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Gustave Flaubert und George Sand

Gustave Flaubert

Gustave Flaubert
Quelle: Projekt Gutenberg-DE

George Sand

George Sand
Quelle: de.wikipedia.org

I

Das neunzehnte Jahrhundert glänzt mit dem französischen Roman, wie das sechzehnte von italienischen Bildern und Palästen strahlt. Von 1850 bis 1880 sitzt Flaubert auf dem Lande, oft monatelang ohne Menschen, und schreibt seine sechs Bücher. Hier vollzieht sich die letzte Anstrengung, die repräsentative Kunstgattung der Zeit auf ihren Gipfel zu führen. Chateaubriand hatte das moderne Naturgefühl erfunden und den Stolz und den Schmerz des nach Auflösung der alten Gesellschaft an seiner Einsamkeit Tragenden. So blieben seine lyrischen und heroischen Landschaften allzu leer von Menschen; in ihnen lebt nur René. Stendhal, der Gesellschaftsmensch, hatte auch darum Italien bevorzugt, weil er hier die vorrevolutionären Salons noch hingefristet fand. Schon mit aller Ungebundenheit des Modernen hatte er seine Aufklärungsritte in diese Zweizeitenseelen gemacht; er sah vor allem Seelen und ihre soziale Bedingtheit. Balzac dagegen hatte aus dem Chaos des Jahrhunderts eine Welt gezogen, die mittleren und unteren Stände der Literatur erobert, die Literatur an Presse und Finanz, den neuen Mächten, gemessen, das Geld in die Literatur eingeführt samt den gewaltsamen Leidenschaften, die jetzt frei geworden waren. Sein herkulisches Genie hatte Stoffmassen gewälzt wie nie ein anderes; nur waren sie nicht immer gereinigt und leicht gemacht durch große Kunst. Théophile Gautier hatte Worte in Farben und Marmor umgewandelt; hatte Romane geschrieben, aus denen alles abwesend ist, wovon die Literatur sich nährt, und die dennoch Gewicht haben; in denen die Menschen, seelenlos, nur Staffage sind inmitten schöner Dinge, und die untadelig sind, aber ohne deutliche Beziehungen zum Leben. Das Talent Flauberts hält dies alles zusammengerafft wie ein Viergespann und lenkt es, wohin sein Temperament und seine Weisheit wollen. Er hat den sozialen Überblick des einen, ohne seine Illusionen; der Analyse des anderen schafft er unerhörte Ausdrucksmittel, macht als erster das Geistigste sinnlich fühlbar. Er hat Plastik als Grundtugend geübt, hat die malerische Wortkunst zum Impressionismus weitergeführt. Und das Tiefste in ihm ist sein Einsamkeitsbewußtsein; ein seit René viel schwerer gewordenes, das endlich sich seines Stolzes begibt. Er ist stark in jeder dieser Fähigkeiten; er wird groß, wo er sie alle zugleich betätigt. Es sind in seinen Büchern ein paar (notwendig nur ein paar) solcher äußersten Kraftleistungen. Ein Landwirtschaftsfest: Wir sehen ein Wogen von Vieh, Bauerntrachten, Honoratioren, Beamten um Zelte, Wagen, beflaggte Gebäude; vernehmen offizielle Reden, Gespräche in der Menge, eine Liebeswerbung; bemerken das Vortreten einzelner aus dem Gedränge und ihr Wiederuntergehen, das Herauslügen von Grimassen, über die sich sogleich etwas anderes legt, gebauschte Kleider, abgebrochene Gesten, den Wind, der über den Köpfen die Wolken treibt, die wechselnden Sonnenflecke, die Gerüche von alledem, nun verweht und nun wieder aufgewirbelt wie die Stimmen. Wir hören diese Welt von Dingen nicht erzählen, sondern erleben sie; sehen sie selbsttätig ihren geheimen Sinn preisgeben. Wenn irgendwo, ist hier ein Gesamtkunstwerk, eins, das ein einziges Hirn erschuf und dem kein Handlanger zum Leben hilft.

Als sein erstes Buch, Madame Bovary, bekannt geworden ist, verbreitet sich dieses Bild von Flaubert: Er ist auf die Wiedergabe der genauen Wirklichkeit bedacht; er sieht sie »unpersönlich«, »wissenschaftlich«, immerhin übertrieben düster. Jedenfalls ist er ein ganz Moderner, der durch künstlerische Einkleidung sozialer Probleme zu interessieren weiß; und, wie das Gericht anerkannt hat, sind die Beweggründe zu seinen freilich gewagten Schilderungen erzieherisch, sittlich. Er sollte in seinem nächsten Buch, das im übrigen ein Gegenstück zum ersten sein mag, seine Beobachtungsgabe an sympathischen Menschen üben, bessere Herzen vorzeigen: dann wird man ihm danken. Indessen muß man auf das nächste fünf Jahre lang warten; und als es kommt: welche unliebsame Überraschung! Diese »Salambo« ist nicht nur härter als das vorige, sie ist nicht einmal modern, rührt keine der Fragen auf, mit denen Madame Bovary der Öffentlichkeit lange zu tun gegeben hatte, ist ganz »äußerlich«, ergeht sich in Schilderungen verschollener Ungeheuerlichkeiten, so daß nicht einmal von Beobachtung die Rede sein kann. Kritiker und Professoren erklären das meiste für gewaltsame Erfindung. Sainte-Beuve schmeckt sogar eine Messerspitze sadistischer Phantasie heraus. Das Bild, das nun von Flaubert in Umlauf kommt, ist etwas gehässig. In diesem Augenblick, während er in Paris den Sturm besteht, nähert sich ihm jemand als Freund: George Sand. Sie sieht in Salambo eins der schönsten Bücher, die je geschrieben wurden, veröffentlicht aus dieser Gesinnung einen Artikel und bestätigt ihn durch einen Brief. Zwei Geister haben einander berührt und werden sich bis zum Tode der Älteren nicht mehr loslassen.

George Sand kommt als Menschensucherin. Ihr Genie, das Genie der Frau, ist rein psychologisch. Ihr gehört nicht die Welt: nur der Mann, und was er ihr zu fühlen gibt. Als sie jung war, stürmte ihre sehr männliche Generation; die Literatur ergriff, mit Glanz und Lärm, Besitz von den sichtbaren Dingen. Sie aber blieb daheim und schilderte ihr Frauenschicksal, erregte sich einzig im Namen der Liebe. Es gab damals nur einen, mit dem sie ernstlich zu tun bekommen konnte; denn unter den Damaligen war nicht mehr als ein mit dem Herzen Lebender: Musset. Und seitdem? »Die Beweggründe, die sie nach diesen verschiedenen Richtungen trieben, nach der Entfaltung dramatischen und literarischen Talentes und nach dem plötzlichen Überdruß am Lärm der Welt, nach einem tätigen Dasein als Theaterleiterin und nach dem trägen Landleben, – die Beweggründe waren schließlich, daran zweifelt nur nicht, eine ununterbrochene Folge von Liebesgeschichten.« Dies sagt sie von Lucrezia Floriani, der Gestalt, die ihr am ähnlichsten sieht. Jetzt, da sie sich den Sechzig nähert, ist von ihrem leidenschaftlichen Drängen nach dem Manne nur das Tiefste übrig: die weiblich lüsterne Neugier, der psychologische Kitzel. Und in Flaubert wittert sie etwas Seltsames, dessen Entdeckung lohnend wäre. Ihren verstorbenen Freund Balzac ersetzen, ihn, mit dem sie Kritiken ausgetauscht, an dem sie sich entwickelt hat; sich von der Seele des Mannes noch einmal befruchten lassen. Ihn würde es wenig kosten, und keinen anderen Entgelt will sie für die Güte, die sie bringt. Nun gerät sie gerade an einen, der dessen froh ist, weil er weiter einer Frau gar nichts zu geben hätte; weil er erfahren hat, daß »die Muse, sei sie noch so widerspenstig, einem doch weniger Kummer macht als die Frau«; und weil er als Freundin eine braucht, die, nach seinem Wort, »vom dritten Geschlecht« ist.

Das erste, was sie bemerkt: daß er ein gütiges Herz hat. Bei einem Besuch in seinem Landhaus hat sie ihn seine Mutter mit »Tochter« ansprechen hören, und ihr sind die Tränen gekommen. Komisch, meint sie: er hat eine Seite, die in seinen Büchern nicht zum Vorschein kommt, die er vielleicht selbst nicht kennt. Sie schreibt es ihm und fügt hinzu: »Es wird sicherlich später kommen.« Sie pocht an, damit er sich aufschließe: sehr behutsam und verständnisvoll. »Spielen kann ich nur mit meinem eigenen Mißgeschick; das, welches ein großer Geist hat durchmachen müssen, damit er in den Stand gesetzt ward, zu produzieren, halte ich heilig und rühre daran weder rauh noch leicht.« Sie gibt ihm ihre Stimmungen, damit er mit seinen erwidere. Darauf erfährt sie von schwarzer Laune, die wie Flut über ihn hingehe, und von Todesängsten, durch die ihn die Arbeit am Stil hetzt. Sie wirft die Keuschheitsfrage auf. Zurückkommt, daß Keuschheit nur als Kraftprobe Wert habe; und zu seiner Zeit, der Zeit tapferer Romantik, habe man sich stark genug gefühlt, Liebe und Kunst, alles zu gleicher Zeit, zu bewältigen. Sie zeigt sich ungläubig und erhält die Bestätigung, in Wirklichkeit habe er längst gewählt. »Für die Künstler (die Priester sind) ist Keuschheit keine Gefahr, im Gegenteil« …; Er solle sich selbst malen? Nein; denn der erstbeste sei interessanter, weil er typischer sei. Der ideale Künstler wäre ein Ungeheuer. »Ich empfinde einen unbesieglichen Widerwillen dagegen, etwas von meinem Herzen zu Papier zu bringen.« Sie, die nie etwas anderes zu Papier gebracht hat als ihr Herz, begreift nicht; und aus den Verhandlungen hierüber gewinnt sie die erste Skizze seines Wesens. Ein späterer Betrachter sieht in denselben Zügen mehr, als sie sehen konnte, weil er weiß, wohin dies alles geführt hat; weil schon in den Bildnissen aus der starken Zeit eines Geschlechtes manches den Sinn des Verfalles annimmt für den, der die Nachkommen kennt.

II

Flaubert vollbringt sein ganzes Werk im Kampf gegen sich selbst. Dieser endgültige Eroberer des Realismus ist kein Liebhaber der Wirklichkeit; dieser Moderne haßt die Bürgerwelt; dieser Erfinder des unpersönlichen Romanstils hat Lyrik zu verbergen.

Die letzten Windstöße des romantischen Sturmes gelangten, als er jung war, bis in seine Provinz. Er und seine Kameraden, die Brust gesprengt von Schwärmerei, fühlten sich als Ausnahmen in der platten Menschheit um sie her. Sie träumten vom Räuberleben, von der Liebe großer Damen und von dem Kampf für den Islam, von allem, was beim frühen Victor Hugo steht; trugen Dolche; benutzten sie auch und verstanden zu sterben. Eine Pariser Geistesmode hat sie verspätet erreicht, als man in Paris schon anfing, sie abzulegen: so verspätet dringt sie auch in das Kloster, worin Emma Bovary ihre Mädchenzeit verträumt. In ihren bildsamsten Jahren werden diese jungen Gehirne nach Vorstellungen und Bedürfnissen gefaltet, gegen die alsbald die ganze Wirklichkeit als Feind aufstehen wird. Einige erliegen ihr: so erliegt Emma Bovary. Vor allem darum, weil Paris, das sie nie zu sehen bekommt, ihr immer das Irrlicht bleibt. Flaubert sieht es, wie es ist, vergleicht, schämt sich; und was er von seinem jungen Herzen zu Papier zu bringen sich trotzdem nicht versagen konnte, Stimmungsprosa, wolkig wie Novembertage, Herzensdrang an Chateaubriands, seines Helden, Geburtsstätte und Grab: das ist von diesem Augenblick ab verurteilt, verschlossen zu bleiben. Er unterdrückt seine Jugend, seine ganze Jugend, um reif vor die Welt hinzutreten, mit einem kurz vor den Dreißig begonnenen Werk, aus dem vermeintlich der Autor abwesend, das angeblich die unter den unerforschlichen Augen eines unsichtbaren Gottes geschehene Selbstgestaltung der Dinge ist. Aber die wilde Ironie, die nirgends nachweisbar hervortritt und deren Katzenaugen man doch überall ahnt, hinter den Vorgängen, hinter dem Stil, hinter der verfälschten und unangemessenen Gefühlssucht der Heldin: wie entsteht sie? Wer hat hier gelitten, um so ironisch sein zu dürfen? Eine arme Frau, die sich weder ihre Sinne noch ihre Eindrücke selbst gab, muß, weil sie ihnen und nicht den Bürgerregeln folgte, ärgste Erniedrigung, bittersten Tod erdulden. Die Tatsachen hetzen sie, und kein Mensch ist da, dem die Wimper zucken würde, kein verstehender Mensch. So konnte ihr Dichter in den Ruf eines harten Erziehers kommen. Gewiß, er erzog. Aber er war kein Gewissensrat für Bürgerfrauen, und nicht eine Dame namens Emma Bovary hat ihn zum Schreiben genötigt. Er erzieht sein Herz. Die Éducation sentimentale, die er später beschrieb, hier geschieht sie. Alle Gewalt des Buches liegt darin, daß jemand mit bitterer Überzeugung wütet gegen sein eigenes Herz und gegen seines Herzens ehebrecherische Gelüste nach Poesie. Gäbe er ihnen nach, er wäre gewiß, von der Zeit beiseitegeschoben zu werden, unwirksam zu bleiben und abzusterben. Die Zeit will ihn modern, wissenschaftlich und nüchtern. Sie erhebt ihre Forderungen in ihm selbst. Seine zunehmende Geistigkeit verfeindet ihn mit seinem Herzen. So ergibt er sich der Unterwerfung dessen, was er war, dem Kampf gegen den Jüngling, der noch in ihm lebendig ist. Aber dieser Jüngling scheint in denen, die als erstes die Romantik sahen, ein zähes Leben gehabt zu haben. Flauberts nächster Freund, Louis Bouilhet, blieb all seine Dauer ein Poet aus den Bohème-Tagen und immer im Zorn gegen die nachkommenden Zeiten, die er mitmachen mußte. So nimmt auch der Pessimismus Flauberts seinen Ursprung in entrüsteter Romantik. Rudolphe, der Dichter, sitzt, hoffnungslos verdüstert, in seiner winterlichen Dachkammer. Das Feuer, das er, seiner Unerschöpflichkeit gewiß, mit den Manuskripten seiner Gedichte entfachte, erlosch im Kamin. Wo kamen die Genossen hin? Der Mond ist untergegangen und Mimi tot.

