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Anatole France

Anatole France

Anatole France
Quelle: de.wikipedia.org

Über Anatole France sind sofort nach seinem Tode so viele Bücher erschienen, daß die Verfasser sich offenbar schon längst vorbereitet hatten auf diesen Toten. Die Franzosen waren fertig geworden mit ihrem Meistgelesenen, er war restlos eingegangen in das Bewußtsein derer, die lesen, und sogar der Nichtleser. Diese fühlten zum mindesten, daß sein Name mit Recht der des Landes war; daß die Hunderttausende seiner Bücher, die jedes Jahr in die Welt gingen, ihr Land verkündeten und für es warben; daß nur er allein unter den Lebenden vollgültig die Gaben Frankreichs vertrat angesichts aller dem Unbekannten ihre Gaben bringenden Völker.

Die erste Gabe ist, wie France selbst glaubte, die Skepsis. »Die höchsten Geister unserer Rasse sind Skeptiker. Ich bin nur ihr geringster Schüler.« Bei aller geistigen Schärfe aber kommt Formensinn als nächste Gabe. Die klassische Genauigkeit und Kürze ist einzig ins Französische übergegangen. Klassische Harmonie des Ausdrucks, Ruhe der Lebensordnung im Stil wird von dieser Sprache zu gewissen Zeiten erreicht. Andere Zeiten wieder erreichen im Denken, Leben und im Schreiben das äußerste von Unruhe, von umwälzender Respektlosigkeit – bleiben aber klar. Ja, dann wird gefordert, die Welt solle sich beugen vor dem Denken und danach handeln. Aber nur, weil in so klarer Sprache gefordert wird, beugt die Welt sich zuweilen.

Bemerken wir, wie ungewöhnlich es ist, daß Geister dieser Art von einem Volk als seine maßgebenden Wortführer geachtet werden! Wer Neuerungen will und das Alte untergräbt, macht sich gemeinhin doch unbeliebt. Den Menschen nachweisen, daß Geistesschwäche und Bosheit ihre Wurzeln sind, ihre ganze Geschichte aber etwa das Treiben hirnloser Vögel, die ein halb blinder Heiliger durch Zufall taufte und nachträglich zu Menschen machen mußte: wen erbaut das? Ein Volk will doch geschmeichelt sein? Ein eitles Volk? Mir scheint, die Wahrheit hören zu können, ist ruhmvoll für ein Volk. Den, der die unnachsichtige Wahrheit sagt, einmütig als seinen Wortführer zu feiern, weist einem Volk den geistigen Rang an. Man muß an sich zweifeln gelernt haben, um jemals aufzusteigen. Sollte aber die gebrechliche Natur uns Menschen völlig rein zu handeln nie erlauben, so hätten wir doch erkannt, wer wir sind, und können bessern, was zu bessern ist. Aus der Skepsis, so sagt France, wird Hilfsbereitschaft. Denn die Erkenntnis der menschlichen Schwäche und des sinnlosen Leidens, das Menschen einander zufügen, müsse im Denkenden Mitleid erwecken und ihn zum hilfreich Handelnden machen. Dies ist der Wert unnachgiebigen Denkens. Wer dagegen immer nur beschönigt, abschwächt, vergemütlicht, kommt nie zu der Ehre, bessern zu wollen. Je hübscher die Welt in den Büchern ist, um so häßlicher pflegt sie sich wirklich aufzuführen.

Ein Höhepunkt tatfreudiger Skepsis war die Zeit um Dreyfus. Jene Affäre machte aus mehreren betrachtenden groß handelnde Menschen. France fand sich damals mit Zola, so sehr und so lange er ihn literarisch verabscheut hatte. Verschiedene Temperamente verfeinden auch verwandte Geister. Damals aber fanden sie sich in der Liebe zur Wahrheit und im Willen, sie unter Menschen zum Siege zu führen. Es gelang auch, – was nur aus der Ferne einfach scheint; es ist aber ein äußerst seltener, schwieriger, verworrener Vorgang, voll der Bitternisse für Sieger wie Besiegte, für niemand triumphal. Die vier Bände Zeitroman, die France über das damals Erlebte schrieb, haben von allem die erbittertste Haltung; nie würde man glauben, er sei Sieger.

