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Victor Hugo

Victor Hugo

Victor Hugo
Quelle: Projekt Gutenberg-DE

I

Victor Hugo hat dreiundachtzig Jahre gelebt. Seine literarische Laufbahn umfaßt neunundsechzig Jahre. Davon fällt das erste Jahrzehnt in die Zeit des restaurierten Königtums von Gottes Gnaden, die letzten anderthalb schon in die dritte Republik. Inmitten liegen das Bürgerkönigtum, das ihn zum Pair von Frankreich machte, und Napoleon III., dessen Sturz er neunzehn Jahre als Verbannter ersehnte. Inmitten liegt vor allem die ansteigende Bahn des Bürgertums, seine politische Machtergreifung, sein wirtschaftlicher Glanz, seine geistige Unumschränktheit. Victor Hugo hat das Bürgertum ausgedrückt, es überwältigend glorreich ausgedrückt zur Zeit des Aufstieges der Klasse, als sie so weit wie möglich offenes Herz und offenen Geist hatte. Damals fand sie zu ihrem Glück den großen Dichter.

Victor Hugo hatte nur gut bürgerliche Eigenschaften, – sein Genie findet sich ab mit ihnen, es macht sie fruchtbar. Er war ein großer Arbeiter voll Pflichtgefühl, voll Glauben an die fortwährende Vervollkommnungsfähigkeit dessen, der arbeitet. Er war streng auf seinen Ruhm bedacht, verwaltete und mehrte ihn nachsichtslos wie ein Kaufmann sein Geld. Sein Empfinden reicht von Anmut und Schalkheit bis zur großen Leidenschaft, aber er gab es nicht billig, und es überwucherte nie den Willen.

Aus seinem Liebesleben machte er öffentlich so wenig, wie ein gesunder, solider Mann daraus macht. Seine Liebeslyrik ist konventionell, wenn sie nicht scherzt oder sich der Zartheit erster Regungen entsinnt. Aber er liebte seine Kinder. Höchstes Glück, die ganze Welt der Schmerzen schenkte ihm nur seine Vaterliebe. Sie schenkte ihm auch seine gefühltesten Gedichte.

Er hatte nur die Gedanken aller Welt und jeden erst, wenn es Zeit war. Man sagt, er habe sie oft noch später gehabt als der Durchschnitt. Er hielt sich aber für einen Denker. Das war gut. So konnte er mit voller Überzeugung die geltenden Begriffe gestalten. Er nahm sie ernster als andere und litt sogar für sie. Er war nicht Denker, aber Darsteller von Gedanken, auch mit seiner Person.

Seine Gedichte sind Gipfel des Ausdrucks. Sie bieten klanglich ganze Orchester, von handelnder Kraft mehr als die Geschichte selbst. Sie erheben sich an idealen Schlagworten, am Namen Gottes, des Geschickes, der Menschengröße. Sie schwingen sich himmelan, kennen aber auch Höllen des Hasses. Züchtigungen oder Gebete, zum Fest wird bei ihm alles, was mittelmäßig in anderen Köpfen umgeht.

Er war immer auch Politiker, denn die Bürgerklasse war bewegt, wie er, von allgemeinen Ideen, selbst wenn dann nur Geschäfte daraus wurden; der geistige Mensch konnte damals für sie sprechen. Wenn sie schon gewußt hätte, daß allgemeine Ideen wandelbaren Inhalts sind, nie würde sie ihren Dichter gehabt haben. Die Bürgerklasse hielt aber damals die Ideen nicht nur für ewig, sondern für realisierbar. Idee und Utopie hießen ihr noch nicht dasselbe. Sie hatte geistigen Willen, wie ihr Dichter. Sie fühlte genau, es sei lebenswichtig, geistigen Willen zu haben. Wo er nachläßt, bekommt man bald alle Tatsachen des Lebens gegen sich, zuerst natürlich die Geister.

Die ansteigende Bürgerklasse aber hatte ihren großen Dichter. Er sprach für sie gutgläubig und unduldsam. Er nahm Ideenkämpfe ernst. Ihm schien unbekannt, daß Politik fast immer nur Vorwand ist für Machenschaften und Halbheiten. So oft er es entdeckte, empörte es ihn. Er war stark genug, die bürgerliche Welt war noch jung genug, daß die Kraft der Empörung ihm nie ausging. Der Staatsstreich Louis Napoleons empörte ihn derart, daß er in jener Luft von Unrecht und Gewalt nicht leben wollte. Er zog die Fremde vor.