Aus dem mißverständlichen Erfolg von Madame Bovary mag Flaubert bittere Genugtuung geschöpft haben. Vielleicht, er war noch jung, hat er sich auch berauschen und täuschen lassen, hat sich – denn nach Beendigung eines Buches ist uns sein Keim und, was es uns war, oft ganz entfallen – im Augenblick selbst für den unbeirrbaren Realisten gehalten, als den man ihn ansprach. Er kann den Pessimismus seines Buches für nüchternen Wirklichkeitssinn angesehen haben, während er leidende Rache war: kann die Form, die er seinem Pessimismus gegeben hatte, das Groteske, für wirkliche, überlegene Stärke gehalten haben. Dennoch verdankte er es nur seinem Drang, sich zu behaupten, griff an aus Not und gestand, indem er karikierte, Schwäche ein. In seiner Jugendprosa, wo er noch das gute Gewissen zu seinen ersten Idealen hat, gibt es nichts Groteskes. Während einer Orientreise nimmt es überhand. Hier, wo der Romantiker sich im Burnus an der Spitze von Mamelucken und bei Brunnen mit Rosenwasser hätte fühlen sollen, verbringt er ganze Tage damit, einen imaginären alten Franzosen zu parodieren. Seine Feinde, die Bürger, halten ihn schon belagert, lassen ihm keine volle Ruhe mehr zum Genuß von Träumen. Nach der Heimkehr schließt er sich ein mit den Phantomen der Menschheit, um sich von ihnen vorspielen zu lassen. Sein noch jugendlicher Übermut verdüstert sich wohl; aber kein Zweifel, daß Monsieur Homais früher in ihm entstanden ist als Emma Bovary, und daß sein Drang, darzustellen, vor allem eine Sucht, zu herrschen, ist. Dies Verlangen treibt ihn, die Welt dadurch unter sich zu bringen, daß er sie als arme Fratze sich geberden läßt. Nie selbst hervortreten; die »Unpersönlichkeit« zu seiner Rache machen und in seiner hohen Einsamkeit mehr als die sonst bekannten Genüsse feiern. Denn welchen anderen Genuß vermöchte er nicht durch Literatur zu überbieten? Von der Liebe gibt sie ihm das Beste: intellektuelle Wollust, Hingabe wie Beherrschung, das Selbstvergessen in der Umarmung des Vollkommenen; und das Fragwürdigste, Aufstachelndste, Genüsse wie das keuchende Entsagen in der Éducation sentimentale, oder Salambos Python, oder die Tochter der Herodias. Die Literatur gibt ihm, stärker als das Leben, die Exaltation des Zeugens; sie gibt ihm konzentrierter das angstvolle Heranziehen der Geschöpfe. Sie gibt ihm Abenteuer, Reisen, unvorhergesehene Bekanntschaften; Qualen, Krankheiten und Krisen jeder Art. Mehrere Tage hindurch hat er den süßlichen Geschmack des Giftes auf der Zunge, das die Bovary nahm.

Nur will dieser Rausch, der schnell unentbehrlich wird, immer üppiger genährt werden. Die mitlebenden Bürger findet Flaubert längst ohne Reiz, ihr Groteskes kläglich. Er braucht wildere Absonderlichkeiten, eine Welt der Ungeheuer und Gifte, einen Himmel, der wie ein Albdruck ist; eine Welt auch, wo die Worte rasseln und klirren dürfen wie Panzer und foltern, trompeten wie Elefanten, hysterisch beben wie eine mit Wohlgerüchen durchseuchte Priesterin; wo die Worte, der Sonne gleich, in die Augen schreien, die Augen sengen, die Augen zu Göttern machen und martern dürfen gleich der unerbittlichen Schönheit des harten Südens. Die wirklichen Bedürfnisse, aus denen »Salambo« kam, sind diese. Vor sich selbst wird Flaubert den anderen Beweggrund ausgespielt haben: wenn bei seinem ersten Buch die Moralisten, Gesellschaftstheoretiker, Pädagogen sich aufgeregt hatten, – diesmal sollten die Archäologen staunen, die Leute der gerade modernsten Wissenschaft! Er wollte – da es schon Wirklichkeit sein sollte – eine allen unbekannte, von ihm allein schwer errungene Wirklichkeit hinlegen, an der sollten sie ihre Freude haben. Auf die Geste kam es an, die herrische, unberührte Geste, mit der man dies alles hinausschleuderte: niedergestampfte Armeen und den heulenden, blutrünstigen Liebeswahnsinn eines Halbwilden, Bal mit Kindern auf den rotglühenden Armen und Felsenkessel voll Menschen und reißende Tiere über sie her! …; Geheimnis bleibt es, ob der jahrelang in dieser Hölle Schmiedende nie darauf geachtet hat, daß es hier von den Grenzen härtester Wirklichkeit wieder in sein altes Traumland geht. In der Überfülle prachtvoller Landschaften erklärt sich doch die unausweichliche Nähe Chateaubriands, in Salambo die mystische Liebende Velleda, – und nur die unbesiegliche Zärtlichkeit des Lyrikers, der Hamilkars Tochter besang, vollbringt die Bezauberung, die dies kleine Mädchen, kaum daß es sich zeigt, an tausend Bluthunden mit Menschengesichtern übt. Niemand fehlt als René; und fehlt er? Der gallische General, der, erstickt vom Scirocco und der Schwere der Wüstenweiten, an einem Luftloch des verschlossenen Zeltes röchelt und nach Galliens Viehweiden, dem aus Walddunkel zitternden Licht seiner Strohhütte lechzt: wäre er nicht die Seele dessen, der sich an solche schlimme Schöpfung vergab, in diese von Seelen leere Einsamkeit sich verirrte?

III

Wenn so viel Entsagen, so viel Selbstvergewaltigung wenigstens Ruhm eintrüge! Flaubert hatte nicht den Körper eines Skeptikers; mochte seine Geistigkeit das Geräusch der Gewöhnlichen verachten, seine Sinnlichkeit gierte nach ihrer Anerkennung. Er empfand: »Um Dauerhaftes zu schaffen, darf man über den Ruhm nicht lachen«; und litt heftig unter dem Achtungserfolg von Salambo. Damals zuerst mag er sich überblickt, mit seinem Schicksal abgerechnet haben. Einiges davon gab er George Sand zu bedenken; anderes blieben erstaunte und wehe Fragen, die niemand gehört hat.

»Wie kommt es, daß ich hier sitze, abseits und mit vierzig Jahren noch immer allein? Zwölf Jahre sind vergangen, seit ich mich einschloß. Die von meiner Kraft, mit meiner Bovary geschaffene Bewegung haben andere ausgenutzt; inzwischen war ich fern, bei dieser Salambo, die nun alle künstlich nennen. Es gelang mir also zu gut, euch zu täuschen. Mein überreiztes Herz habe ich unter Lichtgarben und Tubengebrüll so wohl versteckt, daß niemand es spürt. Als ich jung war, liebte ich allzu glänzende Frauen, denen ich es nie sagte. So habe ich dich geliebt, Salambo, und dich, grausames Afrika! Aber niemand weiß, daß um die schönen Dinge, um die fernen, kaum mehr menschlichen Gestalten gelitten werden muß. Man faselt von seelenloser Schönheit. Man ist so unwissend über den Künstler, daß man ihm zutraut, er mache leichten Herzens Schönheit; so unerfahren in der Schönheit, daß man für möglich hält, es sei jemals eine vollendet worden, hinter der nicht der Schmerz stand, den Meißel noch in der Hand. Ich werde ihnen nichts darüber verraten. Spricht jemand von Salambo, und wäre es meine gütigste Freundin, ich werde ihr antworten: Der Schmöker hätte es nötig, daß man ihn um gewisse Inversionen leichter macht; es sind zu viele Damals, Aber und Und darin: man merkt die Arbeit.

Gelte ich nicht als Techniker? Fast bin ich es geworden! Ich, der den überschäumendsten Achtzehnhundertdreißiger abgab, wäre ich so glücklich gewesen, mit der Hernani-Bande zur Welt zu kommen! Wie ich Verse gedonnert, was ich auf meiner breiten Brust für leuchtende Stoffe getragen, welchen Gottesdienst ich einer Frau geweiht haben würde, einer einzigen! In dieser nüchternen Zeit mußte ich mich in eine Werkstatt schließen, Sätze feilen, meinen Stolz auf die Verknüpfung einer Analyse, eines Porträts und eines Dialoges setzen, neue Arten erfinden, um eine Empfindung auszudrücken, und die Empfindung selbst für Nebensache ausgeben; mußte das Äußere am wichtigsten nehmen. In Wahrheit aber glaube ich nicht einmal, daß es in der Kunst ein Äußeres gibt. Ich erinnere mich, wie ich Herzklopfen bekam und eine heftige Lust empfand, als ich eine Mauer der Akropolis betrachtete, eine ganz nackte Mauer (die zur Linken, wenn man nach den Propyläen hinaufgeht). Und ich frage mich, ob ein Buch, unabhängig von dem, was es sagt, nicht dieselbe Wirkung hervorbringen kann. Liegt nicht in der Genauigkeit der Wortgefüge, der Seltenheit der Bestandteile, der Glätte der Oberfläche, der Übereinstimmung des Ganzen, liegt darin nicht eine innere Tugend, eine Art göttlicher Kraft, etwas Ewiges wie ein Prinzip? (Ich spreche als Platoniker.) Warum besteht, zum Beispiel, eine notwendige Beziehung zwischen dem richtigen und dem musikalischen Wort? Warum kommt man immer auf einen Vers hinaus, wenn man seine Gedanken zu sehr zusammendrängt? Das Gesetz des Wohlklanges regiert also die Gefühle und die Bilder? Und was als das Äußere erscheint, ist gerade das Innere? …; Ich bin Mystiker: ich, der Handwerker der Form. In der Form erst glüht meine Phantasie und wird flüssig. An einer Seite voll bunter und tönender Namen berausche ich mich bis zu der Gewißheit, mit den Schicksalen dieser Namen einst dagewesen zu sein. Ich bin alter Schönheit so voll, daß ich das Gefühl beginnenden Lebens, das starre Staunen eines frisch erschlossenen Daseins nie gekannt habe. Das in den Tiefen der Geschichte Verlorene zieht mich an, der ich von jeher dabei war. Mit den Priestern des Orients konnte ich reden; und wenn vor dem Tor meiner Stadt Zigeuner aus ihrem grünen Wagen lugen, regt sich in mir etwas Brüderliches. Denn ich habe – ob mir das von meinen nordischen Vätern kommt? – die Körperverfassung raffinierter Barbaren, überreizte Nerven in einem Riesen, eine Geistigkeit, die sich schwer aus den Schlacken der Sinne losringt. Ich habe eine ungeheure Animalität abzuschleifen, bevor Geist entstehen kann. Zu ihrer Bändigung bin ich auf eine Hygiene der Ungesundheit verfallen: keinen Schritt vors Haus und Nachtarbeit, bis mir die Augen kochen. Hinter allen fünf Fenstern meines Zimmers, rings um dies alte Kloster, ist weites, grau schlafendes Land, Mondgleiten den Fluß entlang; und in der ungeheuren Stille zucke ich empor bei jedem Knistern, jedem Ästeknacken: Kommst du? Es regt sich in den Zauberworten, die ich ansammele, und aus ihnen hervor, in wahnsinnig aufregenden Schleiern und auf den Sohlen verstorbener Tänzerinnen erscheint mir mein Werk!

