihn doch nicht gesehen haben. Der Turm ist unermeßlich dick, und der Unschuldige wartet nur auf mich.

Comtesse: Weiß er denn von Ihnen?

Madame Legros: Ich arbeite seit Wochen. Ich wühle, erschöpfe mich, ich lüge, ja, ich treibe ein Spiel ... Ach, was sage ich! Ich leide, leide. Ich bin nicht zu ihm gedrungen. Menschen sind davor, tausend und aber tausend Menschen, die ich alle gewinnen muß, alle rühren und besiegen muß, bis ich zu ihm dringen kann, der auf mich wartet ... Und Sie, sagen Sie, haben ihn gesehen. Will lachen.

Comtesse: So ist es. Sie vergessen, meine kleine Legros, daß es Unterschiede gibt. Ein Wort an den Gouverneur – und ich ward zu ihm geführt. Er fiel mir zu Füßen, er küßte sie mir. Es war schrecklich und reizend, wie seine Kette dabei rasselte. Und der Unschuldige schwor mir, daß er bis an sein Lebensende niemanden lieben und verehren werde als mich.

Madame Legros: Sie lügen!

Comtesse: Sie vergessen sich.

Madame Legros: Sie lügen und sind voll Tücke. Sie haben ihn nicht gesehen und wissen nicht, daß sein Gesicht glänzt wie die Sonne. Wenn Sie seine Stimme je gehört hätten, könnten Sie nicht mehr kleinlich und tückisch sein! Aber nur ich habe sie vernommen. Nur mich ruft er. Nur mich liebt er. Nur ich, verstehen Sie, nur ich habe ein Recht auf ihn!

Comtesse: Wie diese naive Eifersucht mich amüsiert!

Abbé: Man sollte es nicht zu weit kommen lassen mit solchen Leuten.

Bewegung im Volk, draußen am Gitter.

Madame Legros: Er ist mein! Ich habe alles für ihn hingegeben: Mann. Haus. Frieden. Er wärmt mich, er nährt mich, und das ganze Leben, ihr sogar, die ihr so schlecht seid, scheint mir wieder gut. wenn er mich ansieht. Hüten Sie sich, zu sagen, daß Sie bei ihm waren!

Comtesse: Es tut mir leid für Sie, meine Kleine, ich war bei ihm.

Madame Legros: Schmutzfetzen! Will auf sie los.

Chevalier: Abbé, Baron dazwischen.

Comtesse: Oh. liebe Freunde, was für eine Emotion!

Abbé: Sie waren tapfer, Madame. Jetzt aber sollte man die Frau entfernen.

Chevalier zur Comtesse: Es liegt etwas vor, ich muß Ihnen später etwas mitteilen.

Baron: Ich, der ich von solchen Staatssachen nichts verstehe, möchte wissen, wann man weiterspielt.

Chevalier: Staatssachen?

Abbé: Das ist sein Wort für alles, was nicht Ballspiel ist.

Marquise: Sie haben unrecht, Sylvaine! Auch ich hatte unrecht. Wir haben uns keine Schauspielerin eingeladen. Zu Madame Legros: Geben Sie mir Ihre Hand, Kind. Das bebt und drängt. So war die Hand meiner Schwester an dem Tage, als sie den Schleier nahm ... Sie irren sich, Kind. Sie lieben nicht einen Menschen, der leidet: Sie lieben Gott.

Madame Legros: Ich liebe den Menschen!

Marquise: Unsere stürmischen Herzen, Sylvaine, es scheint, ihr habt sie nicht geerbt; es scheint, sie sind auf das Volk übergegangen. Zu Madame Legros: Laß dich ansehen, meine Schwester.

Madame Legros kniet hin.

Comtesse: Was hat sie?

Abbé: Sie verliert schon wieder den Kopf.

Marquise: Ich möchte allein sein.

Comtesse: Im Hause würden Sie später unsere Gäste treffen.

Marquise: So lassen Sie mich in Ihre Kapelle fahren.

Comtesse geleitet die Marquise.

Chevalier, Abbé gehen hinterher.

Das Volk ab.

 

Fünfte Szene

Madame Legros. Baron.

Baron verläßt leise die anderen, kehrt zu Madame Legros zurück: Madame.

Madame Legros schrickt auf, erhebt sich: Mein Herr.

Baron ernst: Ich bin der fanatische Ballspieler, ebenso wie Sie die unermüdliche Menschenfreundin sind. Ist es Ihnen recht, so nehmen wir jetzt einmal beide die Maske ab.

