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Erster Akt

Die größere Hälfte der Bühne wird von dem Laden des Ehepaares Legros eingenommen. Er ist nach der Seite offen und hat Auslagen von Weißwaren, auch auf der engen Gasse, die zwischen hohen alten Häusern (das schönste ist der Gasthof zum »Weißen Pferd«) nach dem Hintergrund verläuft. Dort öffnet sich der Platz der Bastille, einer ihrer Türme bildet den Abschluß.

 

Erste Szene

Madame Legros. Die Verwandte.

Verwandte: Das Häubchen ist hübsch. Der Graf von Coutras hat richtig gewählt: es wird dem Fräulein Palmyre gut stehen. Finden Sie nicht, Madame Legros?

Madame Legros an der Kasse, schreibend: Der Herr Graf hat gewählt, was ihm passend schien.

Verwandte: O nein, sondern ich selbst habe es ausgesucht und es dem Herrn Grafen aufgenötigt. Der Herr Graf würde dieses andere hier genommen haben, aber es ist nicht schön genug für Fräulein Palmyre. Ich bin ihre gute Freundin.

Madame Legros: Ich denke, du bist bei uns im Dienst und wirst schon darum einem Kunden die bessere Ware empfehlen.

Verwandte: Nun ja ... Ich könnte das Häubchen gleich hintragen.

Madame Legros: Du weißt, daß ich noch die Schleifen daranzunähen habe.

Verwandte: Das kann auch ich tun.

Madame Legros: Bildest du dir ein, man würde den Unterschied nicht sehen?

Verwandte: Ich habe doch auch schon Geschmack erlernt, seit ich in Paris bin. Ich bin keine Bäuerin. Herr Legros ist mein Vetter, er wird mir erlauben, was ich will.

Madame Legros: Die Schachtel mit den Strümpfen ist nicht fortgeräumt, und ein so teures Jabot treibt sich am Boden umher: das Fräulein aber hat keinen andern Gedanken, als zu einem Ballettmädchen zu laufen und wieder den ganzen Abend hinter den Kulissen nach galanten Herren auszuschauen.

Verwandte: Ich brauche nicht erst auszuschauen. Sie, Madame Legros, gönnen niemandem ein Vergnügen. Sie denken nur an sich.

Madame Legros: Ich denke an das Interesse des Herrn Legros. Dafür bin ich seine Frau.

 

Zweite Szene

Die Vorigen. Legros.

Legros: Guten Tag.

Madame Legros: Guten Tag, lieber Mann. Wie geht es in der Werkstätte? Bist du zufrieden mit deinem neuen Gesellen?

Legros: Er ist ein tüchtiger Mensch.

Madame Legros: Ich sehe dir an, daß du Ärger gehabt hast.

Legros: Meister Ambroise war da wegen der Bezahlung der Wolle.

Madame Legros: Es ist noch nicht der Zahltag.

Legros: Meister Ambroise brauchte das Geld. Seine Frau ist schon lange krank. Er hat Schwierigkeiten.

Madame Legros: Du hast es ihm gegeben?

Legros: Freilich haben auch wir es schwer – wie alle Welt jetzt. Aber ich sagte mir, man muß einander helfen.

Madame Legros: Was du tust, ist recht, lieber Mann.

Legros: Obwohl – wer wird eines Tages uns helfen?

Madame Legros: Oh! Dahin wird es nicht kommen. Der Herr Graf von Coutras hat unser schönstes Spitzenhäubchen gekauft, das für vierhundert Pfund.

Verwandte: Ich habe es ihm aufgeschwatzt!

Legros: Vielleicht hast du es ihm aufgeschwatzt. Madame Legros aber hat es angefertigt.

Madame Legros: Aber Lob verdient doch nur sie: ich nicht, denn du bist mein Mann.

Legros: Das ist wahr.

Madame Legros: Nun haben wir bald keine Spitzen mehr. Wann werden endlich die aus Alençon kommen?

Legros befangen: Das frage auch ich mich. Kann sein, daß sie schon da sind und beim Stadtzoll liegen. Dabei fällt mir ein, daß dein Vetter, der Zollbeamte, uns lange nicht besucht hat ... Was tust du da?

Madame Legros: Ich muß an das Häubchen des Fräuleins Palmyre noch die Schleifen nähen.

Legros: Tue das später. Jetzt solltest du zu deinem Vetter auf das Zollamt gehen und ihn für Sonntag zum Mittagessen laden.

Madame Legros: Gleich jetzt?

Legros: Ich schulde ihm die Höflichkeit.

Madame Legros: Kann nicht Lisette gehen?

Legros: Das wäre nicht höflich genug.

Madame Legros: Ich tue, was du befiehlst, lieber Mann. Sie macht sich zum Ausgehen fertig.

Legros: Und sage deinem Vetter, daß wir eine fette Gans haben werden! ... und sei zurück zum Essen!

Madame Legros: Es ist weit, aber ich werde eilen. Ab.

 

Dritte Szene

Legros. Die Verwandte.

Legros: Bring mir die Leiter her! ... Nun? ich glaube gar, man weint?

Verwandte: Es wäre nicht zu verwundern. Ich habe das teuerste Häubchen verkauft – und wie werde ich belohnt? Ich darf nicht einmal meine Freundin besuchen.

Legros tröstend: Madame Legros ist sonst nicht hart. Warum verbietet sie dir ein harmloses Vergnügen?

Verwandte: Und sie verbietet es mir in Ihrem Namen!

Legros: Sie glaubt wohl recht zu tun.

Verwandte: Aber wollen denn auch Sie, Herr Legros, ein Mädchen nur langweilige Pflichten lehren?

Legros näher bei ihr: Was soll ich dich sonst lehren?

Verwandte: Wenn Sie es nicht wissen ... Ich hätte gewünscht, daß ein ernsthafter Mann sich meiner annimmt. Aber auch bei meiner Freundin kann ich manches lernen. Es ist Fräulein Palmyre vom Opernballett.

Legros: Das ist eine Freundschaft, die ich nicht billige.

Verwandte: Warum denn nicht? Fräulein Palmyre ist aus unserem Dorf. Sie mag mich leiden, ich kann Zofe bei ihr werden.

Legros: Zofe bei einem Mädchen ohne Herkunft?

Verwandte: Der Herr Graf von Coutras schützt sie. Schon jetzt ist sie reich.