Betrachte Dich: wie es Dich schon zurichtete! In Deinem kuttenähnlichen Rock haben Deine Schultern sich gewölbt; Dein Gesicht mit dem gallischen Schnurrbart war rund und fest, nun ist es zerfetzt durch die sich windende Seele; es hat sich, rot von den Ausschweifungen der Arbeit, gesenkt um die Augen her. Deine Lider liegen in Falten vom Hohn auf das groteske Leben, und Dein Blick ist so müde, als wäre dies Gelächter schwere Arbeit gewesen. Eine Braue krampft sich die kahle Stirn hinan, und als übriggebliebene Lüge von Jugendmut fallen Dir romantische Locken über die Ohren. Du bist vierzig, und es ist keine Hoffnung, von dieser Galeere noch einmal zu entkommen. Auch würdest Du es nicht wollen. Ach, sobald die Qual eines Werkes aus ist, ist auch die Erleichterung meiner Leidenschaft vorbei. Ich vergleiche diese Leidenschaft einem Ausschlag, den man schreiend kratzt …; Ich habe nicht gelebt und bin ein Paria. Es gibt Parias hier auf der Höhe, wie es welche ganz unten gibt. Warum? Der Literat war ehemals eine so regelrechte Existenz. Was war Herr von Voltaire? Ein geistreicher Großbürger, nichts weiter, mit all seinen Tugenden und Lastern, Eitelkeit, Habgier, physischer Furchtsamkeit, Anfällen moralischer Kühnheit, dem Trieb zu geistigem Fortschritt; politisch reaktionär, sobald der Despot seiner Ansicht war, priesterfeindlich, weil er die Priester in der Macht über das Volk abzulösen wünschte, aber gewillt, dem Volk den Glauben an die ewigen Strafen zu erhalten, aus Furcht vor seinen Lakaien. Selbst eine so fragwürdige Erscheinung wie Rousseau, das wühlerischste Sklavengenie, das je gelebt hat, konnte in die alte Gesellschaft gut aufgenommen werden, Gräfinnen lieben und sich zeitweilig wohlgeraten und einwandfrei fühlen. Das geht nicht mehr. Die Revolution hat uns allzusehr befreit. In der romantischen Zeit genossen wir die zynische Poesie unserer Losgelöstheit von der Bürgerwelt, von der gent épicière; und da nun der erste Übermut dahin ist, sind wir mit unserer allen Guten unverständlichen Sensibilität zurückgeblieben. Denke ich nach, ist es mir, als wäre ich noch Jüngling, ein verbrauchter, überreizter Jüngling, aber ohne die Fähigkeit, reif zu werden. Ich bin, sobald ich es einmal wage, zu handeln, noch immer Enttäuschungen ausgesetzt; denn ich habe noch immer die uninteressierten Ideale eines Zwanzigjährigen, sein ungebundenes Denken, nicht spezialisiert und rein spielerisch, zusammen mit dem theoretischen Pessimismus derer, die am Leben noch nicht tätigen Anteil nahmen und bisher nirgends eingereiht sind: werde ich es doch niemals werden. Ich stehe, sozial gesprochen, auf demselben Fleck wie beim Verlassen der Schule. So will ich denn die Welt der Zwanzigjährigen schildern. Ein gut veranlagter Zwanzigjähriger ist mir verwandt, ist immer ein Stück Künstler, eine Spur Dichter.

Da werde ich also dichten dürfen! Und lieben! Die romantische Liebe, die ich in der Bovary verhöhnt und weggejagt habe, aus Härte gegen mich selbst, nun soll sie zurückkehren, tiefernst und unbesieglich. Ah! Die Lyrismen, die ich mir gönnen will! Den Bürger sollen sie außer sich bringen. Ich werde ihm ins Gesicht sagen, wie ein junger Mensch mit Idealen im Herzen ihn ansieht. Er geht nur über die Straße und fühlt sich, werde ich sagen, übel von der Niedrigkeit der Gesichter, den dummen Reden, der einfältigen Genugtuung, die auf all den schwitzenden Stirnen durchbricht. Zwar werde ich hinzufügen: ›Indessen, das Bewußtsein, mehr wert zu sein als diese Menschen, erleichterte die Mühe des Anblickes‹, und derart ironisch feststellen, daß ich immerhin über meinen Zwanzigjährigen hinaus bin. Auch werde ich Sorge tragen, daß für jenen Liebesgesang nicht ich verantwortlich bleibe. Und wenn ich, den alle zum Pontifex des Realismus machen, einmal mit meiner Meinung über ihn herauskomme, lasse ich sie natürlich von einem vorbringen, den ich so eingerichtet habe, daß keiner ihm glauben wird. ›Laßt mich in Ruhe mit Eurer abscheulichen Wirklichkeit! Was soll das heißen: Wirklichkeit? Die einen sehen schwarz, andere blau, die Menge sieht dumm. Nichts ist weniger natürlich als Michelangelo und nichts stärker! Die Sorge um äußere Wahrheit ist bezeichnend für die niedrige Gesinnung dieser Zeit; und die Kunst wird, geht es so weiter, ich weiß nicht was für ein Plunder werden, weniger poetisch als die Religion und weniger interessant als die Politik. Ihr Ziel – jawohl, ihr Ziel! –, das darin besteht, eine unpersönliche Exaltation in uns zu bewirken, erreicht Ihr nie mit kleinen Werken, trotz aller feinsäuberlichen Ausführung. Ohne Gedanken nichts Großes! Ohne Größe nichts Schönes! Der Olymp ist ein Berg! Das kühnste Denkmal bleiben immer die Pyramiden. Besser Überschwang als Geschmack, besser die Wüste als ein Trottoir, besser ein Wilder als ein Friseur!‹

Das erleichtert! In diesem Buch werde ich endlich sagen dürfen, was ich gelitten habe. Daß ich Eure gemeine Herzlichkeit nie teilen konnte und wie meine Liebe beschaffen ist. Es handelt sich darum, Bilder zu finden dafür, wie das Anschauen einer Frau uns schwach machen und erregen kann, gleich dem Gebrauch eines zu starken Parfüms. Eine nervenzerrüttende Enthaltsamkeit wird dem Buch die tiefere, fragwürdige Wollust eintränken. Wenn die Liebenden beim Krachen einer Täfelung zusammenfahren, als wären sie schuldig, wenn ihr überreiztes Gefühl sie Abgründen zutreibt, um sie her eine Sturmluft gießt, dann schildere ich meine Nächte. Die Nächte zwischen mir und meinem Werk. Und mit der Liebe jener romantischen Tage soll alle Bitterkeit der geschlagenen Illusionen sich vermischen, die Achtundvierzig endeten. Ich will schwelgen; aber niemand darf es merken. Ich muß unsere größten Worte von damals einem Bramarbas der Freiheit und des Patriotismus zuschreiben, einem Idioten mit einem pomphaften Namen; wie sage ich? Regimbart! Der und eine zappelnde Mauer von Grotesken wird meine Zärtlichkeit verstecken. Nicht ganz: ich ertrüge es nicht! Ein Mensch soll dabei sein, ein schlichter Mensch, etwas wie ein Kommis, nichts weiter. Der soll Gerechtigkeit für möglich halten, den Staat hassen, sich eine einzige Liebe wünschen für das ganze Leben, und an einem gewissen Punkt einen – oh, wie weise herbeigeführten! – Schrei ausstoßen: ›Es lebe die Republik!‹ Alles soll er sein, was ich hätte bleiben wollen, und das Kindergemüt obendrein haben, mit dem man den letzten Enttäuschungen immer entgeht, sei es auch, indem man sich rechtzeitig von der Polizei niedersäbeln läßt. Die aber leben bleiben: was werden sie gesagt haben, woran werden sie, den Fünfzig nah, mit wirklicher Dankbarkeit gegen das Leben einander erinnern? Der Ehrgeizige und der Liebende, beide an nichts als an einen Abend ihrer frühsten Zeit, als sie sich aufmachten, um ihre Keuschheit zu verlieren. Ein wenig platte Leiblichkeit ist alles, was übrig bleibt nach so viel verpuffter Seele. Es wird das Buch der Enttäuschungen sein, worin trotz vielem Hin und Her nichts geschieht, nichts je ans Ende gelangt, nur aus Fließen Sickern wird, – und kein schmerzlicheres wird geschrieben worden sein …; Wird man's verstehen?«

IV

Die Éducation sentimentale wurde nicht verstanden. Auch nicht von George Sand, die ihrem Werden beigewohnt hatte. Sie durchschaut vollkommen die Kunst des Buches: »Du wirfst gleichwohl mit vollen Händen Poesie auf Deine Malerei, ob Deine Personen sie verstehen oder nicht.« Aber sie hält es, als gründliche Optimistin, für ein Kampfbuch gegen das Seiende, während es Verzicht auf alles Ersehnenswerte bedeutet.

Die Kunst dieses Romans konnte seitdem in keinem mehr überboten werden. Um den Roman als Kunstgattung auf die Höhe zu bringen, bedurfte es eines, in dem der Künstler überwog gegen den Denker: dem Ideen nicht zuflossen, aber den die Fülle der Bilder erdrückte; und der durch Vergleiche jedes geistige Geschehnis, jede Seelenregung mit sichtbaren, greifbaren Dingen in Verwandtschaft zu bringen weiß. Mehr: die Vergleiche hören auf, nur Verwandtschaft auszudrücken; sie werden eins mit dem Gedanken; der Geist taucht in seinen Quell, die Sinne, zurück; statt des Gedankens steht die Sensation. Das Dunkelste selbst wird durchtastbar. Jemand hört, indes er die Geliebte ansieht, irgendwelchen Reden zu. »Sie fielen in seinen Geist wie Metalle in einen Ofen, verbanden sich mit seiner Leidenschaft und bewirkten Liebe.« Die nicht verbildlichten Analysen, die aus dem alten Roman ein Durcheinander von Abenteuer und Essai machten, sind abgeschafft. Und mit ihnen die ganze Exposition, – da der Autor niemals mehr im eigenen Namen spricht und alles, was er früher als Vorbericht gab, nun im Lauf des Spieles, zu Sensationen zersplittert, von selbst und lebend aus seinen Geschöpfen springt. Die Methode dient hier zuerst vollkommen. Noch in Madame Bovary nimmt auf der ersten Seite der Verfasser das Wort, schafft einen Übergang zwischen sich und der neuen Welt, die er ins Licht zu heben sich anschickt. Die Sache ist die, daß seine geheime Empfindsamkeit unendlich gewachsen ist und die Angst, sie zu verraten, ihn noch keuscher seinem Werk fernhält. Seine »Unpersönlichkeit« war ihm persönlichstes Bedürfnis. Bei den Nachfolgern ward sie zum unverstandenen Glaubensbekenntnis.

Seine ungesunde Keuschheit ist es, die über dieses Bekenntnis einer verlorenen Jugend den erschlaffenden Zauber verhängt, es einzig macht. Die Éducation sentimentale ist in einem bestimmten Leben das, was sich nicht wiederholen läßt. Salambo kann von weit vorgeschrittenen Artisten eingeholt werden; die Bovary (oder doch das, was sich ohne weiteres von ihr sehen läßt) ist hundertfach nachgemacht worden. Die Éducation bleibt unzugänglich. Niemand mehr hat, voll dieses besonderen Innenschicksals, in den Abgrund gestarrt, der geöffnet war zwischen zwei Generationen, einer von Schwärmern und einer von Faustmenschen; zwischen der Träumerrepublik und der Militärdespotie. Für einen jungen Streber in der Éducation sentimentale, der die Gesellschaft immer nur durch das Fieber seiner Begierden hindurch zu sehen bekommen hat, ist sie »eine künstliche Schöpfung, die kraft mathematischer Gesetze funktioniert. Ein Diner, ein Zusammentreffen mit einem Mann in Stellung, das Lächeln einer hübschen Frau konnten infolge einer Reihe von Handlungen, die eine aus der anderen hervorgingen, riesenhafte Ergebnisse haben. Gewisse Pariser Salons waren wie die Maschinen, die einen Rohstoff aufnehmen und ihn hundertmal wertvoller wieder herausgeben. Er glaubte an Courtisanen, die Diplomaten beraten, an reiche Heiraten, durch Ränke erreichbar, an das Genie von Galeerensträflingen, an einen unter den Händen von Starken lenksamen Zufall«. Dieser junge Streber also irrt und kommt nicht ans Ziel. Rastignac aber, der denselben Weg ging, erreichte es. Die Auffassung der Gesellschaft, die Flaubert achselzuckend ablehnt, ist eben die, von der Balzac lebte. Knapp dazwischen läuft der Riß, der das Jahrhundert spaltet. Flaubert wirft in seiner Verneinung der abenteuerlichen Soziologie das wohl zu Verwirklichende kurzweg zusammen mit dem ganz Unmöglichen. Denn die Wahrheit über ihn ist, daß er nicht nur an die abenteuernden Handlungen zu glauben aufgehört hat, sondern an alle Handlungen; daß die Enttäuschung, die sein Leben zerteilt, ihn weltflüchtig gemacht hat; daß er nur noch in der Enthaltung Vernunft sieht und eine wunde Genugtuung in der Keuschheit.