Madame Legros: Ich habe keine abzunehmen, mein Herr.

Baron: Behalten Sie sie also auf. Es kommt einzig darauf an, daß Sie mich genau verstehen. Ich sage Ihnen zuerst etwas Freudiges. Sie werden hier der Königin begegnen ... Sie haben nicht verstanden.

Madame Legros: Es freut mich, mein Herr.

Baron: Sie erschrecken nicht?

Madame Legros: Früher wäre ich sehr erschrocken, mein Herr. Verzeihen Sie, daß eine Königin mich jetzt nicht mehr erschreckt.

Baron: Sie begreifen, welche Vorteile Sie aus diesem Zusammentreffen ziehen können.

Madame Legros: Ah! Der Chevalier. Das war es, was er vorhatte! Er ist gut, ich wußte es. Alle sind nur aus Irrtum böse.

Baron: Der Chevalier mag Gründe haben, Ihnen gefällig zu sein. Aber seine eigentliche Absicht, wenn er die Königin heute hierherbringt, liegt doch auf einem andern Gebiet. Er hat hier mit der Königin eine politische Zusammenkunft, die er anderswo nicht haben könnte, weil wir ihn überwachen.

Madame Legros: Wer sind Sie?

Baron: Der Beauftragte jemandes, der der Königin mißtraut.

Madame Legros: Aber sie kommt her! Sie will mich sehen! Sie wird mir helfen!

Baron: Sie werden wohl nie begreifen, daß die Welt sich nicht um Sie und Ihren Unschuldigen dreht. Auf diesem Rasen hier wird nichts anderes gesonnen und getrachtet, denken Sie. Es ist gerade so, als wollte ich mir einbilden, daß hier nur Ball gespielt wird.

Madame Legros: Machen Sie, daß es so ist! Ich mache, daß alle, in den Gassen, Palästen, Dachkammern und bis in die Gosse und bis zum Thron, nur das eine noch sehen, nur von dem einen noch beklommen sind, nur das eine noch wollen und ersehnen! Hindern Sie mich, wenn Sie können!

Baron: Ich habe kein Interesse, Sie zu hindern, wenn Sie mir in einer unbedeutenden Sache ein wenig entgegenkommen ... Oh, es ist nicht das, was der Chevalier von Ihnen verlangt ... Ich wünsche einen Namen zu wissen. Nichts weiter als einen Namen, der im Gespräch zwischen der Königin und dem Chevalier fallen wird.

Madame Legros: Wer sind Sie!

Baron: Nur ein Neugieriger. Zwischen der Königin und dem Chevalier wird ein Name fallen, der Name eines österreichischen Agenten, den die Königin noch nicht kennt, der in der Menge der distinguierten Fremden ankommen soll, und dem sie unauffällig sich zu nähern denkt. Wir wünschen es zu verhindern; – und von Ihnen, Madame Legros, die Sie allein zugegen sein werden, erwarten wir den Namen, um dessentwillen die Königin herkommt.

Madame Legros: Sie kommt doch, weil es sogar schon zu ihr gedrungen ist, daß ein Unschuldiger leidet! Mein Herr, auch Sie werden mir helfen. Sie sind wie der Chevalier und die andern. Jeder glaubt, er wolle nur seine Begierden stillen, und zuletzt merkt er, daß ihm einzig am Herzen liegt, das große Unrecht von sich abzuladen.

Baron: Sie verstehen, es einen glauben zu machen. Man muß zugeben, daß Sie kein Mittel verschmähen. Wer Ihnen zusieht, ist versucht zu glauben, daß Sie sich gut, allzugut auf die Laster und die Chimären der Menschen verstehen.

Madame Legros: Ich war noch nicht so, als meine große Aufgabe begann. Aber ich habe die Menschen seitdem ein wenig kennengelernt. Man kann ihre Schlechtigkeiten nicht abschaffen, man kann sie nur liebkosen, bis es Tugenden werden. Das Gute in ihnen schämt sich, man muß sie zur Zügellosigkeit der Güte verführen.

Baron: Madame Legros, Sie sind sehr gefährlich. Sie sind eine Kurtisane der Tugend.

Madame Legros: Ich weiß wohl, ich bin unwürdig, daß so Großes durch mich geschehe.

Comtesse und Chevalier kommen von links.

Chevalier spricht leise, legt den Finger auf die Lippen.