Legros: Und auch du möchtest es wohl auf diesem Wege werden? Man kennt das. Man wird achtgeben müssen auf dich. Madame Legros hatte recht, als sie dich nicht fortließ.

Verwandte: Statt dessen ist sie selbst fort: zu dem Zollbeamten, ihrem Vetter.

Legros: Was soll das! Hüte dich!

Verwandte: Oh! Wie Sie jetzt böse sind. Noch soeben waren Sie so lieb mit mir, daß Madame Legros es nicht hätte sehen dürfen.

Legros: Ich weiß, was ich Madame Legros schulde: einer Frau, so treu und unschuldig.

Verwandte: Weniger unschuldig als Sie.

Legros: Und von einer Geradheit, an der du dir ein Beispiel nehmen solltest.

Verwandte: Aus Geradheit tut sie wohl, als wüßte sie gar nicht, warum sie auf das Zollamt geht.

Legros: Sie geht, weil ich es ihr befehle. Du aber bring mir die Leiter her.

Verwandte: Einen Augenblick. Madame Legros versteht so gut wie wir beide, daß sie die Spitzen zollfrei in die Stadt schaffen soll. Ihrem Vetter wird sie dafür eine fette Gans anbieten; und wer weiß, ob nicht noch etwas.

Legros: Was sagst du da? Ich werfe dich hinaus!

Verwandte: Dann gehe ich geradewegs zu Fräulein Palmyre.

Legros: Ah! Dort lernst du solche Dinge. Madame Legros denkt an Arges so wenig wie ich selbst. Ihr Vetter sieht sie gern; er ist ihr Pate, und wer beim Zoll keinen Freund hat, zahlt, bis er ruiniert ist.

Verwandte: Ich habe es nicht böse gemein. Aber glauben Sie mir, Herr Legros, die Frauen sind einander wert. Nahe bei ihm: Kein Mann braucht sich ihretwegen Bedenken zu machen.

Legros: Spitzbübinnen wie du gibt es gleichwohl nicht viele.

Verwandte: Fort! Madame Legros kommt.

 

Vierte Szene

Die Vorigen. Madame Legros.

Madame Legros kehrt zurück, nachdem sie, Nachbarn begrüßend, die Gasse entlang bis unter den Turm gegangen ist und dort etwas vom Boden gehoben hat. Das letzte Stück bis zur Schwelle läuft sie, ist entsetzt, da die andern sie sehen, und versteckt ein Papier.

Legros: Man hat wohl Geheimnisse?

Madame Legros: Ich kann nichts dafür. Plötzlich hielt ich es in der Hand. Ach ...

Legros entreißt ihr das Papier.

Verwandte neugierig herbei.

Madame Legros verbirgt ihr Gesicht.

Legros: Was ist das? Wer hat es dir gegeben?

Madame Legros: Es fiel vom Turm.

Legros: Von welchem Turm?

Madame Legros: Von der Bastille.

Legros: Vorhin sagtest du, jemand habe es dir zugesteckt.

Madame Legros: Es ist so ungeheuerlich, daß ich mich mitschuldig fühlte, als ich es las.

Legros: Du?

Madame Legros: Alle Menschen sind mitschuldig.

Legros: Ein Narr hat es geschrieben. Und du verlierst deine Zeit daran.

Madame Legros: Ein Narr? Ein Mensch, der seit dreiundvierzig Jahren unschuldig im Turm sitzt.

Legros: Ein Spaßvogel. Vielleicht Ärgeres. Es gibt Leute, die Unzufriedenheit mit dem König und seiner Regierung säen möchten. So einer hat den Wisch in die Luft geworfen.

Madame Legros: Ich sah ihn herabflattern. Ich erhob den Blick: auf dem Turm, ganz droben auf der Plattform, war ein Mensch, der winkte. Eine Sekunde – und bevor ich recht gesehen hatte, riß ein Soldat ihn zurück.

Verwandte liest stotternd den Brief: »O Vorübergehender! Wer du auch seiest, ein Unschuldiger ruft dich an. Unter der vorigen Herrschaft, zur Zeit Seiner Majestät unseres gnädigsten Königs Ludwig, ward ich in die Bastille geworfen wegen eines unzarten Versuches, die Aufmerksamkeit der Frau Marquise von Pompadour auf mich zu lenken, und seit dreiundvierzig Jahren hat man mich hier vergessen. Nicht einmal meine Wächter wissen mehr, wer ich bin. O Freund, dem der Wind oder Gottes Atem dieses Blatt vor die Füße weht, sag du es den Menschen! Sag ihnen, was keiner mehr weiß, so viele geboren werden und sterben: ich heiße Latude und bin ein Unschuldiger, der leidet!«

Ergriffenes Schweigen.

Madame Legros hat sich abgewandt, seufzt schwer.

Verwandte: Das ist grauenvoll ... Und so wunderbar, als ob es der Herr Pfarrer erzählt hätte.

Legros peinlich berührt: Es ist ein armer Mensch. Aber mit solchen Dingen befaßt man sich nicht. Es wäre unklug. Wir werden zu niemandem davon reden.

Madame Legros: Es ist wahr: wie soll man es den Leuten sagen. Niemand wird uns glauben. Man wird uns für schlecht ansehen.

Legros: Man wird uns vor allem für dumm ansehen.

Madame Legros: Was also tun?

Legros: Bei Gott! Es für uns behalten!

Madame Legros: Wie?

Verwandte: Ich sage es allen! Wird man neugierig sein! Ich gehe in die Bastille und frage den Soldaten Colas, den ich kenne, ob er von dem Gefangenen weiß.

Legros: Du wirst deine Zunge hüten, oder du lernst mich kennen.

Madame Legros: Was heißt das?

Legros: Es heißt, daß du den Wisch da verbrennen wirst. Und ohne Federlesen! Wir sind anständige Leute, mit den Angelegenheiten von Staatsverbrechern haben wir nichts zu tun.

Madame Legros: Aber es ist ein Unschuldiger!

Legros: Das sagt er. Der selige König wird gewußt haben, warum er ihn in den Turm gesetzt hat.

Madame Legros: Der König ist tot. Das alles ist so lange her. Wo sind sie, denen Latude geschadet hat, wenn er denn jemandem geschadet hat ... Ach! was soll das. Ihr habt gehört, was er sagt, dieser Mensch. Ihr habt die Wahrheit gehört wie ich. Ihr habt keine anderen Ohren als ich. Alle Menschen verstehen das.

