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III.
Der Todessprung

 

Das Mysterium des Unrechts

Philipp Mornay hatte im ganzen nicht mehr als einen englischen Freund. Da der Gesandte nach allen vorigen Reisen jetzt nochmals über den Kanal fuhr, und diesmal mit dem peinlichsten der Aufträge, war er veranlaßt, in seinem Gedächtnis die Reihe seiner Bekannten durchzugehen. Das waren viele, aus verschiedenen Schichten, und manche so lange schon abhanden gekommen, daß er sie hätte vergessen können. Aber sein längster und ältester Aufenthalt war einst die Verbannung gewesen, eine Lehrzeit. Die Menschen, an denen er gelernt hatte, lebten in seinem Gedächtnis fort, und manche nur noch dort. Der Besitz des geflüchteten Protestanten war eingezogen, und wäre er selbst in seinem Lande betroffen worden, er hätte hinter Gittern, vielleicht auch auf dem Richtplatz geendet. Ein junger Mann in bedrängten Umständen, aber von um so größerer Heftigkeit des Geistes, suchte er in London jede Gesellschaft, und erfüllt von den apokalyptischen Gesichten der Bartholomäusnacht, gab er sie preis und entlud sich, wo immer. Die Gäste billiger Privatmittagstische hörten ihn an, und keiner verzog das Gesicht. Unerforschlich war, ob sie ihn ernst nahmen. Nach allen seinen ungeheuren Verwünschungen der Mörder, die zu jener Zeit in seiner Heimat die Macht hatten, den Greueln, die der Verbannte beschwor, den Prophezeiungen unfehlbarer Strafen, himmlischer und diesseitiger, nach allem fragten ihn die Leute: »Denken Sie wirklich so?«

Der Mornay jenes weit zurückliegenden Lebensabschnittes übergab eines Tages seine Kleidung zum Ausbessern einem Schneider, der ihn bereitwillig erzählen ließ, während er nähte; seine Frau holte noch andere Bewohner des Hauses herbei. Der Verbannte in seiner Besessenheit brauchte eine längere Weile, bis ihm aufging, daß er beinahe nur im Hemd, denn der abgelegte Anzug war sein einziger, ein Schauspiel gab und nach dem Leib die Seele entblößte. Hierauf verstummte er, und auch seine Zuschauer sprachen kein Wort, bevor nicht der Schneider ihn wieder angekleidet hatte. Dann brachte eine Nachbarin ihm einen Krug Bier, wobei sie sagte: »Gewiß ist alles geschehen, wie Sie es berichten, aber sehr weit von hier. Ich kenne keine einzige Frau, die so verrückt wäre, Blut zu saufen.«

Infolge dieser Belehrung vermied der junge Mornay, noch jemals sein Gefühl zu äußern. Erfahrungen, die scheinbar die ganze Welt aufbringen sollen, so furchtbar sind sie und schreien zu Gott so laut: schon hundert Meilen weiter, es ist dieselbe Christenheit, machen sie höchstens soviel Aufsehen wie eine Erfindung, und die könnte besser sein. Seither hielt der Verbannte sich an die Wissenschaft, die vor keiner Grenze ihre Wahrheit ablegt, und redet eine gemeinsame Sprache. Dies ist die Annahme.

Indessen besuchte er vergebens alle Buchhändler Londons, damit sie seine theologischen Schriften druckten. Die einen fürchteten sich vor gewissen Meinungen, die in diesem gleichwohl protestantischen Lande verboten waren. Die anderen verlangten, daß der Verfasser nicht lateinisch, sondern englisch schriebe. Sein Gewinn war, daß er in den Buchläden einige gelehrte und vornehme Personen antraf. Mehrere wurden neugierig, sie bestellten den fremden Flüchtling in ihre Häuser, um mit ihm zu disputieren, und ihre Kinder durfte er das Französische lehren. Einer war Lord Burghley.

Dieser hatte Söhne, der älteste von demselben Jahrgang wie Mornay und ein wahrhaft aufgeschlossener Mensch. Er nahm das Unglück des anderen nicht als selbstverständlich hin. ›Vom gleichen Glauben wir beide, geistig bemüht und einer höheren Menschlichkeit ergeben wir beide, dazu von ähnlicher Herkunft, abgerechnet den ungleichen Wert des Adels, da der englische nun einmal mehr bedeutet -- dennoch, er hat soviel von mir wie ich von ihm, und das Schicksal hätte, bei einigem guten Willen, uns beide vertauschen können.‹ Dies sah der aufgeschlossene Mensch, äußerte aber nichts von seiner Verwunderung, wie gut gerade er davongekommen war. ›Ich sitz in Sicherheit, und der hat flüchten müssen. Er ist beraubt, bedroht, sein ganzes Wesen ist beleidigt. Mir kommt alles entgegen, die herrlichsten Aussichten eröffnen sich mir dafür, daß ich ihm verwandt, aber ein Engländer bin. Gott segne unsere Königin!‹

Der Sohn des Lords war dankbar seinem Stern, aber aus innerer Lebendigkeit empfand er deutlich seine eigene Mitschuld an fremden Lebensläufen, deren Bruch vermeidbar gewesen wäre. Nicht beteiligt sind die Einfältigen. Wer aber weiß, ist gehalten, einzugreifen und zu handeln, damit die Christenheit, die ein Ganzes und ein einziger Bau ist, nicht selber brüchig wird durch verübtes Unrecht, dem wir zusehen. Denken wir uns die Christenheit als einen Bau, nach oben geteilt in immer schmälere Aufsätze, die höchstens entschwinden aus dem Bilde. Der lebhaft Fühlende entwarf sogleich das Bild, obwohl er sonst nicht zeichnete. Unten waren Säulen, freistehend, aber benachbart, wie England, Frankreich und die anderen Länder und Königreiche. Auf ihnen ruht der Bau. Jetzt läuft in das wohlgeratene Bild ein Unhold mit geschwungener Fackel. Weiß nicht, was er tut, und zündet die erste der Säulen an, worauf bald auch die zweite brennt und dann noch mehrere. Ein Christ steht dabei, drückt wohl die Hände auf seine beklommene Brust, verhindert aber das Unheil keineswegs. Höchst merkwürdig, es tritt nicht ein. Über zerstörten Stützen erhält sich der Bau, als ob er schwebte; seine Höhen entschwinden aus dem Bilde. Als dieses Bild von seinem Verfertiger dem Flüchtling vorgelegt wurde, erklärte er schon nach kurzer Betrachtung:

»Das Unrecht ist geheimnisvoll. Ihr Entwurf bedeutet nichts Geringeres als das Mysterium des Unrechts.«

Hierüber erstaunte der Urheber des Entwurfes und neigte sich zu dem Blatt, als sähe er es das erstemal. Mornay aber, soweit führt der Weg des Verbannten und soviel lernte er, wurde in demselben Augenblick auf sein erlittenes Unrecht stolz, da es ein Teil des Geheimnisses war. Hörte auch nie mehr auf, es bei sich so zu nennen, wenngleich er im wirklichen Leben das Recht behauptete; und beim Recht ist nichts Wunderbares.

In der Jugend mit seinem englischen Freund hat er mehr Ballspiel und Wettrudern getrieben als gelehrte Gespräche. Die beiden tauschten Bücher aus, noch öfter teilten sie dieselben Gefährten und Mädchen, brüderlich und unschuldig eins wie das andere. Die Themse, Fluß, Luft und Ufer liehen sich feuchte, leichte Farben, an einigen Sommertagen wurde man davon zum glücklichen Kind, nicht ausgenommen den Verbannten mit angekreuzter Stirn. Wie bald verweht, o duftiges Paradies -- die Läufe, Lieder, Küsse, Sträuße, in der Laube eine heimliche Liebkosung, und hinter dem Hügel zittert ein Geigenton --: wie bald verweht, o duftiges Paradies. Der Verbannte kehrt in die Heimat zurück, er wählt sich den Fürsten, dem er dienen will, und reist für seine Zwecke an die Höfe, am häufigsten nach England: das ist wahrhaftig niemals mehr ein Kinderspiel. Die Menschen dort sind jetzt Gegenstände seiner diplomatischen Behandlung, und keine lieblichen oder leichten. Dennoch hat er die Küste, diese Kreidefelsen noch jedesmal aufatmend betreten, als landete er bei Freunden. Dabei kennt er hier nur einen Freund. Der hat ihm anstatt anderer seine Freundschaft für dies Land gedankt. Man liebt ein Land wegen einer Gesinnung, eines Glaubens und alten Ruhmes, deren aller es sich weit weniger bewußt ist, als wer zuweilen eintrifft und landet unter den Felsen.

Lord Burghley hatte den Titel seines Vaters geerbt und war Großschatzbewahrer des Königreiches. Der Außerordentliche Botschafter ging zu ihm, bevor er auch nur den ständigen Gesandten des Königs aufsuchte. Er kam an ein Haus, um das die Wolken segelten, so allein stand es, und hatte zu seinen Füßen den Strand mit Fischerhütten. Mornay traf seinen Freund in einem mittelgroßen Zimmer, wo der Minister einige Schreiber beaufsichtigte; hierselbst wurden die Finanzen des Landes verwaltet. Beim Erscheinen des Besuchers sahen die Schreiber neugierig auf; er blieb ihren Blicken ausgesetzt, bis diese sich von selbst wieder senkten, da die Neugier nicht lohnte. Nach einer vernünftigen Wartezeit äußerte der edle Lord: »Ich hoffe, daß Sie gut gereist sind« -- womit er ihn in sein eigenes Kabinett treten ließ. Dort erst schüttelten sie einander die Hand, und lange betrachteten sie ihre Gesichter. Als Vorwand sagten sie wohl: »Du bist unverändert«; ihr wahrer Grund war indessen, daß sie einander gern in die Augen sahen.

»Die Umstände sind schwierig«, begann Burghley, als sie auf den harten schwarzen Stühlen saßen. Mornay begriff, daß ihm die Aussprache erleichtert werden sollte. Er schluckte mit Anstrengung hinunter. »Sie sind es gewohnt«, erinnerte Burghley ihn.

»Und verliere den Mut auch nicht«, konnte Mornay vorbringen.

»Das vorige Mal hatten Sie es hier nicht leicht, kamen aber zum Schluß mit einem guten Erfolg davon.«

»Weil Ihre Königin gerecht und beständig ist«, ergänzte Mornay. Er wiederholte: gerecht, und sagte nochmals: beständig. An wen dachte er denn, der weder dies noch jenes wäre? Eilends verbesserte er seine stummen Gedanken und sagte laut: »Mein König hat noch dieselbe innere Festigkeit, um derentwillen ich ihm diene alle die Zeit. Nur seine Lage schwankt, nicht er. Ihre Königin ist unzufrieden, weil er seine Hauptstadt nicht durch Hunger hat bezwingen wollen. Noch schlimmer, das Gerücht ist zu Ihrer britannischen Majestät gedrungen, als wäre mein König versucht, die wahre Religion abzuschwören.«

Da Burghley schwieg, ein strenges Schweigen, fragte Mornay leise: »Sie glauben es?« Mit erhobener Stimme: »Gott ist mein Zeuge, daß ich des Gegenteiles gewiß bin.«

»Dann sind Sie der rechte Mann, die Königin zu überzeugen«, war die Antwort.

»Wollen Sie mir beistehen, Burghley, wie das vorige Mal?«

»Alter Junge«, sagte der edle Lord und versuchte sich in dem Ton wie einst, »das war eine verdammt klare Angelegenheit das vorige Mal -- nicht zu messen an der, die jetzt zur Verhandlung steht. Die Königin hatte einen Mann im Kopf. Wir sind alle jung gewesen.«

»Jung? Es ist zwei Jahre her.«

Der Minister stutzte, er rechnete nach. Wahrhaftig, vor zwei Jahren liebte die Königin noch, litt noch. Er unterbrach aber Mornay nicht, und dieser sagte: »Zwei Jahre, was wird da viel anders geworden sein. Eine so leidenschaftliche Natur wie Ihre große Königin bleibt es, wäre der Antrieb ein Mann oder etwas unvergleichlich Teureres als ein Mann: das ist die Religion. Hab ich schon wegen des Grafen Essex Blut und Wasser geschwitzt --«

Abermals dachte der Minister sich das Seine, ohne dem Außerordentlichen Botschafter in die Rede zu fallen. ›Den Leidenschaften‹, bedachte er, ›ist leichter beizukommen als der Weisheit. Was vermag ich, wo nicht mehr gefeiert und nicht mehr gelitten wird.‹

»Hab ich schon wegen Essex Blut und Wasser geschwitzt«, sagte Mornay, »wie wird mir's diesmal ergehen.«

›Du wirst staunen, alter Freund‹, hätte Burghley voraussagen wollen. Er äußerte nur: »Mein Lieber, Sie selbst werden diesmal mehr reden und sich ereifern als Ihre Majestät. Die Heftigkeit der Königin haben Sie nicht zu befürchten.«

»Wirklich nicht, Burghley? Als Essex bei den Truppen in Frankreich verharrte trotz allen Rufen und Befehlen der Königin, denn lieber wagte er ihre Ungnade, als daß er die Ankunft des Herzogs von Parma versäumt hätte: was brach über mich herein von Drohungen und Beschwerden! Mein König hatte Essex nicht persönlich und mit gebührenden Ehren empfangen! Mein König setzte sein eigenes Leben leichtsinnig aus, aber das Unverzeihlichste, an der vordersten Front ließ er die englischen Truppen und Essex, Essex ließ er dort vorne kämpfen! Her mit dem Grafen Essex, und keinen englischen Soldaten mehr wegen des berühmten Parma, bevor nicht Essex am Hof zurück ist! Die französischen Geschäfte reichten Ihrer Majestät bis zum Halse. Nach einem letzten Ausruf des Zornes, sie hatte die Nacht nicht geschlafen, wurde der Königin nicht wohl, und so endete die Sitzung.«

»Vor zwei Jahren«, wiederholte Burghley, die Augen gesenkt. Er erhob sie und sagte: »Mornay, erinnern Sie sich, daß Sie von vergangenen Zeiten sprechen. Sie haben zum Schluß die Regimenter dennoch bekommen, wenn auch erst nach Ihrer Abreise, als Essex zurückgekehrt war. Wir beide, Mornay, vermochten einiges bei der großen Königin, weil wir übersahen -- nicht absichtlich, sondern nach unserer Natur und Gesinnung übersahen und vergaßen wir die Zustände, in denen eine Frau wie alle anderen ist. Sie, Mornay, sind der Königin angenehm.«

»Bin ich es geblieben? In meiner Abwesenheit soll etwas Ungünstiges ihr zugetragen sein.«

»Oh! Lächerlich«, sagte Burghley, stand auf und lachte wirklich, froh, daß dies bedrückende Gespräch auf leichte Art ausklang. »An Ihrem Tisch, als ihr vor Paris lagt, hat jemand sich lustig gemacht über das schlechte Französisch der Königin. Daran denkt sie nicht mehr in ihrer Großherzigkeit, und Sie werden nach Verdienst empfangen werden. Sie sind der bewährte Freund dieses Landes und seiner Herrscherin.«

Alles in allem war das Wiedersehen ermutigend gewesen. Als gutes Vorzeichen ließ sich ansehen, daß die Königin schon am dritten Tage den Außerordentlichen Botschafter zu sich befahl. Sie schickte eine Galakutsche nach dem Hause des Gesandten, der bei ihr beglaubigt war, und Herr de Beauvoir La Nocle begleitete Mornay. Eine englische Ehrengarde ritt mit dem Wagen. In demselben Augenblick, da die beiden Herren den prunkhaften Saal betraten, kam ihnen von drüben die Königin Elisabeth entgegen. Viel Personal, das ihr folgte, zerteilte sich und besetzte die Seiten. Wäre nicht der Aufwand von Kavalieren und Damen gewesen, Mornay hätte Ihre Britannische Majestät noch immer erwartet, als sie in Wirklichkeit schon da stand, wenn auch ein weiter leerer Boden dazwischen lag. Sie erschien ihm kleiner, als er sie kannte. Auf den hohen Beinen hielt der Rumpf sich bequemer, auch waren die Haare nicht wie früher hoch getürmt. Wahrhaftig, Elisabeth trug eine Haube.

Nur soviel erfaßte der Botschafter bei seinem Eintritt. Das übrige unterschied er erst drei Schritte von ihrem Angesicht, da kam er aus seiner ehrfürchtigen Haltung empor. Die Königin war nicht mehr geschminkt, abgerechnet etwas blaue und schwarze Tusche, die, um die Augen gelegt, den Blick besänftigte. Die Kunst machte, daß er nicht spähte und starrte, wie bei Falken -- graublau und scheinbar ohne Lid. Alle ihre Züge waren verschärft seit letztem, sie waren gealtert. Vielmehr, das Alter hatte die Erlaubnis erhalten, sie zu zeichnen -- den Betrachter ergriff dies Nachlassen im Willen der großen Frau, sein Leben lang hatte er in Elisabeth von England die befestigte, unvergängliche Macht gesehen, sogar fleischlich gesprochen. Ohne ihre lange Regierung und hartnäckige Jugend, was wäre in Europa aus der Freiheit der Gewissen geworden, welche Versicherung und Bürgschaft hätte dem König von Navarra, nachher von Frankreich, den Mut gestärkt zu Zeiten größter Verlassenheit. Auf einmal bemerkte Mornay, wie unter ihrer Haube ein dünner Streifen grauer Haare hervorglitt. Er erbleichte und konnte nur schwer zu seiner Rede ansetzen.

Diese war übrigens Parade und Zeremonie, wie alles, was heute vorging. Die Königin hörte stehend die feierliche Huldigung des Königs von Frankreich, anfangs lateinisch, dann englisch dargebracht von seinem Außerordentlichen Botschafter. Um zu antworten, setzte sie sich -- schritt vier Stufen hinan zu dem erhöhten Sessel, dies aber nicht leichtfüßig wie noch vor kurzem. Vielmehr bewegte sie sich langsam -- täuschte die Langsamkeit vielleicht vor: Mornay fing hier an, ihr nicht mehr zu glauben. Die Veränderung war zu sichtbar, zu unvermittelt; überdies gab ihre absichtliche Schwere einem der Kavaliere den Anlaß, ihr die Hand zu bieten: das war Graf Essex. Elisabeth streifte ihn mit keinem Blick, seine Hand berührte sie kaum, hatte aber plötzlich ihre große Haltung zurück. Erhöht, das Mieder eng und straff, sitzt die Königin, in dunkelgraue Seide gekleidet, anstatt der leuchtenden Farben, die sie sonst über die Jahre hinaus getragen hat. Ihr Günstling, sechsundzwanzig Lenze zeigt er allenfalls, sein Gesicht ist zu eben, um es abzuschätzen, das Gehaben knabenhaft unbesorgt, einigermaßen schlaksig, obwohl vornehm -- und warum bleibt das eine der schlanken Beine in der Schwebe? Er hat der alten Frau hinauf geholfen, und dies ist die Bewegung, in der er es tat. Man soll es wissen, die fremden Zuschauer sind zugegen, um zu berichten, daß er bei Hofe mehr darstellt, als die Königin eingesteht. Er wäre der Herr, gegen seine Reize hat sie sich nur den Rat gewußt, schnell alt zu werden. Dies gibt er zu verstehen durch seinen bloßen Anblick. Seine ganze Ergebenheit ist falsch, und sogar die unleugbare Anmut ahmt sich selbst nach. Gewiß wird der Liebenswürdige ausarten, wenn seine Beschützerin sich nicht hütet. Das hübsche Bein wird nicht lange in der Schwebe bleiben: Königin, paß auf die Schritte und Tritte eines unsicheren Burschen, der aus leerem Übermut dein Schrecken und Garaus werden könnte, von dem Spielkind, das er war.

Da der Günstling dem Außerordentlichen Botschafter ganz und gar nicht gefiel, erfreute diesen herzlich, was weiter geschah. Essex hatte sich die vorderste Stellung angemaßt. Admiral und Hofmarschall, alles, was der Handlung zunächst beiwohnte, umgab im Halbkreis den königlichen Sitz, indes sich Essex aufführte, als brächten sie hauptsächlich ihn zur Geltung, und die Königin wäre sein Schaustück. Er winkte seinem Onkel Leighton, dieser bemühte einen zweiten Herrn, und der dritte endlich rückte mit der Rolle beschriebenen Papiers heraus -- nicht gern, wie zu bemerken: sie nahmen Anstoß. Essex, unbekümmert schnippte er mit den Fingern, damit die Staatsrede der Königin schneller in seine Hand gelangte, und er wär's, er überreichte sie. Kein anderer schien befugt, wenn man ihn, so nachlässig wie unterwürfig, der Majestät das ausgebreitete Schriftstück hinhalten sah. Gleich darauf lag es am Boden, infolge eines kurzen harten Stoßes der Majestät. Die Königin sprach schon. Der Günstling, nicht mehr benötigt, machte ein dummes Gesicht, und langsam verdüsterte es sich. Was weiter in ihm vorging, blieb verborgen, da er auf leisen Sohlen rückwärts glitt und hinter seinem Onkel untertauchte.