Bedenken wir: ein Fünfzigjähriger, schon erfolggewöhnt, im Staat schon unter den Ersten – und könnte nur noch gewinnen, denn das Kaiserreich erweist sich alsbald, dank der Prinzessin Mathilde Bonaparte, als Freund der besten Literatur. Aber er bleibt fern, auch nach der Amnestie; bleibt auf den kleinen englischen Inseln, die vor Frankreich liegen. Verbannt sich selbst, leistet Verzicht auf zahlreiche Gesellschaft, die Menge der Verehrer, auf den Rausch persönlicher Erfolge, den belebenden Atem der Öffentlichkeit. Warum? Wegen einer Idee, der Republik.

Nun läßt sich sagen, Eitelkeit. Ins Große getriebene Eitelkeit, die lieber verliert als nachgibt. Er war schon immer eingenommen gewesen von sich und seiner Art, wie ein Spießbürger; konnte sich nie unrecht geben, begriff weder Kritik noch Enttäuschung, sah sich als Fackel der Welt und hielt gegen Feinde sogar Roheiten für erlaubt. Auf seiner englischen Insel nun widersprach ihm niemand, auch der ferne Kaiser nicht, an dem er zäh sich rächte. Der Abstand, die Größe des dazwischenliegenden Meeres nützte ihm. Er wuchs auf seinem Felsen, das romantische Bedürfnis der Zeitgenossen nach Menschengröße bemächtigte sich seiner. Was er dort schrieb, kam nach Frankreich wie das Sendschreiben höherer Mächte. Es hatte den vielfachen Erfolg, es machte ihn reich. Das selbst erbaute Haus der romantischen Entwürfe hatte droben ein gläsernes Zimmer, darin schrieb er, und ringsum stürmte oder glänzte unabsehbar das Meer. Soviel hatte Shakespeare nicht gehabt, – der das stürmende Meer in sich selbst tragen mußte, in Hinterzimmern kleiner Theater. Es ist bürgerliche Regie. Die Verehrung ihrerseits erreicht ihn nur sicherer, sie sank vor ihn hin nur überschwänglicher. Die Pilgerfahrt zu ihm machten bekannte Persönlichkeiten und einfache Leute. Junge Dichter in langen Reihen unterschrieben Kundgebungen. Sie hatten Schwung, er konnte schwungvoll erwidern. Gelegenheiten tragender Worte! Dumas' Vater adressierte: »Victor Hugo, Ozean.« Und dann das stolze Vorrecht, einzugreifen mit seinem Wort in alle sittlichen Fragen der Welt! Zweiter Voltaire, vergrößert durch Meeresweiten, und ohne ihn kein Weltereignis!

Dies alles läßt sich sagen. Gleichviel, neunzehnjähriges Ausharren beglaubigt doch auch den Charakter. Er vertrat die bürgerliche Überzeugung, er glaubte sogar: das Volk. Er tat seine Pflicht. Verzichtete auf viele Reize des Lebens, durchdrungen davon, das Leben werde nicht wegen augenblicklicher Vorteile gelebt, sondern im Hinblick auf künftige Verwirklichungen. Jede Klasse, die noch Zukunft hat, fühlt so, ihr Dichter drückt sie nur aus. Das bürgerliche Frankreich, das die Segnungen des Kaiserreiches hinnahm und genoß, huldigte dem Verbannten wie seinem besseren Selbst.

Das zweite Kaiserreich war eine helle Zeit, sein Himmel schien heiter, das Leben ein Spiel, etwas luftig Schwebendes, das ebenso den Leichtsinn der Welt wie die schönen Mühen der Geister begünstigte, und das nie wiederkehren sollte. Es war der Augenblick, der die bürgerliche Gesittung vollendet und fast noch nicht bedroht. Der Dichter in seinem schroffen Abstand ergänzte erst das Bewußtsein der Epoche. Er blieb ihr gegenwärtig, ihre Mahnung. Er rechtfertigte sie, da auch er ihr gehörte. Er tat seine Pflicht.

Nur menschlich, daß er, um nicht zu vereinsamen, in seinem Werk die engste Berührung mit Volk und Zeit suchte. Erst auf dem Felsen von Guernesey wurde er Sozialist. Die Misérables, die er dort schrieb, »schmeicheln den Saint-Simoniens, den Philippisten und selbst den Gastwirten« – sagt entrüstet Flaubert, der doch den anderen Roman Victor Hugos, Notre Dame, so sehr bewundert, daß er in der Haupteigenschaft des Buches, der Kraft, das eigentliche Merkmal des Genies sieht. Ging denn die Kraft verloren? Nein, aber ein Einsamer sehnt sich.