Legros: Da du Ohren hast, so höre gefälligst. Ich bin dein Mann, und ich befehle dir, den Mund zu halten.

Madame Legros beugt sich: Du bist mein Mann ... Aber du bist gut. Willst du mich etwa prüfen? Als wir kürzlich verheiratet waren und du mich noch nicht kanntest, da unterließest du einst mit Absicht, den Verkauf einer Haube ins Buch einzuschreiben, und gingst fort, um zu sehen, ob ich das Geld nehmen würde. Aber hast du es denn heute noch nötig, dich zu überzeugen, daß ich ehrlich bin? Sie schmiegt sich an ihn.

Legros: Du bist eine brave Frau. Du hast immer für den Nutzen deines Mannes gearbeitet. Daher weißt du auch ganz gut, wie wir jetzt uns verhalten müssen.

Madame Legros schmeichelnd: Ehrlich bleiben! Nicht mitschuldig werden im Unrecht, das geschieht. Was sage ich: schuldiger als alle, die nicht darum wissen. Überredend: Man wird dich rühmen, lieber Mann. Man wird dich hoch ehren. Denn jeder ehrliche Mann hätte es auch getan.

Legros: Man könnte wirklich glauben, daß den Frauen der Verstand nie fertig wächst. Wir sollen denen, die die Macht haben, uns selbst einzusperren, mit der Behauptung kommen, sie hielten einen falschen Gefangenen fest. Wer dich hört, hält uns für toll.

Madame Legros beschwörend: Mann! Es handelt sich um einen Menschen!

Legros: Ganz abgesehen davon, daß niemand mehr sich in unseren Laden getrauen wird, aus Furcht vor der Bastille, der wir uns so leichtfertig aussetzen. Läßt man uns auch ungeschoren, so sind wir dennoch ruiniert.

Madame Legros: Und wenn wir schweigen, wird das Brot, das wir essen, ein unehrliches Brot sein.

Legros: Hüte dich, Frau! Ich bin ein Bürger von Paris. Ich esse mein Brot in Ehren.

Madame Legros: Du hast es immer getan. Künftig aber wirst du es nicht mehr tun. Sieh dort hinten den Turm: ein Mensch sitzt darin, der schuldlos leidet – seit so langer Zeit schon, daß niemand mehr sich daran erinnert. Dort ist der Platz mit den vielen Menschen! Die Eltern all dieser sind auch schon über den Platz geeilt, und auch damals schon lag jener eine an seiner Kette. Wenn nun ihre Kinder groß sein und dort lustwandeln werden: wie? Soll er dann noch immer liegen und leiden? Währt das Unrecht in der Welt ewig? Jetzt verstehe ich, was man meint, wenn man den Kleinen von der Erbsünde spricht.

Legros seufzt: Es ist wahr, die Welt ist böse, und wird es wohl immer bleiben. Den Mächtigen geht es gut, denn sie denken nicht daran, wie wir andern bedrückt sind. Was dem Nachbarn geschieht, darf uns nicht kümmern. Wir müssen die Augen schließen, sonst kommt es auch an uns.

Madame Legros: Und wenn es käme! Denkst du denn, ich kann mir es wohlsein lassen, wenn gleich nebenan jemand um Hilfe schreit? Hier in der schattigen Gasse geborgen, auf Kunden warten; die Leute abwehren, die unser Geld wollen; essen, schwatzen und endlich die Tür schließen, um mit meinem Mann schlafen zu gehen? Am Ende meiner guten, behaglichen Gasse aber klirren Ketten, und jemand schleppt sich, ein Skelett und ewig weinend, durch feuchte Keller. Du willst mich glauben machen, es sei nichts? Ich höre es doch: er schreit! Sie hält sich die Ohren zu.

Legros gibt der Verwandten ein Zeichen, die Tür zu schließen.

Madame Legros: Auch durch die Tür höre ich es.

Legros: Du selbst schreist, die Leute werden aufmerksam.

Madame Legros: Sie sollen kommen! Sie sollen hören! Ich kann nicht die einzige sein, die so viel weiß!

Legros: Ein Kind brauchst du, und du wirst an die Geschichten der andern nicht mehr denken.

Madame Legros stiller: Ein Kind. Ich hatte eins. Es ist gestorben, bevor ich es gebar.

Legros: Du sollst wieder eins haben.

Madame Legros aufleuchtend: Ja! Es kann wieder eins kommen. Auch der Turm dort kann sich öffnen und der Mensch, der drinnen begraben ist, wieder leben.

Legros: Davon will ich nichts hören.

Madame Legros: Dann bist du verstockt: du Armer ganz allein. Die Menschen aber wollen das Gute, oh, das weiß ich. Ich brauche sie nur zu rufen, zu ihnen zu sprechen, und gleich, noch in dieser Stunde, werden sie mit mir gehen und den Unschuldigen herausfordern.

Legros: Sie hat den Verstand verloren!

Madame Legros: Verzeih! Ich habe dir immer gehorcht, ohne zu fragen. Jetzt gehorche ich dir nicht mehr. Stößt die Tür auf. Liebe Nachbarn! Herr Vignon! Madame Touche!

Legros: Um Gott!

Verwandte: Das ist spaßhaft!

 

Fünfte Szene

Die Vorigen. Vignon. Madame Touche. Fanchon. Nachbarn und Nachbarinnen.

Madame Legros: Ein Unrecht ist geschehen.

Vignon: Sie wünschen, Madame Legros?

Madame Legros: In der Bastille sitzt ein Unschuldiger.

Ein Nachbar: Nur einer?

Madame Touche: Was hat er getan?

Madame Legros: Niemand weiß es mehr, so lange ist es her. Er hat mir geschrieben; wir müssen ihm helfen.

Ein Junger Mann: Ich hole meine Axt.

Zwei Ältere: Komm, Nachbar! Man darf das nicht hören. Sie entfernen sich.

Madame Legros: Gute Herren, Sie sind Christen.

Vignon: Ich habe Philosophie, Madame.

Madame Legros: Herr Vignon, Sie wissen, als jener Räuber Sie anfiel dort an der Ecke: Sie stießen Hilferufe aus, und die ganze Gasse stürzte herbei, Sie zu retten.