Die Stimme der Majestät war klar und herrisch wie je, sie trug bis hinter die Säulen und Teppiche, die Damen öffneten den Mund; denn eine Kraft wie diese wird auch eingeatmet. Elisabeth nannte den König von Frankreich den einzigen Fürsten der Christenheit, der das Schwert in der Faust habe gegen Spanien -- wobei sie aufstand und das beifällige Gemurmel ihres Hofes vollends abwartete. Hiernach verabschiedete sie mit gnädigen Worten die beiden Gesandten. Als diese sich verneigten, sahen sie die Rolle beschriebenen Papiers unberührt daliegen wie vorher. Sie zogen sich zurück, wendeten während ihres ganzen Abgangs der Königin das Gesicht zu, und Mornay, der genau hinsah, bemerkte, daß Elisabeth seitlich von den Stufen stieg, und daher zertrat sie die Rolle.

Nur fünf Tage ließ die Königin warten, bis sie Mornay unauffällig zu sich rief. Er kam zu Fuß und fand Elisabeth allein vor ihrem Tisch mit Büchern. Im Schloß war er niemandem begegnet. Diesen Umstand benutzte der Diplomat, er rühmte die glückliche Lage einer Monarchie, die kein Heerlager war und an den Türen keine Doppelposten stellte; sondern in ihren gerechten Einrichtungen fand sie ihr Heil. Elisabeth, die ihn gnädig begrüßt hatte, senkte nach seinen ersten Sätzen den Kopf so weit, daß sie von unten blicken und ihn stumm befragen konnte, was er in Wahrheit meinte. Über ihre Sicherheit wachte sie, ob ihre Soldaten jedem gleich in den Weg traten oder nicht: natürlich wußte er es. Er dachte nur zu seinem Gegenstand zu kommen, daß sein Herr, der König von Frankreich, ein Zeitalter des inneren Friedens eröffnete, dasselbe, das England seiner großen Königin verdankte. Hieraus erklären sich im Verhalten seines Herrn gewisse Züge und Schwankungen, die sonst befremden könnten. Diese Worte sollten nach seiner Absicht zu den Gerüchten vom Glaubenswechsel überleiten. Die Königin beachtete sie nicht.

»Ich hatte mich über den König von Frankreich oft zu beklagen«, sprach sie klar, mit einer Klangbildung, die viel geübt und öffentlich bewährt war. Merkwürdigerweise fuhr sie fort: »Er hätte Rouen mit den Waffen nehmen sollen, dafür hatte ich sie ihm geschickt.«

Mornay erinnerte sich: ›Nur zwei Jahre, da schien sie eine gequälte Seele ohne Leib, weil ihr Essex von Rouen nicht fortzubringen war! Jetzt sitzt hier eine Frau, die verzichtet hat. Nun die Haube fehlt, erblickt man weiße Haarsträhnen, und dazwischen die roten nicht hervorgekehrt, sondern übersponnen, wie Gold, das jemand versteckt.‹

»Paris hätte er durch Hunger haben können«, sagte sie nachträglich, weniger betont als die andere Sache mit Rouen. Mornay gab sofort die Erklärungen, auf die er vorbereitet war: ein König muß das Leben seiner Landsleute schonen, selbst wenn sie gegen ihn empört sind. Denn er und sie sollen zusammen dasselbe Leben führen nach dem Willen Gottes.

Sie betrachtete ihn nochmals, inwieweit er wohl heuchelte. Hierauf bemerkte sie einfach: »Ich lobe Ihren Herrn.«

Der Botschafter verneigte sich zum Dank. ›Und der Glaubenswechsel?‹ dachte er. Sie erklärte ihm, vertraulicher als vorher, was sie lobte.

»Ihr Herr ist ein König. Er kauft seine Städte lieber, als daß er sie in Trümmer schießt. Dafür verwendet er Händler und Tändler wie diesen Rosny.«

»Ein treuer Diener«, wendete Mornay auf das bestimmteste ein. Elisabeth nickte.

»Der ist noch von den früheren Freunden. Ein König macht sich neue. Er läßt die alten fallen --« Handbewegung: »Wenn sie ausgedient haben.«

Gern hätte Mornay gefragt, ob die neuen auch Schurken und Verräter sein dürfen. Er schwieg und hörte weiter.

»Möglich, daß er ohne den Glaubenswechsel auskäme.« Da war das Wort. Dem Botschafter klopfte das Herz. Elisabeth ließ die Lippen geöffnet, sie lauschte in die Ferne. »Viel Blut würde es kosten«, entschied sie halblaut, mit Achselzucken. »Das Zeitalter des Friedens bräche sobald nicht an. Nach jeder seiner Schlachten würden die Mächte überlegen, ob es übereilt wäre, ihn anzuerkennen. ›Vederemo‹, hat der Papst gesagt. Die Verbündeten des Königs von Frankreich aber, endlich hätten auch sie genug und verlören sowohl die Hoffnung wie die Geduld.« Unerwarteter, scharfer Blick in die Augen des Botschafters.

Er begriff, dies war sein Augenblick, und wußte nur nicht, wie beginnen. Er hatte erwartet, mit Vorwürfen überhäuft zu werden; jetzt nahm Elisabeth keinen Anstoß an dem verhängnisvollen Gerücht: sie sprach, als war es wahr, und stellte sich, als war es ihr erwünscht. Mornay glaubte ihr nicht. Die große Protestantin konnte weder die Hoffnung noch die Geduld aufgeben, weil ihr Verbündeter ausharrte bei der Religion. Sie war das nicht, ihr Verdacht betraf andere. Mornay setzte den Fall, daß sie unter dem vorgetäuschten Alter und Verzicht ihre bekannte Leidenschaft für den wahren Glauben verbarg: nicht anders hätte sie das Gespräch gelenkt. ›Der Augenblick drängt; mach keinen Fehler! Gib nicht zu, der König könnte abfallen. Sie prüft dich, damit du aufrichtig sprichst. Das wollen wir auch und können es ohne Gefahr. Mein König fällt nicht ab!‹

Als Mornay sich derart angespornt hatte, nur gerade ein Atemzug war darüber vergangen, kam ihm seine längst erworbene Geschicklichkeit zurück, mitsamt seiner ganzen inneren Kraft. Er fing daher maßvoll an, zählte die Erfolge des neuen Glaubens und der menschlichen Befreiung auf: sie wären dasselbe, und gerade deshalb ergreife der Protestantismus die Welt. Venedig, die älteste Republik, hatte dem König von Frankreich gehuldigt, sie sah auf ihn und seine Taten, um sich von Rom zu trennen. Der Papst selbst hatte gestehen müssen: »Wir werden sehen«, weil er den Kirchenbann nicht länger über einem Herrscher halten konnte, dem das halbe Europa anhing. »Er ist der einzige Fürst, der das Schwert in der Faust hat gegen Spanien.« Mornay wiederholte genau die eigenen Worte Elisabeths. »Und Spanien mag noch Heere aufbringen in seinem Verfall, es mag auf den Völkern bis jetzt lasten schwer wie ein Toter: was kann und erreicht es zuletzt? Hier ist nicht nur der einzelne Held und Fürst, der das Schwert führt: hier sind die Völker Europas und eine Bewegung der menschlichen Befreiung. Die kann Rückschläge erleiden, um so eher dringt sie vor, und Niederlagen, um so sicherer wächst sie. Mein König kämpft und steht auf festem Grund: das ist der Wille Gottes in der Geschichte.«

Die Königin hörte und schwieg. Ihr Ausdruck wurde achtungsvoll, er ahmte eine Schülerin nach, zuletzt lag sie über den Tisch gebeugt und das Kinn in der flachen Hand. Mornay empfand flüchtig: ›Eine Rede, ich führe mich vor, sie lauscht mir die Kunst ab, ist das alles?‹ Er hatte keine Zeit, dem Eindruck nachzuhängen. Ihm war aufgegeben, seine Wirkung zu steigern und die Königin hinzureißen -- womit? --, da alle wirklichen Tatsachen gesagt waren. ›Hab sie schon so gewendet, wie sie liegen müssen, damit mein Herr dem rechten Glauben treu bleibt. Unmöglich!‹ erkannte Mornay, ›ich kann nicht weitergehen, denn er bleibt ihm nicht treu. Er fällt ab.‹ Dies war die erste, unwidersprechliche Gewißheit, die der arme Mornay hiervon erhielt; und sie wurde ihm gebracht durch seine eigene Rede, unter dem anerkennenden Blick der Königin von England.

Er hob beide Arme von den Lehnen seines Sessels, hielt sie ungestützt und die Augen weggewendet. Auf einmal war sein Entschluß gefaßt, er stand auf, drückte die rechte Hand gegen die Brust und sprach einfach: »Ich gestehe. Mein König wird die Religion abschwören. Er wagt den Todessprung, wie er's auch nennt.«

Elisabeth gab ohne Worte zu verstehen: Wir sind einig. Warum erst jetzt? Mornay antwortete:

»Weil es eine Tatsache und der Augenschein selbst, aber dennoch unwahr ist. Zwanzig Jahre Krieg um unser Gewissen sind nicht weniger wirklich und unauslöschlich. Er kann mit dem Herzen nicht abschwören.«

Die Regung ihrer Schulter sagte: Dann ohne Herz. Mornay wurde stärker:

»Fünfmal hat er das Bekenntnis gewechselt. Dreimal war es eine Verfinsterung durch Not und Zwang. Diese wird die vierte sein und auch nicht dauern. Das bezeuge und weiß ich. Mein König hat, um groß zu sein, den Kampf um unsere Freiheit, und sonst hätte er nichts. Eure Majestät möge dieses Tages gedenken und eines bescheidenen Dieners, der Ihnen gut geraten hat. Nehmen Sie den Übertritt meines Herrn niemals ernst, entziehen Sie ihm Ihre Hilfe und Freundschaft nicht.« Mornay atmete tief, um das letzte zu wagen; aber eigentlich fiel es ihm erst während des Atemzuges ein.

»Der König von Frankreich wird seine eigene Landeskirche begründen: beide Bekenntnisse vereint, der Papst aus unserem Glauben verwiesen.« Fest, da er jetzt alles erfaßt hatte und einsah, schloß er mit der fertigen Formel: »Imminet schisma in Gallia.«

Elisabeth betrachtete ihn, nickte beifällig, und ihre ganze Antwort war, daß er aus Eifer etwas vermöge, was Natur ihm versagt habe: dichten.

»Si natura negat, facit indignatio versum«, sagte sie. Allerdings hieß es auch: »Sie haben sich alles ausgedacht und sind von Sinnen.« Aber sie sprach es freundschaftlich. Im folgenden redete sie ihm zur Vernunft:

»Sehr gut, mein Lieber, Ihre Worte über den Freiheitskampf. Sonst hätte er nichts, um groß zu sein. Darum wird er nach seinem Übertritt die katholische Majestät Spaniens weiter bekriegen und besiegen. Dessen bin ich gewiß und will ihm beistehen. Der Glaubenskampf aber --« Ein einmaliger scharfer Ton fiel. »Herr Du Plessis, wo waren Sie die letzten zehn Jahre?«

Er sah: ›Ich habe verloren und muß aus mir nichts mehr machen, darf sprechen wie ein Christ.‹ -- »Der Ruhm Gottes ist gleich wichtig wie der Dienst des Königs«, bekannte er.

Dies vernehmen, und Elisabeth wurde plötzlich ganz alt. »Bei solcher Meinung bereiten Sie sich nur auf Ihre zweite Verbannung vor«, sagte sie mit zittrigem Stimmchen, schien sogar bis zu Tränen gerührt. »Sie sind begabt mit Einbildungs- und Überredungskraft. Sie haben mir zugesetzt, aber ich bin eine alte Königin und weiß, wie's kommt. Euer Herr wird euch Protestanten umarmen, da er viel Herz haben soll; und widersteht ihr ihm ernstlich, wird er euch köpfen. Hab es selbst nicht anders gehalten mit meinen Katholiken, nur ohne Umarmung. Der Wille Gottes, hier ist er so, dort anders. Köpfen«, wiederholte die Greisin wehmütig -- und hätte sie anders gesprochen, in ihrer Herrschergestalt, mit ihrer klaren Stimme, es wäre abscheulich und unerträglich gewesen. Schon jetzt war Mornay versucht, davonzulaufen.

Sie sagte, als besänne sie sich auf ihn: »Daß ich Sie nur ausnehme! Sie sollen nichts erleiden, ich lege für Sie ein Wort ein. Sie haben mir gedient, wie Ihrem König: ich vergesse nichts. Als seinen Botschafter werde ich Sie nicht wieder begrüßen.«

Mit jedem Wort wurde sie natürlicher und weniger alt. »Um seinen protestantischen Sieg hat er sich gebracht, da er seine neue Geliebte nahm.« Den Einwand Mornays schnitt sie mit der Hand ab. »Auch das kennt eine Königin. Wer wird sich jetzt gegen seinen katholischen Sieg verschwören? In Verschwörungen sind immer die Geliebten drin.« Steil saß sie da, die Hände hart um die Knäufe der Armlehnen, der Blick wurde der eines Vogels, graublau und scheinbar ohne Lid. Aufspringen, mehrere schnelle Schritte; den Kopf zurückgewendet fragte sie und schrie es:

»Haben Sie ihn gesehen?«

Mornay erstarrte vom Anblick eines Ungeheuers. »Ich kenn ihn«, schrie sie. »Hab angefangen ihn zu kennen. Damals holten wir ihn mit vieler Mühe von Rouen zurück, hätten ihn aber dort lassen sollen, ich war erfahren genug.«

Sie stürmte hochbeinig heran, sie beugte sich über Mornay. »Die beschriebene Rolle, wie? Haben Sie verstanden -- den Sinn der Zeremonie, mit ihm ganz vorn, und ich sein Schaustück? Dann merken Sie sich, wie die Gefahr aussieht. Ihr König nennt es den Todessprung. Ich aber will nicht springen.« Das Schreien schlug in Gejammer um. »Ihr König wird köpfen müssen, wen er am meisten geliebt hat. Sagen Sie es ihm! Vergessen Sie nicht, ihn zu warnen, damit er allen Verschwörern zuvorkommt. Er ist genötigt, es ihnen anzusehen, eh, daß sie selbst es wissen, wohin es mit ihnen noch kommt.«

Jetzt weinte die Frau unverstellt, sie warf sich lang über das samtene Kissen auf der Truhe; ein armes Ungeheuer litt arg- und schamlos. ›Ich darf nicht zusehen‹, dachte Mornay, tat aber keine Regung. ›Es ist die Königin.‹ Ihn durchliefen Schauer, schwer zu unterscheiden, ob Abscheu oder Ehrfurcht. Unter dem vorgetäuschten Alter und Verzicht hatte sie gleichwohl ihre Leidenschaften verborgen, welche auch immer. ›Die für den Glauben war es nicht, aber die um die Macht und um ihr Königreich‹ -- sagte sich der Fromme, um nur des Ärgsten nicht zu gedenken. Dennoch, vor seinem inneren Auge stand ein schwarzes Blutgerüst, auch sah er, wer es erstieg.

Er wartete abgewendet. Als er endlich zurückblickte, saß Elisabeth vor ihrem Tisch mit Büchern, hatte eines aufgeschlagen und bewegte die Lippen. Bemerkte ihn und sprach ihn an:

»Sie waren abwesend, Herr Gesandter. Ich las inzwischen Lateinisch -- nicht Französisch, das ich mangelhaft beherrsche, wie Sie wissen. Sie haben gewiß schwerer Zeiten gedacht, und diese könnten Ihnen wirklich bevorstehen. Noch ein Exil in Ihren Jahren, die schon der Ruhe bedürftig sind. Aber ich bewahre Ihnen meine Gesinnung und biete Ihnen die Zuflucht.«

Hiermit war Mornay entlassen und konnte in sein Gasthaus an der Themse zurückkehren. Er war nicht gewillt, irgend jemand aufzusuchen, den ständigen Gesandten nicht, und fast noch weniger Lord Burghley. Sein Zimmer ahmte den Prunk eines Schlosses nach -- ohne Befugnis und Inhalt, worin der Unglückliche ein Gleichnis seiner selbst fand. ›Wir sind von jetzt ab ein getünchtes Grab. Hätte ich wenigstens den Mut meines neuen Zustandes gehabt. Bei der Königin trat ich noch ein wie ein Mann des Lebens; sie mußte mir erst sagen, ich sei zu den Toten geworfen.‹ Er erinnerte sich: ›Einige Male habe ich politische Geschäfte gemacht, da ich vorgab, mein Herr würde die Religion abschwören; sah es aber für Täuschung an. Ist nun wahr geworden, und der Belogene bin ich selbst.‹ Die Schultern gebeugt, stand er vor dem Fenster; drunten schwamm und blinkte der Strom. Einst waren Sommertage, die Themse, Fluß, Luft und Ufer liehen sich feuchte, leichte Farben. Davon wurde man zum glücklichen Kind, nicht ausgenommen der Verbannte. Einst waren hier Sommertage.

Mornay war nicht der Mann, bei weichen Gefühlen zu verweilen, und der Verzweiflung verfiel er nicht. Die nächste Woche blieb er in seinem Zimmer, ließ sich krank sagen, fertigte aber eine gelehrte, völlig bezwingende Schrift über die Notwendigkeit der gallikanischen Staatskirche. Hätte er das Konzil der Pastoren und Prälaten mitsamt dem König, hätte er es zu dieser Stunde hierher in sein Zimmer versammeln können, er wäre sicher, durchzudringen. Indessen war die Arbeit getan, das Zimmer öd und leer: da machte Mornay Feuer an und warf alle Blätter hinein. Dann besuchte er den Gesandten Beauvoir, berichtete unverschönt seinen Mißerfolg bei der Königin, berief sich aber auf seine Erfahrungen mit ihr: sie änderte Beschlüsse, wenn man nicht nachließ. Noch eine einzige Audienz sollte Beauvoir ihm verschaffen: Mornay wäre jetzt stark genug, sie würde bei dem König Einspruch erheben gegen seinen Übertritt. Sie würde ihn vor einem schlechten Geschäft bewahren, dies betonte Mornay. Beauvoir sagte zu, obwohl er das Eingreifen der Königin von England nicht wünschte, und Herrn de Mornay hielt er eher für einen Theologen als für einen Praktiker der Staatskunst, ungeachtet der weltlichen Gründe, die er vorgab. Übrigens antwortete Elisabeth, daß ihre Zeit besetzt wäre, sie hoffte Herrn Du Plessis-Mornay bald wiederzusehen, ihr Admiral sollte ihm für die Rückreise ein Schiff der königlichen Flotte geben.

Bevor dieses zur Abfahrt bereit lag, verabschiedete Mornay sich von seinem einzigen englischen Freund. Der Großschatzbewahrer ersparte ihm diesmal, durch die allgemeine Schreibstube zu gehen; er öffnete ihm ein verborgenes Türchen. Mornay krümmte sich, und so gelangte er in das Kabinett aus schwarzem Holz. Auf dem Tisch stand aber zwischen zwei Gläsern eine Flasche Clairet, der tägliche Wein des Königs von Frankreich. »Wir trinken auf sein Glück und Wohlergehen«, sagte Lord Burghley, und das taten sie stehend.

