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Achtes Kapitel

Der Finder

Bei Basel überschritt er die Grenze und las an einem alten Hausgiebel den Vers: »Die Feder das Schwert besiegen tut – drum steckt man sie hoch auf den Hut. Das Schwert will nicht so viel bedeuten – drum steckt man es nur an die Seiten«. – Am Abend war er in Zürich.

Zum ersten Male ging er vom Bahnhof die breite Straße dem See zu, sah in sinkendem Lichte flammende Firnen und lauschte in der Nacht noch lange dem Rauschen des grünen Flusses, der unter seinem Fenster durch Brücken und Häuser hinschoß.

Und so noch eine Woche. Denn diesmal fand er nicht so leicht, was er suchte. Als er es aber gefunden, sein neues Quartier, ein Zimmer auf halber Höhe des Zürichberges, mit freiem und weitem Blick auf See und Gebirge und erreichbar nur nach gutem Aufstieg, genoß er die Ruhe hier oben wie ein langentbehrtes Geschenk.

Denn Ruhe wollte er jetzt vor allem. Er war nicht mehr der Jüngling, der ins Leben stürmte, hungrig nach ihm und nach seiner Ergründung wie ein Wolf. Er hatte den Dingen ins Herz und den Menschen hinter die Stirnen gesehen. Er wollte es weiter tun, aber von dem gewonnenen Standpunkt aus.

Es gelüstete ihn nicht mehr nach den Vielen.

Nicht daß er ungesellig geworden wäre. Er saß gern einen Abend in frohem Kreise und lachte mit, wo ein Lachen wert war, gelacht zu werden. Aber unter Menschen, die zusammenkamen, um lustig zu sein um jeden Preis, fühlte er sich nicht wohl. Denn was ließ sich wohl schwerer zwingen als echte Freude?

Gern auch gab er sich, mit mehreren, am liebsten aber zu zweien, in den Widerstreit der Meinungen. Aber dann mußte er sehen, daß der Gegner auch wirklich dachte und nicht nur mit angehörten Gemeinplätzen antwortete. Das öde Geschwätz über gleichgültige und alltägliche Dinge der sogenannten Gesellschaft erschien ihm als ein unverantwortlicher Raub an der kurzbemessenen Frist des Lebens und war ihm ebenso zuwider, wie die plumpe Vertraulichkeit jener allzuvielen, die in dem anderen nur das Gefäß sehen, um den nicht immer sauberen Inhalt ihres Inneren entleeren zu können.

In Berlin hatte ihm seine angestrengte und unruhige Arbeit überdies nicht viel Zeit zum Verkehr mit anderen Menschen gelassen. Was er im letzten Jahre von seinen Stunden hatte erübrigen können, gehörte der, die er liebte.

Er wußte, er würde immer Freunde finden, wenn er sie suchte, und er fing an zu begreifen, daß auch Freunde eine zwar schöne, aber auch kostspielige Sache sein können, und daß der gewiß reich ist, der sie besitzt, aber arm der, der sie nicht zeitweilig zu entbehren vermag.

Am liebsten war er mit sich allein, und er verstand nicht, wie man sich mit sich selbst langweilen konnte. Es mußten das wohl selbst recht langweilige Menschen sein.

Das Gefühl der Einsamkeit kannte er nicht. Nie hatte er sich wohler gefühlt, als in dem Gewühl großer Städte; nie glücklicher, als in dem Schweigen weiter Wälder und Fluren; und nie war er zufriedener, als wenn er allein sein durfte mit sich und seinen Gedanken.

 

Er fand Bekannte, alte und neue; fand Freunde auch hier, ohne sie zu suchen.

Diese große Bewegung, welche wie ein Sturmwind über die alte Erde brauste, um eine neue zu schaffen, entwurzelte ihre Glieder, wirbelte sie durcheinander und streute sie über alle Länder, wie toten oder wie fruchtbaren Samen; riß hier los, um dort wieder zusammenzufegen. Diese schöne Stadt an der Limmat war seit langem ein Herd ihrer Flüchtlinge, und eng im Raume stießen sich hier die Menschen und ihre Gegensätze.

So fand er auch hier sie alle wieder, diese oft so seltsamen Erscheinungen aus ihrer Vorhut und ihrem Nachtrab, und in wenigstens einem Exemplar waren alle Richtungen vertreten. Wie überall drängten sich auch hier lärmend und anspruchsvoll in den Vordergrund: die Menschheitsretter und die Propheten, die Schwärmer und die Gläubigen, die Umstürzler und die Reformer, alle diese meist jungen, oft aber auch schon recht angejahrten Menschen mit Christusbärten und in Sandalen, in Schlapphüten und wehenden Mänteln, mit ihrer schrecklichen Lungenkraft und ihren kurzatmigen Gedanken, und mehr als je fühlte er, daß sie ihm nichts mehr zu sagen hatten, was er nicht schon wußte. Weil er nichts mehr bei ihnen zu suchen hatte, mied er sie.

Versammlungen, in denen er früher ein so häufiger Gast gewesen, besuchte er hier nicht. Sie konnten ihm in der Art, wie sie abgehalten wurden, nichts mehr geben, und als er gar hörte, wie eine von ihnen, statt in ruhiger und sachlicher Auseinandersetzung innerhalb der jedem Redner gleichmäßig zugestandenen Zeit (wie es hätte sein sollen) zu verlaufen, in wüsten gegenseitigen Beschimpfungen und einer rohen Schlägerei geendet war, lockte ihn keine mehr.

 

Das Abkommen der Übersetzung eines umfangreichen französischen Werkes mit einem deutschen Verleger sicherte ihm neben der gelegentlichen Mitarbeit an den ihm bekannten Zeitungen ein weiteres Jahr größerer Bewegungsfreiheit. Er durfte sich Tage der Ausspannung gönnen, und er fand Zeit zu den Studien, die ihm die liebsten waren. So begann eine Zeit für ihn, an die er nie anders als mit Dankbarkeit zurückdachte, als an die schönste seines Lebens: er stieg hinunter von seiner Höhe, um auf diesem grünen See zu rudern und in ihm zu schwimmen, nach Tagesarbeit in einem gemütlichen Winkel allein oder mit Bekannten den Wein des Landes zu trinken, und wieder hinauf, und unter ihm lagen Streit und Unrast, Kleinlichkeit und Torheit der Menschen. Er fand, was er gesucht; fand, fand und fand, und als er nach einem beglückenden Sommer im Winter daran ging, die Fülle seiner Ernte zu sichten, war es Garbe und Frucht und hieß: Freiheit.

 

So stand er denn endlich vor der großen Frage, die die Menschheit erregte wie keine andere und auf die es doch nur eine Antwort geben konnte: Freiheit – was ist Freiheit? – Und wann ist der Mensch frei?

Frei bin ich, sagte er sich, wenn ich tun und lassen kann, was ich will.

Aber schon stutzte er hier.

Er war nicht allein auf der Welt. Wäre er es gewesen, so war die Antwort richtig: dann war er absolut frei.

Da er es nicht war, war sie falsch: es gab eine Grenze für seine Freiheit – die Freiheit anderer.

Wo aber lag diese Grenze ? – Entweder war seine Freiheit geringer, als die der anderen – dann war er nicht frei; oder sie war größer, als die der anderen, und dann waren diese nicht frei. In beiden Fällen, dem des Schwächeren (des Knechtes) wie in dem des Stärkeren (des Herrschers), war es kein Zustand der Freiheit.

Freiheit konnte daher nur der dritte mögliche Zustand der menschlichen Gesellschaft sein: die gleiche Freiheit aller. Er verwarf daher seine erste Antwort und gelangte zu der zweiten:

Frei bin ich, wenn ich nicht durch andere gezwungen werde, etwas zu tun oder zu lassen, was ich nicht tun oder nicht lassen will, solange ich nicht selbst in diese gleiche Freiheit der anderen – zu tun oder zu lassen, was sie wollen – gewaltsam eingreife.