Sie versteckt ihn zu gut. Die Mitlebenden konnten ebensowenig den Sinn der Éducation erkennen, wie sie Flauberts Stil durchschauen konnten, seinen berühmten Stil, der vermeintlich ganz auf Klang gerichtet sein sollte, wie der romantische auf Farbe: auf laut glänzende, dröhnende Klänge, die rasselnden Waffen der Barbaren in Salambo oder die Stimmen der Mythentiere in der Versuchung des heiligen Antonius. Der Lärm, den dieser Stil zu erregen weiß, bedeutet aber nur darum etwas, weil er über den Rand tiefer Atemlosigkeiten hervorbricht und zurückfällt in Stille, die betäubt: in die zauberisch geisternde der Königin von Saba, in die rätselhaft jungfräuliche Salambos. Und die Éducation sentimentale, für die man ihn geleugnet hat, treibt diesen Stil des ungesund Keuschen am weitesten. An versagenden Zärtlichkeiten vorbei werden mit herrischer Geberde Grotesken gejagt, jene menschenfeindlichen Grotesken, die Maupassant erben wird. Aus exaltierten Sensationen erhebt sich streng und stumm die Schwärmerei der Geister. Die Seelen streichen lautlos über tief erregtes Blut hin. Sinnlich bebende Worte machen, wie Aufschreie, den Engelsflug der Sätze mit. Brennende Bilder fallen ins Grau all der Wochentage. Dem bürgerlichen Stoff verleiht der Stil eine plötzliche Ahnung von Höhe und Ferne. Er hatte schon in der Bovary bewirkt, daß homerischer Rhythmus im Landleben von 1840 pochen konnte: als der alte Rouault zu seiner toten Tochter ritt. Hier nun ermöglicht er, aus dem dumpfen Sichhinquälen hervor, das Aufrauschen unerhörter Begeisterungen. Das sind Begeisterungen eines, der sich verurteilt, einen Ausfall zu machen aus seiner Festung, und koste es das Leben.

Die Éducation sentimentale galt künstlerisch für mißlungen, und geistig fand man sie hassenswert. Sie erschien in dem Augenblick, als das Land daran war, den Cäsarismus abzuschütteln. Wieder waren die Schwärmer am Werk, die sie verzerrte; und sie hatten keine Zeit, sich zu vergewissern, ob die Satire nicht enttäuschte Zärtlichkeit sei. Beim Lachen über Monsieur Homais, dahinten in seiner Provinz, konnte man sich überlegen fühlen. Dies aber geschah in Paris; und Regimbart war im Augenblick fast jeder. Eine beträchtliche Hetze entstand. Die der repräsentativen Kunstgattung geschuldete öffentliche Aufmerksamkeit war damals so fanatisch auf den Roman gerichtet wie später kaum auf das Theater. Welchem Dramatiker ist gesagt worden, er sei ein Kretin, eine Kanaille und besudele die Gosse, in der er sich wasche? Flaubert bekam es schriftlich. Dieser wilde Zusammenbruch seines guten Rufes diente dauernd seinen literarischen Gegnern. Sie beharrten darauf, ihn den Verfasser der Madame Bovary zu nennen, der sein erstes nie mehr erreicht habe; und auch damals sei es ihm nur geglückt, weil er seine Provinzler, die er kannte, einfach habe leben lassen, ohne etwas vom Seinigen dazuzugeben. Derselbe Kritiker, der, ohne Beziehungen zum Künstler, den Objektivismus Flauberts so töricht ernst nimmt, Brunetière, hält ihn auch für verbittert durch Erfolglosigkeit. In Wirklichkeit war er erfolglos, weil er bitter war, in allzu bitterer Einsamkeit war, als daß die vielen zu ihm hätten hinfinden können. Sein Leben vergeht im Wechsel zwischen rasendem Kunstfieber, genährt mit Menschenverachtung, und Zeiten der Sehnsucht nach Einfachheit und Menschlichkeit. »Und ich mache nichts von dem, was ich will! Denn man wählt seine Stoffe nicht; sie drängen sich auf.« Aus seinen entlegensten Phantasien heraus verheißt er immer: »Danach kehre ich zum einfachen reinen Roman zurück.« Dann aber sind die letzten Jahre der Éducation sentimentale ein beständiges Stöhnen unter der Last des Bürgers. »Bürger mache ich so bald nicht wieder. Es wird Zeit, daß ich mich vergnüge.«

Dieses Vergnügen! Das Wüten des einsamen Lasterhaften gegen seine überspielten Nerven! Die Jagd nach dem immer weiter zurückweichenden Rausch! Er holt aus Jugendtagen den ausschweifendsten Stoff zurück, steigert seine berauschende Ungesundheit vermöge alles seither erworbenen Wissens und Könnens; und auf eine Weile noch genügen ihm nun die Ungeheuer, Götter, letzten Seltsamkeiten, die durch glühenden Sand vor der Hütte des heiligen Antonius vorbeiziehen, – vor der Zelle des von der Literatur Besessenen. Dann? Nichts mehr. Die Angst und Verzweiflung bei der leeren Morphiumflasche. Die Kunst, die hier einen Menschen ganz in die Klauen bekam, hat ihn endlich so blasiert gemacht, daß er nicht mehr aus dem Zimmer gehen mag, und so hellnervig, daß er keine Gesellschaft aufsucht, ohne der Unzartheit und Dummheit des Wirklichen zu erliegen, zu weinen oder Streit anzufangen. Jeder Zwang, zu handeln, erregt ihm Lebensüberdruß. Ihm war das Lebende immer nur eine groteske Gliederpuppe im Dienste der Kunst, und er konnte sich beim Rasieren nie ansehen, ohne aufzulachen. Nun aber ist die in hundert Stellungen benutzte Gliederpuppe von einer so abstoßenden Komik, daß er angesichts seines Spiegelbildes sich am liebsten das Messer durch die Gurgel zöge. Man rät ihm, jetzt noch zu heiraten. Dem steht vieles entgegen, und vor allem: »Ich bin zu sauber, um für Lebensdauer meine Person einer anderen aufzuerlegen.« Das Tiefste kommt herauf. Die Handelnden, die Triebnaturen sind unsauber. Grotesk sind sie eben, weil sie unsauber sind, beschmutzt im Kampf der Egoismen. Er, der Literat, hält sich mönchisch rein, wahrt sich Güte: weil er bewußter ist. Das Überblicken vieler Schicksale macht es ihm verächtlich, großen Wert auf das eigene zu legen. Wer die Leiden der anderen durchschaut, wird nicht leicht eins veranlassen. Die meisten Härten, fast alle Niedrigkeiten werden aus Mangel an Phantasie begangen. Er, der Literat, ist durchgeistigt von seiner Phantasie. Er ist auch veredelt durch die Handhabung des Schönen. Vielem, wozu Tatmenschen sich hergeben, weigert sich der über Meisterwerke Geneigte. Seine Güte kommt nicht vom Herzen, sie ist Sache des Geschmackes und der Vorstellung. Sie ist nicht Betätigung eines Starken, sondern die Art, wie ein Wissender sich enthält. Er tritt bedrängten Verwandten die Hälfte seines Vermögens ab, weil er sonst die Betrachtung seines Selbst nicht mehr aushielte. Und er kann nicht ans Heiraten denken, weil dann jemand – mindestens einer, er selbst – ihn menschlich sehen würde und das Menschliche grotesk und unsauber ist.

Früher, als er seine Schwäche noch nicht kannte, sie noch als Stolz empfand, behielt er sich im Hintergrund seines Denkens das wirkliche Leben vor, als sicherte er sich in einer Stadt, worin er seine Wohnung aufgegeben haben würde, wenigstens ein Absteigequartier. Damals wartete in Paris eine Geliebte, eine geistreiche Frau natürlich, beständig des Augenblickes, wo er in Croisset die Feder wegwerfen und zu ihr eilen würde. Er fühlt sich stark: stand es nicht bei ihm, sich jetzt gleich, wenn die Uhr schlug, aus der Umarmung seines Werkes zu reißen und in die der Frau zu versenken? Tat er es nicht: was war es anders als eine Kraftprobe? Es war aber die Vorausahnung der Leere und Reue, des schlechten Gewissens, die ihn hinrafften, sobald er die »Arbeit« niederlegte und sich zu leben anschickte. Übrigens ward er erkannt und gerichtet. Die Einsiedler und die Asketen dürfen sich über ihre Unbeliebtheit bei den Menschen nicht wundern. Ihre scharfsichtigsten Kritiker werden die Frauen sein. Wirklich hat die von dem jungen Flaubert geliebte Frau in der Geschichte, die sie dann daraus machte, alles vorweggenommen, gleich am Anfang seiner Laufbahn alles vorweggenommen, was später seine gründlichsten Feinde herausspürten. Wie kann man aber auch jahrelang an demselben Buch schreiben! In der Stille, auf dem Lande! Die Frau sieht nichts herauskommen; noch immer verursacht der unbekannte Name kein Geräusch um sie her; und der Geliebte gibt ihr, statt seiner selbst, briefliche Apologien der Einsamkeit! Man gleicht zwar den Wüstenheiligen, die von Begierde brennen und doch ihr Fleisch und ihr Herz dem eifersüchtigen Gott von Tabor opfern: dem Gott Kunst. Das imponiert eine Zeitlang; dann aber heißt es: »Was wollen denn diese kleinen Origenesse der Kunst für die Kunst, die sich einbilden, wenn sie sich verstümmeln, werden sie fruchtbar!« Er zischt endlich auf, der Haß der Frau auf das Buch, der eins ist mit dem Mißtrauen der Sinne und der Natur gegen den Geist und die Kunst. Die Funktion der Geliebten wäre gewesen: die Bovary zu verhindern, mindestens sie zu schwächen. Sie ist gescheitert; man hat sich nicht teilen wollen zwischen der Kunst und ihr. So hat man den Anspruch auf Zärtlichkeit verwirkt und muß froh sein, wenn einem später, auf dem sich senkenden Stück Leben, noch eine Genossin begegnet, die nichts mehr will, die nur schenkt und tröstet: eine alte Frau, gut und bescheiden wie ein Freund sein soll: George Sand.

V

Ihr ist Lieben immer dasselbe gewesen wie Trösten, noch mehr, wie Krankenpflege. Sie hat sich als christliche Wohltäterin gefühlt, wenn sie einer bettelnden Leidenschaft nachgab. Sie hat den Unglücklichen verlassen, um sich dem noch Unglücklicheren zu schenken. Ihre Liebe hat jedesmal im Kopf begonnen, nur durch Überredung Eingang ins Herz erlangt und hat, noch wenn sie alles gewährte, die Keuschheit gerettet. Zugrunde liegt, daß sie nicht imstande ist, andere zu lieben als Schwache. »Ich muß für jemand leiden, den Überschuß an Tat- und Gefühlskraft ausgeben. Meine Muttersorge hat sich gewöhnt, über ein leidendes, müdes Wesen zu wachen.« Musset, bei dem sie es zuerst erkennt, weiß es zu gut. »Bedaure mich, verachte mich nicht. Ich kann eine krätzige, vollgesoffene Dirne küssen, aber meine Mutter kann ich nicht küssen.« Ausschweifungen haben schon in dem Zwanzigjährigen die Empfindung abgewetzt. Sie haben ihn zum Analytiker – wenn die Ausschweifung nicht verdummt, gibt sie viel Geist –, haben ihn zum Komödianten und Pessimisten mit starken Worten im Munde gemacht. Einen solchen hatte George Sand mit dreißig Jahren zu pflegen, einen solchen nun mit sechzig. Die einsame Komödianterei der Seele, der Mißbrauch der Gefühle am Schreibtisch, die Ekstasen der Lüge haben zuletzt eben die Wirkungen wie laute Orgien, Zügellosigkeiten des Körpers und an alle Weiber weggeworfene Wollust. Künstler und Don Juan behalten dieselbe Bitterkeit auf der Zunge. »Jede Frau, die du umarmst, nimmt einen Funken deiner Kraft, ohne dir einen von ihrer dafür zu geben. Du erschöpfst dich an Phantomen.« So steht es in Mussets »Beichte«. Und was, außer diesem Gedanken, hat Flaubert krank gemacht? Drum sagt sie ihm auch, in die Sprache der Sechzig übersetzt, ganz dasselbe wie jenem. »Oh, ich bitte dich auf den Knien: noch keinen Wein, noch keine Mädchen!« schrieb sie an Musset; und an Flaubert: »Schone dich, mache dir Bewegung! Du irrst, wenn du meinst, wir denken mit dem Kopf: wir denken auch mit den Beinen.« »Denke an deine Zukunft, die so vieler Leute lächerlichen Stolz zermalmen und so viele Berühmtheiten von heute in Vergessenheit bringen kann!« Was sie dem schon berühmten Jungen zur Warnung sagte, sagt sie nun dem verkannt Alternden als Trost. Und die begeisterte Zärtlichkeit, die einstmals bei Worten blieb – »Ich möchte Dich auf den Thron der Welt setzen und Dich einladen, daß Du manchmal an meiner Zelle läutest und mit mir philosophierst« –, an ihrem letzten Freunde macht die seit langem berühmteste Frau Frankreichs sie, so viel an ihr liegt, zur Tat.