Vignon: Es ist wahr. Aber der König ist kein Räuber.

Ein Nachbar: Der König setzt oft aus großer Güte die Schlingel in den Turm, damit die Familie von ihnen befreit ist.

Eine Frau: Der Herr von Talmont hatte nichts verbrochen, und dennoch mußte er hinein.

Eine andere: Er hatte dir den Hof gemacht. Seinem Herrn Vater gefiel das nicht.

Madame Touche auf Madame Legros zeigend: Der Gefangene ist ihr Liebhaber. Wozu regt sie sich sonst auf.

Die Frauen lachen.

Verwandte: Hören Sie das, Herr Legros?

Madame Legros: Sie irren sich, mein Herr! Sie alle irren sich! Die Frau Marquise von Pompadour war es, die ihn gefangen setzen ließ; und da sie gestorben ist, hat man ihn vergessen.

Vignon: Die Marquise von Pompadour? Man sollte alles vergessen, was sie getan hat.

Madame Legros: Man muß es doch gutmachen! Nach dreiundvierzig Jahren!

Fanchon: Mein Vater starb mit dreiundvierzig Jahren.

Madame Legros: Und als er geboren ward: sieh, Fanchon, da verschwand ein Mensch namens Latude – und blieb verschwunden. Das erstemal heute spricht wieder jemand seinen Namen aus. Dein Vater ging dreiundvierzig Jahre umher. Denke daran, wie oft er lachte, und wie oft er dich küßte. Jedesmal hat ein anderer dort unten im Turm gestöhnt. Sehen nun alle diese Jahre nicht anders aus?

Fanchon schluchzt.

Betretenes Schweigen.

Vignon: Wenn man jederzeit daran denken wollte, wie es den andern geht, es gäbe kein Vergnügen mehr.

Eine Frau: Es muß doch Vergnügen geben.

Madame Touche: Mein Mann ist von einem Dachziegel erschlagen worden, obwohl er nichts verbrochen hatte.

Eine Alte: Wer weiß. Gott tut nichts umsonst.

Madame Touche: Was sagt sie? Will die alte Kupplerin meinen Mann beleidigen? Sie drängt auf die Alte ein.

Die Männer trennen die beiden.

Der Junge Mann, der die Axt holen wollte zu der Alten: Großmutter, hier sind schlechte Leute, komm fort!

Madame Legros: Warum tut ihr einander unrecht? Wir sind schon so schuldig. Wir haben ein so großes Unrecht zugelassen. Kommt doch mit! Ihr seht ja, man muß es gutmachen.

Vignon: Madame Legros, es sei mir erlaubt, Ihnen in nachbarlicher Freundschaft zu sagen: Sie fangen an, uns zu langweilen. Sie, eine anständige, ruhige Bürgersfrau, hetzen hier die Leute aufeinander, und warum? Wegen irgendeines Lumpen, der sein Leben lang nicht aus dem Loch herausgekommen ist.

Ein Nachbar: Was hat Madame Legros: Wir kennen sie doch. Sie ist eine ernsthafte Geschäftsfrau.

Madame Touche: Ich sage, dahinter steckt eine Liebesgeschichte, das andere sind Erfindungen.

Frauen: Seht den Legros! Der dicke Legros! Er steht dabei und läßt sie sich aus der Stirn wachsen!

Verwandte: Sind Sie ein Mann, Herr Legros? Ich werde Ihnen auch nicht mehr schön tun.

Legros macht sich gewaltsam Platz: Madame Legros! Hast du mir jetzt Schande genug gemacht? Augenblicklich komm ins Haus!

Fanchon: Es tut ihr weh! Sehen Sie nicht, Herr Legros, daß Ihre Frau krank ist? Eine so gute Frau. Hält Madame Legros, die schwankt.

Legros: Tatsächlich, sie muß noch krank sein. Es ist das Kind, das tot zur Welt kam. Verzeihen Sie, meine Herren!

 

Sechste Szene

Die Vorigen. Volk. Später Soldaten, ein Offizier.

Madame Legros macht sich los: Laß mich, Legros! Sieh, was dies für Menschen sind! Sie wissen nun, daß es einen Unschuldigen gibt, der leidet, und wollen dennoch weiterleben, wie bisher: ihren Kram verkaufen und Wein trinken. Ich verachte euch! Die Welt dürfte untergehen, wenn nur eure Gasse stehen bleibt! Aber man soll sie euch zuschanden treten. Herbei, Leute, herbei!

Volk ist vom Platz her in die Gasse gedrungen.

Die Nachbarn werden auseinandergedrängt, sie flüchten sich in die Häuser und sperren die Tore.

Madame Legros unter dem Volk: Helft mir, ich bitte euch!

Stimmen: Was gibt es? Wer schreit da!

Madame Legros: Ihr wißt nicht, es geschehen ungeheure Dinge. Eure Kinder werden euch nicht mehr lieben, wenn sie davon erfahren.

Stimmen: Was will die Frau? Sie soll auf den Prellstein steigen, damit man sie hört!

Madame Legros geschoben, ersteigt drüben am Hause den Stein: Leute vom Volk! Aus dem Turm der Bastille ist ein Brief gefallen, von einem Menschen, der unschuldig gefangen sitzt. Ihr sollt ihn befreien!

Stimmen: Los! Das ist mal ein Spaß! ... Du hast wohl Lust, Mütterchen, dich hängen zu lassen? ... Wo ist der Brief? Lies ihn vor!

Madame Legros: Ich weiß nicht mehr, wo er ist. Aber seht ihr es nicht in meinen Augen, die ihn gelesen haben, wie schrecklich er war? Da: meine armen Hände, sie haben ihn gehalten und noch zittern sie!

Stimmen: Man sollte einmal nach dem Rechten sehen.

Eine dumpfe Stimme: Ich war dabei, als damals ein wenig Lärm gemacht wurde, weil alle hungerten. Ich habe von einem Soldaten Blei in den Arm bekommen, aber kein Brot.

Madame Legros: Einige Tage hattet ihr nichts zu essen und begeht schon Gewalttaten. Dort im Turm aber sitzt ein Mensch, der nicht nur hungert. Ihn friert im Dunkeln, und länger, als die meisten von euch auf der Welt sind, hat er die menschliche Sprache nicht mehr gehört. Welche Gewalttaten sind groß genug, um das zu rächen!