Er hatte an seiner Eitelkeit gelitten, unter ihren Parodien, und wenn sie ihn lächerlich machte, ohne daß er jemals sich ändern konnte. Er hatte den tieferen Schmerz um sein verlorenes Kind gekannt. Aber erst in Guernesey lernte er, am Leben selbst zu kranken – trotz dem grundsätzlichen Optimismus seiner festen Natur und bei allem, bis zum Ende bewahrten Glauben an Gott. Ihn hatten, es sei wie immer, die Sieger des Lebens ausgestoßen. Er näherte sich den Armen – nicht nur im Buch. Er wurde Wohltäter ihrer Kinder. In seinem Haus wohnte immer auch ein vom Unglück, nicht von seiner Überzeugung, aus der Heimat vertriebener Berufsgenosse.

»Ein Verbannter ist wohlwollend«, schrieb er und meinte die Liebe zu den unschuldigen Geschöpfen der Natur, den Glauben an ihre Güte, jene Besänftigung des Einsamen. Aber was er eigentlich fühlen wollte, war Menschennähe. Jetzt schrieb er nicht mehr nur um den Ruhm, auch um Menschennähe. Nach dem Millionenerfolg derselben Miserables rief er beglückt: »Zwischen der Menge und mir gibt es Beziehungen, wir lieben und verstehen uns.«

Im Lohn, den die Verbannung ihm eintrug, war nicht nur jenes Aufsehen der Welt. Innerer Gewinn durch Leiden. Erweiterung des Lebens, die Gedanken vereinfacht und vergrößert. Die Geschichte wird ihm menschlicher, die Menschen wirklicher. Gespannt und das Äußerste fordernd, vollbringt er hier sein reiches Gedichtbuch Les Contemplations und die stärksten Gesänge der Légende des Siècles.

Es ist die Höhe des Lebens. Der Dichter, in dem das scheinbar so weltliche Frankreich sich erkennt, hat seine zwei entscheidenden Jahrzehnte einsam verbracht. Er hat gewartet. Wartete er wirklich? Das Reich gewann nur noch an Glanz, es tat immer mächtiger. Dann bringt aber ein Feind es zu Fall. Nicht ein Gedanke stürzt es, nicht der Gedanke der Republik aus eigener Kraft; nur eine fremde Macht. So sehen Siege aus. Der alte Verbannte darf, ohne sich etwas zu vergeben, heimkehren; aber im Land steht der Feind. Er verlor dennoch keine Minute. Am ersten September war Napoleon geschlagen, am fünften fuhr Victor Hugo nach Brüssel, trat an den Schalter und verlangte, die Stimme zitternd vor Erregung, die Karte nach Paris. Dann zog er, ohne es zu wissen, seine Uhr. Diese lange Zeit war also aus.

In die Verbannung war ein Mann gezogen mit langen, straffen, noch dunklen Haaren, kein Bart, das bleiche Gesicht vom Kämpfen scharf, vom Wollen hart. Zurück kehrte ein rüstiger, bärtiger Alter, der zu kämpfen für eine Weile keinen Grund mehr hatte, denn die Welt brachte ihm freiwillig ihre Gaben mit höchstem Eifer dar. Sonst wäre er wie je der Mann gewesen, sie zu erzwingen. Er war ausgestattet für lange Dauer und war noch nicht siebzig. Jetzt kam die Arbeit der Ernte. Ehren, Feiern, die Huldigungen von Volk und Ämtern, alles war hereinzubringen, der Rang zu behaupten als erste Größe des Landes, Held und Orakel der Republik. Dies sahen neuere Zeiten nie. Er ließ nichts nach. Um ihm den höchsten Rang der Ehrenlegion verleihen zu können, wollte man ihn vorher zum Kommandeur machen, acht Tage später wäre er grand'Croix geworden. Nein! gleich alles oder gar nichts.

Es kam dahin, daß es selbst ihm zuviel ward. »Schon wieder die Politiker!« sagte er zu einer der Seinen. »Wenn wir uns ein wenig verschwören würden, damit die Napoleons wiederkommen. Nicht wahr, dann würden wir wieder dorthin – nun ja, auf die Inseln würden wir wieder gehen und zusammen arbeiten.«

Dennoch gab die monarchistische Reaktion des Marschalls Mac Mahon ihm seine ganze Empörung zurück. Er empörte sich nicht mit überlegener Ironie, wie ein Mensch des Geistes. Man sah ihn wild werden, wie einen revolutionären Arbeiter. Er, der wie das Volk fühlte und sich gemüht hatte wie das Volk, sollte sein Recht, alles zu sein, an den Monarchen verlieren?