Sie hat die Selbstsucht abgelegt, in dem Maße, wie die Leidenschaften von ihr ließen. Was sie mit Musset bestand, war Kampf. Der gefährliche Kranke riß manchmal seine barmherzige Schwester in seinen Wahnsinn hinüber; und sie ergab sich, nicht ohne Selbstbetrug, der Wollust solcher Folterung. Übrigens hatte nicht er sie auf den Weg der krankhaften Leidenschaftlichkeit geführt; er begegnete ihr dort und sprach sie als Verwandte an mit Versen auf ihr erstes, Indiana. Das ist das weibliche Empörerbuch von 1830; der Gatte stellt darin einen rohen Sklavenhalter vor, der Liebhaber einen gemeinen Egoisten. Psychologie mit aufregenden Zwischenfällen. Männer fallen in Ohnmacht. Der Geist der soeben abgelaufenen Epoche schlägt schwül und zweideutig heraus: politische Finessen und Sophismen verquickt mit einer gewollten Gläubigkeit; Nationalökonomie und Gespensterfurcht. Sie wird allmählich gerechter und gelangt zum Frieden und zum Idyll, zu den bescheidenen, wohltuenden Reizen von La Mare au Diable. Man fühlt sich im Herzen der Natur, verspürt eine Vertraulichkeit mit ihr, die, wie bei Lafontaine, nur dem Entwöhnten nach Fabel aussieht. Unwahres ist nicht darin, obwohl das Unappetitliche ganz leicht, im Hintergrund, angedeutet ist. Aber das Land ist echt, und echt sind die Seelen. Nur die Kleider sind ausgelüftet. Die Natur duftet, der Bauer ist geruchlos. In seine dialektfreie Sprache ist hier und da ein Wort in Kursivschrift eingefügt, das wohlerzogenen Schäfern zu sagen scheint: »Mich dürft Ihr anwenden.« Denn schließlich ist dies alles Schäferei für Städter, die wieder einmal zur Natur zurück sollen. George Sand hat sie aus der prunkenden Abenteuerliteratur jener Tage von Zeit zu Zeit in ihre Welt geholt, wo man auf klassische Weise, nur gerührter, um stille, schlichte Seelenvorgänge besorgt ist.

Seit Rousseau, in dessen Neuer Heloise die erste Frau des achtzehnten Jahrhunderts sich zeigt, die wieder etwas anderem dient mit Körper und Geist als dem Vergnügen, scheint »Zurück zur Natur!« immer zu bedeuten: »Zurück zur Frau!« In George Sand liest man keinen Schriftsteller: man erlebt das weibliche Genie selbst, mit seiner Neigung, zu versöhnen, das Gute und das Wahre in einem zu fühlen. Beim Zusammenklingen dieser beiden Worte hätte ein sehr männlicher Künstler, Flaubert, in der Zeit, als er sich noch unerschütterlich wußte, eine ungeheure Lache angeschlagen. Und später hätte er den Kopf gesenkt. Er ist nicht der Mann des Friedens und der Natur; und legt er sich auf einen Rasen, wird ihm bang, daß Gras über ihn wachse. Er ist der Mann der Kunst und ihrer Qualen. Die Frau hegt tiefe Verachtung für die Kunst. Was ist sie George Sand! Sich ihretwegen martern? Einer Vollkommenheit zu Liebe, die künftige Geschlechter bestaunen sollen? »Ein gesundes, frisches Talent ist immer fertig zur Inspiration.« »Der Wind spielt auf meiner alten Harfe, wie er mag, bald hoch, bald tief, bald falsch.« Im Äußerlichen darf ein bißchen betrogen, ein Roman nachträglich »mit Lokalfarbe bestreut« werden. Was liegt daran, wenn das Herz richtig geht, wenn das Werk ihr selbst und anderen wohltut? Die Kunst hat dem Leben zu dienen. Im Schlosse George Sands geht in Winternächten, nachdem alle Dienstboten entfernt sind, bei verschlossenen Laden ein geheimnisvolles Wesen an, so daß vorüberwandernde Bauern die fremdartigen Reden und Schreie für Teufelei halten. Es wird aber Theater gespielt: was in dieser Verschwiegenheit romantisch erregt und einen Vorwand für Verkleidungen und kleine feine Soupers ergibt. Ein loses Schema wird mit eigenen Erfindungen ausgefüllt, wie jedem das Herz sie einflüstert. Die Kinder werden amüsiert, geübt, belehrt und gebessert. Mit demselben Nutzen improvisiert sie ihre Romane; und hunderttausend Leser sind um sie geschart, statt der Kinder. Die Verstiegenheit des priesterlich von der Welt gelösten Künstlers wird sie zärtlich und mitleidig belächeln, und von dem ganz Hohen, ganz Unwirklichen, vom Saint-Antoine, muß sie fassungslos geblendet werden. Wie immer, wenn Mann und Frau einander ergründen, stellt in dieser Freundschaft das weibliche Genie sich als das mehr gegenständliche, wirklichkeitsfestere heraus. In den frühesten Büchern George Sands sind schon physiologische Beobachtungen, die nie ein Mann gemacht hat: tiefe Kleinigkeiten aus dem weiblichen Wissen um Kinder, Krankenpflege, den Sinn physischer Besonderheiten. Nicht sie ist es, die sich das Leben mit unverrückbaren Idealen verstellt. Sie weist den galligen Träumer darauf hin, er scheine sich das »Glück« gar zu sehr als etwas Mögliches zu denken; sie gibt sich zufrieden, wenn sie eine seltene Pflanze findet, sei es auch neben einem Haufen Kot. Nicht für sie ist der Roman eine Zuflucht außerhalb des Lebens. Selbst im Historischen sieht sie kein Mittel zur Kunst, sondern eins zum Menschlichen. Sie zieht sich in die Geschichte nicht zurück: sie macht Gegenwart und Vorbild aus ihr. Immer wieder verfällt sie auf die Revolution und schreckt auch vor 1793 nicht zurück, denn nie handelten Menschen unerwarteter, also amüsanter als damals, und ein Gewebe wie »Cadio« nährt unerschöpflich die Neugier, die in gewöhnlichen Individuen den inneren Rückprall großmenschlicher Ereignisse zu verstehen suchen darf. Aber ihr wahres Feld ist doch 1789, dieses arkadische Verbrüderungsfest, dieses weite Morgenrot, in das eine bis zur All-Liebe verklärte Menschheit starrt. Und ihre Nanon, worin dies geschieht, ist vollkommen irdisch. Sanftmut und Güte sind nicht erschwindelt; der reine Wirklichkeitssinn hält sie uns vor. »Da seht!« Wir fühlen: wer dieses Jahr der Menschlichkeit im Innern miterlebte, kann nie mehr verzweifeln.

George Sand hat es nachträglich erlebt, vielleicht einfach, indem sie alt ward. Sie weiß, ihre jetzige Ruhe, ihre »Tugend« (ein »emphatisches, dummes Wort«, das nur besagt, man sei notgedrungen unschädlich) sind kein Verdienst; aber sie können dazu dienen, daß man seine Freunde glücklicher macht, und daß man sie verbreitet durch Bücher, die auch wieder Menschen glücklicher machen. Die Kunst ist ein Weg zum Glück; nur einer. Viel besser noch, man füllt seinen Sinn mit Pflanzen und Tieren, man »trinkt die Unendlichkeit«; denn dies ist des Menschen Bestimmung, weil es sein Traum und seine Leidenschaft ist. Alles lieben, was uns umgibt, alle Meinungen, alle Geräusche. Sie bittet für die Achtundvierziger, die in die Education hinein sollen; und sie lehrt den großen Unglücklichen, den sie wartet, das Kreischen der Ketten an den Schleppschiffen auf der Seine zu ertragen. Sich einfügen in die große Ordnung, Logik, Gelassenheit noch bei Umwälzungen, die der Natur eignet. Den, der aus der Schale ihrer Wahrheit trank, erbittern keine Eintagsfragen mehr. Das Interesse am Ich, das auch nur den Tag währt, schwindet für die alte Frau; und ihre ganze Lebensarbeit empfindet sie nur noch als eine Stufe, über die ihre kleine Enkelin zu höherer Weisheit und mehr Güte steigen soll, als ihr selbst erreichbar waren …; Beruhigt und verschönt, gerechtfertigt durch ein edles Altern, in den großen, animalischen Augen, die von der schwarzhaarigen, bleichen Liebenden übrig blieben, den Augen einer »sphinx bon enfant«, nicht mehr den verdächtigen Carlo Dolci-Blick ihrer christlichen Barmherzigkeit von einst; heidnischer, mit freier, verständnisreicher All-Liebe, eine warmblütige Faunin, trägt sie Trost und Segen der Natur in das alte Klosterzimmer, wo ein durch lange Unnatur Erschöpfter ringt.

VI

Er schreibt ihr: »Gestern abend habe ich Die Andere gesehen und habe mehrmals geweint. Das hat mir wohlgetan. So. Wie das zärtlich ist und begeisternd! Mein bedrücktes Herz hat in seiner Spannung nachgelassen. Jetzt wird es, glaube ich, besser gehen!« Er prüft ihr Stück nicht als Kunstwerk. Das Erleichternde ist, daß ihm dies nicht in den Sinn kommt, oder erst später; daß die Macht ihrer Menschlichkeit die fixe Idee der Kunst für Augenblicke aus seinem Bewußtsein zu drängen vermag. Die Kunst, die ihm Absehen und Enthaltung vom Leben ist, kalte Herrschaft über das Leben, unerbittlich gegen die Menschheit, deren letzter Richter sie ist, und gegen den Künstler, den sie erschöpft: hier zeigt sie sich verbündet mit dem Leben, gütig gegen alle, leicht für den, der sie übt. Es geschieht, daß in einem Werk wirklicher Schönheit, der Novelle Marianne von George Sand, ein Mensch, der ihm ähnelt, erlöst und beglückt wird. Auch jener hatte sich, noch jung, aus dem Leben zurückgezogen, weil es dem in Unmögliches Verliebten nichts zu bieten hatte als Schmerzen. Und dennoch wird dieser Mensch glücklich; und wird es, wie die Menschen es bei George Sand werden: umwoben von all dem Klang und Duft des Glückes, die sie zu beschwören weiß. Flaubert sieht: Das hat sie für ihn getan! Sie hat ihre Poesie aufgeboten, jene Einfachheit in der Fülle, die Ehrfurcht einflößt, um ihm zu sagen, ihn fühlen zu lassen: Du bist nicht verloren; nicht mit diesen einsamen Qualen und diesem Verzicht wirst du schließen.

Und wenn es eine wäre, die törichten, wenn auch gütigen Herzens neben seinem Schicksal herginge! Sie aber dringt ein, sie durchschaut ihn. Durch seine anscheinend so mitteilsame, spottlustige Fröhlichkeit wird sie nicht getäuscht. Darunter, weiß sie, verbirgt sich Elend und in seiner Vereinsamung neben einem hohen Stolz auch tiefes Mißtrauen gegen sich selbst, viele Zweifel, samt Scheu vor der Lächerlichkeit enttäuschten Ehrgeizes. Daß er im Grunde Furcht vor dem Leben gehabt hat, er würde es niemand verraten, ihr aber gesteht er es, weiß sie es doch schon. Wie vieles sagt er ihr, was sonst nie über seine Lippen käme! Daß er mit dem Alter immer weiblicher empfindsam wird; daß er als Fünfzigjähriger Verständnis und Sympathie für den Selbstmord Liebender hat; und sogar: »Ich bin nicht so dumm, daß ich Phrasen lieber habe als Wesen.« Wozu ihr gegenüber bei der Fiktion beharren, als sei seine Härte etwas anderes denn vergewaltigte Zärtlichkeit? Längst kam sie hinter das Geheimnis seiner angreiferischen Laune. »Du bist zu zornmütig, das heißt: zu gut.« Er glaubt, zu hassen, und erwidert nur, um sich Mut zu machen zu seiner Einsamkeit, vorweg den Haß, den er auf allen Seiten spürt. Lieber würde er lieben; würde schreiben wie George Sand, wenn das sein Schicksal hätte sein können. Man ahnt zuweilen, hellseherisch aus Sehnsucht, wie leicht, wie frei man sich mit Hilfe gewisser Anlagen bewegt haben würde, die ganz sicher irgendwann in uns lagen – man glaubt, den leeren Fleck zu spüren – und die uns auf nicht mehr erinnerliche Art verloren gingen. Die Neugier nach dem Anderssein, der Drang nach Vervollständigung eines auf immer beschränkten Menschentumes, das ist der Boden der Freundschaft Flauberts zu George Sand.