Dennoch hat er erst seitdem in den Geistern der Zeitgenossen gesiegt; seine große Leserschaft und sein Weltruhm gehen von einem Kampf gegen Bosheit und Lüge aus. Freilich hätte es nicht genügt, über die Geister zu siegen; auch die Herzen mußten sich besiegt geben, zu erwecken war Mitgefühl mit dem strengen Kämpfer. Monsieur Bergeret, der Held der so streitbaren Zeitromane ist arm, betrogen und allein, ein bedrücktes Herz nicht weniger als ein Empörergeist und ebenso verwandt allen, die im Fleische leiden, wie allen, die den Stolz ihres Geistes büßen. So konnte er Menschen gewinnen.

France-Bergeret gewann auch Menschen mit seinem schönen Stil, der echten Erscheinungsform einer trotz Erbitterung, Kampf und Leiden immer wohltönenden Seele. Er schrieb Bitternisse hin, als sei er heiter, und Wirrsale, als seien sie die Ordnung selbst. Er wahrte Harmonie, die große Ruhe – und wahrte sie dem Leben zum Trotz, zur höheren Ehre der Kunst, dessen, was bleibt, wenn unsere Ängste vorbei sind.

Ja, er vereinte in sich die Zeiten der Pflege klassischer Überlieferungen mit jenen anderen Zeiten Frankreichs, in denen gezweifelt und gekämpft wird. Unfriede des Denkens, umfriedete Form, scharfer Geist und ein mildes Herz, er trug in sich ganz Frankreich – und übrigens auch alle anderen Länder mit gut veranlagten Menschen. Was braucht ein Denkender, um das Leben recht zu fassen und nicht an ihm zu scheitern? Verachtung und Güte. Jene, um nicht zu hassen, diese, um von Menschen nur zu fordern, was sie leisten können. Er hatte beides, – was kaum vorkommt. Die Seinen, die seine Sprache sprechen, hatten vollauf recht, ihn der Welt als den Ihren zu zeigen. Es kommt nicht allein darauf an, wieviel an einem Autor neu ist, was erlesen oder selbst wie stark es ist. Literatur ist soziale Erscheinung.

France betont dies oft. Er sagt, die Erfolge der Schriftsteller seien fast immer politisch gewesen. Meistens, sagt er, vermischen sich Politik und Literatur. Beim Entstehen literarischer Namen zähle Literatur kaum mit. – Das ist vollkommen wahr, – da ja das Technische der Literatur und auch ihre Seele, die sich technisch ausdrückt, den meisten ihrer Freunde gar nicht klar wird. Für sie bleibt Literatur an das wirkliche Leben gebunden, ist selbst eine Form des öffentlichen Lebens. Jede Literatur läßt sich in rechts und links aufteilen. Jeder Autor hat seinen Erfolg, weil er einer Klasse gefiel, wenn nicht gar gefällig war. Auch seine Mißerfolge hat er durch sie.

Im Verlauf seiner politischen Kämpfe wurde France Sozialist; zuletzt war er Kommunist. Ein Kommunist ward im Oktober 1924 in das Pantheon der großen Männer Frankreichs zu Grabe getragen. An der Herrschaft ist die Bürgerklasse, sie ehrte aber den Kommunisten, dessen Werke nicht nur sie ehren. Ob ein Schriftsteller groß wird, hängt davon ab, wieviel eine Klasse verträgt. Andererseits hängt es von der Größe des Schriftstellers ab, ob die Klasse ihn hinnimmt und erhöht.