Mit anderen Worten: ich bin frei so lange, als sich kein fremder äußerer Wille den meinen gewaltsam unterwürfig macht.

Ein Zustand der Freiheit konnte daher nur ein Zustand des Übereinkommens zwischen den Menschen sein, sich diese gegenseitige Freiheit des Handelns und Unterlassens zu gewähren und diese Freiheit gegenseitig zu achten.

Und in dem Bemühen, recht deutlich und ganz unmißverständlich zu sein:

Freiheit ist daher der soziale Zustand der Abwesenheit von Gewalt in der Gesellschaft, ein negativer und passiver (nicht angreifender) Zustand im Gegensatz zu einem positiven und aktiven (angreifenden) Zustand; und da Gewalt das Wesen des Staates ist, somit nur der Gegensatz zu diesem – ein staatloser Zustand.

Freiheit, so schloß er, war demnach der soziale Zustand der gleichen Freiheit Aller in einer herrschaftslosen Gesellschaft.

Mit einem anderen Wort: die Unantastbarkeit des nicht aggressiven Individuums.

Der Zustand der Freiheit mußte ein vollkommener sein, oder er hörte auf, ein Zustand der Freiheit zu sein.

Wurde die Freiheit des Einzelnen auch nur in einer Hinsicht verletzt, so war er nicht mehr frei.

Wohl gibt es Freiheiten, die so nötig zum Leben sind, wie Atmen und Essen, und Freiheiten, bei deren Abwesenheit das Leben noch nicht aufhört, Leben zu sein (wenn es dann oft auch nicht mehr verdient, so genannt zu werden); und unbestreitbar ist, daß der Wert der Freiheit von den Einzelnen sehr verschieden eingeschätzt wird. Aber es gibt keine, deren Unterbindung auf die Dauer den sozialen Organismus in seinem Wachstum nicht hemmt und ihm nicht schadet, wie es keine gibt, deren Verletzung nicht die Verletzung anderer Freiheiten nach sich zieht, und so zu einem System der Unterdrückung der Freiheit als solcher führt.

Sollte daher der allgemeine Zustand der Freiheit nicht selbst in Gefahr geraten, so durfte die Forderung nur lauten:

Vollkommene Freiheit des Einzelnen innerhalb der einzigen Grenze der Freiheit selbst – der gleichen Freiheit Aller: Freiheit in dem ganzen Bezirk seines Lebens und auf allen Gebieten seiner Betätigung, körperlicher wie geistiger; Freiheit, ganz und ungeteilt, immer und überall! – Und heute wie morgen! –

 

Welches nun waren die Freiheiten, fragte er sich, die so unleugbar waren in ihrer Wichtigkeit, daß sie die Grundlage der menschlichen Freiheit überhaupt bildeten, die, ohne welche solche Freiheit undenkbar war?

Er ließ sie an sich vorüberziehen.

Es war ein langer und stolzer Zug.

Keine unter allen, die nicht mißhandelt, verwundet, von falschen Freunden verraten war; keine, die nicht unter Ketten schritt, aber auch keine, die nicht ihr Haupt hoch getragen hätte, wie am ersten Tage; und keine, für die die Freiheit selbst nicht ihre Forderung auf Anerkennung immer von neuem wiederholt hätte. Denn ob klein oder groß – sie waren alle Kinder der einen Mutter.

Er ließ sie vorüberziehen.

 

Allen voran ging die Freiheit des Denkens, und sie allein schien frei von Ketten.

Denn das Denken ist die einzige Freiheit, die mit physischer Gewalt nie völlig unterdrückt werden kann, es sei denn, die Gewalt habe vorher den Körper, in dem es lebte, gebrochen. (»Gedanken sind zollfrei«.)

So nahm sie den führenden Platz ein, als die Freiheit, die aller Freiheit des Handelns vorausgehen muß.

 

Die ihr folgte als zweite, war die Freiheit, dem Gedanken Ausdruck zu verleihen.

Das Handeln des Menschen konnte nicht frei sein, solange sein Denken es nicht war.

Doch was nützte alle Freiheit des Denkens, wenn dieses Denken sich nicht ungehindert in Worte umsetzen und so sein eigentliches Wesen finden konnte?

Die erste Forderung der Freiheit mußte daher die des uneingeschränkten Gedankenaustausches sein: die nach der Freiheit des Wortes und der Schrift.

Ohne sie keine Verständigung und keine Erkenntnis; ohne sie kein Fortschritt auf irgendeinem Gebiete; ohne sie daher keine wahre Entwickelung des Menschengeschlechtes ...

Fort mit jeder, wie immer gearteten Zensur! – lautete daher die Formel dieser ersten Forderung der Freiheit.

 

Die geistige Unabhängigkeit des Menschen beruht unleugbar auf seiner wirtschaftlichen; und diese wirtschaftliche Unabhängigkeit auf seiner Arbeit.

Die vornehmlichste aller sozialen Forderungen muß daher nach der Freiheit der Arbeit gehen.

Damit aber die Arbeit frei werden konnte, mußte sie von den Privilegien befreit werden, die auf ihr lasteten, jenen Privilegien, die ein »arbeitsloses Einkommen« schufen und den Arbeiter zum Sklaven eben dieses Einkommens machten. Denn in der Freiheit bildet, wie sie es sollte, Arbeit allein (von den nicht hierher gehörenden Begriffen einer freiwilligen Übertragung durch Erbschaft, Schenkung und anderen abgesehen) die einzige Quelle jedes Einkommens. Fort daher mit allen Privilegien, die der Freiheit der Arbeit hindernd im Wege stehen, ihr selbst und ihrer uneingeschränkten Konkurrenz unter sich! – hieß daher die zweite Forderung der Freiheit.

 

Die Freiheit der Arbeit ist wertlos ohne die Freiheit ihrer Nutzbarkeit – des Austausches; und diese Freiheit des Austausches wertlos ohne die Freiheit des Mittels zu diesem Austausch – des Geldes.

Freiheit des Geldes war somit das erste und wichtigste Erfordernis aller wirtschaftlichen Freiheit!

Geld – kein vom Staate mehr monopolisiertes, willkürlich aus der Reihe der übrigen Produkte heraus- und zum alleingültigen Wertmesser emporgehobenes Produkt; kein auf Gold (oder Silber) allein basiertes und der Konkurrenz entzogenes Mittel; kein mit dem Vorrecht des Zinses belehntes, kein »gesetzliches« Geld mehr, – sondern:

Geld – unter der Freiheit der Banken von diesen verausgabt zu einem Preise, den die freie Konkurrenz in der Schaffung dieser Ware so niedrig stellen mußte, daß er, dieser Preis, den Kosten der Herstellung und der Verwaltung gleich kommen würde; Geld, erhältlich von solchen auf das Prinzip der Gegenseitigkeit gegründeten Banken für jeden, der, wenn kein Eigentum, so doch seine Arbeit als Sicherheit zu bieten hatte; reichliches, weil billiges; und billiges, weil freies Geld!

Fort daher mit allen Gesetzen und allen Maßregeln, die die Erzeugung und Verausgabung des Geldes unter eine andere Kontrolle stellten, als die der Verbraucher, und die ihm irgendwelchen anderen Maßstab (als Wertmesser) zu Grunde legten als den, auf welchen diese Verbraucher sich geeinigt hatten!

 

Mit dieser Forderung nach der Freiheit des Geldes ging Hand in Hand die nach der Freiheit des Handels – des ungehinderten und unkontrollierten Austausches der Produkte zwischen Produzent und Konsument.