Comtesse erschrickt, verneigt sich unwillkürlich.

Baron: Jetzt sagt er es ihr. Sie sehen, wir haben keine Zeit zu verlieren. Zum Chevalier: Sie hatten recht, d'Angelot, die Person verdient Respekt. Sie ist nicht nur interessant, ich hoffe, sie ist sogar brauchbar.

Chevalier: Zum Ballspiel?

Comtesse und Chevalier ab.

Baron: Sie werden den Namen erlauschen, Madame Legros, und ihn mir sagen.

Madame Legros: Welchen Namen? Verlangen Sie doch, bitte, nicht, mein Herr, ich solle dem Chevalier schaden. Er ist so gut.

Baron: Machen wir es kurz! Man kommt. Ihr Unschuldiger ist verloren, wenn Sie mir nicht gehorchen. Ich bin überzeugt, daß Sie an der Königin alle Ihre Verführungskunst, alle Reize der Unschuld erproben werden. Aber es wird vergebens sein. Wir haben Wege, um auch die edelsten Wünsche der Königin unwirksam zu machen.

Madame Legros: Sie werden es nicht tun, mein Herr! Sie werden nicht ein Verbrechen verlängern! Was könnten Sie denn bezwecken, das wichtiger wäre als die Rettung eines Unschuldigen!

Baron: Keine Deklamationen! Sie werden mir den Namen sagen?

Madame Legros: Ich soll verraten! Ich soll den Chevalier verraten, der mir hilft, mein Werk zu tun und meiner großen Schuld ledig zu werden!

Baron: Er wird es nie erfahren; er ahnt nicht, wer ich bin. Ich werde den Namen bekommen?

Madame Legros: Ich kann nicht. Man wird sich an ihm rächen?

Baron: Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß seine Freiheit gefährdet ist. Aber dafür haben Sie den Unschuldigen.

Madame Legros: Ich kann nicht.

Baron: Dann ist Ihre Sache verloren.

Madame Legros: Ich lüge schon. Ich spiele schon Komödie. Ich habe schon meinen Leib als Preis versprochen. Ich werde auch noch verraten.

Baron: Ihr Wort!

Madame Legros: Ja.

 

Sechste Szene

Die Vorigen. Comtesse. Chevalier. Abbé.

Comtesse: Niemand soll es sehen? Sie machen mich krank vor Ärger, Chevalier.

Chevalier: Ich bin untröstlich, aber es ist der Wille der Königin. Sie will unerkannt bleiben und nur mit Madame Legros reden. Ich werde zugegen sein. Ihre Gäste, Madame, müssen den Garten meiden.

Baron zur Comtesse: Diese Madame Legros ist von einer Weltfremdheit! Stellen Sie sich vor, daß sie allen Ernstes glaubt, hier seien nur schlechte und listige Menschen.

Chevalier zu Madame Legros: Die Person, die ich Ihnen ankündigte, wird sogleich erscheinen. Es ist eine Fremde, und dennoch hat sie großen Einfluß.

Madame Legros: Ich bin – stockt – zu allem bereit, um ihn für mich zu gewinnen.

Chevalier: Sie wird von niemandem hier begrüßt werden und wird verschwinden, ohne daß man ihr folgen darf. Sie dürfen niemals versuchen, sie wiederzuerkennen. Gehen Sie auf diese Bedingung ein?

Madame Legros: Auf alle.

Chevalier gibt leise dem Türhüter eine Weisung, zieht sich nach links zurück.

Madame Legros steht allein in der Mitte.

 

Siebente Szene

Madame Legros. Die Königin. Chevalier. Madame Crozet. Baron. Später Legros. Die Verwandte.

Königin, dunkler Seidenmantel mit Kapuze, tritt aus einem Boskett rasch auf. Madame Crozet bleibt vor dem Boskett stehen. Comtesse, Abbé, Baron machen tiefe Verbeugungen, verschwinden lautlos.

Königin mustert unzufrieden Madame Legros, sieht von ihr weg: Sind Sie da, Chevalier?

Chevalier tritt vor, verbeugt sich leicht: Madame, ich erwarte Ihre Befehle.

Königin: Die Person, in deren Interesse Sie mit mir gesprochen haben?

Chevalier: Hier steht sie, Madame.

Königin erhebt das Lorgnon: Wirklich, ich hätte sie sehen sollen, sie steht gerade in der Sonne. Madame Crozet, hat man mir vielleicht zeigen wollen, daß diese Person jung ist? Sie zieht ihre Kapuze tiefer herunter.