Geduld, alter Mann, der so mächtig an der Welt hängt, sie zahlt dir alles. Sie wird dir das ungeheuerste Begräbnis bereiten. Sie stellt deinen Sarg unter dem Triumphbogen aus! Dort stand kein anderer, dessen Macht das Wort war. In einem Meer von Volk, deinem Volk, wird dich der stundenweite Zug ohne Besinnen ins Pantheon tragen.

Freilich werden die Baccaratspieler der vornehmen Klubs auf ihren Balkonen die Hüte aufbehalten vor deinem Sarg, weil er ohne Priester geht. Und du hättest doch den Erzbischof haben können! Auch wird erzählt werden, die höchsten Stellen der Republik begrüben dich nur darum so glanzvoll, weil die Erinnerung an einen anderen, ihnen gefährlicheren Toten, Gambetta, verwischt werden sollte. So denkt die Welt, alter Mann. Noch dein Sarg wird durch ihren Wind und ihren Schmutz gehen. Deine Kraft war immer, beide so wenig zu scheuen wie der gemeine Mann, – indes du zugleich dich in hohe Träume wiegtest.

Damit wirst du weit kommen, sogar auch nach dem Tode. Am weitesten kommt bei den Menschen nicht der Abgesonderte, der sie befremdet durch Reinheit, Erhabenheit oder Tragik; weder Lamartine, noch de Vigny, noch Musset hast du zu fürchten. Am weitesten kommt bei ihnen der, der ihnen genau gleicht – nur mit Genie. Ihn werden noch lange die Lebenden als ihresgleichen erkennen. Er hat die Unsterblichkeit.

Er schrieb noch viel in seinem letzten Jahrzehnt. Auch Quatre-vingt-treize schrieb er damals, 1874. Am Abend erwärmte er sich bei literarischen Gesprächen, saß, die Arme auf der Brust gekreuzt, leicht rückwärts geneigt im geschlossenen Gehrock, der weißen Halsbinde; sprach und ließ sich verehren.

Meine Mutter wußte aus ihrem Heimatland eine Geschichte. Dom Pedro, Kaiser von Brasilien und Dichter, fuhr nach Paris und saß im Zimmer bei Victor Hugo. »Sire«, sagte Victor Hugo. Der Kaiser sagte: »Hier ist kein Herrscher außer Victor Hugo.« Der aber schwieg.

II

Unter den großen Romanwerken des 19. Jahrhunderts ist ein besonders merkwürdiges, das von Victor Hugo. Man sagt wohl, dieser Lyriker habe keinen einzigen wirklichen Menschen geschaffen. Flaubert behauptet sogar, seine ganze Gesellschaft sei falsch. Aber Flaubert hatte dafür gute Gründe; er war der Gegenstoß. War Victor Hugo nicht falsch, so war Flaubert überflüssig.

Hat Victor Hugo die Wirklichkeit nicht gelassen, wo sie war, sondern sie übertragen auf eine Höhe, die ihm genehm war, was könnte man dann Übertreibendes sagen von einer Schöpferkraft, die diese gefährlich persönliche Welt zusammenhält und belebt. Denn sie lebt, das leugnet niemand, den sie ergreift. Es ist eine Welt, versammelt unter einem seltenen Gewitterhimmel, der sie heller macht, als er selbst ist. In den Misérables bewegt sich ein tragischer Sträfling unter solchem Himmel, aber auch alles andere lebt unter ihm. Alles wächst und flammt auf in der einzigen Beleuchtung, ein unheilvoller Wind streicht, und die Dinge stehen vor Abbruch.

Um nur von dem einen zu sprechen, Les Misérables – die Großartigkeit selbst! Hier wird alles beispielhaft durch Steigerung, drohend, weil über gewöhnliches Maß, göttlich, weil so freigebig. Mutterliebe geht bis ans Ende, Mitleid bis zur Heiligkeit, das Verbrechen bis zum Tier, das Gesetz, bis es ein Grauen wird. Und diese große Welt hat ihr Gewissen, es ist nicht kleiner als sie. Der erste Antrieb sogar, sie zu erschaffen, war Gewissen. Jener seltene Himmel, der sie heller macht, als er selbst ist, heißt Gewissen, und die Welt der Misérables ist sittliche Welt. Das Dringlichste, was hier geschieht, ist Gewissenserforschung, das Größte ist Gewissenskampf. Bevor der Sträfling sich dem Gesetz ausliefert, kämpft er, wie selten auf Erden gekämpft worden ist. Nur noch der Polizeiinspektor, sein Gegner, kämpft später ebenso.