Wie zwischen den einzelnen alle Schranken fallen sollten, so sollten sich zwischen den Völkern alle gegebenen Wege zu Lande und zu Wasser öffnen und über die gefallenen Grenzen hinüber die Parole lauten: freier Verkehr. Fort daher mit allen Ein- und Ausfuhrverboten, allen Zollsystemen und -tarifen jedweder Art!

 

Die zweite wichtige wirtschaftliche Freiheit neben der Freiheit des Geldes war die des Grund und Bodens.

Wie seine Arbeit, so mußte auch das Stück Land, auf dem er stand und lebte, für den Einzelnen frei sein, sollte er selbst es sein.

Da aber Land nicht, wie Luft und Licht, dem Menschen in unbeschränkter Fülle zur Verfügung stehen konnte, so traten hier für den Einzelnen gewisse Beschränkungen in seinem Besitz ein: Anspruch auf Grund und Boden konnte nur der haben, der ihn wirklich besetzt hielt und benutzte, und eine Frage gegenseitigen Übereinkommens mußte es daher werden, wie viel jeder Einzelne nach den jeweilig gegebenen Verhältnissen für sich mit Beschlag belegen konnte.

Außerhalb solcher Grenzen gegenseitigen Übereinkommens liegendes Land, auf das diese in der Freiheit einzig haltbaren Besitztitel – der Besetzung und Benutzung – noch keine Anwendung gefunden hatten, das also noch nicht besetzt war und benutzt wurde, war frei für den ersten, der kam, es zu belegen und zu benutzen.

Wie beim Gelde der Zins, würde hier die Rente fallen.

Fort daher mit jeder Art von Beschlagnahme und Eigentumserklärung an Grund und Boden in irgendwelchem Namen, sei es dem des Staates oder dem der Nation, dem des Volkes oder dem der Gemeinde! – hieß hier die bestimmte Forderung.

Aus diesen ersten und notwendigsten Freiheiten, ohne die die Freiheit selbst nur ein leeres Wort ohne Sinn blieb, mußten alle anderen persönlichen Freiheiten des Menschen sich von selbst ergeben – ökonomische Unabhängigkeit des Individuums war der Boden, dem sie alle entsprießen, in dem sie alle gedeihen würden von selbst ... Alle die anderen Freiheiten:

Die des Glaubens und des Gewissens – die Freiheit, zu jedem Gott und in jeder Kirche zu beten, oder nicht zu glauben und nicht zu beten; die der Liebe – die Freiheit, zu lieben wen, und sich zu vereinigen mit wem man wollte, und auseinander zu gehen, wenn man sich nicht mehr liebte, oder nicht zu lieben; die der Körper- und Gesundheitspflege – die Freiheit, sich zu nähren und zu kleiden, wie jeder es am besten für sich befand, oder seinen Körper zu vernachlässigen, wie die Freiheit, sich den Arzt zu wählen, zu dem man das größte Vertrauen hatte, oder sein eigener Arzt zu sein; die der Wissenschaft – die Freiheit für jeden, der sich zum Lehren und zur Forschung berufen glaubte, zu lehren, in Rede und Schrift, was und wo immer er konnte und wollte, oder zu schweigen; die der Kunst – aber hier, in den Künsten, herrschte, wenigstens in den bildenden, bereits ein großes Maß von Freiheit der Ausübung, und nichts hatten sie zu tun, als eifersüchtig weiter bedacht zu sein gegen jede akademische oder andersgeartete Einmischung von außen (die nur eine von ihnen nicht zu fürchten hatte, denn sie, die glückliche, spottete aller Ketten, weil sie in Tönen sprach und nicht in Worten).

Überall wurde nach diesen Freiheiten gerufen, und lauter und stürmischer meist als nach denen, auf deren Erlangung es doch in erster Linie ankam. Denn wie wenige bedachten, daß der Ruf nach ihnen nur gehört und verstanden werden konnte, wenn er ausklang in den allgemeinen Ruf nach Freiheit überhaupt! – Und daß alle Forderungen nach ihnen wirkungslos bleiben mußten, solange sie sich nicht vereinten in den einen Ruf: Fort mit dem größten Feinde jeder Freiheit, der Gewalt! – und in den alles übertönenden: Fort mit dem Staate!

Deutlich unterschied er jetzt in der ungeheuren Bewegung seiner Zeit, die die Erde erschütterte, zwei Richtungen wie zwei Ströme.

Beide entsprangen derselben Quelle: der Forderung, daß die Arbeit den gerechten Lohn ihres vollen Ertrages erhalten solle.

Aber wenn der Ursprung der beiden Ströme derselbe war, so schlugen sie doch in ihrem Lauf eine durchaus von einander verschiedene Richtung ein, um sich auf ihm immer weiter und weiter voneinander zu entfernen und endlich in zwei entgegengesetzten Meeren zu münden.

Dem Laufe des einen Stromes folgen, hieß sich von dem anderen entfernen – kein Weg führte mehr hinüber und herüber. Wer von dem einen zum anderen gelangen wollte, mußte zu der gemeinsamen Quelle zurückkehren und seine Wanderung von neuem beginnen.

Den Strömen folgen, bedeutete nichts mehr und nichts weniger, als sich einer der beiden großen Mächte des Lebens anvertrauen: der Macht der Gewalt, oder der Macht der Freiheit.

Denn die Namen der beiden großen Ströme in der sozialen Bewegung der Zeit waren: Staatssozialismus der eine, freiwilliger Sozialismus der andere.

Und die der beiden Meere: Autorität und Freiheit.

 

Keinen Augenblick konnte es zweifelhaft für Ernst Förster sein, welchem Wege er folgen sollte. Er hatte sich längst entschieden.

Die Anhänger der einen Richtung sagten:

Der Staat ist der Eigentümer aller Einkommensquellen der Arbeit: des Grund und Bodens, der Maschinen und der Werkzeuge, sowie alter Mittel zur Produktion – mit einem (in seinem weitesten Sinne gefaßten) Wort: des Kapitals.

In dessen alleinigem Besitz, legt er Beschlag auf alle Erzeugnisse menschlicher Arbeit, alle »Produkte«, und übernimmt deren Verteilung nach den Grundsätzen, die ihm die richtigsten zu sein dünken.

Grundbesitzer, Händler, Fabrikherr in einer Person, hebt er jeden Wettbewerb auf und ist letzte Instanz in allen Dingen. Die Anhänger der anderen Richtung erklärten hingegen: Der Einzelne, das Individuum, ist der unumschränkte Herr nicht nur der Produkte seiner Arbeit, sondern auch der Mittel zur Produktion, und es besteht kein Unterschied zwischen diesen beiden – beide sind Kapital.

Entzogen so die einen dem Einzelnen das Recht, Herr über seine eigenen Angelegenheiten zu sein und ihr alleiniger Verwalter, und machten sie so den Staat zu seinem Vorgesetzten und Vormund, so sprachen die anderen vielmehr jedem Individuum das alleinige Recht zu, sein eigener Herr zu sein, und sahen in ihm den allein gegebenen Verwalter seiner Angelegenheiten.

Sagten jene durch den Mund des Staates zu ihm: »Ich bin dein Herr und mir hast du zu gehorchen«, so antworteten diese in jedem Einzelnen: »Ich gehöre keinem anderen als mir selbst und bin mein eigener Herr.«

Konnte es einen schärferen, einen unversöhnlicheren Gegensatz geben ?

Jene, die Anhänger der Autorität, erstrebten die Lösung der sozialen Frage allein von oben herab – durch den Staat; diese, die Anhänger der persönlichen Freiheit, indem sie diese Lösung nur von dem Individuum selbst und seiner Initiative erhofften, und von seinem freiwilligen Zusammenschluß mit Anderen – von unten herauf.

Die einen suchten die Gesellschaft immer mehr in den Staat zu wandeln; die anderen, den Staat in die Gesellschaft aufzulösen.