Sitzen und schweigen. »Jetzt wissen Sie alles«, sagte der edle Lord und verzog das Gesicht, als wäre der Wein zuletzt doch sauer gewesen. »Ihr König hat, wie je, eine Verbündete gegen Spanien.«

›Auch gegen die Religion‹, dachten beide. ›Auch gegen das Recht. So ist die Welt‹, dachten sie. ›Kein Königtum bleibt rein von Fehl und Buße.‹

Mornay sprach sehr langsam, weil er versuchte nachzufühlen: »Der König wagt seinen Todessprung mit großer Selbstverleugnung, wir hätten sie nicht. Und wo fände ich Worte, um die Weisheit Ihrer großen Königin zu rühmen. Ihre Majestät hat mich höchst wunderbar über das Recht und das Unrecht belehrt.«

»Wunderbar«, wiederholte Burghley. Er bekam glänzende Augen und stellte den Zeigefinger auf, als kehrten ihm vergangene Vorstellungen von Wundern in das Gedächtnis zurück. »Ich sehe«, sagte er so einfach wie sonst, »Ihr Schritt war vergeblich. Verzeihen Sie mir, mein Lieber, daß ich unterließ, es Ihnen vorauszusagen. Ich kannte die Weisheit der Königin, wußte auch schon, daß der Weisheit schwerer beizukommen ist als den Leidenschaften, und die ihren hat sie besiegt.«

Mornay entgegnete nichts -- ließ die Selbstentblößung Elisabeths im Dunkeln und wollte ihr nicht beigewohnt haben. Statt dessen sagte er:

»Zwischen mir und meinem König soll nichts anders werden. Ich kenne meine Pflicht und will sie nach seinem Übertritt noch eifriger befolgen, da mein Herr in gefährlicherer Lage sein wird als vorher.«

Burghley streifte ihn hier von der Seite und warf hin: »Sie selbst werden übertreten müssen.«

»Nein«, rief Mornay -- faßte sich sogleich und schloß gedämpft; war es Demut, war es Starrsinn? »Wer bin ich, daß ich die Wahrheit verleugnen dürfte. Ich staune, weil Könige es tun, und der Weltenbau steht noch.«

»Trinken Sie ein Glas, während ich etwas suche«, verlangte Burghley, stand auf und ließ durch einen Druck eine bestimmte Tafel der Wand sich drehen. Eine Weile verging, bis er gefunden hatte und auf den Tisch ein Papier breitete: es war vergilbt und in den Falten brüchig. Die Zeichnung zeigte wie je den alten Bau der Christenheit, nach oben abgeteilt in immer schmälere Aufsätze, die höchsten entschwinden aus dem Bilde. Beide betrachteten es schweigend -- wie der rätselhafte Unhold mit geschwungener Fackel hereinstürmte, die Säulen schon brannten, in untätigem Entsetzen ein Christ daneben stand, und wie dennoch über zerstörten Stützen der Bau sich erhielt, als ob er schwebte. Endlich sprach Burghley:

»Das Mysterium des Unrechts, so benannten Sie meinen Entwurf. Wieviel wir damals wußten -- bevor wir es wußten.«

»Und was alles wir immer noch hoffen, entgegen aller Hoffnung«, sagte Mornay.

Sein Freund übergab ihm das Blatt, er legte es in die brüchigen Falten und nahm es mit. »Leb wohl, Philipp«, sagte sein Freund.

Keiner von ihnen hatte eine Träne, ihre Gesichter waren eher verhärtet. Aber ungewohnterweise öffneten sie die Arme.

 

Der Besiegte

Die katholische Majestät empfing kniend die Absolution. Der Beichtvater streifte mit der flachen Hand die dünnen Löckchen des gebeugten Hauptes, dann half er dem König aufzustehen. »Mach Licht!« befahl Don Philipp dem Pater mit so viel Nichtachtung, als wär es ein Lakai gewesen. In diesem Augenblick war er von allen Sünden gereinigt und kannte durchaus keinen geistlichen Vorgesetzten. ›Bis sie wieder gekrochen kommen‹, dachte der Pater und übernahm in seine allgemeine Erfahrung auch die katholische Majestät. Indessen gehorchte er, zog von dem Fenster den Vorhang und löschte eine Kerze, die letzte noch brennende. Sie war zunächst dem Tisch an der Wand befestigt, ein Schild aus Silber warf den Widerschein der Flamme auf die Papiere. Ein Bündel von Flammen hatte sie anfangs beleuchtet, war nach und nach erloschen, darüber war dem Schlaflosen die Nacht vergangen.

Das früheste Grauen eines Frühlingsmorgens fiel ein. Der Pater sah die roten Lider des Königs und meinte, man sollte das Fenster öffnen. »Warte, bis ich es dir auftrage«, brummte der Greis. »Ich habe keine Eile mit dem Tag.« Er saß und schloß die Augen. »Keine Eile mit dem Lärm und Gedränge, am wenigsten aber mit den müßigen Begierden der Menschen.« Er war gekleidet in Schwarz mit wenig Weiß. Jedes Stück des Anzuges war zerdrückt, auf den Händen erschienen Staub und Tinte. Sein Kinn sank schief herab; obwohl aufgeweicht, verursachte die Halskrause diese unbequeme Haltung eines Kopfes, der auf der eigenen Brust den Schlaf sucht, sonst fände er ihn nicht. Da der König röchelte, ging der Pater mit den Augen die Straße ab, wo nichts zu bemerken war. Drüben hinter der Ecke vermutete man den Leichnam eines Pferdes, ist dort vergessen worden seit gestern oder seit voriger Woche, sichtbar wird nur der aufgetriebene Bauch. Mit der Sonne werden die Fliegen kommen. Bis jetzt stehen die Häuser farblos, fest verschlossen in einem entfernten Halbkreis um das königliche Schloß; stellen sich noch niedriger, noch unterwürfiger, möge man die Leere ermessen zwischen hier und drüben, wie die Schatten dicht gelagert sind um die geringen Stätten, und nur das Schloß ragt hinan zu dem ersten Schein.

In der Tiefe unter dem Fenster tauchte ein Betteljunge hervor, nach sich zog er ein übermäßig dickes Weib, zerlumpt wie der Knabe, nur dreimal älter. Beide hatten zwischen Pfeilern des Palastes auf einer steinernen Bank genächtigt, man kannte das; jetzt lasen sie vom Boden die besten Abfälle auf, ehe andere zuvorkamen. Sooft der kleine Bursche etwas Eßbares erspäht hatte, klatschte er der Vettel einen drauf, und sie beeilte sich. Er war der Herr. Der Pater gedachte mit Verachtung aller weltlichen Herren über die Menschen, besonders dessen, der hinter ihm röchelte. Der Schlummernde schrak aber auf, sofort war er bei Besinnung und sagte: »Genug. Die Welt kennt keine Ruhe. Sie war noch niemals ganz und gar zur Ruhe zu bringen.«

»Nicht einmal der Platz unter Ihrem eigenen Zimmer«, bestätigte der Pater. »Ruh und Frieden sind bei Gott. Der König ist eingesetzt, die Menschen abzustrafen für ihre eitlen Begierden -- und Ihnen hinten drauf zu klatschen«, dies letzte ließ er zwischen den Zähnen verschwinden.

»Ich bin eingesetzt«, wiederholte der König. »Warum gelingt es dann nicht -- gelingt immer weniger? Das Reich und seine ernste Ruhe, ich war mehrmals nahe daran, es über die Christenheit auszubreiten. Immer wieder steht ein Empörer auf und stört mich. Können Sie mir erklären, warum Gott zuläßt, daß ein dreister Hauptmann --«

»Ein Ketzer«, berichtigte der Pater. »Die Ketzer sind Ihm unentbehrlich, ihr Untergang vermehrt fortwährend Seinen Ruhm.«

»Und meine Mühsal. Meine Schlaflosigkeit, leiblichen Verfall und Versuchungen des Geistes. Es ist ungesund, auf dieser verwilderten Erde. Ein Tag ohne Empörung und Ketzerei, ich wäre endlich reif für den hohen Frieden.«

»Amen«, schloß der Pater.

»Statt dessen verliere ich Schlachten, und ein dreister Hauptmann gewinnt sie. Was hilft mir meine katholische Majestät. In Paris wählen sie ihn zum König von Frankreich. Ein Königreich entgeht mir, das einzige, auf das alles ankommt, das letzte, das ich dem Besitz meines Vaters, des Kaisers, beifügen muß, und diese Welt wäre unterworfen, sie wäre erlöst.«

»Es geht über Ihr Vermögen. Demütigen Sie sich.«

Don Philipp bekam eine unerwartet hohe Stimme. »Demütigt der Hauptmann sich denn? Er schwört ab und geht in den Schoß der Kirche ein, alsbald wird er König von Frankreich sein. Und ihr laßt es zu. Die Bischöfe des Königreiches Frankreich, heutigentages sind sie um ihn versammelt, sie belehren ihn im Glauben, er wird sie auslachen und alles bekennen, was sie wollen. Dann zieht er in Paris ein -- mit seiner Geliebten, ein Empörer, Ketzer, Wüstling, und ihr laßt es zu.«

»Sie hat nur achtzigtausend Taler gegeben, um Frankreich zu kaufen.«

»Ich habe viel mehr getan, als zu bezahlen. Vom Papst Clemens erlangte ich, daß kein Priester in seine Nähe kommen darf. Aber sieh, alle sind um ihn versammelt, und eine unverantwortliche Nachgiebigkeit erweisen sie dem Heiden und Philosophen, der ihnen Bedingungen stellt. Ich bin nur deshalb um ein Königreich betrogen, weil ihr die Religion verratet.«

»Vielmehr haben Sie das Königreich versäumt aus menschlicher Schwäche.« Der Pater schob den Kopf vor. »Warum sind Sie nicht selbst in Paris zur Seite der Infantin und lassen sie zur Königin von Frankreich ausrufen. Der Hauptmann steht mit seiner Gegenwart für sich ein. Sie wollen auch dieses Königreich von Ihrem Tisch aus erobern, sind aber schon mürbe, und wie wacklig dieser Tisch!« Der Pater rüttelte an dem Möbel. Als der König auffahren wollte, wehrte er ab. »Die Frage ist keineswegs, ob die Kirche Ihnen richtig dient. Überhebung. Die Frage ist, ob Sie der Kirche noch dienen: das wird in Rom erwogen.«

Hier verfiel der König in sich selbst: der Sessel wurde um so größer, vor ihm der Pater ein schwärzlicher Riese. Don Philipp zog von dem erhaltenen Schlag das Gesicht zusammen, bis Augen, Nase und Mund ein faltiges Stückchen Haut waren. Übrig blieb von dem zerdrückten Gesicht ein dünner Bart, und dann die schmale Stirn, oben umgeben vom Morgengrauen. Seltene weißblonde Löckchen staken in dem spitzen Schädel.

Die Pause war vergangen, der Schrecken überstanden. Don Philipp wendete seinen Sitz mit dem Rücken gegen das Fenster, der Pater war genötigt, ihn zu umgehen. »Dienst«, sagte der König, wog ab und wiederholte: »Dienst -- war mein Leben. Keine Erwägung, auch Rom nicht, vermag das geringste gegen das, was ich gewesen bin!« Der Pater, anstatt die Antwort zu finden, zwinkerte von der zunehmenden Helligkeit, indessen Don Philipp sein Gesicht zurückbekam, und was für eins, das eigensinnige Gesicht, das unmenschlich fremde, das katzenhafte der Stunden, in denen er herrschte. Er brauchte die Stimme nicht zu erheben: jeder, in seinen entlegensten Ländern und Königreichen hätte ihn begriffen aus bloßer Angst.

»Ich regierte das Weltreich hier vom Tisch aus ohne den Gebrauch der Gliedmaßen, der verächtlich und lächerlich ist. Mein Geist allein, ihm hat die Erde sich gehorsam erwiesen, dermaßen, daß eine Willensverfügung von mir sie umformte wie einen Kloß. Währenddessen sind einfältige Hauptmänner im Kreise geritten, ohne Weitblick, immer um denselben Fleck. Gelähmt? Der Hauptmann ist ein Lahmer, ich aber hatte die Schnelligkeit eines Engels.«

Keine Regung des Paters. ›Soweit mag es angehen‹, dachte er. ›Jetzt aber wird er sich versteigen und bei kindischen Lästerungen enden.‹

»Auch seine Reinheit. Ich habe mich, wie der Körperlose, vom Fleisch enthalten, dies aber durch die Kraft meines Geistes, wie alles sonst. Ihr habt mich beten und beichten lassen: um so eher hätte ich dickes Fleisch umarmen können wie der Hauptmann, ihr hättet mir's vergeben. Nicht einmal der Herr der Höhe ist wirksam eingeschritten, damit ich würde wie einer der Seinen. Mein Geist und Wille haben alles getan -- und darum regierte ich das Weltreich, ohne dem Fleisch der Menschen zu verfallen, und habe keines angegriffen. Das dicke Fleisch hat nicht nachgegeben unter meinen Händen, es hat mir seinen Geruch nicht zugeströmt, ist von der Lust nicht befeuchtet worden und hat nicht empfangen. Alles dicke Fleisch habe ich dem Hauptmann zugestanden, denn sein ist nie und nimmer das Himmelreich.«

›Was hilft es‹, meinte der stumme Pater, ›da in Ihrer Rede das Fleisch zehnmal vorkommt, und in Ihren Gedanken ist es Legion.‹

»Ihn schleudert zuletzt ein gelungener Wurf in den brodelnden Höllenpfuhl.« Don Philipp verhielt seine Inbrunst nicht mehr, er sprach singend, er verdrehte die Augäpfel. »Mich erheben bald die Hände Gottes bis nahe an seinen Thron. Geschweifte Säulen, von ihnen geht der Glanz aus, und nicht von dem Herrn: der hält sich im Schatten, wie hier ich. Im Glanz aber liegt das Fleisch -- das wesenlose Fleisch der Engel. Sie haben weibliche Formen von wunderbarer Fülle und strecken sie zur Berührung hin, was überirdisch gemeint ist und nichts zu tun hat mit dem Genuß des dicken Fleisches, über das der Hauptmann verfügt.«

Der Pater fand seinen Augenblick gekommen. Er sagte mit betonter Nachsicht: »Was wissen Sie von dem Himmel, Don Philipp? Das Weltreich hat durch Ihre Tätigkeit nicht seinen leisesten Abglanz empfangen, sondern liegt im argen. Zwischen Ihnen, der Sie ganz und gar von dieser Seite sind, und dem ewigen Heil, steht die Kirche: vergessen Sie es nicht.«

Don Philipp bekam hiervon ein verstocktes, aber hilfloses Aussehen. Er versuchte einzuwenden, daß er spreche als ein Christ, der soeben gebeichtet hat und für den Augenblick von Sünden frei ist. Das konnte den Pater nicht beirren, im Gegenteil ging er zur Härte über.

»Gedankensünden. Was Sie gebeichtet haben und immer aufs neue beichten, sind Gedankensünden, darin sitzen Sie schon wieder bis an den Bauch. Sie wollen heilig sein? Das hängt einzig und allein von mir ab. Mein Wort macht Ihre Taten ungeschehen und hebt auf, was Sie gedacht haben.«

»Glauben Sie?« fragte Don Philipp in voller Verwirrung, der Pater erkannte sie an seinen blassen Augen.

»Schlafen Sie«, befahl er, »hüten Sie sich zu träumen. Der unbeherrschte Wandel des Königs von Frankreich ist die trübe Ursache Ihrer Versuchungen: ich habe es früher gewußt als Sie. Schlafen Sie, und ich werde durch meine Vermittlung erwirken, daß Sie ohne Sünden aufwachen, bis zum nächstenmal.«

Don Philipp drückte die Lider ein, fand aber auf seiner eigenen Brust die Ruhe des Hauptes nicht; es hätte liegen und sich vergessen sollen auf einer anderen; das ersehnte Fleisch hätte dem Gewicht des Hauptes nachgegeben und seinen Geruch hätte es ihm zugeströmt. Don Philipp war sehr in Sorge, daß der Pater, vor ihm auf Wache, jede seiner Gedankensünden erriete, ja mit Augen sähe. Eine lange Weile stellte er sich schlafend. Als er dann auch das Erwachen nachahmte, war kein Pater da. Don Philipp erhob sich beschwerlich, bewegte sich schlürfend zu dem Fenster hin, er öffnete die Flügel wenig und schob das Gesicht dazwischen.

Die Sonne hatte die Tiefe erreicht, ihre weiße Flut bespülte diesseits den Boden. Am anderen Rande der Straße, weit dahinten blieben die Häuser dunkel und noch immer verschlossen. Das Licht hob aus der ungepflasterten Erde die groben, harten Furchen hervor, die Einsenkungen starrten von Unrat, und der Morgenwind trieb Staub darüber weg. Um die Ecke rannten Betteljungen. Don Philipp zog den Kopf zurück, weil er sich entdeckt fühlte. Nein; sondern eine Sänfte bog auf den Platz ein, zwei Räder, drei Maultiere, ein seidenes Lager beschirmt von einem Himmel, der war mit Gold durchwirkt. Der Führer ging nebenher, nach den Jungen schlug er mit der Peitsche, obwohl vergebens. Das Gesindel war zahlreich, es hielt das Gespann an, wälzte sich vor die Tiere hin, ein Haufe menschlicher Gliedmaßen, sie hätten alles zu Fall gebracht. Der Knecht gab es auf, eine Dienerin warf Geld unter die Schreihälse. Von den Kissen erhob sich die Herrin.

Es war eine üppige und reiche Dame, aber nicht vom Hof, Don Philipp stellte es fest. Sie sah umher, nach Hilfe oder nach Zuschauern, natürlich begegnete sie niemandem zu dieser frühen Stunde. Don Philipp lugte nur noch aus dem Vorhang. Eine fleischige Schönheit, der große Busen in schwarze Seide gerahmt und offen dargeboten: die Spitzen waren verrutscht, die Schönheit bedeckte ihn nicht wieder. Im Gegenteil entblößte sie auch das Bein, mit dem sie die Sänfte verlassen wollte, um besser das Gebalge der Bettler zu betrachten. Don Philipp bekam indessen den Eindruck, daß sie bedacht war, selbst gesehen zu werden, und zwar von ihm -- was ein falscher Eindruck sein muß. ›Die Stunde ist zu früh, eine Person wie diese verläßt das Bett nicht in der gewagten Berechnung, ein alter Weltbeherrscher werde nach durchwachter Nacht aus dem Vorhang lugen.‹ Ihn täuscht sein schlechtes Gewissen, und seine Gedankensünde hält ihn beim Fenster fest.

›Wer bin ich? Die Völker müssen rudern auf meinen Galeeren. Und ich? Ein Sträfling -- ohne Freude, ohne Fleisch. Zehn Schritte, durch jene kleine Tür in die Kapelle, dort habe ich den Verkehr des Herrn, ein anderer geziemt mir nicht. Was der Pater niemals erfahren wird: der Herr vertraut mir im Gespräch, wie dem einzigen seinesgleichen. Dann allerdings entläßt er mich an meinen Tisch.‹ Laut sprach er: »Ich bin ein Sträfling, ich Philipp, der Nächste an Gott.«

»Lästere nicht«, sagte der Pater. »Nächster an Gott, und Sträfling dabei, hat man das gehört?« -- dies mit plumpem Hohn. Der König, zwischen den Zähnen:

»Schweige!« Er wendete den Kopf kaum bis zur Schulter, der Pater erschreckte ihn gar nicht, weder die unerklärte Gegenwart der Gestalt, noch ihre Wucht und Härte. Dem gewohnten Zuchtmeister befahl Don Philipp: »Sag, wer die Frau ist.«

Der Pater warf nur einen Blick hin. »Jeder kennt sie. Die berühmteste Hure. Sie beichtet mir. Daß Sie es wissen: so hab ich Verschwörungen gegen Ihre Sicherheit entdeckt.«

»Du sollst sie heraufholen.«

»Wozu. Sie hat gebeichtet; es gibt nichts Neues.«

»Bei deinem Leben, du gehst und bringst sie mir.«

Jetzt hatte der Pater begriffen und zeigte auch schon Abscheu. Dieser reichte vom frommen Entsetzen bis zur einfachen Verachtung; mit ihr zugleich erschien der Ausdruck der Vertraulichkeit. »Ich bringe eine schwere Sünde«, sagte er geschäftsmäßig. »Außerdem würden wir Zeugen haben, denn einige sind im Palast schon auf. Warten Sie bis heute nacht.«

Don Philipp sah ihn nur an, was aber den Erfolg hatte, daß der Pater in Richtung der Tür zurückwich. »Ich muß meine Oberen fragen. Ihr Vorhaben könnte entschuldbar sein, wegen Ihrer überhandnehmenden Gedankensünden.« Hiermit war er draußen. Don Philipp ging wie auf Wache vor dem Fenster hin und her; sooft er wendete, überzeugte er sich, daß die Sänfte noch stand, und das Fleisch war halbwegs ausgestiegen. Von der Unzucht gemästet schrie und schimpfte das große Fleisch in gemeinen Lauten, weil das Gesindel einen Zügel zerrissen hatte, der Führer mußte das Tier wieder anbinden. Don Philipp machte kehrtum, schnell, ohne Schlürfen der Füße, und bei jedem Wenden stieg seine Gereiztheit und Furcht. Die Sänfte mit dem Fleisch wird von dannen sein, bevor der niederträchtige Pater anlangt. Hier fühlte er bei allem erregten Laufen, daß etwas im Zimmer sich regte, ein Schatten an der Wand. Es war der Edelmann, der die Schokolade brachte; sein Auftrag war, unhörbar und unsichtbar wie ein Schatten zu sein. Don Philipp, außer sich, rief dorthin:

»Trink sie selbst!«

Die Tasse klirrte, der Edelmann war arg erschrocken. Er hatte eine Tasse von einem Haushofmeister bekommen, dieser von einem Pagen, dieser von einem Diener, der Diener von anderen seiner Art, alle zusammen hatten das Tablett entgegengenommen von dem feierlichen Koch, dem wieder eine lange Reihe von Angestellten der Küchen sie zugereicht hatte, und ganz am Ende befand sich irgendein schmutziges Ding, das hatte die Schokolade gekocht. Der arme Edelmann überlegte den Vorgang mit der Geschwindigkeit der Angst. Auf ihrem Weg durch die vielen Hände war die Schokolade abgekühlt, aber auch vergiftet konnte sie sein von einer unbekannten Hand. Der König hat Nachricht davon, der König beschuldigt mich selbst, darum soll ich trinken! Er trank, und gleich nachher fiel er ohnmächtig um. Don Philipp gab nicht acht, denn endlich war der Pater bei dem Fleisch angelangt.