In solchen Kämpfen, solchen Abgründen haben sich viele erkannt, ungezählte Menschenscharen, die seit sechzig Jahren dies lasen. Nicht, ob aus einem verwüsteten Sträfling wirklich in fünf Jahren ein untadeliger Ehrenmann werden kann, entscheidet, sondern sein großer Kampf. Der bleibt wahr, auch wenn ihn nicht dieser, sondern ein anderer gekämpft hätte. Immer hat ein anderer ihn gekämpft, jeder einzelne Mensch ist zu klein für die starken Wagnisse der Seele, er öffnet seine Abgründe nicht. Aber in ihm liegen sie. Aber er will von ihnen wissen, er will sie mitfühlen, soviel ihm gegeben ist.

Warum lesen die meisten? Doch nur, um von stärkeren Händen ergriffen, getröstet, bedroht und geführt zu werden. Wenn das Leben eine allgemein verständliche Angelegenheit wäre, bezweifle ich, daß es Romane gäbe. Die ganz große Leserschaft erwählt den, der den Schlüssel hat. Victor Hugo kennt die Absichten Gottes in der Geschichte, und er erfindet herrliche Abenteuer, die sie erklären. Er schreibt, weil er sich als weisen und großen Menschen fühlt. Das ist nicht einfach Überhebung, denn was er so groß und Gott so nahe weiß, ist nicht sein einzelnes Ich, es ist in ihm der Mensch.

Victor Hugo hat eine große und ehrliche Verehrung für den Menschen gehabt. Er hielt ihn für das geliebteste Geschöpf des lebendigen Gottes, glaubte ihn zum Höchsten berufen, sah in all seinem Unglück, seiner Schande reine Verirrung und wollte ihm auf den rechten Weg helfen. Romane waren ihm Taten, nicht nur schöne, auch nützliche.

Die Fehler des Menschen drücken sich, ihm zufolge, vor allem in der Gesellschaft aus. Sie drücken sich besser in ihr aus als seine Tugenden. Für die Gesellschaft schämt er sich nicht. Sie ist grausam, sie ist unerbittlich gegen Schwache, liebedienerisch vor dem Erfolg. Sie läßt den Gefallenen nie mehr aufstehen. Sie schützt die Mutter nicht, ja sogar Kinder, die Unschuldigen, läßt sie zugrunde gehen. Solange es das Proletariat gibt, muß es Bücher wie die Misérables geben, sagt ihr Dichter.

Somit war er Sozialist aus Mitleid und Empörung, Sozialist im Namen der Menschengröße, romantischer Sozialist. Zu seiner Zeit war der Sozialismus seelisch viel mächtiger als heute. Die Leute fürchteten ihn noch nicht, sie waren bereit, mitzuweinen und mit aufzuschreien gegen die Gesellschaft. Vielleicht wären sie immer bereit, nur muß von Zeit zu Zeit der kommen, der ihnen zeigt, wie man mitleidet und wie man an Erlösung glaubt. Die Schwäche allein kann weder glauben noch mitleiden. Victor Hugo kam rechtzeitig, und die Misérables drangen sofort tief ein.

Seitdem haben die Herzen sich wohl verhärten müssen. Mit der Gesellschaft, die Victor Hugo bessern wollte, ist es so unbegreiflich schlimm gekommen. An den großen Schwung einstiger Hoffnungen bleibt nur laue Erinnerung. In Geltung ist schneckenhaft langsame soziale Kleinarbeit.

Victor Hugo wäre der erste, die Kleinarbeit ganz natürlich zu finden. Geduld kannte niemand besser als er. Wieviel praktisches Wissen in einem Roman wie die Misérables! Die Gesellschaft ist studiert, statistisch, technisch, historisch, physiologisch. Abhandlungen, Rückblicke und Ausfälle, ein ganzer lebender Unterbau trägt die Ereignisse dieses großen Romans. Die gesamte Geschichte der Zivilisation dient der Vorbereitung seiner Szenen. Dann aber flammen sie überwirklich auf, Gesichte von Dämonen oder Propheten.

Merkwürdiges Verfahren, immer wieder bei jedem Abschnitt fängt er mit Aufgebot neuer Kunst von vorn an, oder es scheint doch so. In Wirklichkeit baut er von vielen Punkten her gleichzeitig an seiner Kathedrale. Plötzlich steigt sie auf vor den begreifenden Blicken.

Wenn alles bereit ist, soll die Kathedrale gegen den Himmel steigen, und er soll flammen. Aufs Ganze gehen, sich nicht schonen, sich hingeben der Leidenschaft! Alle Nachtstücke des Lebens, vom verwahrlosten Kind bis zum verlassenen Alter, können in einem Werk vereinigt sein, und es wird guten Mut, ja Heiterkeit atmen, hast du den Glauben an das Leben und den Glauben an Gott.