Er sieht, daß die Siebenzigjährige sich nicht glücklicher nur, auch jünger fühlt. Aber dazu muß man aus ihrem Blut sein; denn sie »hat ihre mütterlichen Wurzeln unmittelbar im Volk und merkt, wie sie auf dem Grund ihres Wesens immer noch leben«. Sie liebt es, sich als Volkskind darzustellen. Flaubert weiß sich überall im Gegensatz zu dem Stand, aus dem er kam. Dafür entdeckten seine Feinde (und nach ihnen auch Nietzsche): Dieser Bürgerhasser ist selbst ein Bürger. Merkwürdiger wäre es, wenn er keiner wäre. Gute Satiren schrieb nie jemand, er hätte denn irgendeine Zugehörigkeit gehabt zu dem, was er dem Gelächter preisgab: ein Apostat oder ein Nichteingelassener. In Satiren ist Neid oder Ekel, aber immer ein gehässiges Gemeinschaftsgefühl. Einem Fremden gelingt keine. Flaubert behauptet das reine Künstlertum, eine Mandarinenstellung außerhalb der Klassen. George Sand weiß es besser, menschlicher: »Es gibt keine absoluten Literaten.« Denn der Künstler ist kein eigener Typus; er ist nur ein Ende, das Ende eines Stammes, seine Spitze, die am zartesten schwingt. Er bildet keinen Stand; er ist nur die Verklärung dessen, der ihn hervorbrachte. Tiefe und dunkle Geschlechter, die lange in Gesundheit, guter Laune und Geduld ihren Körper betätigt, ihren Geist gespart, das Leiden geehrt, eine Vorliebe für Rührendes, für alles, was, trotz der Vernunft, zum Herzen spricht, gepflegt haben: diese steigen endlich ans Licht mit der natürlichen, gefühlvollen und wohltätigen Kunst George Sands. Die Vorfahren Flauberts sind, bis in weite Vergangenheit, sitzende Bürger, bedacht auf den Geist, der zum Schaden ihrer Körper sich anhäufte, auf die Ideen, die mit ihren Zirkulationsstockungen entstanden. Sie haben sich immer enger spezialisiert, sich immer weniger der Menschheit und immer mehr Begriffen zugerechnet, der »Wissenschaft« oder einer »Firma«, sind in dem, womit sie sich umgaben und wonach sie sich bildeten, immer »historischer« geworden und damit immer unnatürlicher, denn die Natur hat nur Gegenwart; und geschieht es, daß ihre Triebe schöpferisch werden, dann formt sich, über dem Leben, im Gegensatz zum Leben und aus beginnender Schwäche vor ihm, das reine Kunstwerk. Der Ästhet, ein Unbekannter, bevor der tiers état mit sich selbst fertig ward, ist eine der letzten Ausdrucksformen des Bürgers.

Für George Sand sind »die Volksinstinkte die Offenbarungen der Wahrheit«, und sie schätzt Unterricht geringer als gutes Herz. Flaubert wünscht den Papst durch die Akademie der Wissenschaften ersetzt. Auch die Regierung dürfte nichts sein als eine Sektion des Institutes, und zwar die unterste. »Das hassenswerte Fabelwesen namens Staat«, sagt aus seiner anarchistischen Vereinsamung der Bürger im letzten Stadium. Für das Volkskind, die Sozialistin, ist der Staat Zusammenschluß der Guten, Nützlichen. Sie will ihn menschlich, mitleidig. Flaubert fordert erbittert Gerechtigkeit statt der Gnade und des Gefühls, er wird unablässig gereizt durch das Walten des Gleichheitsgedankens. Seine künstlerische »Unpersönlichkeit« ist eins mit seinem Bestehen auf Gerechtigkeit. »Ist es nicht Zeit, die Gerechtigkeit in die Kunst einzuführen? Die Unparteilichkeit der Malerei würde dann an die Majestät des Gesetzes hinanreichen – und an die Präzision der Wissenschaft!« Unterhalb des Zärtlichen, des nach Romantik Süchtigen, der er ist, stellen seine Voreltern, stellt sein Stand die harten Forderungen. Seine Lebensqual samt seiner Schönheit stammt aus dem Kampf dieser zwei Antriebe. Wenn jedem modernen Franzosen sich ein Ahn finden läßt in dem Geschlecht, das die Revolution machte, dann hat der Flauberts unter den strengen Konstituierenden gesessen, als zu Menschenrechten allein Freiheit und Gerechtigkeit erhoben wurden und der Gleichheit nur, als Zugeständnis an die Gasse, eine kleine vergitterte Pforte offen blieb. Die Väter George Sands aber sind, namenlos, die Gasse entlang gestürmt und haben, in einem neuen, wunderbaren Erdengefühl, einander umarmt.

Das ist in ihr selbst zurückgekehrt, sie hat es wiederholt; nicht erst in Nanon, schon Achtundvierzig. Sie hat sich heimisch gefühlt in dieser vom Gefühl gelenkten Revolution, in deren Umzügen Priester und Kruzifixe mitgingen und an deren Spitze ein Dichter stand. Damals verhöhnte sie die Bürger, denen das Volk Furcht machte. Ihr nicht; ihr Herz schlägt im Arbeiter; sie hat seine Verfassung, seine Lust am Lärm, am Gepränge und Gedränge, seine gute Laune. Die Ausfälle gegen des anderen Art zu sehen, kommen immer nur von ihm; von ihr nichts als empfundene Warnungen, die seine werde ihn krank machen. Ihr Optimismus ist nicht der kränkliche, der fassungslos aufzischt, wenn eine schwere Wahrheit hineinfällt. Sie ist gutseherisch aus Kraftbewußtsein; und sie hat es nicht nötig, sich gegen das andere zu verschließen. In Wirklichkeit hat niemand die Bedeutung Flauberts damals näher geahnt und sorgsamer zu begreifen getrachtet. »Sein Geist fällt, wie er, aus den gewöhnlichen Proportionen heraus.« Sie hält ihn fast für größer als Balzac und Hugo; und hat ihre guten Gründe. Seine Fehler: daß er nicht wisse, ob er Mensch der Wirklichkeit oder Poet sei; und daß er noch nicht geruht habe, verstanden sein zu wollen. Denn er, der Gütige, könne nicht darauf aus sein, den Jungen den Mut zum Leben zu nehmen.

Das Verhältnis der Größe von Balzac, Hugo und Flaubert? Es täuscht die unten Stehenden. Sie erkennen höchstens: Flaubert verbindet die beiden anderen. Er hat die edle Phantasie, zu der Balzac sich nicht erheben konnte, und die Erdenfestigkeit, zu der Hugo sich nicht herabließ. Das Derbe seines ersten Buches kommt ihm aus den ungebrochenen Tagen seiner bürgerlichen Väter und von noch weiter her. Dieser Letzte, Künstliche, ist ein zugrunde gerichteter Riese. Er spielt mit seinen Menschen immer noch, heidnisch lachend, wie ein Wikinger mit Gnomen; er hat die traumhaft tiefen Sensationen des Barbaren, plötzliche Griffe der Sinne, zum Erschrecken. Aus alledem – und nicht aus gemeiner Lebenstüchtigkeit – ward der realistische Roman.

Aus alledem entstand noch mehr. Als Barbar erinnerte er sich alter Länder und böser Gestalten, – und dank seinen Nerven und der Erziehung, die er seinem Herzen hatte geben müssen, bekamen sie sogleich das Schillernde, Fäulnisbunte, Beunruhigende und Erschlaffende, das die Dekadenten verlocken sollte. Die fremden, stilisierten und tiefen Frauen, die seitdem, hart von Edelsteinen und schwül und ungreifbar wie Samum, über die Bühne und durch Verse geglitten sind, sie kommen sämtlich aus dem zaubernächtigen Klosterzimmer, wo die Tochter der Herodias, die Königin von Saba, Salambo ihre kleinen, fieberäugigen, bemalten Gesichter unter die Lampe gehalten haben, – und verschwinden nun, irrer und blasser, dorthin,

Où, pâle et succombant sous ses colliers trop lourds,
Aux sons plus torturés de l'archet plus acide,
L'Art, languide énervé – suprême! – se sucide.

Ein Ende. Zu einem anderen geht es über Maupassant. In ihm ist die Romantik erloschen. Er trägt seine Einsamkeit in strafferer Haltung, seine Hoffnungslosigkeit weltmännischer. Er hat vieles über die Achsel geworfen, was den Meister noch quälte, und ist unbesorgter. Auch die Fülle seines Werkes ist Unbesorgtheit eines Erben. Maupassant hat gut von Flauberts lebenslänglicher Anstrengung; seinem Stil eignet endlich die Leichtigkeit, die jener nicht mehr erwarb. Die Technik, die für Flaubert aus der Tiefe seiner Persönlichkeit mühselig hervorgezogenes Schicksal war, wird dem Schüler zur leicht faßlichen Lehre. Das neue, rein sinnliche Anfassen der Seelen, kraft dessen ihnen bei Flaubert einzelne starke Klänge entrollen, bei Maupassant ist es benutzt, um sie ganze Bravourarien hinlegen zu lassen. Die Leichtigkeit reißt ihn fort; aber wie er nicht stärker ist als der Ältere, nur schroffer, ist er auch nicht reicher, nur weniger wählerisch. Über die dreißig Bände Maupassants ergießt sich eine reiche Menschlichkeit; nicht reicher doch als die, die Flaubert, dem Ideal seiner Kunst zuliebe, allzu lange unterdrückte. (Un cœur simple beweist es.) Maupassant wäre, aus Leichtigkeit, sentimental geworden, hinderte ihn nicht Flauberts unbestechlicher Sinn für die Untergründe, für die groteske Grundlinie im Menschen. Rasse und Lehre halten ihn bei Flaubert fest. Und wie unter dem Jüngeren das Gefühl sich gemeiner macht, entarten die Grotesken manchmal schon zum Buffo, mit flüchtigen, sicheren, hölzernen Umrissen …; Ein Stück Weges noch, wir finden Octave Mirbeau; und aus den Seelen werden, statt bloßer Erzeugnisse der Sinne, pathologische Fälle und aus der Menschheit, unter Auflösung aller Verbindungen, jeder Form, eine Prozession trister und spaßhafter Irrer. Auch ein Ausläufer des Romans.

An seinem sichtbarsten Punkt, mit Beziehungen zu allem Vorigen und freiem Ausblick bis auf seine Fernen, steht Flaubert.