Unüberbrückbare und unversöhnliche Gegensätze in allem und jedem:

Die ersteren sahen in dem Staat das letzte Ziel der Vollendung: ein Gebilde, daß über dem Individuum stand, oder doch außerhalb desselben; die letzteren in ihm nichts als eine Einrichtung, wie jede andere menschliche Einrichtung, jedoch so rückständig und schädlich, daß seine Beseitigung und Ersetzung durch andere Einrichtungen nur eine Frage der Zeit sein konnte und durfte.

Die einen wollten das Wohl des Individuums durch den Staat sichern; die anderen sahen das Wohl der Allgemeinheit durch das Wohl des Einzelnen gesichert.

Der eine Weg, es war klar, ging von dem heutigen Staate aus und führte über ihn hinaus, um in seiner absoluten Oberhoheit zu münden; der andere, es war ebenso einleuchtend, mußte sich immer mehr vom Staate entfernen, um schließlich in der Souveränität des Individuums, dessen Entwickelung zu voller Selbständigkeit, zu gipfeln.

Sagten daher die einen: Alles muß verstaatlicht und private Handlungen dürfen höchstens geduldet werden! – so sagten die anderen: Es gibt nur private Handlungen und es darf nur solche geben!

»Sozialisieren« –war das einzige Wort, das die Anhänger der Autorität kannten und nach dem sie unablässig riefen, wie sie keine andere Möglichkeit zum Ausgleich der sozialen Gegensätze zu kennen schienen; »privatisieren« – hielten ihnen die Freunde der Freiheit entgegen als eben diese einzige Möglichkeit.

– Wie weit die Macht des Staates zu gehen, ob und wo sie einmal zu enden habe, darüber waren die Anhänger der einen Richtung sehr verschiedener Meinung, doch es konnte immer nur eine Fort- und Weiterentwickelung des heutigen Staates zu immer schrofferen Formen sein: der Staat sollte, wie sie sagten, der »wahre«, der »Staat Aller«, der »Volksstaat« werden, und alle stimmten darin überein, daß sein erstes und letztes Gesetz zu lauten habe: »Der Wille der Majorität ist absolut«. Dagegen gab es keine Verschiedenheit in der Ansicht der anderen: daß der Staat mehr und mehr und zwar bis zur völligen Machtlosigkeit zurückgedrängt werden müsse und daß es nur eine Grenze für die Freiheit des Einzelnen geben dürfe: die gleiche Freiheit der anderen.

Staat und Individuum – so hieß daher, auf die denkbar schärfste Formel gebracht, dieser Gegensatz.

Oder: Autorität und Freiheit.

Staatssozialismus nannte sich, wie er gesehen hatte, die erstere Richtung in ihrer ausgeprägtesten Form, und diese Bezeichnung umgrenzte gut und scharf die Bestrebungen aller derer, die eine Lösung der sozialen Frage durch den Staat wollten.

Wie aber nannte sich die andere ?

Ernst Förster fand nur ein Wort, das ihm ebenso klar und scharf den von den Anhängern der anderen Richtung erstrebten Zustand der Gesellschaft zu bezeichnen schien. Es hieß: Anarchie.

 

Oft, natürlich und immer wieder hatte er das Wort gehört, und seltsam hatte es ihn angezogen und abgestoßen zu gleicher Zeit.

Denn er vermochte die Lehre derer, die sich zu ihm bekannten, nicht mit dem Sinn zu vereinen, den es umschloß. Nicht, daß er vor dem Worte als solchem, dem Begriffe, zurückschreckte. Er hatte längst die Furcht vor Worten verlernt, seit er gesehen, wie oft Inhalt und Deutung im Gebrauch jede Fühlung miteinander verloren.

War es vielleicht auch hier so? – Das mußte untersucht werden.

Was bedeutete also dieses Wort: Anarchie?

Dem Griechischen – αναρχια – entstammend bezeichnete es einen der Herrschaft – αρχη – entgegengesetzten Zustand: einen Zustand der Herrschaftslosigkeit also. So lehrte es jedes Wörterbuch der griechischen Sprache; das war seine wissenschaftlich angenommene und feststehende Deutung, wenn es auch nicht seine ursprüngliche sein mochte.

Aber in dem allgemeinen und verderbten Sprachgebrauch des Tages hatte das Wort mit der Zeit eine vollkommen andere Bedeutung angenommen und wurde in einem ganz anderen Sinne gebraucht. Offenbar aus dem Glauben der meisten Menschen heraus, daß ein herrschaftsloser Zustand auch notwendigerweise ein Zustand der Unordnung sein müsse, wurde heute unter »Anarchie« fast allgemein nur ein Zustand der sozialen Unordnung, der allgemeinen Auflösung, des politischen Chaos verstanden.

Wie das gekommen, war gleichgültig; genug, daß es so war: daß das Wort heute für die meisten mit einer Atmosphäre des Schreckens und Grauens umgeben war, die es jeder ruhigen Prüfung und damit einer besseren Kenntnis von vornherein unzugänglich zu machen drohte.

Das war schlimm.

Weit schlimmer aber war, daß das Wort von den Anhängern einer Richtung in der sozialen Bewegung zur Bezeichnung ihrer Weltanschauung angenommen war und geführt wurde, die selbst zugleich erklärten und zugaben, Kommunisten zu sein.

Nichts auf der Welt aber war ihm, Ernst Förster, von allem Anfang an so unsympathisch gewesen, nichts erschien ihm unvereinbarer mit wahrer Freiheit, als was sich Kommunismus nannte und irgendwie mit Kommunismus zusammenhing.

Die Anhänger dieser Richtung, die Kommunisten, mußten wohl das Wort zu Unrecht führen: entweder waren sie wirklich Kommunisten, und dann konnten sie unmöglich einen Zustand der Herrschaftslosigkeit, der Anarchie, erstreben; oder sie waren Anarchisten, und dann konnten sie ebenso unmöglich Kommunisten sein.

Der Name, mit dem sie sich nannten: »kommunistische Anarchisten«, war demnach ein Widerspruch in sich selbst. Auch das war zu untersuchen und zu beweisen – aus ihrer Lehre.

 

Was wollte der Kommunismus? – Und welches war sein Ideal einer freien Gesellschaft? –

Dieses: ein Zustand der menschlichen Gesellschaft, in welchem der natürliche Reichtum an Produktionsmitteln in gemeinsamen Besitz genommen und seine Verteilung nach dem Grundsatz: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« erfolgen sollte.

Das hieß: Jeder brauchte nur nach seinem Belieben zu produzieren und durfte nach seinem Belieben konsumieren ... An die Möglichkeit eines solchen Zustandes glaubten die Kommunisten! ... Die Vernunft, die Brüderlichkeit und der gute Wille würden jeden veranlassen zu arbeiten, und keinen mehr zu verbrauchen, als er brauchte.

Der Staat würde unter diesen Zuständen von selbst in Wegfall kommen. Somit waren sie also auch »Anarchisten«. Das war der »anarchistische« oder »freie« Kommunismus: der Traum meist ehrlicher Schwärmer, die, ohne auch nur einen Augenblick mit der Natur des Menschen, wie sie wirklich war, zu rechnen, und gänzlich unbelehrt durch die Erfahrungen der Vergangenheit, fortfuhren, sich ein Nirgendland zu erdenken, das nicht von dieser Erde war.

Unbelehrt und unbelehrbar. Denn alle Versuche, eine Gesellschaft von Menschen auf diesem Grundsatz des gemeinschaftlichen Besitzes zu errichten – und die Geschichte der Bewegung war überreich an solchen Versuchen – waren samt und sonders gescheitert. Unternommen oft mit der reinsten Begeisterung und dem aufrichtigsten Willen, mit dem denkbar besten Menschenmaterial und unter den günstigsten Bedingungen, hatten sie mit Jubel begonnen und waren in Jammer geendet – von dem Träumer angefangen, der an der Spitze seiner jubelnden Scharen hinausgezogen war, um in der neuen Welt sein Ikarien zu gründen und in einer Dachkammer, von allen verlassen und verflucht, zu enden, bis zu jenem Phantasten, der alles ergrübelt hatte, was seiner Meinung nach zum wahren Glück der Menschen nötig war, und der nur einen Posten nicht in seine Rechnung mit hineinbezogen hatte (dessen Fehlen ihre Einkassierung vereitelte): Freiheit!