Stimmen: Sie hat recht: es gibt Verbrechen, die das Volk nicht erfährt. Die Herren dort oben begehen nichts als Verbrechen! Es sind Mörder!

Eine Frau: Meiner Tochter haben die Häscher das Haar abgeschnitten und sie nach Amerika geschickt.

Eine andere höhnisch: So eine ist deine Tochter? Nun treibt sie eben ihr Gewerbe bei den Wilden!

Ein Individuum das von der Auslage der Legros etwas wegstiehlt: Und wer ist das Weibsbild, das sich da auf dem Prellstein zur Schau stellt? Schneidet ihr die Haare ab!

Legros von der Menge im Laden eingeschlossen, stürzt vor: Schlingel, du hast mich bestohlen, und sie ist meine Frau!

Das Individuum macht sich davon.

Stimmen: Sie ist seine Frau! Was will sie denn?

Legros: Siehst du es, Madame Legros, wofür man dich hält!

Madame Legros: Und wenn ich es wäre, eine Dirne: die Schande wäre geringer als jetzt! Mag für eine Dirne jemand selbst sterben, – aber schließt sie denn einen schuldlosen Menschen lebend ins Grab ein? Das tue ich, das tust du – und du –: ihr alle tut es! Befreit ihn! – oder ihr seid seine Grabwächter und seine Hyänen. Ehrloser seid ihr als die, die am Galgen hängen! Eine stinkende Pest seid ihr!

Stimmen: Das ist zu arg! Sie beschimpft das Volk! Reißt sie herunter! Schneidet ihr die Haare ab! Herunter mit ihr!

Madame Legros hält sich an einem eisernen Ring in der Mauer: Zerrt an mir, ich stehe fest! Ich habe Kraft für euch alle! Ihr werdet sehen, wie ich den Turm des Unschuldigen öffne! Dann wird die Welt schön sein! Jetzt ist sie verdüstert von dem Turm. Seht ihr etwa den Himmel? Könnt ihr jemals lachen? Ich muß den Turm aufbrechen, damit ihr wieder lachen könnt. Ich tue es für euch, weil ich euch liebe. Sagte ich euch das noch nicht?

Eine Frau: Sie ist schön! Und sie spricht wie ein Engel!

Ein Mann: Was wird dann viel anders sein? Wir werden immer leiden.

Madame Legros: Er wird euch so glücklich machen, der Unschuldige! Er wird euch belohnen! Glaubt ihr denn, daß er nicht reich ist? Und schön? Ein Unschuldiger ist so schön! Du wirst ihn lieben, du da. Beugt sich zu einer Frau nieder: Ich sehe dich schon ihn herzen, mit deinen frechen Lippen. Nicht du!

Legros: Sie hat den Verstand verloren! Sie sehen es doch, meine Herren!

Stimmen: Ist denn Geld in dem Turm? ... Sie hat recht, wir wollen die Gefangenen befreien! Freiheit für alle!

Eine gellende Stimme: Die Soldaten!

Madame Legros schreit: Die Häscher! Laßt sie nicht herein! Sie haben auch ihn in den Turm geworfen. Verjagt sie!

Handgemenge im Hintergrund.

Madame Legros: Verjagt sie! Tötet sie! Sie springt hinunter in das Gedränge. Macht Platz, wir marschieren gegen die Bastille! Der Unschuldige wird befreit! Mögen alle sterben, die Soldaten, die frechen Reiter dort auf dem Platz, die herzlosen Damen in ihren Sänften, die Mörder!

Die Menge: Nieder die Mörder! Zur Bastille!

Madame Legros: Der Turm wird Blut speien! Das Blut des Unschuldigen soll alle ersäufen! Sie ringt mit einem Soldaten.

Die Soldaten sind vorgedrungen, das Volk weicht und flüchtet.

Der Soldat: Dies ist die Megäre. Herr Leutnant, ich halte sie.

Der Offizier: Gib acht, es scheint, sie wird ohnmächtig. Nehmt die Gefangenen zwischen euch, und los, zur Wache!

Die Verwandte der Legros kommt aus einem Versteck hervor: Herr Legros! Da haben Sie es, was Madame Legros anrichtet. Ich habe schön gelacht.

Legros: Herr Offizier, ich bitte Sie um Verzeihung. Die arme Kranke hier ist meine Frau.

Der Offizier: Dann kommen auch Sie mit zur Wache!

Legros: Ich bin ein geachteter Bürger, mein Herr, der Besitzer des Ladens »Zur Eiche des Königs René«.

Der Offizier: Ein geachteter Bürger, dessen Frau die Menge zu Gewalttaten aufreizt? Das möchte ich sehen.

Vignon aus dem Gasthof gegenüber: Ich bezeuge es, Herr Leutnant. Sie kennen mein Haus, es ist der Gasthof »Zum weißen Pferd«. Madame Legros war immer eine der ernsthaftesten Geschäftsfrauen des Viertels. So sehr man entrüstet sein muß, das Geschehene ist unbegreiflich.

Frauen aus den Häusern: Unsere Nachbarin auf der Wache! Es wäre eine Schande für uns alle.

Legros: Wenn sie doch krank ist, mein Herr! Ich sage Ihnen, daß sie ein totes Kind hatte, es sind kaum vierzehn Tage. Ihr ist eine Schwäche im Kopf zurückgeblieben.

Fanchon: Haben Sie Mitleid mit ihr, mein Herr!

Der Offizier: Und die anderen Gefangenen? Ich kann nicht die eine begünstigen.

 

Siebente Szene

Die Vorigen. Chevalier.

Chevalier: Herr Leutnant, ich habe die Ehre, Sie zu begrüßen. Ich bin der Chevalier d'Angelot.

Der Offizier: Die Ehre ist bei mir, mein Herr. Ich heiße Ramon.

Frauen: Ein Herr vom Hof!

Vignon: Er ist ein Freund der Königin.

Chevalier: Die Frau Gräfin d'Orchat und einige Herren haben dort hinten vom Platz her den Auftritt mit angesehen, den diese Person veranlaßt hat. Die Frau Gräfin ist lebhaft interessiert. Auch der Herr Marquis von Launay war mit uns. Sie kennen ihn, Herr Ramon?