VII

Der Krieg! Der letzte Schlag, den ein einst gläubig der Menschheitsidee Anhangender empfangen konnte. Sie haben ihn beide für unmöglich gehalten, sich 67 über die Preußenfurcht entrüstet. Nun heißt es: »Ach, Literaten, die wir sind! Die Menschheit ist weit von unserem Ideal!« Gleich darauf: »Glauben Sie, daß wenn Frankreich, anstatt schließlich doch von der Masse regiert zu werden, in der Macht der Mandarinen wäre, daß wir dann an diesem Fleck wären?« Und schon im August: »Meine Landsleute machen mir Lust, mich zu erbrechen. Sie gehören in denselben Sack wie Isidor (Napoleon). Dies Volk verdient, gezüchtigt zu werden, und ich fürchte, daß es so kommt.« Der Krieg ist eine Schande, unter der ein Kulturmensch erbebt; aber dann muß man entdecken, daß auch das Besiegtwerden eine Schande ist. Der Sieg, was war er bisher wert? Auch die verachtete Dynastie hatte ihn noch immer für sich gehabt, wenigstens ihn: so verachtete man unwillkürlich auch ihn. Die herrschende Familie war nicht ohne Beziehungen zur Literatur gewesen, mit dieser Macht hatten der württembergische Holländer und die Spanierin zu rechnen in dem Lande, über dem sie thronten. Die Kaiserin ließ die Vermittelung Flauberts anrufen, zur Besänftigung George Sands, bei der sie eine Anspielung gespürt zu haben meinte; und schließlich war es Eugenie, die um Entschuldigung bat. Sie habe nie die Absicht gehabt, das Genie zu beleidigen. Einer der Prinzen soupierte bei George Sand und ging mit ihren Freunden auf die Jagd. Dafür lockte ein anderer einen Journalisten zu sich ins Haus, um ihn niederzuschießen. Das Halbwilde und das Abenteuerliche dieser Familie kam bei jeder Gelegenheit wieder herauf und erregte Naserümpfen. Und jetzt sind sie sogar vom Sieg verlassen! Sie stürzen: könnte man sich freuen! Aber man weiß voraus, was kommt; man hat es ja schon einmal erlebt. »Sie betrüben mich, mit Ihrer Begeisterung für die Republik. Im Augenblick, da wir vom klarsten Positivismus besiegt werden, wie können Sie da noch an Phantome glauben?« Sie glaubt. Schon richtet sie sich auf. »Vielleicht ist das unsere letzte Rückkehr zu den Irrungen der alten Welt.« Und: »Böses zeugt Gutes.« Und: »Mitten im Sturm habe ich meinen Roman beendet.« Sie kann arbeiten! »Was mich betrifft«, antwortete er, »ich betrachte mich als fertig. Mein Gehirn kommt nicht wieder ins gleiche. Man kann nicht mehr schreiben, wenn man sich nicht mehr achtet.« »Was mir das Herz bricht, ist erstens die tierische Wildheit der Menschheit; zweitens die Überzeugung, daß wir in eine stumpfsinnige Ära treten. Man wird utilitarisch, militärisch, amerikanisch und katholisch sein! Sehr katholisch! Sie werden sehen! Der Krieg mit Preußen beendet die französische Revolution und zerstört sie.« »Die lateinische Rasse liegt im Sterben.« »Was für ein Sturz! …; Wozu denn dient die Wissenschaft, wenn doch dies Volk, das voll von Gelehrten ist, Abscheulichkeiten begeht, würdig der Hunnen und schlimmer als ihre, denn sie sind systematisch, kalt, gewollt, und haben weder Leidenschaft noch Hunger zur Entschuldigung. Warum hassen sie uns so? Fühlen Sie sich nicht erdrückt vom Haß von vierzig Millionen Menschen?« Endlich, als Gegenschlag von alledem: »Armes Paris, ich finde es heldisch!« Und er läßt sich zum Leutnant ernennen, er exerziert Rekruten; nimmt Saint-Antoine wieder vor, denn auch »die Griechen zu Perikles' Zeit machten Kunst, ohne zu wissen, ob sie morgen etwas zu essen haben würden«. Dabei fühlt er in seinen Adern barbarische, urväterische Lust, sich zu schlagen, ist mit allen Bürgern darin einig, auf Paris zu marschieren, wenn es belagert wird; teilt die Illusionen aller Bürger …; Nicht lange. Ernüchtert und beschämt sinkt er zurück. »Ich nehme es meinen Zeitgenossen übel, daß sie mir die Gefühle eines Rohlings aus dem zwölften Jahrhundert eingegeben haben!« Dann: »Nur noch darauf wird man bedacht sein, sich an Deutschland zu rächen! Die Regierung, jede, wird sich nur durch Spekulation auf diese Leidenschaft halten können. Der Mord im großen wird das Ziel aller unserer Anstrengungen, wird Frankreichs Ideal sein!« Die Zurückentwicklung der Menschheit scheint in vollem Gange. Die Pariser Kommunisten: »Was für Rückschrittler! Was für Wilde! Wie sie den Leuten der Ligue und den Streitäxtlern ähneln! Armes Frankreich, das sich nie aus dem Mittelalter losmachen wird! Das noch mit der gotischen Idee der Kommune nachhinkt, die nichts weiter ist als das römische Munizipium.« Wieder geht Gnade vor Recht; die Kommune bringt die Mörder zu Ehren, wie Jesus den Schächern verzieh. »Die Republik steht über aller Diskussion« ist nicht besser als »der Papst ist unfehlbar«. Wie die Freunde aus diesen gewalttätigen Tagen den geistigen Inhalt trinken, entflammen sich alle ihre Ideen, steigen ihre Temperamente fieberhaft, bekommt ihr Wesen doppelte Schärfe. In kurzem hat Flaubert sich in das Schwärzeste eingewohnt; und ihn dünkt, er habe es nie anders erwartet. George Sand braucht länger. Ihr ist es im Laufe des Lebens gelungen, manches an sich selbst zu bessern, und sie hat gewähnt, diese Zeit sei auch für die Menschheit nicht verloren gewesen. Nun ist sie »krank durch die Krankheit ihrer Nation und Rasse. Ich kann mich nicht abschließen in meiner persönlichen Vernunft und Untadeligkeit.« Er kann es. Er hat Momente bitterböser Genugtuung, wenn irgend etwas vom Untersten aus dem Zeitlauf heraufkommt, zum Beispiel: das alberne Szenarium zu einem Roman, das im Schreibtisch Napoleons gefunden wird. Das hat uns regiert! Die weniger Selbstische muß mehr gelitten haben, bevor sie aus der Tiefe ihres Mitleidens Hoffnung zu schöpfen vermag. Wie? Ihr Freund will, sie solle sich damit abfinden, daß der Mensch nun einmal so sei, das Verbrechen sein Ausdruck, Ruchlosigkeit seine Natur? Hundertmal nein. »Die Menschheit ist entrüstet in mir und mit mir. Die Entrüstung ist eine der leidenschaftlichsten Formen der Liebe.« Es ist, als spräche ein Mensch von 1789, der durch alle Zusammenbrüche bis 1871 hindurchgegangen und dessen letztes Wort wäre: Trotz alledem! Ferne, seltsam rührende Klänge, bei denen der gallige Moderne die Stirn senkt, weil er ihnen nicht glauben kann.

… Auch das ist aus. Katarakte von Bitterkeit sind über dein Herz gestürzt, du hast ein Weiterleben für unmöglich gehalten; und eines Tages sitzest du wieder, während hinter den Fenstern das Land besonnt und still ist, vor deinem Werk, hast nichts zu denken als nur dein Werk und fühlst, da nun bis ans Ende des Weges kein Ding mehr vor dir zu liegen scheint als die einsame Angst des Werkes, vielleicht eine Sehnsucht sich rühren nach den hochgehenden Leiden, die verebbt sind. Er läßt sogar wieder drucken, – obwohl er nicht mehr weiß, für wen. Paris ist verändert, fremd geworden, hat keinen Raum für Literatur; und es ist schwer, sich mit fünfzig Jahren noch zu häuten. Er verliert seine Mutter: erstes Anzeichen des Endes. Gautier stirbt, nachdem Jules de Goncourt und Sainte-Beuve starben; von den Freunden bleiben außer George Sand nur Hugo und Turgeniew. Er nimmt es, mit verhaltenen Tränen, wie ein Almosen entgegen, wenn der alte Hugo ihm aus einem lateinischen Dichter hersagt, und der Gesang der Viardot muß ihn dafür trösten, daß er am Leben ist. »Niemand spricht mehr meine Sprache.« »Schatten breitet sich um mich aus.« Das ist der Zeitpunkt, das nahe Ziel zu ermessen und zu bedenken, wie man hierherkam. »Ich habe mehr geliebt als irgendwer; ein anspruchsvoller Ausdruck, der so viel heißt wie ›ganz wie ein anderer‹; und vielleicht sogar mehr als der Erstbeste. Alle Zärtlichkeiten sind mir bekannt. Und dann haben Zufall und Zwang der Umstände bewirkt, daß die Einsamkeit um mich her allmählich immer größer ward; und jetzt bin ich allein, durchaus allein.« Ein alter Junggesell, nicht mehr reich genug, um eine Frau zu nehmen, oder auch nur, um sechs Monate des Jahres in Paris zu leben, krank von eben dem Abseits, das ehemals seine Stärke war, ohnmächtig durch dieselbe Außermenschlichkeit, die ihn früher schaffen lehrte. Seine hysterische Reizbarkeit läßt ihn sich selbst nur noch als groteske Figur sehen, als den »Ehrwürdigen Vater Cruchard, Gewissenlenker der Damen von der Desillusion«; und zugleich macht sie ihm Furcht, es mit seinen letzten Freunden zu verderben. Er zeigt sich nicht mehr, seine Briefe werden kurz. Er kam auch sonst nur selten nach Nohant, denn ein Besuch bei George Sand und den Ihren löschte für Wochen die künstliche Welt in seinem Kopf aus; ein Diner bei Fremden sogar machte ihn tagelang arbeitsunfähig. Aber zu jener Zeit opferte er sich Werken, die es ihm lohnten; und jetzt liegt er überm Werktisch in gegenstandsloser Verbissenheit. Diese Bouvard et Pécuchet nehmen ihm den letzten Atem, zermalmen ihn. Er hatte Erleichterung von ihnen erhofft; er wollte alle Galle hineinspeien, die menschliche Dummheit ihm je bereitet hatte; und die beiden Hampelmänner, die sich nach und nach das gesamte menschliche Wissen aneignen und erleben, wie es sich gegenseitig in die Luft sprengt und zu nichts verpufft, sollten ihn erheitern. Aber schon die Vorarbeiten – dieses wahnwitzig hastige Verschlingen sämtlicher Wissenschaften, zu dem einzigen Zweck, aus jeder zwanzig Zeilen Stil und eine Posse zu machen – zeigen ihm das Ende seiner Sackgasse. Er sieht selbst, aber ohne abzulassen: nur in einem, der fast allen Zusammenhang mit dem Möglichen, mit dem Leben selbst verlor, konnte solch ein geistiges Ungeheuer heranwachsen. Die trostlose Freude, eine Liste anzulegen von Dummheiten jener Verstorbenen, deren Namen die Menschheit vertreten, sie ist das krampfige Gelächter eines Verurteilten.

Verurteilt ohne mögliche Berufung, ohne Aufschub? Vielleicht, wenn man dies wüßte, gewährte es eine kindische Rache am Leben. Und, ein altes Kind, trotzt er der Stimme der Sand. Sie hat ihn immer gewarnt, vor dem Alleinsein, vor der Verkünstelung; hat ihn gefragt, ob er nicht irgendwo einen Bengel wisse, den er mit einigem Grund für seinen eigenen halten könne: er solle ihn adoptieren. Geld? Sie kaufe ihm sein Haus ab und er bleibe darin wohnen. Er solle das Leben der Mollusken studieren. »Wenn du an die Naturgeschichte anbeißt, bist du gerettet.« Endlich: er solle sein Martyrium schildern; und immer wieder: er solle die Dummen, Schlechten beklagen, nicht hassen. »Beklagen läßt sich nicht trennen von Lieben …;« Was kann er dazu sagen? Man ändert doch nicht mit bloßem guten Willen das Ergebnis eines lebenslangen Schicksals. Wie er falsch wirken würde, wenn man ihn plötzlich sentimental und als Menschenfreund wiedersähe! Sein öffentliches Gesicht ist längst fertig geschminkt, seine Rolle – und die tauscht man nicht um – allen geläufig. Ihn umgeben Legenden von Wunderlichkeiten, und gewagte Aussprüche werden ihm zugeschrieben. Er ist ein unzugänglicher Sonderling, den die Sonntagsausflügler einander zeigen, wenn er in seinem ewigen Schlafrock am Fenster erscheint. Wie viel Abneigung verdankt er seiner Art zu leben, und durchaus nicht nur bei den Philistern aus Rouen! Jemand, der von dreißig Jahren Kunstschaffens fünfundzwanzig abgesondert auf dem Lande verbringt, handelt wider die Volksnatur und erweckt den allzu Soziablen die Vorstellung frecher Überhebung. Eine richtige Manie sogar hat er, den »Haß auf die Literatur«. Er sieht die Literatur überall gehaßt: von den Machthabern, denn wer spricht und schreibt, ist eine Nebenmacht; von der geistigen Trägheit, dem Konservatismus ganzer Klassen, dem Fanatismus anderer; kurz, von der Dummheit, deren natürliche Aufgabe, dem Geist die Waage zu halten, er verkennt und die er, seine Freundin hat es ihm immer vorausgesagt, nicht töten wird. Im Gegenteil: ihn wird die Literatur töten und eben sein Haß auf die menschliche Dummheit, der ihn nun in ein aussichtsloses Unternehmen verstrickt hat.

Will er es noch immer nicht einsehen? Er fängt an, die Wohlmeinende zu entmutigen. Sie selbst rafft sich mit Mühe und zum letztenmal aus Krankheit auf; und, was nie geschah, ein paar Worte der Ungeduld entschlüpfen ihr. »Das Leben ist eine Folge von Stichen ins Herz. Aber die Pflicht heißt, weiter und seine Arbeit tun, ohne die traurig zu machen, die mit uns leiden.« Und, einmal im Verhältnis des Kritikers, erliegt sie der Versuchung, es dem Kranken anzurechnen, daß nun seine Pflegerin, ehe sie selbst dahingeht, ihn hoffnungsloser sehen muß als je. Plötzlich brechen alle Gegensätze stachelig hervor. Jetzt kommt von ihr die Beanstandung seiner Ästhetik, alles dessen, was er ist. Mit einem Schlage hat sie alles verloren, was sie je von ihm begriff und fühlte, und bringt dieselben fremden Widerreden vor, die ihre Partei von jeher an ihm übte. Denn diese Freunde standen jeder zu Häupten einer feindlichen Partei. Er antwortet, zuerst bestimmt; man läßt sich nicht sagen, daß man alles, was man war, durch Irrtum war; dann nachgiebig. Entstehen ihm Zweifel? So sind es beglückende. Ein süßes Erschrecken muß über ihn gekommen sein, der sich aufgegeben glaubte. Hier ist jemand, der sich noch die Mühe macht, ihn zu tadeln, mit dem Verlangen, er solle ihm folgen? Jemand, der ihn in eifervolle Behandlung nimmt, ihn von Grund aus erneuern möchte. Das wäre also noch möglich? Die Freundschaft, die er für ein verklärendes Spiel, aber im Grunde für unwirksam hielt, kann also dennoch machen, daß von zwei Wesen nicht mehr jedes in seiner Atmosphäre bleibt, und unser Menschentum braucht nicht auf immer begrenzt zu sein? Jetzt lauscht er der befreundeten Stimme, zum erstenmal jetzt. Sie will, daß er sich endlich in die eigene Güte und Zärtlichkeit füge, sich zu ihr bekenne, an der Liebe der Einfachen teilnehme, etwas von seinem Herzen zu Papier bringe. Und er sinnt zurück in die Zeiten, da er sein Herz noch gewähren ließ. Er war Kind; im Hof des Hospitals, dessen berühmter Chirurg sein Vater war, gingen Kranke in Kragenmänteln; in den Betten seufzten sie, wenn es stürmte. Wie, wenn jemand mit stolzer Vergangenheit in Elend und Vereinsamung, an stürmischem Flußgelände ein Fährmann wäre, und es riefe ihn ein Mensch in der Nacht, der ein Aussätziger wäre, den er in seine Hütte führte, speiste, zu sich ins Bett legte, die Schwären an sich gedrückt, und der dann, aufglänzend als Heiland, mit ihm gen Himmel schwebte? Die Last seines unmöglichen Buches ist abgeworfen. Flaubert schreibt die Legende von Sankt Julian dem Gastfreundlichen. Er gibt vor, es sei ein »Kirchenfenster in seinem Dorf«; es sei »Kunst«, »Stil« und nichts weiter. Wie gewöhnlich, glaubt man es ihm.