Alle waren sie gescheitert, dem Fluch der Lächerlichkeit anheimgefallen, vergessen, tot – ! Alle.

Unbelehrbar, wie es schien. Denn die Nachkommen fuhren fort, diese Toren, an ihre Ideale zu glauben, fuhren fort in ihren kleinen und kümmerlichen Versuchen, die heute nicht mehr rührend, sondern nur noch bemitleidenswert waren, diese Ideale zur Wirklichkeit umzuschaffen, ihre Häuflein zusammenzuscharen und unter irgendeiner Fahne, in irgendeiner kläglichen Form das »dritte Reich« der Zukunft zu gründen, bis sie an sich selbst zugrunde gingen oder die harte Faust des Staates sie erwürgte, des Staates, der sie duldete, solange sie unschädlich waren und sie hinwegfegte, sobald sie ihm lästig oder unbequem wurden.

Blieb also nur der andere, der Zwangskommunismus. Auch der sprach von Freiheit. Aber er verneinte die erste aller Freiheiten: die Freiheit zu produzieren und zu konsumieren, und zwar auf Grund eines von den Produzenten und Konsumenten geschaffenen Austauschmittels.

Er war ehrlich genug, zu erklären, daß er diese Freiheit aufhob, und zuzugeben, daß seiner neuen Gesellschaftsordnung ein Übergangsstadium der Expropriation vorauszugehen habe, eine Revolution, deren Sieg, die Diktatur des Proletariats, zunächst eine Enteignung der bisherigen Besitzer zur Folge haben müsse: die Beschlagnahme des Grund und Bodens, der Banken, der Verwaltung, der Fabriken, der Bergwerke, der Verkehrsmittel, kurz aller privaten und öffentlichen Betriebe durch die »Allgemeinheit«, mit einem Wort: die Einziehung allen privaten Eigentums und selbstverständlich mittels Gewalt.

Wer aber sollte sie üben, diese Gewalt? – Der, welcher sie hatte. Auch hier war, wie dort, das letzte Wort: der Wille der Mehrheit ist ausschlaggebend. So taten sie, die den Staat bekämpften, nichts anderes, als ihn in neuer und in seiner vielleicht verabscheuungswürdigsten Form wieder auferstehen zu lassen, nur daß er jetzt nicht mehr Staat, sondern Kommune oder ähnlich hieß.

Aber nicht das, nicht ihre Weltanschauung, hatte die Kommunisten, die sich so fälschlich Anarchisten nannten, derart in Verruf gebracht, daß ihr Name allein schon die meisten vor jeder Berührung zurückschreckte, sondern die von ihnen befolgte Taktik gegenüber den bisherigen Machthabern. Denn auch ihre Taktik war die Taktik der Gewalt. Die von ihnen befürwortete »Propaganda der Tat« sollte nicht nur aufklärend, sondern auch aufrüttelnd auf die breiten Massen wirken, und so zogen sie seit Jahren immer wieder durch Attentate, besonders auf einzelne, sogenannte »hochstehende« Personen, die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich und machten den von ihnen zu Unrecht geführten Namen zu einem ebenso oft und falsch genannten, wie gefürchteten und verfemten.

Ihm, Förster, waren diese Kommunisten nicht fremd. Er hatte in London, dann auch in Paris manche von ihnen gesehen, gehört, gesprochen. Er war einige Male in ihren Klubs und öfters auch in ihren Versammlungen gewesen. Es waren zweifellos vorzügliche Menschen unter ihnen, ehrliche und aufrichtige Verfechter ihrer Überzeugung, bereit, alles, und sei es das eigene Leben, für ihr Ideal zu opfern, Menschen von einer oft unbeugsamen Entschlossenheit und Willenskraft. Aber es waren ebenso zweifellos auch Menschen unter ihnen, die sichtlich mehr der Wunsch, in den Augen der Öffentlichkeit und vor allem in denen ihrer Kameraden eine Rolle zu spielen, als die innere Notwendigkeit zu Taten trieb, deren Zwecklosigkeit und Schädlichkeit zutage lag. Und es gab endlich auch derer unter ihnen, die diese Propaganda der Tat nur als Deckmantel für rein verbrecherische Handlungen benutzten, Handlungen, die nichts mehr mit irgendeiner Weltanschauung zu tun hatten; und nicht ganz konnte den erstgenannten der Vorwurf erspart bleiben, daß sie sich – sehr zu ihrem Schaden – nicht immer streng und reinlich genug von diesen letzteren schieden, deren Taten natürlich allen Gegnern nur zu willkommene Gelegenheit zu neuer Diskreditierung der ganzen Bewegung boten.

Vorzügliche Menschen oft und wahre Kameraden in dem großen Befreiungskampf der Arbeit, aber nie und nimmer Anarchisten, mochten sie sich noch so hartnäckig selbst so nennen, noch so verständnislos überall so genannt werden! Denn ein Anarchist war nur der, der einen Zustand der Herrschaftslosigkeit erstrebte, einen Zustand der Abwesenheit jeglicher Gewalt, den Zustand gleicher und vollkommener Freiheit; der jeden Staat, einerlei in welcher Form und unter welchem Namen, ausschloß; und dem die Freiheit Zweck nicht nur, sondern auch Mittel war.

Daher war es in so hohem Grade bedauernswert und erschwerte den Kampf um die Erreichung dieses Zustandes so ungemein, daß durch die von Grund aus falsche Adoptierung des Wortes Anarchie der Leichtfertigkeit wie der Böswilligkeit gleichermaßen Vorschub geleistet und die Erkenntnis der wahren Bedeutung dieses Begriffes der Kritik – und damit dem Verständnis – immer mehr und mehr entzogen wurde.

 

Sollte nun darum, allein wegen seiner falschen und irrtümlichen Anwendung im allgemeinen Sprachgebrauch des Tages, dieses Wort fallen gelassen werden?

Es aufgeben und ein anderes (das immer nur ein weniger treffendes und daher weniger gutes sein konnte) an seine Stelle setzen, wäre eine Feigheit nicht nur, sondern auch eine Zwecklosigkeit gewesen. Eine Feigheit, weil eine Nachgiebigkeit gegenüber der Oberflächlichkeit und ein Zugeständnis an die Unwissenheit. Denn an denen, die das Wort in falschem Sinne anwandten, war es, ihren Irrtum einzusehen und ihn zu korrigieren; und an denen, die es für eine Weltanschauung brauchten, die es nicht deckte, war es, das Wort abzulegen und durch ein anderes, richtiges zu ersetzen. Eine Zwecklosigkeit, weil seine Verleugnung wenig oder nichts genützt hätte. Jedes andere Wort würde bald ebenso mißdeutet und bald ebenso mißverstanden sein, ein Schlagwort werden, um das der Streit von neuem beginnen mußte. Die aber, die sagten (und es gab ihrer leider mehr als genug): »Auch ich will die Freiheit und die ganze Freiheit; aber ich hasse jede Etikettierung und Abstempelung, und ich will überhaupt keinen Namen«, ihnen war zu erwidern (abgesehen davon, daß es sich bei näherer Prüfung fast immer herausstellte, daß sie durchaus nicht die Freiheit, die »ganze Freiheit« wollten) – ihnen war zu sagen, daß jede Anschauung, wie jedes Kind, einen Namen haben muß, will sie genannt und gekannt werden, und daß namenlos durchs Leben gehen, gleichbedeutend ist mit unbekannt und unverstanden bleiben.