Der Offizier: Ich habe die Ehre, den Herrn Gouverneur der Bastille zu kennen. Alle diese Herrschaften und auch Ihre Person, Herr Chevalier, sind mir bekannt.

Chevalier: Dann werden Sie nicht zögern, meinem Ersuchen zu willfahren und die Frau sogleich in Freiheit zu setzen. Es liegen Staatsgründe vor, die sich ihrer Verhaftung widersetzen.

Der Offizier: Ich gehorche, mein Herr. Zu den Soldaten: Formiert euch! Marsch! Ab.

Die Gasse leert sich.

Legros: Wie soll ich Ihnen danken, mein Herr!

Chevalier: Indem Sie mir erlauben, meine Freunde in Ihr Haus zu führen. Die Frau Gräfin d'Orchat hat den Wunsch, Ihre Frau kennenzulernen.

Legros: Zuviel Ehre! Madame Legros, bedanke dich bei dem Herrn.

Chevalier führt Madame Legros bei der Hand in den Laden; halblaut: Muß ich Ihnen sagen, daß es vor allem mein eigener Wunsch war, Sie zu sehen, Madame?

Madame Legros erwacht aus ihrer Ermattung: Das Volk hat mich nicht verstanden, und es ist schwach. Nun leidet der Unschuldige noch immer.

Legros: Der Unschuldige! Ist sie nicht ein kleines Kind, das nach einem verbotenen Spielzeug jammert? ... Verzeihen Sie, mein Herr, ich sehe Kunden eintreten.

Chevalier: Man muß zugeben, Madame, daß Ihr Gatte Sie noch weniger versteht als das Volk. Und es ist doch nicht schwer.

Madame Legros: Nicht wahr, mein Herr?

Chevalier: Es genügt, Sie anzusehen. Die Revolte steht Ihnen gut zu Gesicht, Madame Legros.

 

Achte Szene

Die Vorigen. Comtesse. Abbé.

Abbé vor der Schwelle des Ladens: Mut, Madame!

Comtesse: Der Plan war doch kühn, in die Höhle des Ungeheuers einzudringen. Aber alles ist besser als die Langeweile.

Legros: Die Herrschaften wollen sich meine bescheidenen Dienste gefallen lassen?

Comtesse: Danke, mein Herr. Sie sind der Gatte der interessanten Frau?

Legros: Ich bin der Strumpfwirker Legros, der Dame zu dienen.

Abbé: Die Frau Gräfin erlaubt Ihnen, ihr einen Stuhl anzubieten.

Legros nimmt der Verwandten den Stuhl aus der Hand: Stelle das Essen zum Feuer.

Verwandte ab.

Abbé zu Madame Legros: Die Frau Gräfin und wir haben dem interessanten Schauspiel beigewohnt, Madame.

Legros: Ich spreche der Frau Gräfin und den Herren mein Bedauern aus.

Abbé: Bringen Sie vielmehr Ihren Dank dar. Die Frau Gräfin hat sich unterhalten.

Comtesse: Mehr als das: ich war hingerissen, entzückt. Endlich habe ich eine Revolte gesehen.

Madame Legros: Dann werden Sie den Unschuldigen zu befreien helfen, Madame! Ich wußte es!

Comtesse weicht zurück: Wie Sie darauf losgehen!

Abbé zu Madame Legros: Mäßigen Sie sich, Madame. Sie haben gesehen, wohin Gewaltsamkeiten führen.

Madame Legros: Es handelt sich um einen Unschuldigen!

Chevalier: Das sagen Sie.

Madame Legros: Niemand kennt seine Geschichte, nach dreiundvierzig Jahren!

Comtesse: Bitte! Ich weiß sie von Herrn de Launay selbst.

Chevalier: Der junge Latude hatte sich herausgenommen, eine Dame zu lieben, die zu mächtig war.

Abbé: Sein Beispiel warnt Sie, Chevalier.

Chevalier: Wovor? Ich bin kein Latude.

Abbé: Die Königin könnte einen machen aus Ihnen.

Chevalier: Sie Glücklichen schützt Ihr Kleid.

Abbé: Mein Kleid! Wissen Sie wohl, daß ich mein Brevier von meinem Lakaien beten lasse?

Comtesse: Trotzdem würde keiner von Ihnen der Dame, die er liebt, eine Höllenmaschine schicken, wie Latude es tat.

Abbé seufzt: Aus Liebe.

Chevalier: Und um die Dame erretten zu können aus einer Gefahr, in die er selbst sie versetzt hatte.

Comtesse: Die Marquise von Pompadour widerstand der Werbung. Sie setzte den Werber sogar in die Bastille.

Madame Legros: Sie hätten ihn nicht gestraft, Madame, weil er liebte!

Abbé seufzt: Wer sagt Ihnen das?

Madame Legros: Sie hätten nicht eine Jugend abgebrochen! Hätten nicht in einem Augenblick des Zornes verfügt über ein ganzes Leben!

Comtesse: Ich bin nicht grausam. Sie rühren mich, Madame. Zu den Herren: Zu denken, daß ich Furcht hatte. Sie hat nichts Schreckliches, sie ist sogar wohlerzogen.

Abbé: In den Zeiten des Aberglaubens würde man gleichwohl einen Teufel aus ihr vertrieben haben.

Madame Legros: Es ist wider die Natur und als ob Gott gestorben wäre!

Chevalier mit Ironie: Wir alle, Madame, sind wider die Natur.

Abbé: Und als ob Gott gestorben wäre.

Chevalier wie vorher: Sie vergessen, Madame, daß wir in einer alten Ordnung leben, mit Rechten, Vorrechten und mit Opfern.

Abbé: Sie vergißt alles.

Madame Legros: Ich denke an den Unschuldigen, und alle sollen an ihn denken!

Legros: Madame Legros, du fällst den Herren lästig. Danke ihnen für ihre gütigen Aufklärungen.

Abbé: Herr Legros, Sie haben eine merkwürdige Frau.

Chevalier wie vorher: Wenn wir auf einer noch jungfräulichen Erde am ersten Tage die Augen aufschlügen, dann vielleicht würden wir die Dinge so sehen, wie Madame Legros sie sieht.

Comtesse seufzt: Es wäre reizend ... Meine Herren, ich werde mich nie mehr langweilen. Wir haben einen Fund gemacht. Wir haben ein schönes Beispiel von Tugend gefunden. Chevalier, davon müssen Sie die Königin verständigen.