In seinem Elternhaus erzählte eine alte Magd dem langsamen Knaben, der spät sprechen lernte, die ersten Geschichten, lehrte ihn seine Phantasie kennen, die Gabe, von der er leben sollte. Und mitten in das Landwirtschaftsfest, das größte Prachtstück der Bovary, und als einzige liebevoll und dankbar gesehene Gestalt tritt eine alte Magd, um eine Medaille im Wert von fünfundzwanzig Francs entgegenzunehmen, für vierundfünfzig Dienstjahre auf demselben Hof. Da steht sie in ganzer Figur, eingeschrumpft, das Gesicht ein vertrockneter Apfel, die Hände halb offen, »als wollten sie selbst das demütige Zeugnis so vieler ertragenen Leiden beibringen«. Nonnenhaft starr, stumm und friedlich wie die Tiere, die ihre Gesellschaft waren, ohne alle Weichheit oder Trauer und, ohne es zu wissen, als Anklägerin: »so stand vor diesen breit dasitzenden Bürgern dies halbe Jahrhundert Knechtschaft«. So zeigte er sie vor zwanzig Jahren. Jetzt ist der Augenblick gekommen, wo sie von der Estrade der Preisrichter herabsteigen, ihr strenges Relief verlieren, die Male in ihrer Seele vorzeigen soll. Eine alte Magd, ihr Leben lang unter einer Herrin, einst von ihrem Liebsten verlassen, des Kindes vom Haus, an das ihre Zärtlichkeit sich hielt, durch den Tod verlustig, lächerlich durch ihre Glut, zu lieben, die sich endlich ganz auf einen bunten ausgestopften Papagei, wie auf ein Abbild des heiligen Geistes, ergießt: die Magd Félicité. Ein alter Einsamer, hinter sich von der Liebe nur Bitternisse, übrig geblieben nach denen, die ihm einst eine Familie vortäuschten, und, wenn er sterben wird, den letzten, mystisch sinnlichen Gedanken an das über seiner Stirn schwebende ausgestopfte, schon halb zerfressene, aber smaragdene, aber purpurne Gefieder – die Kunst! – gehängt: Flaubert.

Als er, viel schneller denn sonst irgendeine, diese Seiten beendet hatte, konnte er sie George Sand nicht bringen, ihr für die Wohltat, die sie ihm erwiesen hatte, nicht mehr die Hände küssen; denn sie war soeben gestorben. »Die gute Dame von Nohant« war von vielen Armen gesegnet worden; mit Un cœur simple erntete sie (und wußte nicht mehr darum) den reichsten dieser Segen.

So verlief eine Freundschaft. Zwei Geister verweilten beieinander: der eine vermeinte, aus Neugier; und sicher, wußte der andere, nicht ohne daß auf dem Grund seines Gefühls, wie jedes Gefühls, wieder er selbst zu finden war. Dabei gehörten sie, wo immer es feindliche Verschanzungen gab, in verschiedene Lager. Was der eine war, schien eine Verwerfung des anderen; was dieser schuf, schien gegen das Schaffen jenes gerichtet. Sogar wenn sie das Selbe haßten, unter dem Selben litten, wirkte darin ein verschiedenes Wollen. Eine nie erklärte, seltsame Nähe empfanden sie trotzdem, und daß sie mit jeder Bekundung des Andersseins den Lippen Unwesentliches überlieferten. Aus der Tiefe, wo sie zusammenhingen, wollte kein Wort heraufsteigen, oder nur, von Zeit zu Zeit, ein von ungefähr, wie unwissend, gestammeltes. Endlich, da der Stärkere, im Begriff, zu scheiden, herb wird, erschrickt der Schwächere, ob er sich auch immer allein und unberührbar glaubte, tief und zugleich beglückt; und die nie erhörten Worte, die ihr Gemeinsames ausdrücken, werden laut. Sie sind das Persönlichste, was der eine zu sagen hatte, und rufen doch dem anderen das Echo seines eigenen Menschentumes nach. Der aber hört sie nicht mehr; ein Sargdeckel fällt zu; und ratlos erhebt sich ein Weinen.

Fünfzig Jahre nach dem Tode

Fünfzig Jahre ist er tot; von der Ewigkeit, auf die er vertraute, hat er fünfzig Jahre gelebt. Das ist viel. Freilich entscheidet sich erst nach weit längerer Zeit, ob ein Autor so lange dauern wird wie unsere Kultur. Aber einem Geschlecht, das wie das heutige mit ganz kurzen Fristen rechnet, müssen fünfzig Jahre als eine erstaunliche Probe erscheinen.

Lebt er wirklich? Kaum, wenn er deutsch geschrieben hätte. Hier ist einer bald veraltet und fällt bald ab. Was ist aus dem neunzehnten Jahrhundert denn geblieben? Wer liest das Gestrige, als ob es noch wirksam wäre? Hier nimmt man gern Generalrevision vor, und am liebsten finge man immer von vorn an. Eine besonders deutsche Frage hieß kürzlich: »Ist Schiller noch modern?« Dagegen steht in einer französischen Zeitschrift die neueste Untersuchung über Corneille wie über eine Tatsache von jetzt. Das Gegenwärtige verdrängt in der Literatur Frankreichs niemals, was weniger oder mehr als gegenwärtig ist; es bleibt vollkommen sichtbar. Der französische Roman ist eine Einheit ohne Lücken oder verschüttete Stellen. Man sagt Gide und blickt zurück bis auf die Princesse de Clèves. Oder Martin Du Gard wird erwähnt, da tauchen alle je dargestellten Zusammenhänge der bürgerlichen Gesellschaft mit auf.

Von den drei vordersten Namen des Romans aus den Bürgerzeiten ist Balzac die Heldengestalt, Stendhal der immer Zeitgemäße. Aber der Heilige des Romans ist Flaubert. Er hat nicht die kühnen und ausschweifenden Eroberungszüge gemacht, wie Balzac, durch alle neuen Gebiete einer kürzlich umgewälzten Welt. Er hat auch nicht erfunden, wie Stendhal, was Frauen und Männer wenigstens hundert Jahre lang ihm und seinen Figuren nachleben, nachfühlen werden. Aber er hat an der geistigen und technischen Förderung des Romans gearbeitet wie keiner und brachte sich und sein Menschenglück ihm dar, als wäre dies eine Verpflichtung gegen das Übersinnliche.

Die Selbstachtung des geistig Gestaltenden hat in ihm einen ihrer Höhepunkte wie zur gleichen Zeit in Ibsen. Er glaubte nicht, daß irgendeine andere Tätigkeit des Menschen der seinen gleichkomme, weil er die Annäherung an das Vollkommene von sich verlangte, und wer sonst strebt danach. Er glaubte an Gesetze der Schönheit, die wie Gebote eines Gottes sind und im Geschaffenen das Ewige bewahren. Der Anblick einiger Säulen der Akropolis ließ ihn ahnen, was mit der Anordnung von Sätzen, Worten und Vokalen an unvergänglicher Schönheit erreichbar wäre.

Romantiker im Herzen, fand er die unromantische Aufgabe vor, den Roman seiner Zeit zu schreiben. Er schrieb ihn auch, aber er opferte sich einem freiwillig erschwerten Ziel. Szenen, Menschen und Gedanken des gegebenen Augenblickes sollten in voller Bewegung erhalten bleiben, während dennoch Wirkungen plastischer Größe von ihnen ausgingen wie von einer Antike. Das wurde Madame Bovary. Die Klänge und Gesichte alter Welten waren aufzuwecken in Salammbô und der Versuchung des heiligen Antonius; aber moderne Sinne empfingen sie, und dies ergab den Reiz von Toten, die wiederkehren, um uns zu lieben. Beschwörungen eines Schönheitssüchtigen, – und nichts paßt auf Flaubert wie zwei Verse Platens: »Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, ist dem Tode schon anheimgegeben.«

Mehrere seiner Stoffe haben ihn durch das Leben begleitet; es gab einen frühen »Antonius«, und es gibt jugendliche Vorstufen der Éducation sentimentale. Er war gewohnt, alte Ideale in sich weiterzutragen, und hat sie wohl mehr geliebt als ihre endliche Verwirklichung. Die Éducation ist zwar aus einem halben Jahrhundert das Buch, das am meisten festhält von wirklich gelebten Tagen, von Gefühlen, die erschreckend in dir selbst nachzittern, wenn du gelesen hast und die Augen schließt. Es verewigt den Nachgeschmack eines ganzen Daseins, und wie selten ist das! Aber Flaubert ließ alles schon Getane schnell hinter sich, er floh es, um sich am scheinbar davon Entferntesten zu versuchen. Er liebte das Vollkommene genug, um zu wissen, daß es nur in den vergeblichen Vorahnungen geistere. »Wer die Schönheit angeschaut mit Augen –«

Niemand hat einen weiteren Weg zurückgelegt – von Naturstimmungen und zerfließender Seele bis zu der harten Sachlichkeit in seiner letzten Darstellung unseres unabänderlichen geistigen Unvermögens, Bouvard et Pécuchet. Er ging hervor aus Chateaubriand und reicht hinein bis mitten in das Werk von Zola, von France. Dazwischen beschäftigten ihn technische Versuche, wie das Nebeneinander des Geschehens und die Erfindung der ungerührten Sachlichkeit im Bericht seines Ablaufes. Er ist der erste und fertigste aller Realisten unter den Autoren von Rang; aber auch was Ästhetizismus hieß, führt vor allem auf ihn zurück. Er hat überall für sich nicht nur die neue Idee, sondern auch gleich das Meisterwerk, und in einem einzigen Leben, das sechzig Jahre währte, reichen einander die Hände die Frau des Landarztes und Herodias.

Das alles ist nun durch sechs oder acht Jahrzehnte umstritten und bewundert worden; aber mehr, es wurde gebraucht, und es hat mitgewirkt am geistigen Bild von Geschlechtern. Die Bovary war die Bibel junger Schriftsteller, in Malschulen wurde laut vorgelesen aus den zauberhaften Sätzen der Versuchung. Vieles wurde komponiert, gezeichnet, gemalt. Salammbô ist verfilmt – nicht in der üblichen Bearbeitung, sondern wortgetreu, mit Texten, die das Buch feiern. So groß war die Achtung, und ein so mächtiger Name zwang sich noch immer den Nachkommen auf, während doch schon Zeiten begannen, für die er – noch längst kein Fremder, nur nicht mehr ganz ihresgleichen und teilweise doch wohl verdunkelt ist.

Ihm nimmt es etwas von seiner Gegenwärtigkeit, daß er außer der Richtigkeit auch die Schönheit und inmitten der Zeitgemäßheit das Ewige suchte. Die ferneren Grenzen seiner Art entziehen sich Blicken, die heute allein noch das Unmittelbare verstehen wollen und für ihre eigene Dauer auch recht haben. Wozu in einer Darstellung des kaum vergangenen Lebens plötzlich ein Tonfall wie aus einer Grabrede von Bossuet oder jener epische Ritt im Stil Homers? Künftig werden andere wieder begreifen, wozu. Bis dahin warten diese Herrlichkeiten unversehrt unter ihrer leichten Staubschicht und haben Zeit.

Er gehörte dem dichtesten Teil der Bürgerzeit an; einige seiner gewohntesten Vorstellungen und Begriffe sind mit ihr dahingegangen. Er glaubte an den Ruhm; »um Dauerhaftes zu schaffen, darf man des Ruhmes nicht spotten«; aber der ist seither ersetzt worden durch den Erfolg. Er fand die Literatur gehaßt vom Bürgertum, und es haßte sie wohl wirklich um der Erkenntnisse willen, mit denen sie es untergrub. Auch das hat sich geändert, und die Literatur wird höchstens noch von älteren Literarhistorikern gehaßt. Die Gesellschaft selbst findet sich unverdrossen ab mit den Erkenntnissen, zu denen die Literatur sie nötigen möchte. Sie lebt trotz ihrer und ihnen genau entgegen.


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