Chevalier leise zu Madame Legros: Schnell, treten Sie in den Schatten!

Volk sammelt sich an.

Königin: Übrigens hat sie die eingedrückte Nase, die bei dem gemeinen Volk hier üblich ist. Natürlich, auch mit solcher Nase ist man einmal jung. Zum Chevalier, leise: Sagen Sie mir zuerst die Hauptsache. Sie wissen den Namen?

Chevalier flüstert.

Baron erscheint hinter dem Boskett, gibt Madame Legros ein Zeichen.

Madame Legros lauscht, erschrickt, als der Chevalier den Namen nennt, und wirft ihn, um die Ecke des Bosketts, dem Baron zu.

Baron ab.

Königin ängstlich nach vorn: Man vertreibe doch das Volk dort draußen. Was will dieses Volk von mir! Auch die Person, die Sie mir zuführen, Chevalier, wird nur wieder irgendeine Unverschämtheit planen ... Sie sind ganz sicher, daß sie mich nicht kennt?

Chevalier: Durchaus sicher. Es ist eine naive Frau, die Sie, Madame, sehr rühren wird durch ihre vom Leben noch unbelehrte Tugend. Es ist, als begegne man einem Geschöpf aus den ersten Zeiten. Man sieht, wie die Menschen ursprünglich tugendhaft waren.

Königin: Das glaube auch ich. Erst eine lange geschichtliche Korruption hat sie fähig gemacht, geistig auszuschweifen und unsere Rechte zu leugnen. Zu Madame Legros: Ich bin eine Freundin der Tugend. Es heißt, daß auch Sie sie lieben. Daher bin ich gekommen.

Madame Legros steht mit gesenktem Kopf, schrickt auf: Madame, ich bin sehr schuldig, ich habe verraten.

Königin: Verraten?

Chevalier: Sie zeiht sich aller Verbrechen, weil nach ihrer Meinung ein Unschuldiger leidet, woran sie und wir alle Schuld haben sollen. Es ist sehr merkwürdig.

Madame Legros: Ja, wir müssen uns mit allen Verbrechen beladen, bis nicht der Turm gesprengt ist und die Unschuld unter uns zurückkehrt ... Madame, in diesem Lande geschieht Furchtbares.

Königin: In diesem Lande? Warum sagen Sie es mir?

Madame Legros: In der Welt, so weit sie ist. Aber die Bastille steht doch hier. Hier ist es geschehen, daß ein Unschuldiger dreiundvierzig Jahre lang ungehört seine Klagen ausstößt. Solch ein dicker Turm steht hier, Madame!

Königin zum Chevalier: Weiter ist es nichts? Nur wieder die gewohnten aufrührerischen Beschwerden über die sogenannte Willkür der Bastille. Läßt sich denn ohne Bastille regieren? Man verlange doch gleich das Ende der Welt! ... Dies also ist das Vergnügen, das Sie mir versprachen, Chevalier?

Chevalier: Ich bin in Verzweiflung, Madame, daß Sie es so schlecht treffen. Die Person benimmt sich ungeschickt. Sie war sonst amüsanter. Möglich, daß ihr Talent schon nachläßt. Auch hat man sie hier verstimmt, denn der Frau Gräfin d'Orchat hat es gefallen, ein vielleicht zu lebhaftes Interesse für den Unschuldigen zu zeigen. Man begreift es, er hat die Mode für sich.

Königin: Man soll nicht sagen, daß ich die Mode nicht verstehe! Zu Madame Legros: Sie heißen also Madame –

Chevalier flüstert der Königin ein: Legros.

Königin: Legros, und bemühen sich im Interesse des Gefangenen –

Chevalier wie vorher: Latude.

Königin: Latude. Er scheint ein gefährlicher Mensch zu sein, Sie tun da etwas Verbotenes. Aber Ihre Empfindsamkeit teile ich, wie alle andern sie teilen. Madame Crozet, mein Schnupftuch! Sie führt es an die Augen. Es rührt mich sehr, daß es Personen gibt, denen es nicht gut geht, – obwohl, wenn sie ihre Pflicht getan hätten –

Madame Legros: Madame, solcher Tränen habe ich nun allzu viele gesehen. Nasse Augen, trocknes Herz.

Chevalier leise zu Madame Legros: Was fällt Ihnen ein!