*

France ist groß durch Vollständigkeit und Unangreifbarkeit des Könnens. Er hat die Fähigkeit des Sehens, des Verallgemeinerns, des Formens. Er hat Sinnlichkeit. Er hat das Maß und das Urteil. Damit ist alles sein, was den nahezu unfehlbaren Schriftsteller ausmacht. Etwas anderes ist Schöpfergröße. Niemand ist zu ihr verpflichtet. France entrüstete sich einst gegen einen Kritiker, der ihn für vollkommen, aber nicht für groß hielt. Wer vollkommen wäre, sagte France, sei eben darum auch groß. Gewiß, – da Vollkommenheit ein unerhörter Glücksfall ist und den Menschen sich einprägt.

Sie lassen sich das Vollkommene willig einprägen. Denn das Vollkommene ist das ausgeglichene Zusammenspiel aller ihrer mittleren Eigenschaften, die sie selbst nur ungleich und unvollständig haben. Es schmeichelt ihnen daher. Schöpfergröße beleidigt sie, indem sie gegen ihren Willen sie emporreißt. Große Gestaltungen der Literatur sind unmenschlich, weil ausschweifend über Maß und Urteil. Sie heißen lange krankhaft, man liebt sie mit Scheu und mit Vorbehalt, man haßt sie, solange man kann.

France hat menschliche Seltsamkeiten aufgesucht; das kommt von der Neugier seines Geistes und seiner Sinne. Er hat sonderbare erotische Fälle behandelt, er beweist Vorliebe für brüchige Charaktere, fragwürdige Ausschnitte der Gesellschaft und für geschichtliche Zeiten, die doppelsinnig scheinen, wie jene verwischte Grenze zwischen frühem Christentum und spätester Antike. Alles, auch das Verdächtige, auch das Krasse, blieb bei ihm wahr – und wurde doch liebenswert. Er ist sogar findig im Herabsetzen der Menschen; sie aber gehen mit ihm. Dahinter steckt ein Geheimnis. Sein Humor erklärt viel; denn er war noch mehr Humorist als Ironiker. Sein Mitleid erklärt viel, seine Sympathie mit allen Armen, – und jedem, jedem weiß er zu zeigen, wie sehr er doch arm ist. Daß er alles versteht und in Figuren wie seinem großen Abbé Coignard eigentlich fünf gerade sein läßt, erklärt viel. Aber ganz zuletzt bleibt das Geheimnis, das mit den Worten »Zauber des Vollkommenen« nur genannt, nicht erklärt ist. Warum betört höchste Vernunft uns nicht weniger als Gewalt und Übermaß? Der klarste France hat seine Mystik wie Balzac und Dostojewski.

Sehr selten und höchst ergreifend, die Zartheit der Sinne bei einem Weisen. In den Büchern dieses France wird viel gesprochen, viel zerlegt, viel entgöttert, – aber kaum, daß eine junge Frau ihr süß gefärbtes Lächeln dazwischenhält, sofort stehen alle Götter Griechenlands wieder auf, und die Erde leuchtet wie je. La Révolte des Anges, sein stärkster Roman, wie er wohl wußte, zeigt Stolz und Sturm der gefallenen Engel gegen den unzulänglichen Gott, der Unrecht und Leiden in seiner Welt verewigt hat. Die stolzesten der Engel werden einzig vom Gedanken der Weltenrevolution beherrscht, andere gehorchen irdischen Leidenschaften, wenn auch als Verirrte, die Größeres kennen. Da aber die weltenstürmenden Engel ihren vorläufigen Wohnsitz in Paris haben, spielen Menschenschicksale hinein, ganz gedankenlose, niedrige und schwache. Ein alter Schwachkopf bringt seinen einzigen Freund um wegen alten Plunders. Ein junger Leichtsinn von Haussohn und eine ungetreue Ehefrau tun einander so viele Gemeinheiten und so vieles Liebe an, wie sie nur können mit ihren unbedeutenden Kräften. Aber die Sinne des Dichters lieben diese zweifelhaften Erscheinungen des Lebens zärtlich; sie breiten warme Luft um sie und leiten in sie das Blut der Erde. Es sind Menschen, auch die Engel sind Menschen – durch Geistesstolz. Jene anderen haben keinen, nur ihr bißchen Leib – und zwingen uns doch nicht weniger zum Staunen, sind nicht weniger vollkommen und vollenden erst den Ruhm der erschaffenen Welt.