Aber dies alles bedeutete nichts gegenüber der geschichtlichen Tatsache, daß lange bevor in der Bewegung diese unglückselige Adoptierung stattgefunden, daß lange vorher die großen Denker und Kämpfer, die das Lehrgebäude einer anarchistischen Weltanschauung fundiert und aufgerichtet hatten, kein besseres Wahrzeichen hatten finden können, unter dem sie die ersten Siege erfochten.

Einen Anarchisten hatte sich selbst und zuerst vor allen der große Franzose genannt, gleich groß als Denker wie als Kämpfer, der in der unermeßlichen Tätigkeit seines nur der Sache der Arbeit und ihrer Befreiung gewidmeten Lebens als Erster die Gesetze ihrer Grundlagen erforscht und aufgestellt und den Prinzipien der Gerechtigkeit für sie eine neue und dauernde Gültigkeit verliehen.

Ein Anarchist war jener merkwürdige Deutsche gewesen, der in seinem einzigen Buche (unsterblich für alle Zeiten), dessen seltsame Schicksale die Geschichte des Kampfes um diese neue Weltanschauung gleichsam widerspiegelten, die Einzigkeit des Individuums postuliert und mit einer bis dahin ungeahnten Kühnheit auch die letzten Konsequenzen seiner Lehre des Egoismus gezogen – der gewagt, was kein anderer vorher gewagt, und getan, was kein anderer nun nach ihm mehr zu tun imstande war.

Unter dem Namen der Anarchie kämpfte dort drüben, in der neuen Welt, seit Jahrzehnten ein sich seiner Ziele bis ins letzte, wie kein anderer bewußter und in der Kenntnis der Wege zu diesem Ziele wie kein zweiter erfahrener Mann mit der unwiderstehlichen Waffe seiner Logik seinen schweren und schönen Kampf um die Freiheit; kämpfte ihn unerschrocken, zäh und unbeirrbar, und sammelte um das Banner seines Blattes, des »Pionier-Organs des Anarchismus«, von überall her die besten und vorgeschrittensten Köpfe seiner Zeit. Und wenn er und seine Anhänger sich, einig in ihren letzten Zielen, »individualistische« oder »philosophische« Anarchisten nannten, so taten sie es nicht, weil sie sich dieses Pleonasmus nicht bewußt gewesen wären (denn einen Anarchismus, der nicht individualistisch und der nicht philosophisch war, gab es nicht und konnte es nicht geben), sondern weil sie die Notwendigkeit einsahen, sich auch rein äußerlich von den sogenannten »kommunistischen Anarchisten« scharf und unzweideutig zu unterscheiden.

Hier, bei ihnen, und bei ihnen allein, sah der Finder Ernst Förster seinen Platz: auf dem äußersten Flügel der Linken in der sozialen Bewegung, die keine Partei war und nie eine Partei sein konnte, weil sie gegen alle Parteien war; hier, bei dieser kleinen Schar, stark nicht durch ihre Zahl, sondern durch die geistige Bedeutung ihrer Anhänger und unüberwindlich durch die Logik ihrer Beweisführung wie durch die Lauterkeit ihrer Absichten – hier war er nun angelangt, und hierher, er fühlte es, gehörte auch er nun. Und hier wollte er stehen, solange er keinen besseren Platz fand, hier und zu diesem Worte.

Denn, auch das erkannte er, es gab Worte, die so tief in den Staub und Wust der Zeiten verschüttet scheinen, daß der, welcher sich nach ihnen bückt, glaubt, sich mit ihnen zu beschmutzen; wer sie aber trotzdem aufhebt und näher betrachtet, sieht, daß es Edelsteine sind, köstlich an Wert, deren Glanz bestimmt ist, durch die Nacht der Tage zu schimmern, und er gibt sie nicht wieder her, um keinen Preis.

Ein solches Wort war dieses Wort: Anarchie.

 

Die Tage kamen und gingen, und die Freude an jedem neuen ließ kein Bedauern über den scheidenden aufkommen.

Oft tagelange Ausflüge, die er sich jetzt gönnte, erschlossen ihm immer neue Schönheiten des Landes, so leicht erreichbar, weil so eng zusammengehäuft auf diesem Fleck Erde.

– Auf einer dieser Wanderungen war es, wo er eine Bekanntschaft machte, die entscheidend werden sollte für seine Lebensgestaltung auf Jahre hinaus. Er kam mit einem jungen Schweizer, – der, durch den plötzlichen Tod seines Vaters unvermutet früh zum Herrn einer großen Fabrik geworden, sich noch einige stille Wandertage gönnen wollte, bevor er sein neues und verantwortungsvolles Amt antrat, – in ein Gespräch, daß sich wie von selbst fortsetzte, so daß sie ein Stück Weges gemeinsam wanderten. Sie fanden Gefallen aneinander: Förster an der frischen und tüchtigen Art des anderen; der an seines neuen Bekannten vorurteilsloser und freier Denkungsart, und als sie am dritten Tage scheiden sollten, machte er dem Überraschten den Vorschlag, eine Stellung, gewissermaßen als seine rechte Hand, in dem neuen Betriebe einzunehmen. Bedenken, das so schnell gewonnene Vertrauen nicht verdient zuhaben, den neuen Ansprüchen nicht gewachsen zu sein, wurde begegnet; eine Probezeit mit gegenseitiger endgültiger Entschließung vereinbart, und vor Antritt eine kurze Frist zur Entscheidung zugestanden.

– An dem letzten dieser Tage, der ihm noch zwischen Ja und Nein blieb, ging Ernst Förster, nachdem er seine Entscheidung innerlich bereits getroffen (denn die neue Aufgabe reizte ihn, und er fühlte sich des in ihn so schnell gesetzten Vertrauens würdig), noch einmal die vertrauten Wege über die Höhen des Zürichberges, sah Stadt und See zu seinen Füßen im ersten Schimmer eines neuen Frühlings und sammelte in diesen letzten Stunden seiner Freiheit, vor neue verantwortungsvolle Arbeitsziele und zweifellos arbeitsschwere Jahre gestellt, die geistige Frucht dieses seines glücklichsten, dieses seines reichsten Jahres, das erfüllt hatte, was die vorhergehenden versprochen, und sein Herz war voll Dankbarkeit.

Wie er so dahinschritt, fiel ihm ein anderer Gang ein, vor einem anderen Abschied, auch über eine Höhe, mit Häusern und Menschen zu Füßen, und doch so verschieden von diesem: der Gang über die Hügel der kleinen Stadt, von der aus er seinen Flug in die Welt begonnen.

Damals war er ein Knabe gewesen, der sich und die Menschen nicht kannte und der sich hinaussehnte, um das Leben an sich zu reißen; heute war es der gereifte Jüngling, der werdende Mann, der es kennengelernt, wie es war, und der sich in seinen Wirrnissen zurechtgefunden, um weiter seinen Weg durch alle neuen zu gehen; dem sich Gründe erschlossen und der Folgerungen gezogen; und der an dem Punkt gestanden, an dem sich die Leben der Menschen scheiden – ein Leben mit der Zeit oder ein in Leben gegen seine Zeit.

 

Er sah erreichtes Besitz geworden; hielt Resultate in der Hand; nannte Erkenntnisse sein eigen.

Es waren keine Träume, denen er sich hingab. Er war nie ein Träumer gewesen.

Es waren Schlüsse, die er zog, und diese Folgerungen waren so wenig illusorisch, wie es die eines Arztes sind, der einem erkrankten, aber sonst gesunden Menschen bei veränderter Lebensweise in Ruhe, Luft und Licht Gesundung verspricht.

– Welches würden und mußten folgerichtig nun die Segnungen der Freiheit sein ?