Der Pater nahm nicht vier Wege, sondern den schnellsten. Die berühmte Hure empfing mit fünf nackten Worten die Bestellung, und geistesgegenwärtig lehnte sie ab, so daß alsbald der Preis stieg. Sie ist unterwegs zur Frühmesse, sie weiß warum, man halte sie nicht auf, ihr Heil zählt höher als die Laune eines alten Herren. Don Philipp erriet beiläufig, was verhandelt wurde. Er rührte die Klingel, den ohnmächtigen Edelmann weckte es nicht; aber ein Sekretär, der draußen gewartet hatte, flatterte blindlings herein von dem schrillen Läuten. »Mach, daß du hinunterkommst. Überbiete den Pater. Nenn die doppelte Zahl.«

Die Zahl war ohnedies von einer Unverschämtheit, dem Pater blieb die Luft weg. »Eine Empfehlung, wie sie Ihnen zugedacht ist! Sie müssen noch draufzahlen, meine Tochter!« Sie blieb indessen dabei, daß sie zur Frühmesse wollte, und wüßte nur zu gut, warum. Als der Sekretär herbeiflatterte, lachte sie laut über sein Angebot. »Schmutzian«, sagte sie und erhob zum erstenmal ihr Gesicht, genau nach dem Fenster des Königs. Don Philipp erbebte davon bis in sein Gebein. Er vergaß, sich zurückzuziehen, und so sahen sie einander an und maßen sich, der Weltbeherrscher, das berühmte Fleisch. Ihre Augen glühten durch einen Spitzenschleier, seine Augen zerteilten angestrengt das Gewebe seines Wahnes, seiner Qual.

Die Frau bestieg ihre Sänfte, die bereit war weiterzuziehn, ihre Hand gab das Zeichen. Dem Pater und dem Sekretär antwortete sie nur noch über die Schulter. Don Philipp tat einen einzigen Satz bis zu dem Edelmann, der bleich aus seiner Ohnmacht aufkam. »Halte sie! Halte sie an, und was sie will, bekommt sie.«

Damit war es geschehen und nicht mehr zu verhindern, wie die berühmte Hure still für sich meinte, als sie umkehrte und mitkam. Sie hatte ihnen oft genug vorgehalten, daß sie zur Messe wollte und wüßte zu gut, warum. Sie hatte gewarnt. Seit gestern verspürte sie verdächtige Anzeichen, und hatte sich aufgemacht in der heimlichsten Stunde, um zu beten, daß es die Krankheit nicht sein möge. Man ließ sie nicht beten, und daher war es die Krankheit. Wenige Tage später zeigte sich: Don Philipp, Weltbeherrscher, war angesteckt.

 

Meditation

Die großen Wendungen seines Lebens, ein Mensch wie Henri vollzieht sie weder infolge langer Berechnungen noch durch sprunghaften Entschluß. Er nimmt die Richtung, während er es nicht weiß, oder weiß es schon und kann es nur nicht glauben. Er wird dorthin geführt, erkennt zeitweilig die ungeheure Zumutung, sie liegt aber in weitem Felde. Der Weg ist angetreten, die Umkehr wäre schwer, das Ziel wird bezweifelt, höchst unglaubwürdig ist die Ankunft, auf einmal ist man da, es war ein Traum. Keinen Augenblick hatte Henri sich als Träumenden gefühlt: er, der fortwährend handelte! Schläge und Gegenschläge, die Taten eines ausdauernden Willens zu diesem Königreich, einer beständigen Leidenschaft für diese Frau, die Siege und die Niederlagen, träumt man inmitten der Taten? Schlachten, Belagerungen und Geschäfte, viele eroberte Plätze, nicht weniger gekaufte, und mit den Menschen dasselbe; packeln, überlisten, bezahlen oder bezwingen. Wenn sein Gegner Mayenne ihm seine Katholiken zu verführen dachte, schnappte er dem anderen im Gegenteil die Seinen fort, überredete sie zu einer gemeinsamen Besprechung und erlangte von ihnen das Geständnis, ihr einziger Grund, den König auszuschließen, sei seine Religion. Worauf er der Versammlung natürlich erklären ließ, sogar durch einen Erzbischof, dann wäre alles in Ordnung, er werde sich bekehren.

Das hatte er oft versprochen, viele mißtrauten, es war nicht zu verwundern. Dennoch wählten sie in Paris weder den kleinen Soissons, der es im Ernst schwerlich erwartet hatte, noch die Infantin, da die spanische Partei in Schande und Greueln abgenutzt war. Sie wählten den rechtmäßigen König, ob er nun die Ketzerei abschwor oder nicht. Die Annahme blieb wohl, daß er abschwor, damit wurden Bedenken beruhigt. Hatte er sie nachher zum besten gehalten, fiel auf niemanden die Schuld, nicht einmal auf ihn. Sehr viele anerkannten nachgerade, daß er ein Gewissen und das Recht auf sein Gewissen hatte. Die Duldsamkeit dringt unter Menschen durch, wenn sie an ihrem Starrsinn lange genug gelitten haben. Eingeweihte, vorzüglich Unterrichtete leugneten kurzweg, daß er überträte. »Des bloßen Vorteils wegen wird der Béarneser die Religion nicht wechseln«, sagte ein Gesandter. Henri selbst gab ihm recht, und dies, als er mit Händen greifen konnte, was bevorstand.

Bischöfe und Prälaten, die ihn umgaben, lehrten ihn damals den Glauben der Mehrheit, vielmehr begegneten sie seinen Einwänden oder unterlagen, denn der streitbare Sohn der Protestantin Jeanne stand in der Theologie seinen Mann. Es war drei Tage vor dem Ereignis, das er lang vorhergesehen hatte -- er stritt gleichwohl unverdrossen gegen das Fegefeuer, das er einen schlechten Witz nannte: ob die Herren es vielleicht ernst nähmen. Schickte sie nach Hause mit ihrer Abschwörungsformel, und sie gingen, um mit einer anderen wieder anzutreten. Der Legat des Papstes aber hatte ihnen verboten, dem Ketzer überhaupt in Atemnähe zu kommen. Henri seinerseits beteuerte und gab zu Protokoll: was immer er täte, er versicherte sich einzig nur seines Gewissens, und spräche dieses dagegen, dann möchte er für vier Königreiche wie das seine nicht aufgeben und verlassen die Religion, mit der er genährt war. Als er diese Worte behauptet hatte und die geistlichen Schreiber sie aufnahmen, entstand eine große Stille.

Sie trat nicht in der Versammlung ein, dort wurde weiter bewiesen, abgestritten und das Geschäft betrieben. Die Stille legte sich dem Sohn der Königin Jeanne auf die Seele. Nie im Leben war ihm alles derart verstummt und er in diesem Maß allein. Zum erstenmal bemerkte er: ›Ich träume. Gehandelt habe ich zum Schein, mein Wille und Begehren war ein Lallen aus dem Schlaf. Was mir geschieht, ich beherrsche es nicht. Ringe vergebens um das Wort, das die Betörung aufhöbe. Ich bin hierher im Traum versetzt. Mir fällt ein Wort nicht ein, sonst wüßt ich viel. Sonst wüßt ich, wer ich bin.‹

Während derselben Nacht weinte Gabriele. Neben ihr lag Henri, betrachtete sie und sah doch nichts. Es war das erstemal, daß sie die nächtliche Vereinigung benutzte, um ihn anzuflehen, er möchte abschwören. Weder bei Tag noch unter dem Schutz des Schlafzimmers hatte sie ihn in Sachen des Glaubens bedrängt. Sie wußte ohne Nachdenken, daß ihr Körper und seine Liebe hierin den Ausschlag nicht geben könnten, oder sie gäben ihn stumm, ohne Worte, ohne Tränen. Besonders diese wurden ihr schwer. Die reizende Gabriele neigte wenig zu Tränen. Ihr Fall war das Bitten nicht, sie dankte ungern und verriet selten Rührung. Indessen war ihre Tante de Sourdis herbeigereist und hatte sie belehrt und bearbeitet, wie es stände. Der König war ein unsicherer Partner, er stritt mit den Prälaten, er berief sich auf sein Gewissen: wer tut das noch, wenn man einen Schritt beschlossen, ihn eigentlich vollzogen hat.

»Kein Schritt«, erwiderte Gabriele der Dame. »Er nennt es einen Sprung, er hat mir geschrieben: ›Sonntag mach ich den Todessprung.‹«

Sie sagte dies mit unmerklich schwankender Stimme. Die kundige de Sourdis begriff gleichwohl, bei ihrer Nichte begänne das Gefühl sich einzumischen, nicht zum Vorteil der praktischen Vernunft. Daher verzichtete sie sogleich auf jede geringere Vorhaltung wie etwa das Interesse der Religion, der Bestand des Königreiches oder auch das so zweifelhafte Seelenheil, wenn eine Christin mit einem Ketzer lebt. Dies alles beiseite, griff sie zu den ernsten Beweisen, sie fragte: »Soll dein Vater aus Noyon verjagt werden? Herr de Sourdis aus Chartres? Und Herr de Cheverny soll die Siegel wieder hergeben, alles infolge deiner Widerspenstigkeit? Der König wird das Spiel verlieren und flüchten müssen, wir alle auch, und du wirst die Schuld haben. Aber ich bin noch da. Wie? Du hättest Mitleid mit deinem verliebten Hahnrei, du wolltest dich weigern, das einzig Richtige zu tun, damit er abschwört?«

»Was ist das Richtige?« fragte Gabriele, nicht ohne Erschrecken.

»Ihm deinen Körper vorenthalten. Dann handelt er, wie er soll. Und ich bin hergereist, dir solche Weisheiten zu eröffnen!«

»Ich glaube es nicht«, sagte Gabriele.

Der Tante verschlug dies die Rede. »Du bist nicht wiederzuerkennen.« Zum Schein und mit Vorsicht betupfte sie ihre geschminkten Augen.

»Willst du unser aller nicht denken, und weder der Armut noch der Verfolgung, die wir zu gut kannten, und jetzt drohen sie uns nochmals: -- mein geliebtes Kind, wenn nicht auf uns, so sei doch auf dich selbst bedacht! Nur sein Übertritt zu der rechtmäßigen Kirche sichert deine Zukunft. Er wird sich scheiden lassen, er wird dich heiraten -- dich auf den Thron heben. Das alles steht heute noch in deiner Macht, und du weißt, wie diese aussieht: genau wie du selbst, mit Busen, Bauch und Hintern. Versäumst du es heute und in dieser selben Nacht, morgen holst du das Glück nicht mehr ein; es wird über alle Berge sein. Dann hast du ihm Unglück gebracht, dann ist er ein unglücklicher König, schlimmer als gar keiner. Da du ihn wegen des bißchen Abschwörens bemitleidest, erspare ihm lieber das Ärgste. Ihr werdet im Unglück leben; wohin du dich wendest, das Unglück. Im Unglück aber, heißgeliebtes Kind, glaube mir: im Unglück behält man keinen und besonders ihn nicht.«

Die Beängstigung, die Gabriele empfunden hatte, hier wich sie. Gabriele lächelte langsam und verneinte mit dem Kopf. Sie war versichert: ihn behielt sie. Dame de Sourdis geriet davon außer sich, und zwar völlig. Sie stampfte, tobte umher und schrie in gellenden Tönen eine ganze Reihe häßlicher Beschimpfungen.

»Zu dumm zur Hure!« war das letzte. »Und davon hängt man ab!« Womit sie die Hand erhob. Gabriele fing die Hand ab, bevor sie ihr Gesicht traf.

»Tante de Sourdis«, sagte sie merkwürdig gelassen. »Einiges hast du vorhin geäußert, das mir Eindruck macht. Ich habe daher beschlossen, daß ich heute nacht weinen will.«

»Weinen. Gut, weinen.« Die Dame war schon beruhigt. »Und ihm deinen Körper vorenthalten?«

Hierauf antwortete Gabriele nicht, sondern öffnete die Tür, damit ihre Frauen hereinkämen.

Als sie zur Nacht nun schluchzte in ihre schönen Arme hinein, fragte Henri nach der Ursache nicht; und was Gabriele trotz ihrer schmerzlichen Haltung erspähte: er blickte nicht mehr auf sie und ihren falschen Schmerz, sondern unverwandt zu der geschnitzten Decke hinan; der Widerschein des Nachtlichtes kreiste droben und verfing sich. Gabriele verstand ihn nicht, aber die verabredete Bedrängung ihres Herrn wurde ihr überaus schwer. Sie bat unter verstärktem Schluchzen, daß er doch um Gottes willen abschwören möchte, denn er hätte es versprochen und es wäre der einzige Ausweg. Hörte er sie? Sein Ausdruck war der des Lauschens auf etwas Unbekanntes. Plötzlich ließ sie das vorsätzliche Jammern, verstummte ganz, und dann sprach ihr Herz. Seine echte Stimme war leise und kaum zu vernehmen.

»Wir werden einen Sohn haben.«

Sie vergaß, daß sie zweimal schnell mit den Wimpern geschlagen hatte, wie ertappt, als er sie die Mutter seines Kindes genannt hatte, und seither war er davon still gewesen. In diesem nächtlichen Augenblick wußte sie es nicht anders, als daß er wirklich der Vater wäre, blieb auch künftig dabei und zweifelte nie wieder. Denn dies ist der Augenblick, da sie anfängt ihn zu lieben, aus Mitleid und weil er unbegreiflich ist. Er aber hatte die zarte Stimme ihres Herzens genau unterschieden, er legte seine Wange an ihre, sie umschlang seinen Hals, und eine ihrer Tränen, die wahre, fiel in seinen Mund. Das war für diesmal ihre Vereinigung.

Sie schloß die Augen, ließ den Schlummer kommen, fühlte gleichwohl, daß er dalag wie vorhin und sein Geheimnis hütete. Sie fragte, schon aus dem Halbschlaf:

»Mein lieber Herr, was ist es nur, das Sie dort oben sehen?«

Er murmelte für sich selbst, denn ihr Atem ging tief: »Nicht sehen, hören will ich und warte auf ein Wort. Das Denken hilft nicht, nur das Lauschen. Wenn es in mir am stillsten wird, klingt eine Geige, ich weiß nicht woher. Sie hat einen dunklen Ton. War wahrhaftig die rechte Begleitung. Mir fehlt nur das Wort. Ich bin zu sehr erstaunt.«

Bei ihrem Erwachen fand Gabriele ihn nicht vor; er war wieder bei seinen Prälaten, die ihn in die Religion einführten, und das sollte die endgültige sein, Wahl und Prüfung waren nachher abgeschnitten. Daher behielten sie ihn heute, Sonnabend, den letzten Tag, fünf Stunden in einem Sitz, auch dachte er selbst nicht an Aufbruch, eher fürchtete er das Ende der Reden, die nur erst Reden waren.

In einem anderen Zimmer des alten Klosters zu Saint-Denis, wo der schwere Vorgang geschah, saßen beisammen die Geliebte des Königs und seine Schwester. Die Prinzessin Catherine war hier eingetroffen wie die Dame de Sourdis -- auch nicht anders gesinnt als diese; aber die Gesinnungen kleiden nicht jeden gleich. Ihr lieber Bruder sollte die Religion abschwören, damit er Ruhm erlangte. Sie hoffte, es werde ihm vergeben werden, gewiß war sie des guten Ausganges keineswegs; wußte nicht, ob bei Gott ein Königreich vor einer Seele kommt. Daher bemitleidete sie ihren lieben Bruder überaus; er ist das Haupt unseres Hauses, das herrschen soll, und muß dafür bezahlen: wollte Gott, nicht mit dem ewigen Heil. ›Zur Not‹, dachte Kathrin, ›hätte ich selbst den anderen Glauben angenommen, um mit meinem armen Soissons den Thron zu besteigen. Ich wäre verdammt, mein lieber Bruder aber wäre bewahrt. Jetzt wird er ein großer König sein, mein Soissons hätte nichts bedeutet, ich weiß es am besten. Hab im Ernst meinen lieben Bruder nie verraten gewollt: eher ihn retten.‹

In Wahrheit war sie nicht einfach hergereist, war eigentlich geflüchtet -- weil Soissons seinen Mißerfolg bei der Wahl auf Catherine schob. Er meinte, sie hätte gegen ihn und für ihren Bruder gearbeitet: weshalb der Abschied dieser beiden kalt gewesen war, eine ihrer Trennungen auf Widerruf. Man hat zusammen schon zuviel versäumt, als daß es sich lohnen könnte, auch noch die Gemeinschaft selbst, zu opfern. Sie werden sich, wie die anderen Male, wiederfinden, was Catherine gegen Angstgefühle einstweilen nicht schützte. Sie saß bei der Geliebten ihres Bruders, beklommen sowohl um ihn, als ihrer selbst wegen. Gabriele war aber nicht anders daran, und wenn sonst nichts, die Ahnung, die vermittels der bloßen Sinne jede von der anderen alsbald bekam, verband sie schon. Hierzu half noch mehreres, und das Wichtigste: Catherine wußte, daß ein Kind unterwegs war.

Sagten die Frauen einander ein Wort, dann wurde es geflüstert, und meistens schwiegen sie, wie die Spannung und ernste Luft dieses Hauses es geboten.

»Schon vier Stunden, daß sie ihm zusetzen. Hat er unterschrieben?« fragte die Schwester.

»Für morgen ist alles bereit. Mir sagt er nicht ja, nicht nein, er lauscht aufwärts und ist geheim«, antwortete die Geliebte. Eine lange Weile verging, bevor sie noch leiser anfing:

»Ich wollte doch, es bliebe ihm erspart. Gerade jetzt --« dies war so gut wie unhörbar, »wo ich erwarte. Wo er von mir einen Sohn erwartet.«

Die Schwester verstand durch das bloße Atmen der Geliebten, oder sie entnahm die Bedeutung der Worte aus dem schwachen Tasten ihrer Hand auf ihrem Leib. Sie umarmte Gabriele, sie sagte ihr ins Ohr: »Wir sind eine Familie. Mit dir erwarte ich dein Kind.«

Hiermit war ausgesprochen, was Gabriele im Sinn hatte, seitdem die Schwester ihres lieben Herrn bei ihr eingetreten war. Aufgenommen. Keine Fremde mehr. Fremd erschienen ihr dagegen die Berechnungen ihrer Tante de Sourdis. Sollte sie Königin werden, wahrhaftig Königin, dann kam es von Natur, durch ihren Leib, und weil die Schwester des Königs, die prüfend über ihn hinstrich, jetzt und künftig ihre eigene Schwester war.