Madame Legros: Lassen Sie mich! Man hat mich eingeladen, um Leute, die sich langweilen, zum Weinen zu bringen. Ich habe es endlich satt, das große Leid unter so kleine Herzen zu tragen. Dieses da schien mir anders. Als diese Dame eintrat, fühlte ich, nun trete eine große Hoheit und Güte ein. Neue Hoffnung erwachte in mir. Ach, sie war trügerisch. Gehen Sie nur, Madame. Ihnen kann der Unschuldige nicht helfen, und Sie ihm nicht.

Chevalier leise: Das ist erstaunlich! Sie hat die Gegenwart der Majestät gefühlt!

Königin: Was finden Sie daran erstaunlich? Das Gegenteil wäre es. Im übrigen spricht sie dreist – viel zu dreist.

Chevalier: So meinte ich es. Ich bin trostlos, Madame, Ihnen zu mißfallen. Zieht sich zurück. Im Vorübergehen leise zu Madame Legros: Hüten Sie sich!

Madame Legros ausbrechend: Ich habe mich genug gehütet. Man soll endlich die Wahrheit hören! Wie sehr habe ich den Menschen geschmeichelt, damit die Pflicht des Herzens ihnen zum Vergnügen werde. Ich habe Marktweibern Gefühle beigebracht wie Heiligen. In Häuser drang ich ein und würzte den Bürgersleuten ihre Verdauung mit schönen Empfindungen. Und Karossen bestieg ich, in denen bunte Damen mich mitnahmen, um seufzen zu können, da sie schon ein Äffchen mithatten, um zu lachen! Wie ich mich geschämt habe, vor ihm, dem Unschuldigen, der aus seinem Kerker mir nachsah! Wie ich euch gehaßt habe: in euren Palästen die Konzerte, bei denen zuerst leichtfertige Sänger auftraten, und dann ich! Gehaßt – euer Girren und Tändeln, eure Liebenswürdigkeit ohne Liebe, euer untätiges Wohlwollen, eure Schönheit und euren Glanz, die nicht wissen, wie arm und nüchtern sie wären, wenn unter euch der Unschuldige, einmal nur der Unschuldige träte!

Königin: Ah! Sie geben es zu ... Sie gibt es zu, Chevalier, daß sie uns haßt! Das war es, was ich voraussah. Dieses Volk ist treulos und aufrührerisch, ich hasse es auch! Ich habe es gleich gehaßt!

Madame Legros: Aber ich habe euch verführt, habe euch dahin gebracht, das Gute zu wollen, es herbeizuseufzen. Die Ketten, die ihr geschmiedet habt, – ihr haltet euch nun die Ohren zu, wenn sie klirren. Ihr selbst drängt euch nun gegen den Turm, bis er birst ... Ja: ich habe mich hindurchgebohrt, hinaufgewühlt bis zu euch, bis zu den größten Herren, bis unter den Thron. Ich war in Versailles.

Königin: Sie waren in Versailles?

Madame Legros: Ich hatte alle Schranken eurer Gesellschaft überwunden, alle Mauern eurer Herzen. Wie nun die Königin vorüberfuhr –

Königin: Sie haben sie gesehen?

Madame Legros: Ich habe nichts von ihr empfangen als den Schmutz ihrer Räder, die sie von einem nichtigen Vergnügen zum andern trugen. Aber wie sie nun vorüberfuhr – ich hatte so viel auf mich genommen, so sehr mich abgemattet: – ah! ich würde sie herausgerissen und zu ihr gesprochen haben, wie dreiundvierzig Jahre schuldlosen Leidens sprechen. Tritt drohend vor.

Königin schreit: Chevalier! Ihr Mantel gleitet herab, sie steht in einem sehr bunten Kostüm da.

Chevalier springt herzu, packt Madame Legros an.

Madame Legros sinkt zusammen: Aber man riß mich zurück, ich fiel hin, eine Ohnmacht kam mich an.

Königin: Sie waren ohnmächtig, – und die Königin lachte wohl? Sie lacht. Chevalier, geben Sie sie frei. Sie soll weitersprechen. Diese Kleine interessiert mich, sie hat mir Herzklopfen gemacht. Prüft Madame Legros durch das Lorgnon. Sie soll mir sagen, wie sie zu alledem kam. Was geht dieser Unschuldige sie an? Woher der unverschämte Eifer für eine Staatsangelegenheit, die die Untertanen nicht zu kümmern hat?