Abbé: Da Sie sich über die Tugend mit der Königin stets verständigen.

Comtesse: Madame Legros, ich verstehe Sie, denn ich bin empfindsam wie Sie. Sagen Sie mir alles! Sie kennen den Herrn Latude?

Madame Legros: Ich habe erst heute von ihm erfahren. Hätte ich sonst bis heute leben können?

Comtesse: Er schreibt Ihnen. Wo ist sein Brief?

Madame Legros: Er ist mir im Gedränge abhanden gekommen.

Comtesse: Sie sind eifersüchtig. Gleichviel, ich möchte Ihnen helfen. Sie gefallen mir. Ich begreife die Verirrungen, die aus Empfindsamkeit geschehen.

Madame Legros: Bedenken Sie, Madame, ein so langes Leben des Jammers! Die furchtbare Tiefe der feuchten Wände, aus denen er nach einem menschlichen Herzen geschmachtet hat!

Comtesse: Sie sind dies Herz! Sie müssen zu mir kommen, Madame Legros. Sie müssen einer empfindsamen Gesellschaft Ihre Angelegenheit vortragen! Versprechen Sie mir, daß Sie kommen!

Madame Legros: Ich fühle mich nicht würdig, Madame. Es wäre eine Aufgabe, die mir Furcht macht.

Comtesse: Ich bürge Ihnen für ein Ihrer würdiges Publikum und für einen Empfang, der Ihren Verdiensten entspricht.

Madame Legros: Was erwarten Sie von mir, Madame? Wenn Sie die Last von mir nehmen und den Unschuldigen befreien wollen: ich wünsche mir nur, in die Stille zurückzukehren.

Abbé: Im Gegenteil! Sie müssen sich zeigen, oder man wird aufhören, sich für Sie zu interessieren.

Comtesse: Sie müssen die Sitten der schönen Welt erlernen. Nichts erreicht man ohne Kunst und Galanterie. Herr Legros, predigen Sie Ihrer Frau Vernunft!

Legros: Die Frau Gräfin ist sehr gnädig gegen dich, Madame Legros.

Madame Legros: Ich war bereit, ins Gefängnis zu gehen für den Unschuldigen. Ja, ich wäre für ihn gestorben. Dies aber: ich kann nicht.

Comtesse führt das Lorgnon an die Augen: Man sehe mir diese kleine Wilde an ... Wird sie wenigstens geruhen, mir zu versprechen, daß sie keiner anderen Einladung folgen will, bevor sie bei mir war?

Legros: Verzeihen Frau Gräfin, wir sind einfache Leute ... Aber da Sie Madame Legros in Ihrem Hause zu sehen wünschen, will ich Sie bitten, daß Sie zuerst versuchen, was das unsere Ihnen bieten kann.

Comtesse: Ich bin nicht so stolz wie Madame Legros.

Legros: So werde ich es wagen, Ihnen einen Wein vorzusetzen, der mir von einem Vetter kommt. Einen Bauernwein; – denn die Bauern, Madame, sind unsere Vettern.

Comtesse zu den Herren: Die Einladung ist bezaubernd naiv.

Chevalier: Ich weiß nicht, ob sie so naiv gemeint ist, wie sie klingt.

Comtesse: Wir werden ein Bürgerheim sehen, meine Herren. Längst habe ich solch eine Idylle erträumt.

Comtesse, Abbé ab mit Legros.

Madame Legros folgt langsam.

Chevalier schließt vor ihr die Tür.

 

Neunte Szene

Madame Legros. Chevalier.

Chevalier: Madame, ich verspreche diskret zu sein, wenn Sie mir schon jetzt verraten wollen, wann Sie im Hause der Frau Gräfin d'Orchat zu finden sein werden.

Madame Legros: Ich habe nicht gesagt, daß ich hingehen werde, mein Herr.

Chevalier: Ich weiß: Sie sind zu klug, sogleich zuzusagen, aber Sie sind erst recht zu klug, nicht hinzugehen.

Madame Legros: Warum zweifeln Sie an meinen Worten?

Chevalier: Ich sehe Ihre Handlungen: sie sind nicht wählerisch – und werden es schwerlich sein.

Madame Legros: Es ist wahr: so Ungeheures ist geschehen, daß man wohl nicht wählen darf.

Chevalier: Sehen Sie.

Madame Legros: Andere vermögen mehr als ich. Sie, mein Herr, vermögen so viel mehr.

Chevalier: Sie haben nichts überhört. Ich soll die Königin interessieren für Sie?

Madame Legros: Für einen Unschuldigen! Mein Herr, ich flehe Sie an. Sie sind jung, wie sollten Sie nicht großherzig sein.

Chevalier: Madame Legros. Sie sind nicht glücklich.

Madame Legros: Ich war es immer. Jetzt bin ich es nicht mehr.

Chevalier: Ich begreife, daß in der Enge hier der Ehrgeiz einer solchen Frau nicht lange seine Nahrung findet. Und man haßt, was unerreichbar scheint.

Madame Legros: Ich hasse niemand; ich liebe nur den Unschuldigen.

Chevalier: Sie sind bewundernswert, Madame Legros. Ich halte Sie fähig, Ihren Haß zu verleugnen, vor sich selbst sogar, um uns bei unserem Gewissen zu packen und wehrlos zu machen durch unsere eigene Tugend. Ihre Tränen sollen den Boden lockern, den Ihre Wut nicht sprengen konnte. Sie sind der geschickteste unserer Feinde. Ich wäre geneigt, Ihnen zu helfen. Ihren Aufstieg zu erleichtern, um Sie eines Tages, entlarvt vor aller Welt, zu besiegen!

Madame Legros: Sie würden nur die Unschuld besiegen.