Catherine ging sacht auf ihren Platz zurück. Dieses schöne Gesicht, so sah sie, zeigt Ermattung und Leiden, aber sie sind fruchtbar. ›Mein eigenes verwelkt umsonst und wird nie wieder aufblühen, auch als ein anderes, kleines nicht, denn ich werde kein Kind haben. Da sollte man nicht neidisch sein? Mein leichtherziger Bruder, diesmal bleibt er beharrlich und treu, dabei ist nichts zu machen. Gut, meine Liehe, aber Königin? Du wirst nicht Königin, warte nur, ich kenn ihn. Er hält dich hin, bis es zu spät ist.‹

Die Augen der Prinzessin rückten währenddessen durch das Zimmer, es war dürftig ausgestattet. Eine einzige Kostbarkeit: ein Bild der Mutter Gottes, besetzt mit zahlreichen Steinen in allen Farben. Als Catherine fragen wollte, errötete Gabriele und wendete sich ab; Catherine fragte nicht. ›Gut, meine Liebe. Sie haben dir große Geschenke gemacht, damit auch du ihm zusetzest -- mit Tränen, wie? Mit herzbrechendem Gestöhne, des Nachts während der Liebe.‹

Dies kaum gedacht, bedeckte Catherine ihre Augen, um zu sagen: »Verzeihen Sie mir. Sie haben an dem, was er tun wird, nicht schuld. Die liegt bei den Dingen und Menschen. Ihrer ist keines, das ihn nicht drängte, keiner, der ihn nicht verriete. Auch ich zu meiner Zeit, auch ich.«

Sie hatte zum erstenmal die Stimme erhoben, weil ihr Gewissen sprach. ›Mein armer Bruder!‹ Hier öffnete sich die Tür -- wurde nicht herzhaft aufgestoßen, als ob ihr Bruder käme. Aber er war es.

Da er aufsah, denn zuerst blickte er nur vor sich hin, und beide wahrnahm, die Liebsten, die er hatte, wurde er auf einmal laut und fröhlich. Er küßte sie, mit seiner Schwester drehte er sich umher, vor Gabriele kniete er hin, streichelte sie und lachte. Dennoch bemerkten sie seine Ungeduld, fortzukommen, und eigentlich war er bei ihnen nicht. Er verlegte sich auf die Nachahmung seiner Prälaten und Bischöfe, ihrer Stimmen und Gestalten. Der von Bourges hatte einen Schweinskopf, aber für den von Beaune war jeden Augenblick zu befürchten, daß er Flügel bekäme und die Himmelfahrt anträte. Die Frauen verfolgten alles, ohne das Gesicht zu verziehen. Plötzlich brach er ab, wendete das Ohr nach dem Fenster, lauschte, wartete, und ging hinaus.

»Das war er nicht«, sagte Catherine tief erschrocken. Gabriele aber ließ den Kopf sinken, aus Schamgefühl, denn bei ihr war er traurig geworden.

Henri stieg in den alten Garten hinab, es war seine Freistunde. Er verglich sie mit denen im Collegium Navarra, als er ein kleiner Schüler gewesen war, und mit zwei Freunden, die schon nicht mehr lebten, hatte er gespielt zwischen dem Unterricht. Plötzlich fand er sich an der Stelle, wo geführt vom Pastor La Faye die arme Esther ihm erschienen war. Zwischen dem und jenem lagen Unschuld, Schuld, das Wissen und die Unwissenheit. Er hielt an und vernahm hinter der Hecke ein Gespräch. Es wurde halblaut geführt, wie jedes andere an diesem befangenen, nicht geheuren Tage.

Eine Stimme: »Er wird seine alten Freunde umbringen. Wer A sagt, muß B sagen.«

Eine andere: »Später -- vielleicht. Wenn er's bis dahin nicht vergessen hat. Wir kennen ihn undankbar. Seine neuen Freunde sollen ihn erst noch ergründen.«

Die dritte: »Die Träne im Aug, vergeßlich, leicht -- aber wer von uns liebt ihn nicht?«

Die vierte: »Den nicht, der er ist. Aber den, der das kleine Schiff bis in den Hafen geführt hat.«

Schon trat Henri vor, da begann der erste nochmals: »Retten wir uns! Sehe jeder zu.«

»Unnütz, Turenne«, sagte Henri und zeigte sich. »Ich bin euer Mann, gedenk es auch zu bleiben. Das sollt ihr selbst bezeugen, wenn's an der Zeit ist.«

Aus den übrigen griff er Agrippa d'Aubigné heraus, zog ihn um zwei große Schritte beiseite und sagte ihm in das Ohr: »Für euch verlier ich mein Seelenheil.« Dies mit aufgerissenen, brennenden Lidern, nein, nicht die Träne im Auge, vergeßlich, leicht. Agrippa wurde vom Erbarmen geschüttelt. ›Den sollt einer von uns nicht lieben?‹

Dennoch war Agrippa der einzige, dessen Herz an ihm hing: was jetzt an den Tag kam, ob vorher die gefälligeren Umstände viel Freundschaft um Henri gleichmäßig verteilt hatten. Die Wärme des einen Menschen hielt ihn fest, noch diese Minute, bei der Gruppe verlorener Gefährten, bevor er weiterirrte, um nach seiner Gewohnheit allein zu sein und zu lauschen. Auf der anderen Seite der Hecke wendete er den Hals zurück nach Philipp Mornay, einem Gesandten, der mit den wichtigsten Meldungen angekommen war, und noch immer hatte der König ihn nicht empfangen.

»Herr Du Plessis, das kleine Schiff, Sie haben es mit mir zum Hafen gebracht; aber konnten Sie ihn wählen? Jetzt ist es dieser.«

Schnell gelangte er zum Rande des Gartens: die Vögel zwitscherten hier, nur leider waren sie nicht die einzigen. Über der niedrigen Mauer tauchten zwei Köpfe auf und nieder, bemüht, durch Verneigungen und gespitzte Lippen einander von ihren süßesten Gesinnungen zu überzeugen. Madame de Sourdis flötete: »Seien Sie doch unser Freund, Herr de Rosny. Im Grunde sind Sie es schon, da Sie uns brauchen, wie wir Sie.«

»Ganz so und keine Spur anders verhält es sich, verehrte Freundin« -- womit Rosny untertauchte, indessen Dame de Sourdis hochkam.

»Wer wird noch an die Großmeisterei der Artillerie denken«, sagte sie schelmisch und voll Zuversicht. »Für eine entflogene Schnepfe schießen Sie zehn.«

»Daß nur Sie nicht davonflattern«, bat der Baron und versank schon wieder.

»Der König wird sich scheiden lassen, um Madame de Liancourt zu heiraten. Raten Sie ihm gut, dann sind Sie selbst beraten. Spitzbube«, kicherte die Dame und ging unter. Statt ihrer erschien der Kavalier mit seinem Gesicht ohne Falten, das unbeschadet der Würde alles sagen konnte.

»Habe mit ihm im voraus den Plan gemacht, gute Dame. Er schwört nur ab, damit er seine liebe Herrin zur Königin erheben kann. Ist einmal der Streich gespielt, werden alsbald alle protestantisch, König, Königin und sogar Sie, gute Dame.«

Hier blieb die de Sourdis eine Weile unten, und als sie sich aufrichtete, waren ihre Augen hart. Sie hatte verstanden, daß sie verhöhnt wurde. »Das wird Ihnen leid tun«, zischte sie. Ihr Kleid pfiff durch die Luft, so schnell wendete sie. Eine Pforte schlug. Rosny, immer das unbewegte Gesicht, nahm im Garten den weiteren Weg, auf einer Bank saß der König. Er ließ seinen verständigen und treuen Diener nahe herantreten, bevor er seine gedämpfte Frage stellte:

»Und Ihre wahre Meinung, jetzt, in der letzten Stunde?«

»Sire, wenn der katholische Glaube im rechten Sinne erfaßt und empfangen würde, könnte er vom größten Nutzen sein.«

»Weiß ich von Ihnen längst. Sonst aber nichts?«

»Die andere Welt«, Rosny hielt an. »Für die verbürg ich mich nicht.« Sein glattes Gesicht bereitete sich umständlich auf ein Lachen vor. Ehe es ausbrach, war der König auf und davon. Was Rosny merkwürdig fand: er sang. Es dunkelte unter den Bäumen, und wie ein Kind im Dunkeln sang er.

Das Refektorium der alten Abtei war inzwischen beleuchtet worden, der Schein fiel heraus. Als er den König traf, hörte nicht nur sein merkwürdiges Singen auf, im Halbgeschoß droben endeten einige maßvolle Unterredungen, und die Rechtsgelehrten, die er zu sich berufen hatte, traten von den offenen Fenstern fort, um ihn zu erwarten.

Henri nahm die Stufen schnell. Der Gang vor der hellen Tür war um so dunkler, Henri konnte nicht gesehen werden, während er dort stand und den einsamen Saal überblickte; durch eine so kleine Versammlung wurde der Raum weiter und leerer. ›Die Meinen‹, dachte Henri -- und so sahen sie auch aus, die Präsidenten und Räte in abgenutzten Kleidern, tiefe Schatten unter den Augen, und diese glänzten vom Fieber, den Entbehrungen, der lange ertragenen Lebensgefahr. Justizbeamte wie ihresgleichen vor und nach ihnen, hatten sie dennoch im Namen des Rechtes hartnäckig der Gewalt widerstanden. Justiz ist allerdings nicht Recht. Man weiß sogar, daß sie gewöhnlich eine geschickte Vorkehrung gegen den Sinn des Rechtes und seine Ausbreitung ist. ›Kein einziger Hugenott bei ihnen‹, dachte Henri, ›dennoch haben sie gekämpft für das Königreich wie meine Alten von Coutras, Arques, Ivry, und ohne ihre Schlachten wären meine vergeblich. Sie haben es mit den Verfolgten gehalten, anstatt mit den Mächtigen, und standen zu den Armen gegen die großen Räuber. So mein ich es selbst, und habe wohl Tausenden und noch mal Tausenden von Bauern ihre Höfe zurückerobert, jeden einzeln, und das war mein Königreich. Das ihre ist das Recht: so meinen sie's mit den Menschen.‹

Er trat vor, den Hut auf dem Kopf, wie auch sie ihre schlechten Hüte oben ließen; er sprach sie an:

»Meine Herren Humanisten. Wir haben zu Pferd gesessen und das Schwert geführt, meine Herren Humanisten. Weil wir aber höchst streitbar waren, stehen wir jetzt hier, und das Tor unserer Hauptstadt ist für uns offen. Das Parlament von Paris hat es mir aufgemacht, da der abscheuliche Tod Ihres Präsidenten Brisson das erste Zeichen und die letzte Warnung war.«

Der König nahm den Hut ab und neigte die Stirn, dasselbe taten seine Parlamentarier. Nach Ablauf des stummen Gedenkens redete der Erste Präsident von Rouen, Claude Groulart; obwohl ein Katholik, wie sie alle, bestand er ganz auf der Sorge, daß der König seinen Glauben nicht abschwören möge, wenn es entgegen seinem Gewissen wäre. Henri antwortete:

»Ich habe nur immer mein Heil gesucht und allezeit gebetet zu der göttlichen Majestät, daß sie es mich möge finden lassen. Die göttliche Majestät gab mir zu wissen durch die unmenschlichen Greuel, die in Paris von anderen ausgeführt wurden, aber ich selbst mußte sie verantworten -- gab mir zu wissen, daß mein Heil dasselbe ist wie die Herstellung des Rechtes, und dieses ist die vollkommenste Gestalt, die ich vom Menschlichen kenne.«

Seine Worte waren nach dem Sinn der Rechtsgelehrten, laut riefen sie: »Es lebe der König.«

Henri wollte keinen Abstand mehr wahren, sondern ging mitten unter sie und erklärte den einzelnen vertraulich, wie schwer er es gehabt hatte mit Seiner göttlichen Majestät, bis sie seinen Übertritt guthieß. Er sagte nicht Todessprung, obwohl er es dachte. Es war ihm geschehen unter der Mauer seiner Hauptstadt, und drinnen war nur Grauen. Da bekam er es ernstlich mit Gott zu tun. Es heißt: Du sollst nicht töten; und dieses Gesetz ist so menschlich, daß es wahrhaftig von Gott sein könnte.

»Wie auch der König, der die Menschen achtet mitsamt ihrem Leben«, schloß ein anderer statt seiner. Er selbst wendete seine Sache zur Bescheidenheit und versicherte, daß hauptsächlich der Unterricht der Prälaten bei ihm Früchte getragen habe, und dank dem Heiligen Geist begänne er, ihren Lehren und Beweisen einigen Geschmack abzugewinnen. Worauf er seine Parlamentarier nach hinten zu einer gedeckten Tafel führte und ihnen andere Früchte als die geistlichen darbot, Melonen und Feigen in Menge, sowie reichlich Fleisch und Wein. Sie hatten lange dergleichen nicht genossen, befriedigten ihren Hunger, und als jemand aufsah, war Henri fort.

Er legte sich nieder, ohne daß er gegessen hatte, und schlief sofort ein. Als er erwachte, war Morgen, und an sein Bett trat Pastor La Faye. Henri ließ ihn hinsitzen, er umfaßte mit seiner Hand den Nacken des alten Mannes und fragte ihn nochmals: ob es wahr wäre, daß die Eigenschaften des Menschen mit der Zeit ihren Sinn ändern, wie La Faye es ihm vorgehalten hatte. So wäre es, erwiderte der Pastor.

»Und auch sein Glaube?« fragte Henri weiter. »Bedeutet er jetzt das Falsche, wenn er früher das Wahre gewesen ist?«

»Sire! Ihnen wird verziehen. Gehen Sie nachher zur Kathedrale mit Freuden, damit unser Herr und Gott sich freut.«

Henri saß aufgerichtet, er stützte die Stirn gegen diese welke Brust, die ihn trösten wollte. An der Brust des Pastors aus Jugendtagen sprach er:

»Ganz und gar weltlich sind meine Gründe, weshalb ich abschwöre und übertrete. Ich habe von ihnen drei. Erstens furcht ich das Messer. Zweitens will ich meine liebe Herrin heiraten. Drittens tracht ich nach meiner Hauptstadt und ihrem ruhigen Besitz. Jetzt sprechen Sie mich frei.«

»Ihre Qual war groß, darum sprech ich Sie frei«, sagte Pastor La Faye und ging.

Sein Erster Kammerdiener Herr d'Armagnac kleidete den König ganz in Weiß -- wie einen Firmling, sagte Henri für sich. Wie einen neuen Menschen, man würde nicht glauben, daß es das fünftemal ist. Ein Gott sähe dabei längst nicht mehr zu. Der Teufel, wenn es ihn gibt --.

»Daß Sie vorher kein Bad nehmen wollten«, mahnte d'Armagnac.

»Nachher werd ich es nötiger haben«, erwiderte Henri. Dem Ton entnahm der kundige Mann, daß er gehen mußte.

Henri blieb allein, verstand aber nicht, zu welchem Ende er es gewünscht hatte. Warum ist Gabriele nicht hier? Nach schweigender Übereinkunft teilt sie heute das Zimmer mit Kathrin, Alle sind gegangen, indessen soll er alsbald abgeholt werden mit Gepränge und großem Andrang, damit ganze Mengen Volkes ihm zusehen, wie er abschwört. Nicht nur abschwören, was er gewesen: den Frieden machen mit der Mehrheit und ihresgleichen sein. ›Was bin ich? Ein Sack voll Staub wie die anderen. Hab noch bis gestern besonders getan und um Worte gestritten mit den Prälaten. Gott hat nicht hingehört, ihn langweilen die Dinge des Glaubens, und ob ein Bekenntnis oder das andere, ihn rührt es nicht. Er nennt unseren Eifer kindisch, unsere Reinheit aber verwirft er als baren Hochmut. Meine Protestanten kennen ihn nicht, da er sie diesen dornigen Weg nie geführt hat, und maßen sich an, Verrat zu sagen, wo einer dem Leben folgt und gehorcht der Vernunft.‹

Seine Beschäftigung war indessen nicht, zu denken; sondern über seine festliche Tracht, weiße Seide dick mit Gold bestickt bis zu den Fußspitzen, hängte er um die Schulter den schwarzen Mantel, setzte auch den schwarzen Hut auf und bog den schwarzen Federbusch, damit er nickte. Unverhofft vernahm er den Geigenton, denselben, der schon einige Male sich anmelden wollte, wenn er gelauscht hatte während dieser beanspruchten Tage; und das gesunde Wort war ausgeblieben, kam nichts als nur der eingebildete Anflug von Musik. Da dieser jetzt zunahm, als war er nicht mehr eingebildetes, sondern wirkliches Spiel, begriff Henri, daß er fertig und in Ordnung war, mit seiner Meditation so gut wie mit seinem weißgoldenen, tiefschwarzen Anzug. Er hatte seine Meditation tätlich abgehandelt in Schrecken, Zweifeln, Erhebung und Versöhnung, wie die Seele ihre Schöpfungen erbaut aus Berechnung und Traum. ›Für euch verlier ich mein Seelenheil! Dies ächzte ich, obwohl ich bald nachher auftrumpfte, mein Heil wäre das wiederhergestellte Recht. Sang im Dunkeln, weil einer mir Furcht machte vor der anderen Welt. Weiß aber doch, daß wir geboren sind, die Wahrheit zu suchen, nicht, sie zu besitzen: gerade dies kann nur die jenseitige Macht. Ich soll diesseits herrschen; hier nun ist mein Schrecken das Messer. Ein schlimmes Geständnis, ich hab es dennoch gemacht. lieb ich mehr Gabriele? Furcht ich das Messer mehr? Halt aber auch die Unmenschlichkeit für das ärgste der Laster, und nichts, sogar die Frau nicht, verehr ich wie die Vernunft.‹

Gleichzeitig und mühelos glitt dies alles durch seinen befreiten Sinn, weil er es vorher abgehandelt und erfahren hatte, er wußte schon nicht mehr, wie bedrängt und dunkel. Sondern er meinte durch reinen Zauber, wie Musik, in das hohe Glück versetzt zu sein, weiß und golden, meine Lieben, aber der Ton der Geige schwingt nunmehr voller und süßer, obwohl sie nicht gerade meisterhaft gespielt wird. Wer sollte das sein, wenn nicht Agrippa. Henri tritt auf den Balkon hinaus, hinter dem nächsten Gebüsch unterscheidet er die Hand, die den Bogen führt. Er lacht, winkt, und Agrippa zeigt sich in seinem gewöhnlichen Wams, kein Festkleid, zur Kirche wird er nicht mitgehen. Er wird nicht zugegen sein, wenn Henri die Religion abschwört; aber er spielt ihm auf, beseelter Klang des Instrumentes, das Viola d'amour heißt.

Zuerst bebte ihm etwas das Kinn, denn bekanntlich, man ist der Leichtsinn, dem die Tränen locker sitzen. Rechtzeitig bemerkte er, daß sein guter Agrippa sich lustig machte in aller Unschuld und Liebe. Da kniff auch Henri ein Auge zu, und das taten sie abwechselnd, drunten der alte Freund mit seiner Huldigung aus Ironie und Tröstung, hier oben der weiße Firmling, sein Bart ist grau, die Haut verwittert. Zuletzt verloren beide ihre anständige Haltung; Henri machte eine Dame im vollen Staat, die ein Ständchen bekommt, Agrippa aber fiedelte und wollte dazu noch krähen, was nicht mehr anging. Die Glocken der Kathedrale setzten ein, und gleich mit voller Macht. Die beiden erschraken davon, der eine verschwand im Gebüsch. Der andere war mit einem Sprung in dem Zimmer, zog seine Kleidung zurecht, strich über den Federbusch, damit er gehörig nickte -- und schon ging auch die Tür auf. Sie holten ihn.

 

Die Vereinigung

Das ist der Tag, den Gott gemacht, fünfundzwanzigster Juli 1593, er kann nur tiefblau und außerordentlich warm sein. Das Volk von Paris hat es vorher gewußt, es hat sich gerüstet mit zierlicher Gewandung, sofern sie über die Zeit der Not gerettet werden konnte. Die Leute haben die Arme mit Blumen beladen, ihre Hände sind beschwert von Körben voller Lebensmittel. Dieser ganze Sonntag soll in Saint-Denis verbracht werden, da der König abschwört und sich bekehrt, was eine sehenswerte, aber zeitraubende Veranstaltung ist, allenfalls könnte die ehrwürdige Stunde des Mittagessens darüber versäumt werden. Es sei entschuldigt um der Seltenheit des Ereignisses willen. Wird man sich denn nachträglich auf den Wiesen lagern. Die Körbe setzt man vorher ab, gestohlen wird nicht, wir freuen uns alle.

Die Blumen aber werden auf die Straße gestreut, den ganzen Weg des Königs entlang. Er soll in Weiß gekleidet sein, das Gerücht hat es ermittelt und trägt es voraus. Seine weißseidenen Schuhe werden vom Saft der Rosen gefärbt werden. Die Frauen glauben fest, daß er ein schöner Prinz ist, und ihre Liebe soll seine Schritte in die Farbe der Rosen tauchen; deshalb schieben und stoßen sie einander über den Damm, bis mehrere umfallen. Was weniger ihnen selbst mißbehagt, als den Garden. Zuerst warnen diese; das wird nicht gehört im Getöse der Kirchenglocken und bei soviel vorweggenommener Begeisterung. Darauf wenden die Soldaten ihre gute Kraft an, nicht die böse, und so gelingt es dem Regiment, die beiden Ränder der Straße zu besetzen. Es ist der Augenblick, da der Zug erscheint.