So sind die Misérables entstanden. So entstehen die Werke, die in der Welt etwas ausrichten, die besten der Tendenzromane. Denn solange dieses Wort noch abschrecken soll, muß entgegengehalten werden, daß eine große Dichtung, die Misérables, Tendenzroman ist.

Nicht nur, was man Zeitroman nennt. Natürlich gibt es ohne Tendenz überhaupt nichts. An jede Liebesgeschichte kommt der Autor von rechts oder von links. Wer seine Zeit darstellt, bringt Voraussetzungen und Absichten aller Art mit: Balzac katholische und legitimistische, Stendhal den Rationalismus und Napoleon.

Flaubert vertrat literarisch den aristokratischen Intellektualismus, der eine politische Richtung ist. Die sozialistische Volkstümlichkeit der Misérables mußte ihn reizen – längst bevor er ihr Gesellschaftsbild »falsch« fand. Ästhetische Streitigkeiten führen zuletzt immer nach verschiedenen politischen Richtungen. Die politische Richtung fällt zusammen mit dem Empfindungstyp. Nur wer nichts empfände, hätte »reine Dichtung«.

Victor Hugo hat nicht nur machtvoll empfunden und seine Gesinnung gestaltet, er hat sogar bestimmte weltliche, soziale Absichten verfolgt mit seinem Werk, dies abzuschaffen, jenes zu erreichen, hierüber die Augen zu öffnen, auch zu strafen für manches. Nackte Tendenz, und nun die Zeit darüber hingegangen ist und sie verwirklicht oder nicht verwirklicht hat, dauert das Werk noch immer. Figuren, die doch zweckvoll erfunden waren, sind ins öffentliche Bewußtsein gedrungen und sprichwörtlich geworden. Der Gassenjunge Gavroche sollte nur ins Pflegeheim kommen, statt dessen hat er die Unsterblichkeit. Er hat sie von dem Dichter, dem »kein wirklicher Mensch« gelang.

Nur große Kraft konnte sich so tief einlassen mit der Welt, sich so lange mit ihr umherschlagen, und doch nicht Schaden nehmen. Victor Hugo wuchs sogar erst mit den Miserables zu der Größe hinan, die er geblieben ist. Seither kennt ihn sein Volk in den tiefsten Schichten, seitdem ist er der Erste.

Sein Jahrhundert und sein Land haben viele große Namen, es ist nicht wenig, in ihnen der Erste zu sein. Es ist nicht wenig, den tiefen Schichten zu gefallen und hoch zu bleiben, nationaler Besitz zu werden und noch immer geheimer Besitz der Wählerischen zu sein. Ein starker Charakter ist geboten. Wenn Kraft, Volkstümlichkeit und der unerschütterliche Glaube an die eigene Berufung beisammen sind, fehlt noch der starke Charakter. Er ist es meistens, der fehlt. Victor Hugo hatte ihn, erst dadurch seine unerhörte Wirkung.

III

Quatre-vingt-treize ist ein Alterswerk, besonders dadurch, daß es aus frühesten Erinnerungen kommt. Der Vater Victor Hugos, General unter Napoleon dem Ersten, hatte einst gegen den monarchistischen Aufstand der Vendée gekämpft. Die Mutter Victor Hugos war aus jener Bretagne, die der Revolution so lange widerstanden hatte. Er ist der Sohn starker Menschen, sein Werk sucht die Kraft nicht auf, wenn es gewalttätige Zeiten darstellt, es hat sie schon. Es hat sie auch im Alter.

Dies zeigt zuerst der Stil. Er ist das Leben selbst – und dabei unrealistisch. Vielleicht eben darum unrealistisch? Vielleicht würde die einfache Wirklichkeit nicht ausreichen, soviel Leben zu tragen. Der Stil hier steigert sie immer. Die Menschen, ihre Taten, ihre Gesichter haben größere Züge als die. allgemein bekannten. Ihre Art aufzutreten, ist merkwürdig unökonomisch. Sie sprechen – zweifellos auch, um einander etwas mitzuteilen; aber zuerst, um sich zu entladen. Wie oft reden sie aneinander vorbei aus lauter Kraft. Dadurch verblüffen sie, es macht Effekt; ist aber im höheren Sinn auch wahr. Denn der Mensch gibt in Wahrheit den größten Teil seiner Kraft vergebens aus. Ihn logisch und ökonomisch leben und reden zu lassen, ist nicht Natur.