Chevalier: Sagte ich besiegen? Das meine ich nicht. Sie am Werk sehen. Sie heraufwachsen sehen, wie die Gefahr, die ich liebe, wie die Leidenschaft, die in mir selbst ist. Ich gehe durch diese Stadt, die nach noch unvergossenem Blut riecht. Ich sauge den Dampf der Begierden ein und das Gift der Geister. Gerechtigkeit, Vernunft und Tugend: ich glaube nicht an sie und trage sie dennoch, ich, den sie niederwerfen sollen, im eigenen Herzen! Täglich züngelt eine Revolte auf: ich genieße den feindlichen Augenblick, in dem ich atme. Denke, wie ich jung und verloren in diesen Augenblick hineingeboren bin, worin alles, und sogar ich selbst, auf meinen Untergang drängt, – und will in keinem andern leben. Ich liebe meine Zeit, dies Fest des Hasses. Nie wußte ich es so gut wie heute, in der Gasse hier, als eine Frau nach Blut schrie. War es nicht meins, wonach sie schrie? Sie soll es haben! Du bist wild und gefährlich: ich liebe dich, und ich will dich! Packt sie an.

Madame Legros ringt sich los: Rühren Sie mich nicht an! Wer darf mich anrühren, solange der Unschuldige im Turm sitzt! ... Ruhiger: Sie verdienen Mitleid, mein Herr. Es ist wohl sehr schwer, das Gute zu glauben und zu wollen, wenn man so klug ist wie Sie. Tun Sie es dennoch! Aus Ihrer Sprache höre ich, daß Ihr Herz sich danach sehnt.

Chevalier: Heuchlerin!

Madame Legros: Sie irren. Ich bin nur demütig. Helfen Sie mir.

Chevalier: Sie bezwingen sich, denn Sie denken an die Königin.

Madame Legros: Sagen Sie es ihr, mein Herr, daß ein Unschuldiger leidet!

Chevalier: Und daß Madame Legros seine Retterin ist.

Madame Legros: Nicht meinetwegen: – sagen Sie es um der Königin selbst willen. Nehmen Sie ihr die furchtbare Last ab, daß in ihrer Nähe ein Unschuldiger leidet.

Chevalier: Es ist nicht leicht, Sie zu überführen. Wenn ich nun für das, was Sie wollen, meinen Preis stellte?

Madame Legros senkt den Kopf.

Chevalier: Den Preis müssen Sie zahlen, und eines Tages werden Sie es tun. Ihr Haß wird solange anwachsen, bis Sie mir Ihre Liebe versprechen werden.

Madame Legros sieht ihn an: So verspreche ich sie Ihnen denn gleich jetzt.

Chevalier: Ist das Ernst?

Madame Legros: Helfen Sie mir, und ich gehöre Ihnen, – wenn Sie dann noch wollen werden ... Denn bis dahin werden Sie erkannt haben, daß ich, auch in den Armen eines anderen, nur dem Unschuldigen gehören würde.

 

Zehnte Szene

Die Vorigen. Comtesse. Abbé. Legros. Die Verwandte.

Comtesse: Ich habe ein Bürgerheim gesehen! Die Leute schlafen in richtigen Betten!

Abbé: Die Strohsäcke verschwinden und mit ihnen, gottlob, die Religion.

Comtesse: Und am Feuer haben sie einen Kalbsbraten! Leute, die einen Kalbsbraten am Feuer haben, wozu machen die noch Revolten?

Abbé: Aus Philosophie, Madame: so wie Sie Schäferin spielen, obwohl Sie Trüffeln essen.

Chevalier zu Madame Legros: Wir aber machen aus der Revolte ein Schäferstündchen.

Comtesse zum Chevalier: Sie haben ihr zugeredet?

Chevalier: Madame Legros sieht ein, daß der Triumph der Unschuld einige Zugeständnisse wert ist.

Comtesse: Jetzt eile ich, um unsere kuriose Entdeckung überall anzukünden. Alles bei Ihnen, liebe Legros, hat mich interessiert: Ihr Unschuldiger –

Abbé: Ihr Kalbsbraten.

Comtesse: Alles.

Legros: Die Frau Gräfin verzeihe, daß es nicht noch mehr ist. Der Ehre solches Besuches waren wir nicht gewärtig.

Comtesse: Adieu. Zum Chevalier: War nun das so gemeint, wie er es sagte? Ab.

Chevalier, Abbé ab.

 

Elfte Szene

Madame Legros. Legros. Die Verwandte.

Verwandte: Wie liebenswürdig! So betragen sich doch nur die Herrschaften vom Hof!

Legros: Es sind Liebenswürdigkeiten, auf die man gern noch eine draufsetzte! Schlägt mit der Faust auf den Tisch.

Verwandte: Man sieht, Herr Legros, daß Sie niemals hinter den Kulissen der Oper waren.

Legros: Trag lieber die Suppe auf den Tisch!

Verwandte: Man wird doch die schöne Welt bewundern dürfen. Ab.

Legros: Was denkst du, Madame Legros?

Madame Legros: Es ist gut, daß sie da waren; ich habe viel gelernt.

Legros: Du hast gesehen, daß du dich nicht weiter bemühen darfst; bei den Vornehmen noch weniger als beim Volk.

Madame Legros: Es ist wohl wahr: auch sie haben mich nicht verstanden. Sie haben nicht verstanden, was geschehen ist.

Legros: Du hättest deinem Mann glauben sollen.

Madame Legros: Wir alle tragen eine so große Schuld: sie aber sinnen nur, welches Vergnügen sie aus ihr gewinnen können.

Legros: Du hast dich genug gequält: komm essen!

Madame Legros: Dazu hab ich nicht Zeit. Werde ich je wieder Zeit haben? Begreife doch, lieber Mann: ich habe nun erfahren, wieviel zu tun und wie weit der Weg ist. Zu allen muß ich nun gehen, durch die Stadt, so groß sie ist, und noch weiter, – muß ihnen erklären, worauf es ankommt, muß ihre Köpfe, alle voll unnützer Dinge, die ihnen wichtig erscheinen, rein und hell machen mit meinen Worten, bis sie es wissen, worauf es ankommt: bis sie es wissen!

Legros: Sie hält sich kaum aufrecht! Du sprichst von einem weiten Weg? Nicht drei Schritte kannst du gehen. Ich lasse dich nicht fort!

Madame Legros auf der Schwelle: Du wirst mich lassen, denn du siehst wohl, daß es mir auferlegt ist. Ich bin nicht schwach. Ich weiß trotz allem, daß die Menschen sich sehnen nach dem Unschuldigen! Alle haben dasselbe Herz, und ich brauche nur ihre Laster und ihren Hohn davon wegzuziehen wie einen Vorhang, dann werden sie ihn erkennen, den Unschuldigen, und in ihm sich selbst! Ab.

Vorhang.


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