Der große Abbé Jérôme Coignard erweist sich in der Rôtisserie de la Reine Pédauque als Säufer, Schürzenjäger, Landstreicher und Dieb. Daneben ist er der klarste Geist, Kenner der Alten, ungläubig und voll Verachtung gegen irdische Mächte und Vorurteile, aber aus Weisheit treu im Glauben an die Lehren der Kirche, nur daß er sie zu seiner Bequemlichkeit gern sophistisch auslegt. So geht er dahin ohne Zerknirschung – denn menschliche Schwäche ist im Plan Gottes miteinbegriffen –, schreibt seine Kommentare, schlägt sich im Notfall tapfer, sagt aber den Mächtigen keine unnützen Wahrheiten. Persönlich frei von den Irrtümern seines Jahrhunderts, sogar in die Zukunft nicht immer falsch blickend, muß er reichen Narren dienen für das tägliche Brot und stirbt von der Hand eines erbosten Kabbalisten. Dies das Leben des Weisen. Es hält sich Demütigungen und der Schande nicht ferner als dem Wissen und der Ausgewähltheit. Für Verlaine und Villon hat der so wohlgestalte France als Bruder gefühlt.

Er, der viel und mit Hingabe schrieb, hat gleichwohl verstanden, daß Coignard nichts hinterließ als gesprochene Worte im Gedächtnis seines Schülers, der sie erst sammelte. France, der Bücher ganz wie Menschen liebte, glaubte, daß sie im Grunde auch nicht länger leben als Menschen. Was nach dem Tode des Menschen aus seinem Buch werde, sei unberechenbares Abenteuer, ein neues Leben, ein neues Buch. Unser Buch verwandelt sich, wenn es erhalten bleibt, mit der Zeit so sehr im Geist der Lebenden, daß wir selbst, sprächen sie uns davon, nicht wüßten, wovon sie sprächen. Bescheiden sein, es bleibt nichts. Er läßt den bescheidenen Tournebroche von seinem Lehrer Coignard sprechen wie von einem Geisteshelden. Aber das darf France; denn er ist nicht nur selbst der große Mann, er ist auch der bescheidene.

Am Ende seiner Laufbahn hat er geglaubt oder glauben gewollt, nicht einmal das Gedächtnis werde bleiben von uns. Geschichtliche Katastrophen würden uns alle verschlingen. So nimmt der Uralte, der scheidet, seine Welt mit sich fort. Seine äußerste Demut ist sein letzter Stolz. France hat auf die Frage, warum er den europäischen Krieg nicht schon damals verurteilte, als Rolland es tat, geantwortet: »Rolland war mutiger als ich.« Der Vollendete ist hinaus über Eitelkeit. Seine letzte Eitelkeit ist der Verzicht.

Dennoch hatte Anatole France mehr Grund als andere Sterbende, an das nahe bevorstehende Ende der ihm bekannten Welt zu glauben. Er faßte sie zusammen wie ein Letzter. Er enthält ihr ganzes Genie. Er selbst war nicht, was so genannt wird, und hielt sich nicht dafür. Er arbeitete, um ein Genie zu sein, zu einsichtsvoll, er achtete zu sehr auf sich. Ein Genie kann sich Albernheiten erlauben; denn »nichts entehrt die Götter«. Aber auch das unpersönliche Genie eines ganzen Zeitalters kann verkörpert sein und ausreifen in einem Erwählten. Das gibt dem Erwählten zuletzt sogar die Leichtigkeit, die er beim Genie bewundert. Wieviel hat er gesprochen, gut, ja, schon in fertig erscheinender Fassung hingesprochen! Seine Hörer konnten sammeln – mehr, als der Schüler des beredten Abbé Coignard gesammelt hatte, und France selbst schrieb doch. Sein Tagewerk war schon getan, wenn er zu sprechen anfing. Er war reich, er verwaltete den geistigen Besitz langer, herrlicher Zeiten und eines berühmten Landes.


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