Empfinden wir so? Dann kommt Victor Hugo uns heute nahe. Effektvolle Tiraden, gewiß, daran fehlt es nicht; fragt sich nur, ob nicht auch sie dem Leben dienen. Ein alter Adliger hält eine hochgespannte Ansprache an einen jungen Matrosen, der ihn umbringen will; sie schließt: »Wir sind im Abgrund, allein und Aug' in Auge. Nur zu, mach' ein Ende! Ich bin alt, du bist jung, ich bin waffenlos, du hast Waffen; töte mich!« Worauf der Matrose gerade im Gegenteil ihn nicht tötet. Dies aber war der Zweck der Rede. Sie zeigt die geraffte Kraft dessen, der vor einem Bewaffneten nur einfach gut spricht.

Oder jener Gesang auf die losgerissene Kanone. Man hört sagen: die Kanone, die sich losgerissen hat. Denn sie ist belebt, sie hat Atem, sie hat die Absicht, zu zerstören. Nun, wir kennen solche Belebungen von Dingen, wir wissen, daß in Zola, der so verfährt, Victor Hugo steckt. Diesen selbst indessen unterscheidet seine Sprache. Seine Sprache, obwohl technisch völlig informiert über die Kanone, will durchaus nicht auf Echtheit hinaus, sondern über sie fort geradenwegs zum Leben. Sie ist beflügelt.

Ein, man weiß nicht wie, beflügelter Schritt eilt durch das Buch, erhebt sich und schwebt. Die Antithesen wirken mit. Diese berühmten Antithesen sind auch nicht Selbstzweck und leerer Effekt; sie helfen zum vollen Leben, zu einer gewissen Überwachheit. Sie verdeutlichen bis ins Ungeheure. Sie erheben auch den Einfachen zur Ahnung des Höchsten. »Die fortwährenden Antithesen Gottes«, – das ahmen sie nach.

Empfinden wir so? Dann seien wir nicht stolz. Ganzen Geschlechtern war der Sinn für diese Prosa verloren gegangen. Was wir fühlen, geht auch verloren. Hier und da kehrt etwas wieder oder scheint wiederzukehren. Könnten wir den Zeitgenossen Victor Hugos darlegen, welchen Eindruck seine Prosa auf uns macht, den ihren würden sie nicht wiedererkennen. Sie würden darum an der Prosa ihres Dichters nicht zweifeln. Nur an uns.

Flaubert hat die Figuren in »1793« höchstwahrscheinlich ebensowenig gut gefunden, wie die der Misérables. Über diese sagte er: Beobachtung sei eine Eigenschaft zweiten Ranges, aber als Zeitgenosse Balzacs habe Victor Hugo die Gesellschaft nicht so falsch schildern dürfen. Und doch war der junge Flaubert aufgewachsen unter dem Zauber der Romantik und in der Vergötterung Victor Hugos. Im Grunde blieb er so; noch als er starb, trat auf seine Lippen der geliebte Name. Nur, ihm war Beobachtung auferlegt als unerwünschte Pflicht: jene Beobachtung im kleinen, über die der große Atem Victor Hugos hingehen durfte. Was hat Flaubert zu Cimourdain gesagt? Für uns ist Cimourdain eine starke Figur.

Er ist weder Homais noch Monsieur Dambreuse, weder der kleine noch der große Bürger von 1850 oder 1860. Von den friedlichen Gestalten Flauberts trennen ihn Krieg, Gefahr, äußerste Anspannung des Lebens, heroischer Beginn einer Klasse. Auch im Ausdruck. Vor allem im Ausdruck. Cimourdain tritt zu stürmisch auf und wieder ab, als daß man jede Blatternnarbe sehen könnte. Man sieht nur die riesige blutige Schmarre, nachdem er seinen jungen Liebling vom Tode errettet hat, und dann, als er ihn selbst töten mußte, sein von eigener Hand getroffenes Herz. Man hört ihn nur in starken Worten sprechen, seine Gesten sind alle entscheidend. Die Kleinheit ist abgeschafft. Die Laster Cimourdains gleichen seinem Heldentum. Er ist eine rohe Figur, in die Not des Augenblicks summarisch gestellt, und paßt für kein behagliches Zimmer, paßt nur für felsigen Wald, Kerker oder Schlacht.

»Es gibt Sturmseelen«, – ist das eine Begründung? »Erhaben und umstarrt von Abgründen«, – was beweist das? Aber er führt reinen Herzens Schurken an, weil er den großen Haß hat statt der verbotenen großen Liebe. Er geht unter, weil er nur Logik, nicht Vernunft kennt. Er ist das schlagende Porträt des in starke Handlung versetzten absoluten Intellektuellen.