Legros, die Verwandte erscheinen im Volk, draußen am Gitter.

Madame Legros wankend, berührt ihre Stirn: Was war's? Ein Brief fiel vom Turm. Ich habe sehr geliebt, Madame. Der ihn schrieb, ist so schön. Auch Sie würden ihn lieben. Alle, alle Menschen sind doch der Liebe fähig. Ich habe mich nicht in ihnen geirrt. Aufgerichtet: Alle zusammen haben ein Herz, ein großes, heißes Herz. Meins ist nur ein Teil davon, – und doch hat nun die Liebe zu dem Unschuldigen es so mächtig gemacht. Machtvoll: Liebt ihn, ihr Menschen, ihr werdet unbesiegbar sein!

Königin tänzelt vor Madame Legros umher: Jetzt langweilt sie mich. Zum Chevalier: Kann sie sonst nichts? Ich denke mir übrigens das meine über ihre Beziehungen zu dem Herrn Unschuldigen. Sie lacht und flüstert mit dem Chevalier.

Legros: Ich mache ein Ende!

Verwandte: Das sind hohe Herrschaften.

Legros: Und ich bin ihr Mann! Soll es mich denn nicht erbarmen, wie diese Leute sie zurichten? Kein gutes Wort mehr im Hause, und die Nächte verbringt sie auf einem Stuhl.

Verwandte: Die Dirne aller Herren vom Adel, die sie haben wollen! Der Spott und Abscheu des ganzen Stadtviertels! Und mit dem ekelhaften Unschuldigen, der in seinem Kot liegt, hat sie eine unnatürliche Liebe. Alle wissen es, auch Colas, der Soldat in der Bastille ist, und den ich heiraten werde, wenn Sie die Person zurückholen.

Legros: Es ist zuviel! Ich schaffe Ordnung! Will durch das Tor.

Der Torhüter: Niemand tritt ein!

Legros: Mach keine Geschichten! Die da ist meine Frau.

Er wirft den Türhüter beiseite. Volk sammelt sich an.

Königin: Was gibt es? Das Volk!

Chevalier zu Legros: Was suchen Sie hier?

Legros: Etwas, das Ihnen nicht gehört! Ich will meine Frau haben! Es ist mein Recht! Packt Madame Legros an. Hure! Schier dich nach Haus!

Chevalier befreit Madame Legros: Ich bitte mir Achtung aus vor den anwesenden Damen! Zur Königin: Fürchten Sie nichts, Madame. Es ist nur ihr Mann. Sie begreifen, daß die Ehe ein wenig gestört ist.

Königin: Das ist amüsant. Was wird er tun?

Legros entblößt den Kopf: Mit Verlaub. Ich war immer ein höflicher Mann, man soll nicht sagen, ich verkenne meine Pflicht gegen die Damen. Diese hier aber ist meine Frau, und sie benimmt sich, ich darf nicht sagen, wie. Zu Madame Legros: Schämst du dich nicht, Madame Legros? Die Leute reden von dir, und auf mich zeigen sie mit Fingern. Du vernachlässigst das Geschäft und das Haus. Hast du dich über deinen Mann zu beklagen? Warum läufst du mir also davon?

Chevalier zeigt auf die Verwandte: Sie, Herr Legros, haben sich getröstet. Meinen Glückwunsch, Sie haben Geschmack.

Verwandte ist eingetreten: Mir kann niemand etwas Schlechtes nachsagen.

Königin: Eine hübsche Familie! So dachte ich mir das Volk.

Legros: Wenn auch ich gefehlt habe, so geht das nur uns an, mich und Madame Legros: aber nicht die Herrschaften, denn sie haben meine Frau verrückt gemacht, um ihren Spaß an ihr zu haben. Es gibt Leute, die sagen, daß man einmal abrechnen wird! Ein Bürger von Paris läßt sich nicht auslachen von einer lächerlichen, aufgezäumten Alten, wie die da!

Chevalier zieht den Degen: Hinaus mit dir!

Legros: Und noch weniger von dem frechen Schlingel, den sie sich aushält! Schlägt ihm den Degen aus der Hand.

Das Volk hinter dem Tor lärmt, will den Türhüter fortdrängen.

Madame Crozet: Flüchten Sie, Madame!

Königin tritt vor: Tölpel, auf die Knie! Siehst du nicht, wer ich bin!

Legros erschrickt, fällt nieder: Ich bin verloren!

