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Siebentes Kapitel

Der Sucher

Auch diesmal war er nicht im Zweifel, wohin er zu gehen hatte. Es konnte nur eine große Stadt sein, mit den mancherlei Erwerbsmöglichkeiten seines Berufes und mit vielen Menschen. Denn er hatte die großen Städte lieben gelernt in der Freiheit ihres Verkehrs und ihrer Ungebundenheit des persönlichen Lebens.

So ging er nach Berlin.

Auf den ersten Blick erschien ihm die Stadt klein und ihr Leben fast ruhig im Vergleich mit dem mächtigen London und dem lebhaften Paris. Aber bald sah er, daß es eine weite Stadt war und daß er auch hier seinen Weg würde gehen können, wie er wollte.

Einen wesentlich anderen Eindruck, als daß es eine große Stadt war, empfing er auch in den beiden nächsten Jahren nicht, in denen er hier blieb. Es war keine Stadt, die man hassen konnte, wie London, und keine, die man lieben mußte, wie man Paris lieben mußte. Daß es eine große Stadt war, war schließlich noch das beste an diesem Berlin. Etwas Nüchternes lag über ihr, wie über ihren Menschen etwas Gedrücktes lag, als stünden sie unter einem steten Zwange, der sie nicht recht aufatmen und leben ließ, und die Farben des Landes, schwarz und weiß, verschwammen in ein trübes und schmutziges Grau.

Aber dennoch war er gern hier, und wenn die Stadt nicht, lernte er doch ihre Umgebung lieben, die stillen Seen in dem weißen Sande und die ernsten Kiefernwälder, die das rechte Kleid für sie zu sein schienen.

 

Er nahm sich in dem letzten Stock eines Hauses in einem der Vororte eine kleine, leere Wohnung von zwei Zimmern mit einem weiten Blick auf noch unbebaute Flächen, die ihn kaum mehr kostete, als bisher das eine, und stattete sie einfach mit dem Notwendigsten aus. Das machte ihm Freude, und als von der Universitätsstadt endlich auch seine dort vor einem Jahre zurückgelassenen Bücher kamen, fühlte er sich bald zuhause und Herr in seinem kleinen Reich.

Dann nahm er mit der alten Energie seine unterbrochene Arbeit wieder auf, suchte Altes und Neues zu verwerten und sah bald, um wieviel leichter dies war, sobald persönliche Beziehungen angeknüpft waren. Es würde gehen, sich durchzubringen; es mußte gehen.

Als er eines Tages einer Zeitung einen Bericht über eine Zufälligkeit, der er in den Weg gelaufen war, einen Fabrikbrand, überbrachte und man hier sah, wie brauchbar die Arbeit war, betraute man ihn mit neuer, und da es eine Tätigkeit war, die ihn weder an bestimmte Stunden, noch an seinen Schreibtisch band, nahm er sie an. Sie gab ihm Gelegenheit, Einblick in Verhältnisse zu tun, die ihm sonst verschlossen gewesen wären, und sie sollte ihn mit vielen und verschiedenen Menschen und Schicksalen bekannt machen.

Es war nur Reporterarbeit, bescheidene, bescheidenste, aber er tat sie gern; war sie aber getan, so dachte er nicht mehr an sie, als der Kaufmann an seine Kladden.

 

Denn dann war er frei, und diese besten Stunden wollte er ganz daran geben, zu suchen, was er finden mußte.

Erkennen wollte er jetzt – nicht das Leben suchte er mehr, das er gefunden und das er täglich fand, sondern das Erkennen. Um aber erkennen zu können, mußte er denken – selbständig denken.

Sein Herz, sein Mitgefühl hatten zu schweigen; sein Verstand allein sollte reden.

Zu oft bereits hatte er gesehen, welche unheilvolle Rolle das »Gefühl« hier, wo Leiden und Mitleiden so nahe beieinander lagen und sich gegenseitig hervorzurufen schienen, spielte. »Mein Gefühl sagt mir ...« – »Mein Gefühl sträubt sich dagegen ...« – das waren hundertmal die Antworten gewesen, die er erhielt, wenn er nach dem Weshalb, der Begründung einer Ansicht, fragte; und immer wieder von neuem sah er, wie gefährlich es war, dem Gefühl die Leitung anzuvertrauen, wenn es nicht vorher die Prüfung vor dem Verstande bestanden hatte und von ihm weiter beaufsichtigt wurde, um sicher zu sein, nicht in die Irre – durch Wirrnis und an den Rand des Abgrundes – geführt zu werden.