Auch Psychologie kann in großen Zügen auftreten. Victor Hugo versteht sie fast nur so; erstens, weil er, ein starker stürmischer Mensch, sich dem rauhen Anfang seines Jahrhunderts noch nahe fühlt. Infolge hiervon auch aus literarischer Absicht. Shakespeare! – den er »bewundert, wie der Dümmste«. Seine eigenen Gestalten sollen von sagenhafter Einfachheit, dabei tief und weit, vieldeutig, ja etwas irr sein. Er hat Bettler, die sagen: »Ich weiß nicht recht, es ist ein Kommen und Gehen, Dinge gehen vor; ich aber bin hier unter den Sternen.« Freilich weiß derselbe Bettler schon, daß es sich in der Revolution schließlich um reich und arm dreht, – was damals nicht leicht jemand wußte. Es wurde erst 1848 allgemein bekannt.

»Es gibt Beziehungen zwischen mir und der Menge –«. Es gibt auch die, daß Victor Hugo sich in den Wirkungen der Spannung und der Kraßheit gefällt, wie seine einfachsten Leser. So bringt er ihnen am besten »Ideen« bei, ganz allgemeine ideale Mächte, die seine Handlung mit sich trägt. Er selbst hat sie nicht gedacht, nur gefühlt, wie alle Schöpfer, – bei denen Denken zusammenfällt mit Erleben. Es sind Ideen der Güte. Er konnte mit vollem Recht behaupten, immer sei er eingetreten für alle Elenden.

Shakespeare, ergänzt durch 1848 – dies ergibt wohl das literarische Ideal Victor Hugos. Seine Empfindung des Geschehens und ihr stilistischer Ausdruck gerade hier in »1793« stehen am nächsten Michelet, dem demokratischen Historiker der Revolution.

Danton, Robespierre, Marat haben ihre große Szene. Man könnte sagen: ihr großes Bild. Eine Erinnerung bleibt wie an Statuen, die sich bewegt haben. Sie haben gesprochen, sie haben einen Augenblick in herrliche Abgründe blicken lassen. Sie belauern einander, um einander zu vernichten, und sind doch zusammen erst groß.

Jeder von ihnen ließe sich sozial und klinisch bestimmen. Gerade bei ihnen läge es uns nahe; wir haben »Die Götter dürsten«. Nichts bliebe dann übrig, als die mehr oder weniger kranken Geschöpfe einer Zeit, die ihresgleichen künstlich aufblähte und zur Schau stellte. Das wäre verkleinernde Erkenntnis. Sie war auch dem Geschlecht Victor Hugos nicht unzugänglich. Die Fragwürdigkeit der Menschengröße durchschaut jeder zu gewissen Stunden, und kein Schriftsteller mit weiter, dauernder Wirkung war ein schlechter Lebenskenner. Eine vergrößernde Erkenntnis aber sieht lieber den Charakter in überwirklicher Steigerung, er habe übrigens seine Wurzel wo immer. Halluzinationen, Nähe manischer Depression, hier münden sie in unbezweifelbare Persönlichkeit und werden großes Schicksal.

Machen wir dies nicht mit? Zu bedenken wäre immerhin: nur so bleibt Geschichte nicht in Kliniken stecken. Nur so stimmt Betrachtung des Lebens nicht herab. Sind wir nicht doch neugierig, zuzusehen, wie sie den Menschen vergrößert, ihn schrecklicher, stärker oder geschlagener zeigt, als wir dachten; uns im überdeutlichen Beispiel vorhält, daß am Ende auch wir nicht umsonst die Wirrsal unseres Lebens bestehen? Fruchtbarer Optimismus – zuletzt möchte jeder ihn haben. Ganz auf die Art des Geschlechtes von 1848 und ihres Dichters werden wir ihn nicht erreichen. Victor Hugo vergrößert und ist Optimist. Sein Optimismus hängt möglichenfalls damit zusammen, daß er nicht zu genau hinsieht; ganz sicher aber damit, daß er alles Erblickte in die feurige Masse wirft, woraus Statuen werden. Ihm soll das Leben Größe atmen. Daher glaubt er auch, daß es vervollkommnungsfähig ist, und daß es nie endet.

Ein Meister unserer geistigen Mitwelt, Anatole France, starb fast so alt wie Victor Hugo in der Überzeugung, es sei für alle aus, unsere Welt sei am Ende. Sehen wir dagegen hin, wie Victor Hugo Kinder darstellt, sie, die sogar nahe betrachtet nie enttäuschen, sie, die unbewußt hindurchkommen durch Schrecken, Haß und den Streit der Geister. Unschuld ist dauerhafter als das Verbrechen samt dem Verhängnis. Die Zukunft wird gerettet in den Kindern. Darum halten sie die Mitte in dem Buch entfesselter Menschheit, »1793«.


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