Was bemerkt der König, nun er den schmalen Durchgang betritt zwischen Massen gestauten Volkes? Er sieht bunte Gewebe aus den Fenstern hängen, er sieht den Boden von Blumen bedeckt, und noch immer werfen Kinder über die Köpfe der Garden hinweg Rosen. Alle Leute tragen die weiße Schärpe der Königlichen, glücklich sind alle Gesichter -- manche fromm versunken, andere mit hin und her bewegter Zunge vor heftiger Erwartung, aber die meisten schreien: »Es lebe der König!« Die größeren Stimmen der Glocken nehmen die Rufe auf; sie bleiben arm und niedrig zufolge der Gewalt des Vorganges -- und nahe betrachtet, verraten nicht auch die Gesichter einen Rest Ängstlichkeit? Der König denkt: ›Fünf Jahre der Angst, Not und schlechten Leidenschaften liegen hinter ihnen. Hätt ich nichts weiter getan, als ihnen dieses Fest zu geben, es wäre beinahe genug. Soll aber besser kommen, kann niemals genug sein für die Erwartung so vieler Menschen.‹ Hier hätte er den Kopf senken wollen unter dem Druck des natürlichen Unvermögens; kann man Menschen glücklich oder auch nur alle satt machen? Mußte ihn aber hochhalten, damit sie den Ruhm und die Macht erkannten, seine und ihre.

Das Volk erblickt ihn umgeben von Prinzen und Herren, Beamten der Krone, Edelleuten und Rechtsgelehrten, diese zahlreich. Aus seiner Familie gehen nicht viele mit, immerhin, der Graf von Soissons ist zuletzt noch eingetroffen. Voran und hinterher Leibwachen und Schweizer mit Trommeln, die sie nicht rühren. Zwölf Trompeten werden stumm vor den Mund gehalten, des Glockengeläutes wegen und um der Handlung ihre Heiligkeit zu lassen. Das empfindet das Volk, es ist der Dinge im Grunde wohl bewußt -- wenn es den Greuel und die öffentliche Trunkenheit mitmacht, wenn es der Größe und Güte beiwohnt. Erfreut sich allerdings der prachtvollen Kleidung seines Königs, seiner straffen Gestalt und soldatischen Miene. Der hohe Bogen der Brauen ist aber schmerzlich, die Augen zu weit aufgerissen; vierzig Jahre oder etwas mehr, und ein so sehr ergrauter Mann. Es ist nicht sicher, wieviel Reue, wieviel eigener Jammer anklopfen möchten bei allen diesen langjährigen Feinden des Königs -- haben sich etwas verspätet besonnen, ihn zu feiern und stehen als willige Masse jetzt da. Hier war es auch, daß in dem allgemeinen Schrei des Lebehochs einige Stimmen wider Willen abstarben. Einige Knie versuchten eine Beuge -- kamen nur nicht weit damit in der Dichte von Menschen.

Eine Gevatterin, die gewiß erfahren war und mehr gesehen hatte, sagte vernehmlich für ihre Umgebung wie für den König, der vorüberkam: »Der ist ein schöner Mann. Er hat eine größere Nase als die anderen Könige.« Worüber ganz unverhältnismäßig gelacht wurde. Der König hätte gern angehalten; seine angestrengten Brauen legten sich bequemer. Noch einmal war er versucht, stehenzubleiben, als mehrere Zuschauer in abgewetzten Lederkollern ihn schweigend, unverwandt betrachteten -- oder wenn ihn nicht, dann seinen Hut: daran leuchtete der weiße Amethyst. ›Hab ihn zuletzt bei Ivry getragen. Die Alten hier sind von weiter her, die sahen ihn schon bei Coutras.‹ Er suchte ihre Augen, sie trafen genau in die seinen, und er wendete den Hals, bis andere sie ihm verdeckten.

Am Fuß der Kathedrale, bevor Henri die unterste der Stufen betrat, wurde ihm nicht wohl. Es war ein sehr eigenes Gefühl, er verliert den Weg unter den Füßen; obwohl die Pflastersteine natürlich vorhanden sind, müssen sie ertastet werden, und auch die Gegenwart der Menge wird schwach, Gesichter und Stimmen entfernen sich. Dies geschah während der Dauer eines Schrittes; dann wurde alles wie vorher, nur daß Henri, indessen er die Rampe erstieg, noch diese Erinnerung behielt: blinzelnder Riese. Im Gedanken an einen Riesen, der unter Geblinzel das Funkeln seiner Augen versteckt hatte, verließ er die unterste Stufe: von da an war er mit Leib und Seele bei seiner Aufgabe.

Er trat durch das große Portal ein. Fünf oder sechs Fuß weiterhin fand er sich vor dem Erzbischof von Bourges, der saß auf weißem Damast in einem Lehr- und Gerichtsstuhl, um ihn her die Prälaten. Es fragte der Erzbischof, wer er sei, und Seine Majestät antwortete: »Ich bin der König.« Besagter Herr de Bourges, der keineswegs mehr den früher bemerkten Schweinskopf hatte, sondern wie er dreinschaute, war Würde, und was sein Mund sprach, war geistliche Macht -- dieser begann nochmals: »Was verlangen Sie?« -- »Ich verlange«, sagte Seine Majestät, »aufgenommen zu werden in den Schoß der katholischen, apostolischen, römischen Kirche.« -- »Wollen Sie es aufrichtig?« sagte der hohe Herr von Bourges. Worauf Seine Majestät zur Antwort gab: »Ja, ich will und begehr es.« Und hingekniet auf ein Kissen, das der Kardinal du Perron ihm unterschob, legte der König nunmehr sein Glaubensbekenntnis ab -- vergaß auch nicht sich zu verwahren gegen jede Ketzerei, und die Ketzer schwor er auszurotten.

Dies alles war angehört, und sogar das selbstgeschriebene Bekenntnis seines neuen Glaubens überreichte der König dem Erzbischof, der sitzend die Hand ausstreckte: da endlich bequemte sich der Erzbischof von seinem Stuhl. Einen flüchtigen Schatten lang glaubte man während seines Aufstehens, daß er zögerte und wüßte nicht weiter. Das kam von dem angestrengten Blick Seiner Majestät, den aufgerissenen Augen, dieselben, die bei Ivry eine Anzahl feindlicher Lanzenreiter gebannt und aufgehalten hatten, bis die Hilfe nachrückte. Hier dagegen erwartet niemand die Seinen, vielmehr ist er der Unsere. Daher erhob der Erzbischof sich vollends. Ohne daß er die Mitra vom Kopf nahm, gab er dem König das Weihwasser, ließ ihn das Kreuz küssen, erteilte ihm Ablaß und Segen.

Sowohl Herr de Bourges wie Henri kannten genau die weitere Reihenfolge, nur kostete es viel Mühe, durch die Kirche in den Chor zu gelangen: das Volk quoll über das Schiff, bis unter die Gewölbe hing es, und keine Öffnung der bunten Scheiben, durch die nicht Leute krochen. Im Chor hatte Henri einfach seinen Schwur zu wiederholen; diesmal erlaubte er sich einige Ungeduld und mehrere Flüchtigkeiten. Dann ging es hinter den Hochaltar, und beim Gesang des Tedeums beichtete Henri: so war die Annahme. In Wirklichkeit verschnaufte Herr de Bourges hörbar, Henri schloß die Augen, und wenig wurde gesprochen. ›Meine liebe Herrin‹, dachte Henri. ›Ich durfte nur von unten auslugen: weiß sie, daß ich sie hinter dem Pfeiler bemerkt habe? Schöner als die Frauen des Paradieses, verheißungsvoll wie die Nacht, und wär es schon glücklich Nacht!‹ Dies wünschte er sich aus einem besonderen Grunde, weil er auf seinem Weg durch das Gedränge von einem der Seinen ein gewisses Wort gehört hatte. Wenn das die Seinen sagen, was denkt erst Herr de Bourges? War doch der Mann ein richterlicher Beamter; hatte mit den anderen seinen Herrn im feierlichen Zug zur Kathedrale geleitet. ›Jetzt hab ich den Todessprung vollführt, da raunt er Unheil. Sein Nachbar hat ihn nicht verstanden bei dem Lärmen der dichten Menge. Nur ich, der Ohren hat, vernahm das Wort: eine Voraussage, schrecklich und schlimm.‹

Hiernach hörte er die Messe, der Erzbischof von Bourges zelebrierte sie, und war für den König ein Oratorium erbaut, roter Samt und goldene Lilien; der Himmel aus Goldstoff. Der König empfing die Kommunion. Jetzt war der schwierige Vorsatz, den Zug zu bilden, damit er in derselben Ordnung wie vorher, nach der Abtei zurückkehrte, dort wartete das Mittagessen. Die Personen aus der Begleitung des Königs waren inzwischen einzeln abgedrängt worden, es währte lange, bis die meisten aus dem Gewühl wieder herausfanden. Sogar dann vermißte Henri unter den Edelleuten seinen Chicot, den sogenannten Narren -- hatte aber gerade ihn gerne bei sich, denn Chicot war ein Glückspilz. Hallo, was geht da vor? Unter dem spitzen Gewölbe ist Streit und Geschrei, wer zuerst loskommt von dem langen Drachentier: das steht aus einem Pfeiler oben vor, und ein menschlicher Knäuel umklammert es mit Armen und Beinen. Jemand stößt ab und saust durch die Luft. Hallo, Chicot.

Er saust, stürzt, reißt Leute um, aber einem großen Kerl, der mit allen vieren daliegt, kommt Chicot rittlings auf den Nacken zu sitzen. Zerrt ihn, als wär's eigene Lebensangst, an den haferblonden Haaren, bis das pockennarbige Gesicht des Kerls offen hinaufgewendet ist -- und Henri erkennt es, oh, dies Blinzeln ist ihm seit kurzem bekannt. Der Kerl wird hier und jetzt von Wut verzerrt, merkwürdigerweise auch von Schmerz, obwohl Chicot ihn immer nur an den Haaren zerrt. Macht keine Anstrengung, mitsamt seinem Reiter hochzukommen, ein so gewaltiger Kerl er ist. Gibt sichtlich sogar das Kriechen auf, weil es ihn schmerzt, man sieht nicht warum; aber noch bei seinem Austritt aus dem Portal hörte Henri den Kerl dahinten brüllen. Er dachte sich das seine, führte inzwischen den edlen Zug durch alles andrängende Volk, die Garden dämmten es nicht mehr ein. Auch achteten Trommler und Trompeter das Glockengeläute nicht mehr, sie lärmten nach Kräften dagegen.

Ein Aufenthalt entstand an der Ecke, wo ein krummes Gäßchen einmündete. Hunderte waren vermittels ihrer Ellenbogen bestrebt, an den König zu gelangen und ihm nahe in das Gesicht zu sehen; wem aber wurde es zuteil? Niemandem sonst als einer uralten Frau: die stieß keiner fort, und so fand sie sich auf einmal, von allen gesondert, vor dem König Henri, wußte gar nicht, wie ihr geschah. Da er nun ihre beiden Hände erfaßte, küßte sie ihn mit ihren Lippen, die für diese Gelegenheit noch einmal weich wurden, auf den Mund. Zu der Neunzigjährigen sagte hiernach der König: »Meine Tochter.« Er sagte: »Meine Tochter, das war ein guter Kuß, ich will seiner gedenken.« Blumen, die ihm zugeworfen wurden, sammelte er zu einem Strauß, legte auch ein Band herum, man reichte es ihm, und eine so schöne bunte Garbe schob er in den Brustlatz der Urahnin, daß alles Volk vergehen wollte und raste vor Rührung.

Eine Weile wendete Henri das Gesicht nach verschiedenen Richtungen, damit sie es sähen und seines Einverständnisses versichert wären. Hierbei traf er in das krumme Gäßchen und gewahrte als einziger, obwohl er nichts davon merken ließ: Chicot führte den Kerl ab. Er hielt ihm die Arme auf dem Rücken fest, der Kerl, dreimal stärker, wehrte sich nicht, er humpelte, er krümmte den ungeheuren Rücken. Chicot, lang und dürr, überragte ihn mit seinen eckigen Schultern. Den Hut hatte er verloren, sein sonderbarer Schopf war aufgestanden über der kahlen Stirn, und da er seinen Gefangenen genau im Auge behielt, wurden die Hakennase, die engen Wangenknochen und der kühn gebogene Kinnbart besonders scharf in die Luft gezeichnet. Wo die krumme Gasse ein Knie machte, hielt jenes bucklige Häuschen den geschmiedeten Zierrat mit dem trockenen Kranz hinaus, unverkennbar ein Wirtshaus, wird ganz vereinsamt sein zu dieser Zeit, da die Stadt und alle Fremden mit dem König gehen, den anständigen und einzigen gebotenen Weg zum Mittagessen. ›Mögen Chicot und sein Riese nur eintreten und in der leeren Trinkstube ihre Sache verhandeln. Wird danach sein, kann mir's denken.‹

Henri hatte Hunger wie alle; ja, die Freude an dem schönen Fest ihrer Vereinigung mit dem König verdoppelte ihre Eßbegier wie auch seine: zu schweigen, daß er heimlich erleichtert war und aufatmete seit dem Blick in das krumme Gäßchen. Im Refektorium der alten Abtei war sein erstes, zu rufen: »Alle herein!« Daher zogen die Wachen ihre Hellebarden von der Tür fort, und auf einmal war der Saal vom Volk so voll wie vorher die Kirche. Das Gedränge hätte den Tisch mit allen Speisen umgestoßen. Glücklicherweise herrschte gute Laune, und eine Menge, die ihren König soeben erst für sich gewonnen hat, ist beflissen, nichts zu verderben. Lieber treten sie einander auf die Füße, als daß sie eine Schüssel herabwürfen. Andererseits verteilten die Herren des Königs alle erdenklichen Höflichkeiten -- nicht, daß er sie ihnen befohlen hätte; einem gemeinen Mann machten sie Platz an der Tafel und sprachen mit ihm.

Die meisten waren nur bedacht, den König zu sehen, da er ein merkwürdiger König war und sie vielfach beschäftigt hatte, bevor er ihnen zu Gesicht kam. Da saß er obenan, auf seinem erhöhten Platz für sich allein. Sein Appetit läßt nichts zu wünschen, bemerkte jeder, der wollte. Er gönnt auch uns was Gutes; die Zeiten sind nicht mehr, als wir seinetwegen das Mehl von den Friedhöfen aßen. Er sieht nicht aus, als hätte er es gern dahin gelangen lassen. Das waren schon die Besinnlicheren, die soweit gingen. Er ähnelt nicht den Bildnissen, die sie uns auf den Pariser Kanzeln von ihm gemacht haben, kein apokalyptisches Tier, nicht einmal ein gewöhnlicher Wolf. Ich, der ruhige Bürger, denn trotz der Ausgelassenheit der Zeiten war ich im Seelengrunde nur immer ein ruhiger Bürger, ich werde in Zukunft bezeugen, daß er aussieht wie du und ich. Jetzt kriech ich nicht mehr in seinem Garten hinter Büschen, um ihn zu ertappen, knie nicht im Lehm und die Augen werden blöde, so daß ich nachher nicht weiß: war er groß oder klein, bekümmert oder lustig. Jetzt betracht ich ihn unverlegen. Schon begibt man sich auf die Wiesen zum Mittagessen, im Saal wird Platz, ich könnte ihm wünschen: Wohl bekomm es Ihnen, Sire! Soweit geh ich nun doch nicht. Liegt es an seiner vornehmen Tracht? An seinem grauen Bart und den erhobenen Brauen? Der Grund ist, daß er alle, alle zu sich hereingelassen hat, nicht ausgenommen die Kranken und die Bettler. Ich möcht es nicht wagen in meinem Haus. Wer muß er sein.

Soviel einmal festgestellt, schlich diese Person, eher als daß sie noch trabte, zu den übrigen auf die Wiesen. Getafelt wurde lange. Einige Male erhob Henri sein Glas bis zu den Augen, bevor er es an den Mund führte; dann gaben ihm alle Bescheid, sie wendeten ihm die Gesichter zu -- auch der Parlamentarier, den Henri meinte und ansehen wollte. Der war ein Rechtsgelehrter nach seinem Sinn, gefaltete, aber leuchtende Augen. Hatte eingesunkene Schläfen und volles weißes Haar, der ehrliche Bart beschützte den ironischen Mund. Der Richter hatte erst unlängst gehungert, aber mit Ironie. Er hatte im Kerker gelegen voll begründeter Zweifel an dem menschlichen Treiben, das nicht nach seiner Natur geprüft und vom mitgeborenen Rechte der Sterblichen nicht bestätigt war, sondern nur Macht und Schwäche bestimmten das zufällige Treiben: es hing vom Zorn ab. Seinen Unstern hatte er verglichen mit dem der mißhandelten Kinder, die Krüppel bleiben, und die öffentliche Sache weiß noch nicht, daß es ihre eigenen, beschädigten Glieder sind, soweit entfernt befindet sich die öffentliche Sache bis jetzt vom Recht.

Henri liebte den Mann, sonst hätte sein aufgefangenes Wort ihm nicht viel ausgemacht, man hört manches, besonders mit geübten Ohren. Vorhin im Dom, Henri hatte soeben abgeschworen, er ging an dem Mann vorbei. Der flüsterte zu seinem Nachbarn, im Lärm verstand nicht dieser das schreckliche und schlimme. Wort, nur Henri fing es auf. Jetzt setzte er das Glas nieder, winkte, und der Rechtsgelehrte kam zum Sitz des Königs. »Freund und Gefährte«, redete Henri ihn an.

»Als Sie auf dem feuchten Stroh lagen und leicht, wenn nicht die königliche Sache gewann, konnten Sie am Fenster hängen, gestehen Sie es nur, Freund und Gefährte, daß Ihr Puls schnell ging. Sie waren kein Zweifler mehr, wie Sie es gerne gewesen wären, sondern in Ihrer Erregung hätten Sie Ihre Feinde gevierteilt, geköpft und auf dem Scheiterhaufen verbrannt: gesetzt, daß in demselben Augenblick Sie selbst der Herr geworden wären und Ihre Feinde Ihnen ausgeliefert.«

»Sire! Sie sagen es. Die reine Wahrheit ist, daß ich, die Stunden der Besinnung ausgenommen, in meinem Gefängnis so und nicht anders gewillt war. Als ich indessen herauskam, war ich abgekühlt und wollte niemand mehr töten.«

Näher zu ihm geneigt, fragte Henri: »Wären Sie nun so sehr der Herr, daß Sie nicht nur zu töten vermöchten: sondern Sie könnten sich mit denen, die Ihre Feinde waren, vereinigen durch ein bloßes Glaubensbekenntnis?«

»Sire! Ich hätte es abgelegt, wie Sie.«

Hier erblaßte Henri und sprach: »Jetzt erkenne ich erst, wie schlimm und furchtbar ist, was Sie unter dem Gewölbe und bei dem Pfeiler zu einem Mann sagten, er trug einen grünen Mantel.«

»Sire! Auch ohne den grünen Mantel wüßte ich mein Wort noch. Wollte Gott, daß es falsch ist. Ich bereue, daß ich es Sie hören ließ.«

»Ist es, wie Sie gesagt haben? Dann wär all euer Recht umsonst. Ihr seid keine Richter, wenn ein Mensch bestraft werden soll, weil er weniger schuldvoll handeln und sich vereinigen wollte.«

»Wer spricht von Strafe«, sagte der andere -- zu laut für diese Tafel, so belebt sie war. »Es handelt sich um eine ganz ruchlose Untat, die ich befürchtete.«

»Und für die ich reif wäre«, schloß Henri.

Der Rechtsgelehrte konnte sich für entlassen halten. Er machte eine beschwörende Wendung zurück, um eine letzte Abbitte zu hinterlassen. Er kleidete sie in Sätze des Humanisten Montaigne. »Ein Mann von guten Sitten kann falsche Meinungen haben. Die Wahrheit kommt vielleicht aus dem Munde eines Bösewichtes, der gar nicht an sie glaubt.«

Henri sah ihm nach. ›Natürlich, das alles haben wir von unserem Freunde Montaigne. Es ist genau die Weisheit, die ein kränklicher, aber standhafter Edelmann, mein alter Bekannter, aus uns allen schöpft und gibt sie uns vollendet zurück. Um so schrecklicher das Wort, das ich im Gedränge auffing, um so schrecklicher und schlimmer.‹

Hiermit im nächsten Zusammenhang gedachte er seines Narren. Was wird inzwischen aus Chicot und seinem Wilden? Man sollte nachsehen, welcher mit dem anderen fertig geworden ist. Henri war im Begriff, Soldaten auszuschicken nach dem buckligen Wirtshaus im krummen Gäßchen. Er unterließ es aus mehreren Gründen, nicht zuletzt aus Selbstachtung. So oder so wäre zutage gekommen, daß er Furcht hatte. Aber unerwartet stand er vom Platz auf, seine Gäste hätten sonst noch Stunden getafelt.