Stimmen im Volk: Es ist die Königin! Nieder mit ihr!

Soldaten vertreiben das Volk.

Königin: Steh auf, ich will kein Aufsehen!

Legros: Madame, wenn Eure Majestät die Bedrängnis eines armen Mannes kennten ... Meine Frau macht mir Kummer, und man kann kaum leben. Die Abgaben verteuern die Waren so sehr, daß niemand sie kauft. Die Zeiten sind schwer.

Königin: Nur das Volk von Paris ist gierig und aufrührerisch. Warum lebt ihr nicht auf dem Lande? Alle Schäfer sind sorglos und zufrieden.

Chevalier: Ihre Majestät entläßt euch.

Legros, Verwandte beugen die Knie. Ab.

Chevalier: Wenn Eure Majestät die Gelegenheit benützten und unter dem Schutz der Soldaten den Platz verließen?

Königin: Noch nicht. Erst jetzt wird eure Heldin interessant. Die Heldin, von der ihr alle mir in den Ohren liegt: jetzt stellen sich höchst pikante Sitten bei ihr heraus.

Chevalier: Suchen wir wenigstens das Boskett auf.

Madame Crozet zieht sich zurück.

Königin: Ja, hier ist es heimlicher, hier soll die Heldin mir über ihren Unschuldigen einiges verraten, das ich ahne. Flüstert, kichert.

Chevalier: Madame Legros.

Madame Legros abgewandt und starr, schrickt auf.

Chevalier: Sie waren abwesend? Haben Sie bemerkt, was vorging? Es war Lärm genug.

Madame Legros: Ich bin betroffen über die hohe Ehre, mich in Gegenwart der Königin von Frankreich zu befinden. Verneigt sich. Madame, ein großes Unrecht ist geschehen, und Ihr ganzes Land seufzt darunter. Sie können alle Ihre Untertanen glücklich machen –

Königin: Ich möchte vor allem mich selbst amüsieren. Verdenken Sie mir das?

Chevalier nicht ohne Ironie: Ihre Untertanen lieben Sie dafür.

Madame Legros: Madame, ein Unschuldiger –

Königin: Das meine ich eben. Treten Sie ruhig näher. Kleine. Sagen Sie mir ganz aufrichtig, was es mit ihm ist. In diesem Fall wäre ich geneigt, Ihnen zu helfen. Sie wissen, daß ich es kann ... Nun? Ihrer Königin dürfen Sie vertrauen. Bitte, bitte.

Chevalier: Können Sie die Königin bitten hören, Madame Legros?

Madame Legros: Ich weiß nicht, was die Königin will. Ein Brief fiel vom Turm –

Königin: Und gab Ihnen ein Stelldichein.

Madame Legros zurückfahrend: Sie können glauben? Das sagen die Unwürdigsten.

Königin: Ich bin darauf gekommen, ohne daß jemand es mir gesagt hat!

Madame Legros: Das sagen die Neidischen, die schmutzigen Seelen! Die Gosse sagt es!

Königin: Gestehen Sie! Wie sind Sie in die Bastille gelangt? Sie mußten einem Wächter Ihre Gunst schenken, nicht wahr? Oder waren es mehrere? ... Viele?

Madame Legros beugt sich, stöhnt.

Königin reicht ihre Hand rückwärts dem Chevalier: Sehen Sie? Es ist, wie ich annahm.

Chevalier: Um so schlimmer für den guten Mann, der sich vorhin herausnahm, mich zu entwaffnen.

Königin: Und wie war es bei dem Gefangenen? Sehr grausig? Man hört von seltsamen Vergnügungen. Die Comtesse d'Argilles hat eine Nacht im Grabgewölbe ihres Hauses verbracht, man sagt, mit einer Leiche.

Chevalier aufgerichtet: Wir kennen alles bis zum Überdruß, nur den Tod nicht. Er allein hat noch Reize.

Madame Legros: Ich habe ihn geliebt! Versprechen Sie mir seine Freiheit, und ich sage alles.

Königin: Ich verspreche.

Madame Legros: Ich habe das Wort der Königin.

Chevalier über die Königin geneigt: Sie sind zu beneiden.

Königin: Nun? War es wie im Grab? War er brutal?

Madame Legros: Er nahm mich wie eine Sterbende. Ich fühlte, daß er mager war wie der Tod. Ich roch Verwesung, da wir uns küßten, und das war süßer als aller Blumenduft hier oben. Die Blumen lügen, hier oben ist nur Qual und Gemeinheit. Ich will wieder hinab zu ihm. Tot sein! Tot sein! Sie taumelt, drückt den Kopf in die Arme und schluchzt.