Die Freiheit des Wortes und der Schrift, die Freiheit, jede Frage ausnahmslos und ungehindert, ohne Furcht vor Verfolgung und ohne Rücksicht auf irgendwelche Zensur öffentlich erörtern zu können, mußte schneller zur Ergründung dieser Fragen und zur gegenseitigen Verständigung über sie führen. Wenn öffentliche Zustände besprochen und beurteilt werden konnten, ohne daß es mehr nötig war, nach oben oder nach unten zu schielen, mußte die Teilnahme an ihnen eine größere und allgemeine werden. Die Freiheit der Kritik würde vor nichts mehr haltmachen und alle Schäden würden bloßgelegt werden, um die Wege zu ihrer Besserung zu finden.

Mit der Freiheit der Schrift würden die Privilegien der Urheberrechte fallen – der Autor sich mit einer einmaligen Entlohnung seiner Arbeit zufrieden geben müssen; und er würde es sein, wenn er sah, welche Verbreitung seine Schriften dadurch fanden und welche rückwirkende und belebende Kraft die Freiheit des Nachdrucks auf seinen Namen, seine Originalausgaben und seine weiteren Werke hatte.

War die Freiheit der Schrift und der Rede garantiert, war die Stunde für alle anderen Privilegien gekommen:

Die Freiheit der Banken und die Organisation des Kredits würde statt des heute seltenen Geldes Geld in genügenden Mengen, ja, im Überfluß entstehen lassen, das nicht mehr verliehen und geborgt, sondern gekauft wurde; den Unternehmergeist beleben und die Konkurrenz anfeuern; die durch die Zurückhaltung des Geldes entstehenden Krisen – Über- und Unterproduktion – unmöglich machen; die Nachfrage nach Arbeit ins Ungemessene steigern, wie das Angebot zugleich befähigen, den vollen Preis seines Arbeitsertrages zu fordern und zu erhalten, und so einen Ausgleich zwischen diesem Angebot und jener Nachfrage schaffen – kurz, diese Freiheit des Geldes und der Banken würden die Reichen nicht arm, wohl aber die Armen reich machen, mit einem Wort: einen allgemeinen Wohlstand schaffen und verbürgen.

Der große Feind der Arbeit, das Kapital, würde besiegt sein, nicht weil man es ermordet, sondern weil man ihm die Raubzähne ausgebrochen hatte und weil aus jedem Arbeiter selbst ein Kapitalist werden konnte, wenn er es wollte. Das heißt: die soziale Frage würde gelöst sein.

Die Freiheit der Konkurrenz, die des unbeschränkten Wettbewerbes auf allen Gebieten menschlicher Tätigkeit, die die Volkswirtschaft so treffend »das freie Spiel der Kräfte« nannte, mußte den Produzenten zwingen, die Preise den Kosten der Herstellung anzunähern und die beste Ware zum billigsten Preis zu liefern. Nicht mehr, wie heute, nur einseitig frei, wo die Arbeit mit dem Kapital hoffnungslos konkurrierte, sondern nach allen Seiten hin frei, würde die Konkurrenz dem Handel und Wandel auf einem Markte unbeschränkter Ein- und Ausfuhr ungeahnten Aufschwung verleihen. Ein Güteraustausch von unerreichtem Umfang würde sich auf allen gang- und fahrbaren Wegen zu Lande und zu Wasser über die ganze bewohnte Erde hin erstrecken, neu entdeckte Quellen erschließen und verstopfte oder versiegte Adern sich neu öffnen und hervorströmen heißen.

Die Freiheit der Arbeit und die ihres ungehinderten Austausches, garantiert durch die Freiheit des Geldes; die Möglichkeit einer selbstgewählten, abwechselungsreichen und vollbezahlten Tätigkeit; die Möglichkeit ferner, sich in dieser freien Arbeit zu jeder Art von gemeinsamer Arbeit zu verbinden – zu assoziieren und zu kooperieren – : mußten aus ausgebeuteten Lohnsklaven selbständige und selbstbewußte Arbeiter machen. Die bisher die Angestellten der Fabriken waren, würden zu ihren Herren werden, und die Meister nicht mehr ihre Vorgesetzten, sondern ihre Mitarbeiter sein.

Die Freiheit des Geldes, erste und unerläßlichste aller Freiheiten – war dieses Schloß erst geöffnet, mit dem der Staat die Kette zusammenhielt, durch die er die Menschen band, würde es ein leichtes sein, sie abzustreifen; ja, diese Kette mußte, nicht mehr gehalten, von selber fallen.

Die zweite große Freiheit, die es zu erringen galt, die Freiheit des Landes, des Grund und Bodens (unlösbar ohne die erste, und daher ihr an Bedeutung nachstehend, aber ebenfalls von einschneidender Wichtigkeit) würde der ersten folgen: die Unmöglichkeit großer Kapitalanhäufung die andere einer weitergehenden Beschlagnahme und Besitzergreifung von Grund und Boden seitens Einzelner, als der zur persönlichen Benutzung dienenden, nach sich ziehen. Zugleich würde so die Zugänglichkeit des auf diese Weise freiwerdenden Landes geschaffen werden.

Wie und wo hier die Grenzen zu ziehen waren – wie sich der Einzelne mit anderen zu gegenseitigem Schutz seines Grund- und Bodenbesitzes zusammentun und wie weit sich dieser Schutz erstrecken konnte, das war sicher eine schwierige Frage, vielleicht die schwierigste von allen, und Erfahrung allein konnte sie beantworten.

Die natürliche Ungleichheit des Bodens und seines Wertes ließ sich sicher ebensowenig leugnen wie die natürliche Ungleichheit der Begabung, und die eine sich ebensowenig ändern und abschaffen lassen wie die andere. Alles, was hier die Freiheit tun konnte und tun würde, war, die schädlichen Wirkungen dieser Ungleichheit aufzuheben, die in dem Monopol bestand, mehr Grund und Boden sich zu eigen zu machen und für eigen zu erklären, als in persönlicher Beschlagnahme und Benutzung begründet war.

Aber sicher würde diese zweite große Freiheit, einmal errungen, einem jeden ermöglichen, sich sein eigenes Heim, Haus und Herd, zu schaffen; weite und neue, noch brachliegende Gebiete erschließen; die großen Städte entlasten, und jede andere Ungleichheit, als die genannte: die auf natürlicher Ungleichheit beruhende, unmöglich machen – alle jene künstlich geschaffenen Ungleichheiten, nach deren Fall der Mensch nicht mehr der Sklave seiner Scholle, sondern ihr souveräner Herr sein würde.

Auf der Grundlage ökonomischer Freiheit, der materiellen Unabhängigkeit des Einzelnen, gesichert durch die Freiheit des Geldes und des Kredits, der Arbeit und ihrer vollen Verwertung, wie auf der des Grund und Bodens, beruhte die ganze Freiheit des Einzelnen überhaupt. Wie weit er diese seine Freiheit in Anspruch nehmen und sie verteidigen würde, war allein eine Sache seines freien Willens und lag bei ihm. Alle anderen Freiheiten ergaben sich daher ausnahmslos aus diesen Grundlagen der Freiheit von selbst.

Daß sich die Menschen nicht freiwillig in Not und Elend zurückbegeben würden, wenn ihnen der Weg zu Wohlstand und Glück offen stand, war zu erwarten. So konnten diese Wege sie nur einer besseren Zeit entgegenführen, und wenn die Erde auch nicht plötzlich aus einem Jammertal zu einem Paradiese werden würde, so konnte aus ihr doch endlich ein Platz werden, auf dem das Leben wert war, gelebt zu werden von denen, die sie trug.

– Die Sonne war gesunken, als Ernst Förster heimkehrte, aber die Berge lagen noch in einem silbernen Glanze und wie im Frieden unten die schöne Stadt. Friede war auch in ihm.