Zurück zur Kirche, denn als geistliche Nachkost sollte eine Predigt des hohen Herrn von Bourges genossen werden, und auf ihr letztes Amen folgte alsbald Abendandacht. Beflissen hörte Seine Majestät allem zu. Stieg dann wohl zu Pferd, aber nur, damit er in einer anderen, entfernten Kirche sein Dankgebet verrichtete. Als er zu Saint-Denis wieder eintraf, wurde es Nacht, Freudenfeuer brannten: Menschen, die ihre Eßkörbe sowie den Kelch der Begeisterung heute geleert hatten, tanzten um die großen Fackeln, die Rüstigen auf einem Bein, und wer nüchtern zusah, verkannte schwerlich, daß ihre Freude keinen Grund mehr hatte. Am Morgen früh hatten sie ihrem König zugerufen, weil er ihnen zuliebe den dornigen Gang tat und um geschehener Leiden willen, die begütigt werden sollten, sich mit ihnen vereinigte.

Jetzt zur Nacht empfingen sie ihn ungleich lärmender, er fand darin keinen Sinn, war übrigens ermüdet von diesem Tag, mehr und tiefer, als wäre von früh bis spät eine Schlacht gewesen. Hielt zu Pferd und dachte: ›Was aber ist seither im Wirtshaus vorgegangen. Davon wissen sie nichts. Tanzen um die Flamme. Sogar Freudenfeuer verbrennen die Haut, schreit nur auf, wenn ein anderer Dummer euch hineinstößt. Ich ritte jetzt nach dem Wirtshaus. Fand es wohl leer, auch dort wird's aus sein wie dieser Tag, und ich bin herzlich müde.‹

Die alte Abtei lag ohne Licht, wer hätte ihn wohl erwartet. Nicht seine liebe Herrin, wenn sie gewiß auch lag und lauschte. Aber weder rief sie ihn, noch wünschte sie, daß er bei ihr eintrete. Allein sein, bis die Sonne kommt, etwas anderes getrauen wir uns nicht, sind durch Ahnung einer vom andern benachrichtigt, ob eine Stunde schwierig oder geheuer ist. Aber nach seinem Bade verlangte er jetzt, und sein Erster Kammerdiener Herr d'Armagnac ließ sogleich alles Gesinde um Wasser laufen. Von den Geräuschen des eiligen Wesens im Dunkeln wurden einige Personen aus ihren Betten vertrieben, darunter Protestanten, und diese waren vorschnell im Urteil. Er wäscht sich von seiner Sünde, da er eine so schöne Messe gehört hat!

Das war es nicht.

 

Geschichte eines Anschlages

Chicot, lang, dürr und ohne Hut, hielt dem Kerl die Arme auf dem Rücken fest, der Kerl humpelte und beugte den ungeheuren Rücken. Als sie dergestalt dahinschlichen durch das krumme Gäßchen, das sonst leer lag, auch keine lahmen Greise sahen aus den Fenstern: welcher von beiden führte eigentlich den anderen? Chicot schien seinen lieben Freund zu stützen, damit dieser nicht umfiele vor unbegreiflicher Schwäche -- wenn er ihn nicht vielmehr bemeisterte und in Verwahrung brachte. Nun kannte nur einer von ihnen den Weg; das war der Narr des Königs nicht, es war der Kerl. Der wußte Bescheid im krummen Gäßchen, war unversehens, unter Gewinsel um die Ecke gestolpert, und auch das Wirtshaus lag ihm schon im Sinn, als sein Gefährte noch nicht einmal ahnte, wohin er geriet. Er meinte bis jetzt nichts weiter, als daß sie aus dem Gedränge heraus und für den festlichen Zug des Königs kein Ärgernis wären. Dort draußen blieben alle bedacht, die ehrwürdige Stunde des Mittagessens einzuhalten. Hier drinnen duftete es nach keinem warmen Schmalz, sondern der Schatten wurde modriger mit jedem Schritt. Der Tag war heiß, die Kühle dieses krummen Gäßchens erfrischte es doch nicht: das Gäßchen nahm nur Gelegenheit, seine angesammelten Laster auszudünsten, das erste Haus seinen schmutzigen Geiz, das nächste seine armselige Unzucht, das letzte schwitzte eine unheimliche Feuchtigkeit und roch nach einem Mord, der nicht entdeckt war.

Der Kerl konnte nicht weiter, oder tat so. Allerdings rann unter seinen Füßen eine Blutlache zusammen: Chicot wußte zur Genüge, woher und wie. Er wartete immer noch, daß eine Streife käme, dann hätte er den verunglückten Königsmörder, dies und nichts anderes war sein Fang, den Soldaten übergeben. Kam aber keine. Statt dessen wurde sein Riese zu schwer, fiel ihm aus der Hand und gegen die bauchige Mauer eines kleinen Hauses. Chicot mußte ihn hinaufstemmen, sonst rutschten sie beide schief abwärts. Diesmal hätte der Kerl auf Chicot gelegen. Der konnte ihn nicht einmal beim Namen rufen, denn der Name war dem Kerl nicht anzusehen, nur daß er ein ausgedienter Soldat sein mußte. Der sogenannte Narr pfiff nach Hilfe. Nun zeigte der Wirt sein Gesicht, das auch ein Allerwertester sein konnte, so schnell, als hätte er hinter der Tür gewartet. »Ihr seid zwei?« bemerkte er und äußerte es, bevor es überlegt war. Dies Wort gab dem Narren in Eile viel zu denken.

Das erste mußte sein, daß der Wirt mitstemmte; derart gelang es, den Riesen aufrecht zu erhalten bis in die Stube. Kaum lag er auf der Bank, verlor er das Bewußtsein. Der Wirt war kurz und dick, er keuchte nach der Anstrengung, dagegen redete Chicot sofort. »Ja, wir sind zwei, denn er hatte mich wiedererkannt als einen alten Bundesbruder von der Liga. Wir standen beide beim Fußvolk des Herzogs von Mayenne, der nur leider den Béarneser nicht gekriegt hat, weder lebend noch tot. So haben wir heute nach der Messe die Tat vollbracht.«

»Wenn ihr's getan hättet, müßtet ihr jetzt unsichtbar sein«, sagte der Wirt, sah sich nach dem Besinnungslosen um, schielte mit dem anderen Auge auf Chicot, aber beides befriedigte ihn nicht. »Er hat es sicher gehabt wie die andere Welt, daß er nur den Stoß zu führen brauchte und würde davon unsichtbar werden. Ich seh ihn aber -- und auch dich erblick ich hier, das mißfällt mir doppelt. Ich verstehe nicht, daß ihr zu zweit auftretet. Warum hat er dir getraut? Es sieht ihm nicht ähnlich. Ich kenne La Barre.«

»Ich auch«, versicherte Chicot mit tiefer, biederer Stimme, womit er gewöhnlich den Leuten die Narrheiten sagte, die sie erst später für Wahrheiten erkennen sollten. »Meinen Kumpanen La Barre lieb ich länger als du. Nimm zum Zeichen, daß er, wie er dort liegt, mein eigenes ledernes Wams anhat, aus der Zeit, als ich seinen Leibesumfang besaß. Bei zunehmender Abmagerung durch die Schuld eines Bandwurmes, der an mir zehrt, gab ich meinem alten La Barre das Wams: der Bandwurm könnt es nicht sein, trotz unserer beschworenen Freundschaft.«

Diese Einzelheiten erschütterten die Zweifel des Wirtes, er ließ sie als den Anfang eines Beweises gelten. »Aber warum seid ihr beide noch zu sehen?« fragte er, mehr wißbegierig als mißtrauisch.

»Das kommt«, erklärte Chicot, »weil unser Vorhaben nur zum Teil geglückt ist.«

»Der König wäre nicht tot? Gelobt sei Jesus Christus«, stieß der kurze Dicke hervor; er plumpste sogar auf eine Bank infolge der Erleichterung.

»Das ist nicht hübsch von dir, du Feigling«, belehrte Chicot ihn von oben her. »Zuerst einen wackeren Meuchelmord verabreden, dann aber hinhocken die ganze Zeit bei verschlossener Tür, verhängtem Fenster, und den Rosenkranz beten.« Denn dieser lag noch auf dem Tisch. »Damit die Tat mißlingen und wir beide sollten abgefaßt werden. Wie?« fragte er. »Darum hast du gebetet.«

Der Dicke stammelte: »Ich hab gebetet, teils daß es geschehen, teils daß es nicht geschehen möge. So ist es denn halb geschehen. Und ich seh euch auch nur halb!« ächzte er. Denn was seine Angst nicht alles machte, in seinem allerwertesten Gesicht bedrängten die Fettsäcke die Augen, so daß sie zugedrückt wurden.

»Bis jetzt sind wir noch zur Hälfte da« -- Chicot blieb weise, sein Ton wurde indes warnend. »Erliegt nun der König seinen sieben Wunden, die wir ihm beigebracht haben, ich und La Barre, dann verschwinden wir und werden nicht mehr gesehen. Wer zurückbleibt, das bist du allein, und hast es verdient für deine Gebete, die uns die Seuche gebracht haben. Dich holen sie von hier ab, verhören dich, setzen dich mit dem Hintern auf glühendes Eisen, aber zufolge eines leichten Irrtums nehmen sie dafür dein Gesicht.«

Hier fiel der Wirt vornüber und heulte. Der Besinnungslose erwachte davon und rührte den Kopf. Chicot, zu seinem Unglück, ließ es sich entgehen, und fuhr fort, dem Dicken die Folgen zu beschreiben, wenn man gevierteilt wird: wie die Gelenke krachen, dann lösen sie sich, und man sieht seinen eigenen Gliedern nach, da die Pferde sie entführen. Am Wege warten schon die behaarten Teufelchen, springen und fangen die Stücke frischen Richtfleisches, um sie einzusalzen. Dies alles erzählte Chicot dem heulenden Wirt, aber der Kerl drüben hörte zu, ohne nochmals den Kopf zu rühren.

Als der Wirt endlich verstummte vor völliger Verzweiflung, befragte Chicot ihn ernstlich, ob er den Hals wohl aus der Schlinge ziehen möchte? Das wäre das einzige, sagte der Wirt, um das er noch beten wollte, und sollte es nachher bei ihm aus sein mit allen Todsünden, deren leider schon mehrere seine Seele drückten. Ob er, fragte Chicot weiter, sich selbst lieber habe als den Mann auf der Bank. Das sei gewiß, sagte der Wirt. Dann stehe alles zum besten, meinte Chicot, und sie beide, obwohl sie den König natürlich gestochen hätten so gut wie ihr Kumpan, könnten diesmal ihr leibliches Leben noch erhalten, auf Kosten ihres guten Kumpanen La Barre und seines Erdendaseins, das übrigens lange genug gewährt habe. »Lauf, Gevatter, hol die Wache, wir liefern ihn aus und machen uns einen weißen Fuß.«

Der Wirt wendete zaghaft ein, dies werde schwerhalten in ihrer Lage: sonst wäre er der Mann nicht, dem es auf eine Guttat mehr oder weniger ankäme, und La Barre sei nun einmal Henkerswild. »Wir sind aber leider von derselben Gattung, und den König haben wir alle zusammen gestochen. Sie werden unsere Lügen nicht glauben, sondern uns mitnehmen.«

»Meine Lügen sollen wörtlich für voll gelten«, behauptete Chicot. »Ich weiß den Blutrichtern zu erzählen, daß ich mich in der Kathedrale befand, als der König abschwor, und bemerkte einen Mann, den ich noch nie vorher gesehen hatte. Dieser hatte Zug für Zug das Gesicht eines Königsmörders, aber daran nicht genug, er schützte sich immer nur von rechts gegen den Druck der Leute; daraus entnahm ich, daß er sein Messer zwischen die Strumpfhose und das Hemd geklemmt haben müsse. Als ich mich nahe an ihn herangemacht hatte, konnte ich den Umriß des Messers erkennen: es war eine Elle lang, sehr spitz und beiderseits geschliffen, weshalb er bei jeder Berührung die Fresse verzog. Ich dachte: ›Du sollst sie dir anders zerreißen‹; erkletterte einen Pfeiler und hängte mich an ein vorgestrecktes Drachentier, worauf schon viele Personen wimmelten. Mein Freund stand nur wenig entfernt, und als der König vorbeikam, das war die scharfe Ecke, schon griff mein Freund sich zwischen die Kleidungsstücke -- los, ich sprang ihm in das Genick. Umgerissen wurd er, Geschrei erhob er, die Lende zerfetzt hatt er. So erhielt ich unsern König, wie Gott ihn erhalten möge. So macht ich den Mörder unschädlich und bracht ich ihn her, weil keine Streife zu finden war. Nun, Gevatter, werden die Blutrichter mir das glauben?«

»Deine Lügen sind geschickt genug, um jedem einzugehen«, bestätigte der Wirt. Da er indessen nochmals aufgefordert wurde, zu laufen und Soldaten zu holen, kratzte er sich den Kopf und gestand seine Abneigung. Er wäre doch mehr dafür, daß sie selbst, ohne das Dazutun von Uneingeweihten, die Sache in Ordnung brächten. »Glaub mir, es ist bekömmlicher, wir schlachten ihn und salzen ihn ein. Nebenan in dem dunklen Gelaß steht ein außerordentlich großes Faß, darin wird er Platz haben, denn ein Mann wie er gibt viel Salzfleisch.«

»Ich bin nicht deiner Ansicht«, versetzte Chicot mit sachlichem Nachdruck. »Meine Vorliebe gehört dem Vierteilen. Das ist ein eingeführtes, ordentliches Verfahren, wohingegen das Einsalzen, soviel ich weiß, von der Religion mißbilligt wird.« Seine lange Übung verführte ihn, sogar diese Narrheit über die Religion von sich zu geben. »Könnte auch uns selbst mehr Nachteile einbringen als unserm Kumpanen -- der es mit seiner Dummheit wohl verdient hätte«, so schloß er.

Die beiden beredeten diese Frage ausführlich, jeder blieb zwar bei seinem Standpunkt; aber zum Unterschied von dem Narren, der unbeirrbar bieder sprach, erregte es den Wirt, daß solch ein Vorrat an Gepökeltem verlorengehen sollte. Trotzdem erübrigte ihm nur, zu seufzen und nachzugeben. »Du bist hier der Stärkere. Den König hast du mit gestochen, auf das Lügen verstehst du dich. Erwarte mich mit den Soldaten.«

Der Wirt war fort, da rührte der Besinnungslose den Kopf, ließ ihn rückwärts, mit den haferblonden Haaren, über die Bank hängen und bekam Chicot überquer zu sehen. »Mein Kumpan«, sagte er schwach. »Hier bin ich, mein Kumpan«, antwortete Chicot, obwohl er erschrocken war. La Barre sagte:

»Du hast den Wirt nach den Soldaten geschickt, jetzt hilf mir, daß wir von hier fortkommen. Haben wir doch zusammen den König gestochen.«

»Wie?« machte Chicot, starr vor Staunen. »Wir hätten den König gestochen?« La Barre aber:

»Ich schlief wohl und habe geträumt. Mein guter Kumpan, befrei mich von dem Messer. Hab so viel Blut verloren, daß ich nicht mehr weiß, wie es zugegangen ist, als wir den König stachen.«

Sein Gedächtnis hatte ihn aber keineswegs verlassen, vielmehr erkannte Chicot an seinen Worten, ein wie tückischer Riese dies war. Den eigenen Narren des Königs würde er in seine Mordangelegenheiten verstrickt haben, wäre die geringste Aussicht gewesen, daß er selbst dem Henker auskäme. »Ich hätte dich sollen einsalzen lassen«, warf Chicot ihm kurz und bündig hin. Er ging in der Stube umher, während der Kerl ihm überquer mit den Augen folgte. Ein Kapitalverbrechen bleibt eine Gefahr für den, der darum gewußt hat. Oder er muß mehr, er muß alles herausbringen, damit er ein guter und glaubwürdiger Zeuge wird, der den anderen unter allgemeinem Beifall auf das Rad und an den Galgen schafft. ›Wofür hält mein König Henri mich?‹ bedachte Chicot. ›Für seinen treuen Narren? Für seinen gedungenen Meuchelmörder? Beides wäre möglich, und in Zeiten wie diese macht jeder sich leicht verdächtig. Ich muß vorbeugen, den Kerl hier ausfragen und selbst den Richter spielen, damit sie mich nicht richten.‹

Dies einmal klargestellt und beschlossen, befreite der Narr Chicot den Soldaten La Barre von dem doppelt geschärften Messer, womit dieser den König Henri gern getroffen hätte; jetzt aber hatte es ihm selbst die Lende zerfetzt, und als es fortgenommen wurde, fiel ein ganzer Batzen Blut auf einmal zu Boden. Der Riese, wehleidig von Natur und nicht darin geübt, im Saft seines Leibes zu schwimmen, dachte nochmals von Sinnen zu kommen, Chicot erlaubte es ihm nicht. Er ohrfeigte ihn, bis es genug war, dann verband er die Wunden mit dem Hemd des Riesen, das er in verdünnten Essig tauchte, setzte ihn auf, gab ihm Wein zu trinken -- nach dem allen verlangte er bündig, La Barre sollte seine Geschichte erzählen.

»Sie ist lang.« -- »Mach's kurz!« -- »Der Wirt kommt bald mit den Soldaten.« -- »Wird sich besinnen stundenweise.« -- »Worüber?« -- »Daß sie ihm sagen: dem König ist in Wahrheit nichts geschehen.« -- »Ist ihm denn nichts geschehen?« An dieser Stelle verlor Chicot die Geduld.

»Kerl! Hier hab ich dein Messer. Dir in die Nähe komm ich nicht. Du bist verbunden, der Wein gibt dir vielleicht mehr Kraft als nötig. Aber aus dieser sicheren Ecke werf ich nach dir das Messer. Dir in den nackten Hals -- und treffe dich, wie du den König, über das Volk hinweg, getroffen hättest. Denn so und nicht anders wolltest du ihn töten.«

»Du weißt zuviel«, sagte La Barre. »Ich ergebe mich. Magst du denn alles hören.«

»Und daß du nicht lügst! Ich bin ein Beamter Seiner Majestät, und lügt dein Mund, vernehm ich doch dein Gedärm, das mir die Wahrheit zuruft.«

Infolge dieser Ankündigung wäre La Barre von der Bank gefallen, er erschrak ganz unverhältnismäßig, so daß Chicot sich selbst fragte: ›Hab ich mich nun wie ein Richter ausgedrückt oder wie ein Narr?‹ Darüber vergaß er den Anfang des Verhörs, bis sein Patient unaufgefordert sagte: er heiße Peter Barrière, genannt La Barre.

»Und von Beruf bist du Königsmörder. Du hättest es in keinem anderen weiterbringen können, denn noch die fernsten Zeiten sollen von dir reden.«

»Das ist nicht mein Beruf.« Der Kerl wimmerte elend.

»Daran haben alle anderen schuld, nur ich nicht. Ich war ein Schiffer auf der Loire und mit zweiundzwanzig Jahren noch immer so unschuldig wie am Tage meiner Geburt zu Orleans.«

»Wer hat dir die Unschuld geraubt?«

»Ein Werber gab mir Handgeld, ich wurde Soldat der Königin von Navarra, verliebte mich aber in eine ihrer Frauen, es war mein Unglück.«

»Ich achte das Unglück«, bestätigte Chicot ernst. »Zuerst sprechen wir indessen von Madame Marguerite von Valois, die du die Königin von Navarra nennst. Sie hat ihrem Gemahl, unserem König, nach dem Thron und Leben getrachtet, dafür wird sie in einem Schloß gefangengehalten, heuert aber deinesgleichen an, damit sie sich befreien und uns nochmals gefährlich werden kann. Auch mir, der ich ein Beamter Seiner Majestät bin! Da du dich in die Dienste der Dame von Valois begabst, hast du eigentlich einen Anschlag gegen meine Person unternommen.«

»Sprechen Sie nicht wie ein Narr?« brummte La Barre. Im Grunde fand Chicot dasselbe. ›Sonst‹, dachte er, ›rede ich einfach wie ein Edelmann, aber man lacht, weil ich nun einmal den Titel des Narren führe. Hier soll ich feierlich sein und verlege mich auf Possen. Es ist ein Jammer um meine Natur.‹ La Barre rief ihn zur Ordnung.