Königin streckt sich, vergeht.

Chevalier küßt sie auf den Mund.

Pause.

Königin seufzt, steht auf.

Chevalier zu Madame Legros: Das nenne ich den Profoß rufen.

Madame Legros richtet sich auf, sieht die Königin an.

Königin schlägt die Augen nieder.

Chevalier: Eure Majestät befiehlt, daß Ihr Wagen vorfahre?

Königin: Ich gehe schon. Konventionell: Sie haben recht getan, Chevalier, mir diese Person vorzustellen, sie verdient Interesse. Zu Madame Legros: Sie haben mir gefallen, Sie dürfen sich eine Gnade ausbitten.

Madame Legros: Eure Majestät haben versprochen, den Unschuldigen aus der Bastille zu entlassen.

Königin: Ach ja, ich vergaß ... Aber Sie selbst, was wünschen Sie sich?

Madame Legros sieht sich um, hebt die Schultern: Hier?

Chevalier: Die Königin will sagen, bei Hofe. Eine Pension, ein Amt für Ihren Gatten.

Königin: Ich warte.

Madame Legros: Ich habe keinen Wunsch mehr.

Chevalier: Das ist nicht möglich!

Königin: Sie sind ungezogen!

Chevalier: Sie ist noch nicht wieder bei sich. Ich will nicht glauben, daß sie weiß, was sie spricht!

Königin: Dann wäre es Tugend? Das ist sehr rührend. Madame Crozet!

Chevalier: Es wäre zuviel. Es wäre peinlich, daran zu glauben.

Madame Crozet reicht der Königin das Schnupftuch.

Königin: Man soll nicht sagen, die Königin von Frankreich verstehe die Tugend nicht zu belohnen. Wir befehlen, jenem Gefangenen ist der Rest seiner Strafe zu erlassen. Er soll zusammen mit der Person, die sich für ihn so sehr interessiert hat, unserer Akademie vorgeführt werden. Die Akademie soll dieser Person den Tugendpreis erteilen, so befehlen wir. Sie geht. – Wendet sich nochmals um. Hastig: Aber man soll nicht sagen, wofür! Chevalier, ich verbiete dem Redner der Akademie zu sagen, wofür! Ab.

Chevalier, Madame Crozet ab.

 

Achte Szene

Madame Legros. Comtesse. Abbé. Baron. Dann Chevalier.

Comtesse, Abbé, Baron von links, verbeugen sich hinter dem Rücken der Königin.

Comtesse: Das ist unerhört. Die Königin hat sich länger als eine Stunde mit der Frau unterhalten. Was bedeutet das?

Chevalier kehrt zurück, macht vor Madame Legros eine tiefe Verbeugung.

Abbé: Wie er sie behandelt! Man wird sehr vorsichtig sein müssen.

Comtesse: Mein Gott, wozu ist sie ernannt worden? Zum Chevalier: Die Königin war zufrieden?

Chevalier: Die Empfindsamkeit Ihrer Majestät hat einer so großen Tugend nicht widerstanden. Die Königin hat die Entlassung des Unschuldigen befohlen.

Comtesse: Ich bin außer mir vor Rührung. Kann man der Dame seine Aufwartung machen?

Baron auf Madame Legros zu: Madame, ich höre, daß Sie Ihr edles Ziel erreicht haben, ich beglückwünsche Sie und empfehle mich Ihrer mächtigen Gunst.

Madame Legros sieht ihn entsetzt an, flieht nach vorn.

Comtesse, Abbé: Was hat sie?

Chevalier: Ich verstehe es nicht mehr.

Comtesse: Welchen Rang wird sie künftig einnehmen?

Chevalier: Keinen, – ob Sie es nun glauben oder mich für einen Intriganten halten.

Comtesse: Eine Stunde ganz allein mit der Königin und keine Gnade? Solche Einfalt gibt es nicht. Es muß wohl Tugend sein.

Chevalier: Ich hoffe es nicht. Das Leben würde zu schwierig sein, wenn es so schön wäre.

Comtesse: Aber warum sieht sie nicht glücklich aus?

Abbé: Es ist der geistige Hochmut, den nichts befriedigt.

Madame Legros vorn, allein: Es hat zu viel gekostet.

Vorhang.


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