 

Der gesellschaftliche Körper war krank, blutete aus tausend Wunden und eiterte aus tausend Schwären, und alle sozialen Quacksalber und Charlatane der ganzen Welt standen um ihn herum und priesen ihre Traktate und Zaubermittel als unfehlbar an, um mit ihnen das Wunder der Heilung zu vollbringen.

Jeder versuchte ihm irgendeine Reform zu versetzen. Sie hätten ebenso gut versuchen können, Syphilis mit Heftpflaster zu heilen.

– Was nötig war, war nicht die Heilung irgendeiner dieser zahllosen Wunden, eines dieser Glieder, sondern eine Rekonvaleszenz des gesamten Organismus.

Denn ein Fremdkörper steckte ihm im Fleische, der jede Heilung von außen her vereitelte. Erst wenn er entfernt war, konnte er, der Körper, genesen.

Dieser Fremdkörper hieß Gewalt.

Und nichts war nötig nach seiner Entfernung, als den Kranken in Ruhe zu lassen, damit er gesunde in Luft und Licht, unter der Sonne der Freiheit.

 

Aber sie ließen ihn nicht in Ruhe.

Da waren die wahren Feinde der Freiheit: die Konservativen und die Nationalen, die offenen und – ehrlichen Verteidiger jedes Monopols der Gewalt, das ihren Zwecken der Unterdrückung und der Ausbeutung des Volkes diente, einerseits; und da die Sozialdemokraten, diese zu Kleinbürgern mit engster Gesinnung gewordenen Arbeiter, fanatische Gläubige striktester Observanz, andererseits: beide sich äußerlich zwar feindlich gegenüberstehend, aber sich innerlich doch so trefflich verstehend, wenn es galt die Freiheit zu unterdrücken und die Berechtigung und Zweckmäßigkeit der Gewalt zu verteidigen – jene, als das Recht althergebrachter und gotteingesetzter Autorität; diese, eingeschworen auf ihren höchsten Glaubenssatz, als das einer ausschließlichen Majorität.

Und da ihre falschen Freunde: die Liberalen und Freisinnigen aller Schattierungen, mit ihren halben Reformen und lauen Kompromissen, alle nur zugestanden, um die erwachende Unzufriedenheit der Arbeiterschaft wieder einzuschläfern; mit ihrer schamlosen Verteidigung der Privilegien des Kapitals – diese Fürsprecher und Beschützer der großen Diebe, denen sie, die Freiheit, nur ein Mittel war zu ihren Zwecken und die diese selbe Freiheit verrieten und verleugneten, sobald sie die Zwecke der Ausbeutung und Bewucherung erreicht hatten.

Mit ihnen die vielen, die große Schar der sogenannten Sozialreformer, die, keiner politischen Partei angehörig, aber dennoch Partei, das Reich der Freiheit mir tönenden Worten verhießen, aber, um zu ihm zu gelangen, eine »Übergangszeit der Gewalt« für nötig und angebracht hielten, in der es »aufgerichtet« werden sollte, mittels der »einmaligen Enteignung« an Kapital und Boden, an Fabriken und Bergwerken, kurz an allem was nötig schien, einen gewaltsamen Ausgleich des Besitzes zu schaffen.

Schlimmere Feinde der Freiheit, sie alle miteinander, diese ihre falschen Freunde, als ihre haßerfüllten, aber wenigstens ehrlichen Gegner, gefährlichere und verächtlichere, hinter deren schmeichelnden und betörenden Worten Herrschsucht und Bevormundungswahnsinn auf stets neue Opfer lauerten.

– Das also waren die Gegner der Freiheit: ihre offenen Feinde und ihre verlogenen Freunde.

Aber Ernst Förster wußte jetzt auch, wo ihre wahren Freunde waren, die zu ihr standen, immer und überall, und die sie verteidigten gegen jeden Angriff, von welcher Seite er auch kommen mochte; und er wußte, wie diese Freunde sich nannten. – Er hatte seinen Platz gefunden. Unter ihnen und an ihrer Seite.

Denn ein Finder war der Sucher geworden. Was er gefunden, waren klare, auf festen Tatsachen gegründete Erkenntnisse, und geahnte Wahrheiten waren sicherer Besitz geworden.

Auf eine erste Zeit fruchtlosen Grübelns, eine andere herben Zweifelns und eine kurze der Verzweiflung, auf harte und bittere Jahre des Kampfes und Suchens, war dieses erste des Findens gefolgt, und was das Schönste war: es versprach weitere Jahre, diesem ersten ähnlich und gleich.

Hinter dem Finder lag das Gebild aus Blut und Eisen, das ihn erst erschreckt und beunruhigt, das er dann als das erkannt hatte, was es war, und hell war nun der Raum des Lebens, in den er einst getreten. Und aus allen seinen Fenstern eröffneten sich weite Blicke auf alle seine Gebiete und in unendliche Fernen.

 

Er war gewiss gewesen, die Freiheit zu finden, und er hatte sie gefunden. Sein Glaube hatte ihn nicht betrogen. Heute wußte er, was das war: »Freiheit«.

Er kannte ihre Forderungen und ihr Gebiet; und er kannte die Grenzen dieses Gebietes.

Die Stimme rief ihn nicht mehr. Sie war in ihm. Er hörte sie neben sich, immer und immer, eindringlich und vernehmlich. Sie lehrte und wies.

Die Ahnung des Knaben, die Sehnsucht des Jünglings, die Verheißung des Suchers war dem Finder Erfüllung geworden.

 

Er stand auf der äußersten Grenze der Linken, und er wußte es. – Hier würde er stehen und nicht daran denken, von dem Platze zu weichen, den er sich erobert.

Denn dies war die Erkenntnis aus diesem Jahre des Findens, und so ließ sie sich zusammenfassen:

es gab nur einen Standpunkt für den wahren Freund der Freiheit – die Freiheit selbst.

Eine Gewalt befürworten und entschuldigen, hieß jede Gewalt entschuldigen und befürworten; eine Freiheit bezweifeln und leugnen, hieß jede bezweifeln und leugnen.

Sich auch nur einen Schritt von einer Freiheit entfernen, war gleichbedeutend mit: sich von der Freiheit selbst entfernen und sie preisgeben.

Sie als Richtschnur im Auge behalten, ihr Prinzip anlegen in jedem einzelnen Falle und nach diesem Prinzip entscheiden und handeln; sie immer und überall verteidigen, gegen ihre falschen Freunde wie gegen ihre wahren Feinde; endlich, in ihrem Sinne leben, schon heute so glücklich zu sein, wie es unter den heutigen Verhältnissen der Unfreiheit möglich war: das war eine Aufgabe, wert, sie sich zu stellen, und wert, für sie zu leben – die einzige eines Anarchisten würdige Aufgabe.

Wie wenige, wie verschwindend wenige gab es heute, die so dachten und lebten! – die nicht durch das nächste Ereignis des Tages in ihrem Urteil verwirrt und in ihrem Handeln zu den größten Inkonsequenzen verleitet wurden – die nicht begreifen konnten oder wollten, daß ihre Freiheit ab- und zunahm mit der Freiheit der anderen und daß mit jeder Schlinge, die sie andern um den Hals legten (mit jeder Befürwortung der Unterdrückung irgendeiner Freiheit), sich die um ihren eigenen fester und fester zog! –

Denn jede Unterbindung hier führte unnachsichtlich dort zu einer Stockung des Blutumlaufs im Organismus des sozialen Körpers.

– Einer dieser wenigen zu sein, immer und überall, Ernst Förster schwor es sich zu.

Aber der Finder wußte, es bedurfte keines Schwures.

Denn ihn brechen, hätte geheißen, sich selbst zu zerbrechen.

– Die Flamme dieser Erkenntnis stand in seinen Augen wie Glut, wie selten sie auch hervorschlug und wie wenige sie auch ahnen mochten in dem äußerlich so beherrschten Menschen.


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