»Es kam nur alles von meiner unglücklichen Leidenschaft für die Dame, die auf nichts anderes bedacht war bei Tag und bei Nacht als auf lustige Unterhaltung der Gesellschaft. Lag ich ihr am Busen, dann konnte es niemals fehlen, daß wir in den Teich fielen, oder der Heuboden brach ein, oder in unserem Zimmer erschienen Geister. Es war aber der Hofstaat, der sich belustigen wollte, und dafür sorgte das Fräulein, das ich unglücklich liebte.«

»Endlich eine wahrhaft aufopfernde Treue«, gab Chicot zu. »Darauf beschlossest du natürlich, den König zu töten.«

»Langsam«, verlangte jener. »Es träumte mir. Die Frau Königin befahl mir, während ich schlief, daß ich ihren Gemahl, den König von Frankreich, in die andere Welt befördern möchte: dann würde sie mich in dieser mit meinem Mädchen in Ruhe lassen, sogar die Mitgift zahle sie.«

»Hat dir das nur geträumt? Denke nach, ob die Königin es dir nicht wirklich aufgetragen hat.« Chicot fragte tief eindringlich. Der Spaß war ihm vergangen. La Barre antwortete:

»Nicht sie: ich selbst trat bei ihr ein, als sie allein war, und teilte ihr meine Absicht mit. Da fing die Königin zu weinen an, wendete sich gegen die Wand, und in dieser Haltung beschwor sie mich, es nur ja zu lassen und mich davor zu hüten. Alsbald entfernte sie mich aus ihren Diensten, und ich zog vom Schloß ab.«

Chicot schwieg, ihm klopfte das Herz. ›Wie könnt ich das dem König berichten. Seine eigene Frau hat den Mörder ausgeschickt, anstatt daß sie ihn festsetzte im untersten Verlies.‹

Die innere Bewegung trieb ihn aus der Ecke hervor, er lief und fuchtelte mit dem spitzen Messer des Mörders. Sooft er an diesem vorbeikam, duckte La Barre sich, aber er beobachtete Chicot mit Augen, die blinzelten und funkelten. Chicot beachtete es, nicht, ihn bestürmten die schrecklichen Dinge, die er jetzt wußte. Er hatte ein glaubhafter Zeuge werden wollen, war aber nunmehr ein gefährlicher. Plötzlich tat der Kerl einen Griff, nicht viel und er hätte das Messer erwischt. Chicot sprang rückwärts bis nahe der Tür des dunklen Gelasses. Er streckte den Arm aus und öffnete es. »Da hinein!« befahl er. Sofort verlegte der Kerl sich wieder auf das Winseln. Nur in die Finsternis nicht, nur in das Faß mit Salzfleisch nicht! Er habe noch vieles zu gestehen.

Da sein Richter unschlüssig schien, begann La Barre von einem Pater zu Lyon, der ihm zugeredet habe, den König zu töten. Derselbe habe ihm versprochen, nach vollbrachter Tat sollte er unsichtbar werden. Durch eben denselben sei er vor einen Großvikar des Erzbischofs gelangt, habe sein Herz erleichtert und nichts zur Antwort bekommen. Aber keine Antwort ist auch eine. Um so mehr, da noch ein Kapuziner ihn in seinem Vorhaben ermutigt und sogar ein angesehener italienischer Mönch ihm nach dem Munde geredet habe. Kurz, der Königsmörder hatte sich so zahlreichen Personen geistlichen Standes anvertraut, daß die halbe Lyoner Klerisei auf seinen Anschlag nur gewartet haben mochte. Dem Narren des Königs blieb davon der Mund offen; sollte sein Herr besonders viele Todfeinde in seiner guten Stadt Lyon haben? Indessen La Barre, einmal im Zuge und mit Geblinzel nach dem verhängnisvollen Gelaß, kam auf seine Pariser Reise zu sprechen: da schloß Chicot den Mund. Er war auf dem laufenden über die herzlichen Gesinnungen der Prediger von Paris gegen den König.

Unheilvoll hörte es sich an, weshalb ein bekannter Pfarrer die Mordtat gebilligt haben sollte: weil der König, ginge er zur Messe oder nicht, katholisch auf keinen Fall sein werde, und würde der Pfarrer dies niemals glauben. ›Was jetzt?‹ dachte der Narr. ›Da haben wir nun abgeschworen und hätten's lassen können. Sie stechen um jeden Preis.‹

»Aber warum stachst du den König nicht, bevor ich dich abfaßte?« fragte er noch. Die Antwort war: daß ein geheimer Schauder den Mörder verhindert habe; er fühlte sich rückwärts gezogen, und der Strick, daran man zog, schien mitten um seinen Leib zu liegen. Chicot versank deswegen in Grübeln, ja, vergaß, wo er war. Hierüber wurde es in der Stube stiller und stiller, bis ein Geraune anfing. Chicot überhörte es; allmählich wurde es stärker, klang übrigens, als spräche jemand draußen vor dem verhangenen Fenster. »La Barre, hast du ihn?«

»Ich hab ihn nicht«, sagte La Barre nach dem Fenster.

»Dann bekommen wir ihn.«

»Wie viele seid ihr?«

»Wir sind fünf.«

»Gute Kumpane, wieso seid ihr hier?« fragte La Barre wieder.

»Der Wirt hat lieber uns geholt als die Soldaten.«

La Barre sagte: »Wartet! Ich spreche mit dem Offizier, ob er sich ergibt und freiwillig das Messer herausrückt. Was meinen Sie dazu?« fragte er den überrumpelten Chicot -- schon tat er einen drohenden Schritt. ›Nur das Messer festhalten‹, denkt Chicot -- springt rückwärts in das Gelaß; noch ein Satz; aber bei dem dritten trifft er keinen Boden mehr, sondern stürzt in ein Loch.

Er erwartete fest, daß ihm Hören und Sehen verginge; aber solch ein Abgrund war dies nicht. Chicot kam sogleich hinten hoch, von einem Haufen Unrat allerdings, schwang aber sein Messer. Dann horchte er. Einzig die Stimme des Kerls Barriere, genannt La Barre, meldete sich und fragte ihn, ob er gut angekommen wäre. »Steigt nur herunter«, antwortet Chicot. »Du und deine fünf Kumpane, hübsch einer nach dem anderen, damit ich jedem für sich den Kopf abschneide.«

»Hier ist nur mein einziger Kopf«, sagte der Königsmörder, »den will ich ohne Verweilen in Sicherheit bringen. Meinen Kopf und meinen Bauch, mit dem ich reden kann, und haben1 fünf Kumpane aus meinem Bauch geredet. Mein Gedärm wird dir die Wahrheit verkünden, das hast du Quacksalber mir vorher weismachen wollen, und wahrhaftig erschrak ich. Jetzt hat die Rede meines Gedärmes dich in die Mistgrube versetzt. Bleib drin, gehab dich, ich laufe. Der Wirt läuft schon stundenlang, ich will ihn einholen und ihm ein ernstes Wort sagen wegen des Einsalzens.«

Fort war La Barre, zuerst seine Stimme, dann sein Schritt. Chicot trug in der tiefen Finsternis zusammen, was er fand, um über wacklige Stützen wieder zur Höhe zu gelangen. In der Stube aber fiel er auf die Bank, ließ den Kopf hängen und-hatte keine Eile. Es wurde Nacht.

 

Das Bad

König Henri saß in dem Wasser, das Knechte und Mägde mit viel Laufen zusammengeholt hatten. Es wurde auf das Feuer gestellt und dann aus den Kesseln in die mittlere Vertiefung der Badstube gegossen. Diese war eng und niedrig, die eingesenkte Wanne mit Ziegeln ausgemauert, Stufen führten zu ihr hinein, auf der vorletzten ruhte der nackte König und ließ die Flut ihn umspülen. Sie wurde bewegt von seinem Ersten Kammerdiener Herrn d'Armagnac, er ruderte belaubte Zweige darin umher, verursachte auch Regen, wenn er sie auf seinen Herrn abtropfen ließ. Für eine so feuchte Tätigkeit hatte d'Armagnac sich großenteils entkleidet, er trug hauptsächlich einen Schurz. Henri sprach zu ihm die Übersetzung von Versen des Lateiners Martial, die zwischen diesen beiden üblich waren.

»Ein Sklave, gegürtet mit der Schürze aus schwarzem Fell, steht und bedient dich, wenn du warm badest.«

Der Erste Kammerdiener antwortete mit denselben Versen in der Ursprache, wobei es ihn wie den König jedesmal belustigte, daß keine männliche Person von dem Dichter gemeint war, sondern eine römische Dame war es, die ließ sich von dem Sklaven im Bad abreiben. Der dienende Edelmann erwartete wohl auch diesmal einen galanten Scherz des Herrn, wunderte sich indessen wenig, daß er ausblieb: der Herr war heute nacht recht träumerisch. Sehr die Frage, ob er nicht noch mehr als das war, in trüben Betrachtungen, ja, den etwa erhaltenen Vorzeichen hingegeben. D'Armagnac verhielt sich schweigsam, er ließ es vom Laube leise niederregnen auf Kopf und Brust des Herrn; aber endlich, da Henri sich ausstreckte und die geweißten Balken ansah, legte der Erste Kammerdiener die Zweige auf den Rand des Bades und trat zurück, so weit es ging. Der Raum um die eingesenkte Wanne war schmal, in der Ecke hier stand ein eiserner Dreifuß mit brennenden Kerzen, gegenüber, hinter dem König, auf dem Stuhl lagen seine Kleider. Vielmehr, ihre dichte Stickerei aus Gold hielt sie aufrecht; die Strumpfhose und das Wams saßen da wie ein Mensch ohne Kopf und ohne Hals.

›Auch Freudenfeuer verbrennen die Haut‹, dies besann Henri in seinem Bad. ›Trauriges und böses Freudenfeuer, sie stoßen hinein, wen sie können, ich war ihnen gerade recht. Sie sind unsicher, unsere Vereinigungen bleiben unverläßlich. Mit einer Messe ist nichts getan. Ich soll die Menschen immer neu erobern, nicht anders, als mir bisher schon bestimmt war. Bei dem Pfeiler in der Kirche hörte ich ein Wort sprechen und erschrak, denn es klang schrecklich und schlimm. Was tut Chicot? Das Wort ist wahr geworden, noch bevor es gesprochen worden war. Ein blinzelnder Riese hätte es gar zu gern wahr gemacht. Das Messer! Der Rechtsgelehrte hat gesagt: Jetzt ist er reif. Wo bleibt Chicot? Kann auch nicht helfen. Der Todessprung, ich hab ihn nun gewagt.‹

Hiermit streckte Henri sich auf den Stufen aus, das Wasser zitterte, ihn überkam der Schlaf. Herr d'Armagnac wartete aufrecht und ohne Regung, bis die Entspannung seines alten Kampfgefährten ihm vollkommen schien. Er dachte: ›Wir werden alt. Es hilft nichts, sich unentwegt zu stellen, obwohl dies die einzige erlaubte Haltung ist.‹ Der Erste Kammerdiener in seinem Lendenschurz verließ auf bloßen Sohlen die Badstube, schloß umsichtig die Tür und hielt Wache vor ihr. Von Zeit zu Zeit blickte er durch das Loch, ob drinnen etwas Neues vorgehe. Einmal legte er das Ohr daran; der Schlafende hatte hörbar gesagt: »Wo bleibt Chicot?«

Als aber der Gerufene wirklich auftauchte am Ende des Ganges, besetzte Herr d'Armagnac die Tür mit um so breiteren Beinen. Er fühlte schon von fern, daß die Erscheinung dem König in seinem Bad nur Unruhe verspräche. Beim Näherkommen des Edelmannes vermehrten sich die Gründe, ihn nicht hineinzulassen; Herr d'Armagnac verschränkte die Arme, er straffte sich wie in jungen Tagen. Chicot indessen sagte:

»Fürchten Sie nichts, mein Herr. Ich will nicht eindringen.«

»Es verbietet sich, mein Herr. Sie stinken wie ein Bock und sind betrunken.«

»Der Bock sind Sie selbst, mein Herr, mit Ihrem Schurzfell und behaarten Schenkeln. Meinen Geruch angehend, verdanke ich ihn einer abscheulichen Mistgrube; ein Bauchredner veranlaßte mich, hinabzuspringen. Der Wein aber, den ich nach meiner Heraufkunft etwas hastig zu mir nahm, erklärt sich durchaus. Ich war niedergeschlagen durch ein schlecht verlaufenes Abenteuer und sah nicht, wie ich Seiner Majestät melden könnte, was ich erlebt hatte, außer allenfalls im Zustand des Rausches.«

»Sie werden nicht eintreten«, wiederholte Herr d'Armagnac unerschüttert, aber nur zum Schein. In der Badstube hatte das Wasser geplätschert, der König war erwacht. Der andere Edelmann sprach mit ungedeckter, metallener Stimme. Er war überaus nüchtern und berechnete genau, was für den König bestimmt, was dagegen zu verschweigen, abzuschwächen oder ahnen zu lassen war.

»Sire! würde ich sagen, wenn der König mich hören könnte«, rief er höchst vernehmlich. »Sire! Ihr Mörder oder der Mann, der es werden wollte, war ein Soldat, der sich nie vorher etwas Böses gedacht hatte. Die Liebe ganz allein hat ihn Abwege geführt. Es scheint unerträglich zu sein, wenn der Liebhaber von dem geliebten Gegenstand fortwährend mißbraucht wird, um einen galanten Hof zu belustigen. Welcher galante Hof mag es gewesen sein?« fragte Chicot selbst, da kein anderer sich erkundigte. »Meine Geschichte spielt in dem Schloß der hochberühmten Dame, genannt die Königin von Navarra. Was mag dort nicht alles vorkommen!«

Er holte Atem. Drinnen das Wasser rauschte auf, als ob der Badende sich herumwarf. Aber einen Einwand oder Befehl erwartete Chicot vergebens. »Müßiggang ist aller Laster Anfang«, erklärte er endlich. »Liebe und nichts als Liebe im ganzen Schloß: da tut sich ein armer Soldat hervor und macht sich wichtig. Den König will er töten. Natürlich hat die berühmte Dame von Navarra ihn in das tiefste Verlies gestoßen.«

»Heda! Lüg mal nicht!« kam es aus dem Badzimmer.

»Aber geweint hat sie« -- Chicot sprach reumütig und betreten. »Sie hat sehr geweint, hat den Soldaten aus dem Schloß gejagt --«

»Und mir davon nichts melden lassen«, seufzte Henri in seiner Wanne aus Ziegelstein.

»Wie konnte sie das wohl«, klagte Chicot -- erfand zwar, hielt aber für wahrscheinlich, was er beklagte. »Mönche, Pfarrer und Prälaten setzten ihr unbändig zu, ja, die arme Dame wurde selbst am Leben bedroht, bewacht und ihre Briefe abgefangen, so daß sie allerdings verstummen mußte, obwohl im Kämmerlein ihre Tränen flossen.«

Hier entrang sich ein unvermutetes Schluchzen der Brust des Herrn d'Armagnac. Die Königin von Navarra, die der andere Edelmann erwähnte wie eine erdichtete Figur, für den Ersten Kammerdiener war sie die wirkliche Gefährtin aus alten Mordnächten, der durchlaufenen Schule des Unglücks, aus allen Mühen des Lebens, die er selbst mit seinem Herrn bestanden hatte in vielen Jahren. Dort hatte sie ein Gesicht getragen zwischen Glut der Sinne und hohem Stern, kam aus dem Bett, führte zum Thron und hieß Margot. Sie war vergöttlicht worden von einem ganzen Geschlecht, das ergeben gewesen war der menschlichen Schönheit, der Erkenntnis des Menschen -- darunter dieser Edelmann, dem sie ihre unvergleichliche Hand gereicht hatte. Im Gedenken hieran schluchzte er nochmals und vermochte nicht mehr aufzuhören. ›Unsere Margot‹, dachte der Alternde, ›haßt uns nunmehr bis in den Tod.‹ Unfähig, seine starke Bewegung zu unterdrücken, verließ er seinen Posten. Indes er abging mit seinem Schurz, würgten ihn seine gestauten Tränen, und unter herzbrechenden Lauten rang er nach Luft.

Hingegen blieb es im Badzimmer still. Dort sitzt einer, der leicht weint, und um so weniger sicher scheint er den meisten. Warum weint er diesmal nicht? Chicot nickte vor sich hin, sein sonderbarer Schopf nickte über seiner kahlen Stirn. Er hätte durch das Schlüsselloch sehen können, ließ es aber. Der drinnen ist allein, unbeobachtet, ein nackter Mensch dem Messer ausgesetzt, und eine unvergleichliche Hand, einst über alles geliebt, hat es nicht aufgehalten. Es ist eines der Messer aus der Menge, die um Freudenfeuer springt, die Rüstigsten auf einem Bein, und allen, allen hat er sich vereinigt. Hat um ihretwillen die schöne Messe gehört, den Todessprung gewagt. Soll es so sein! Soll es denn kommen! -- denkt wohl einer, der in der Zelle sitzt. -- »Chicot!«

Eine lange Weile war vergangen. Der Mann draußen horchte nicht mehr, er träumte. Da sein Name fiel, schrak er auf und stürzte in die Badstube. »Die Tür fest schließen!« befahl der nackte König. »Wie viele sind in den Anschlag verwickelt?« fragte er leise.

Chicot zählte sie genau her, auf Beschönigungen war er nicht mehr bedacht. In seinem harten Narrensinn lag der Weg des Mörders offen, und so erzählte er ihn. Blieb nichts übrig vom Königreich, was nicht eigentlich eine Mörderhöhle gewesen wäre, gleich der, woher er kam. Nun sind Mörderhöhlen spaßig, und sowohl über den Soldaten, der mit dem Bauch redet, und nach vollbrachter Tat hofft er unsichtbar zu werden, wie auch über den Wirt kann man allenfalls lachen. Gleichwohl herrschte in dieser Badstube eine Spannung, die Gesichter erstarrten davon. Höchst komisch, nicht durch Absicht, sondern Berufsübung, wiederholte der Narr seinen Streit mit dem Wirt wegen des Einsalzens oder Räderns. Beide Gesichter erstarrten. Der Tölpel mit der zerfetzten Lende infolge unvorsichtiger Mordlust; das Bauchreden, die fünf Kumpane und das Mistloch: höchst komisch, aber erstarrte Gesichter. Der Tölpel ist flüchtig, tut nichts, über ihn ist entschieden. Er wird ein neues Messer beiderseits schleifen lassen, wird nochmals dem König aufpassen und wird gefangen werden, da man ihn jetzt kennt. Genug von ihm.

Chicot war fertig und schwieg mit dem König, der auch nur schweigen mochte. Plötzlich erhob er den Kopf. »Eins will ich wissen. La Barre ist mir niemals nahe genug gewesen, um mich zu stechen. Wie hätt er's denn gemacht?«

Schnell zog Chicot aus seiner Strumpfhose das Messer, zog es von derselben Stelle, wo vorher der Mörder es getragen hatte, und warf es -- man sah nicht, wohin, so schnell ging das. Der König wendete den Kopf durch das Zimmer. Hinter ihm sein weißseidener Anzug saß im Stuhl, als wär's er selbst, nur ohne Hals, und wo der Hals gewesen wäre, stak in der Wand das Messer, eine Elle lang, genau in dem Hals, der nicht da war. »Gut gezielt«, sagte Henri. »Hundert Taler dafür, wenn ich sie gerade hätte.« Nackt, wie er war, lachte er. Ja, sah nochmals nach dem Messer um und lachte laut. Chicot verzog aus Höflichkeit den Mund. ›Ich bin Ihr Narr‹, bedeutete dies. ›Bei meinen Witzen bleib ich ernst.‹

Bis es Henri einfiel zu sagen: »An dem Pfeiler in der Kirche stand noch ein anderer Mann, der redete heimlich zu seinem Nachbarn, aber ich hörte es. Er war mein Rechtsgelehrter und sprach: ›Ach! Jetzt ist er verloren. Vorher war er nicht, was er seit heute ist: schlachtreif!‹«

Über dies Wort -- schlachtreif -- brüllte Chicot, nicht bescheidener als eine Trompete, denn der Witz war nicht seiner. Auch Henri belustigte sich, aber gemäßigt. Er mußte, um guter Dinge zu bleiben, wiederholt das Messer betrachten, wie es so genau dort stak, wo sein Hals hätte sein können, aber nicht war.


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