Mit jener Ruhe, die allein wissenschaftlichen Untersuchungen ziemt und ihnen allein Erfolg verbürgt, mußte auch an die Begründung dieser Frage gegangen werden, mit um so größerer, weil sie von allen die persönlichste war, die Frage, die jeden anging, die mit den Interessen des Einzelnen und somit der Allgemeinheit mehr oder weniger eng verknüpft war und der sich keiner entziehen konnte; mit einer um so überlegeneren, weil sie gerade aus diesem Grunde zum Tummelplatz ungezügelter Ausbrüche des Hasses und der Liebe geworden war, in deren Toben und Wüten auf den ersten Blick ein sicheres Urteil fast unmöglich schien.

 

Erstes Erfordernis dieser Untersuchung war demnach völlige Unvoreingenommenheit des Standpunktes.

Nirgendwo – soviel wußte er bereits – herrschte eine solche Verschiedenheit der Ansichten, eine solche Ungeklärtheit der Begriffe, ein solcher Wirrwarr der Gefühle und ein solcher Mangel an Kenntnis der einfachsten Begriffe, wie in dieser, der sozialen Bewegung.

Es durfte nichts von vornherein als feststehend angenommen werden, wenn man sich nicht von vornherein selbst binden wollte.

Um diesen Standpunkt einnehmen zu können, hatten Neigung und Abneigung vorerst völlig zu schweigen: der Blick hatte sich fest auf die Menschen und die Dinge zu richten, und je nüchterner dieser Blick war, um so klarer würde er sehen können. Er hatte ferner nicht danach zu fragen, ob das, was er wissen wollte, alt oder neu, anerkannt oder verworfen, »wissenschaftlich« oder »unwissenschaftlich« war, sondern danach, ob es logisch oder unlogisch, ob es richtig oder falsch war. War es logisch, dann war es richtig; und war es richtig, dann war es wissenschaftlich.

So wollte er sehen und prüfen. Er wollte sich nicht mehr umherschleudern lassen in dieser Bewegung; er wollte festen Grund in ihr fassen und wissen, wo er in ihr stand. Die Aufgabe war zunächst: die menschlichen Verhältnisse zu sehen, wie sie waren, und zu erkennen, weshalb sie so geworden waren, wie sie waren. Dann: die Vorschläge zu prüfen, die zu ihrer Änderung und Besserung gemacht waren. Endlich: sich für die einen oder für die anderen dieser Vorschläge selbst zu entscheiden.

 

Er schob alles beiseite, was ihm etwa auf diesem Wege hinderlich sein mochte: Erinnerungen und Eindrücke.

Er sah nicht mehr nach rechts und nicht nach links, sondern gradeaus. Er hatte jetzt keine Zeit mehr, sich aufzuhalten, wollte er zu dem vorgesetzten Ziele kommen.

– Besonders in der ersten Zeit lebte er sehr für sich, in der großen Stadt, die ihm bald vertraut wurde und die ihn leben ließ, wie er es wollte.

 

Der Punkt, von dem er ausging, war dieser:

Die sozialen Beziehungen der Menschen von heute waren nicht, wie sie sein sollten, harmonisch, sondern disharmonisch.

Sie vollzogen sich nicht natürlich, sondern sie standen unter einem künstlichen Druck, der sie in unnatürlicher Weise verschob.

Es waren keine geordneten, sondern ungeordnete, oder besser gesagt: es waren schlecht geordnete Beziehungen. Sie waren nicht frei, sondern unfrei.

Und der Faktor, der diese Störung verursachte, diesen Druck ausübte und diese soziale Unordnung schuf, war Gewalt.

 

Was war Gewalt? –was hatte man unter dem Begriff »Gewalt« zu verstehen, und welches war ihr Wesen? –das war die erste aller Fragen.

Gewalt heißt die Anwendung eines äußeren, körperlichen Zwanges, einerlei welcher Art, von einem Menschen auf den anderen, oder von den einen Menschen auf die anderen Menschen, ausgeübt zu dem Zweck, ihn oder sie gefügig zu machen, seinen oder ihren Willen zu dulden oder zu befolgen.

Das Wesen der Gewalt ist demnach Zwang; und zwar ein von außen her geübter Zwang.

Zwang und Freiwilligkeit schließen sich aus. Widerstand gegen Gewalt daher ebenfalls Gewalt zu nennen, kann nur die Begriffe verwirren; Gewalt kann immer nur im Sinne eines Angriffs ausgeübt werden.

Der Ausübung von Gewalt muß daher immer ein Angriff vorausgehen: der Angriff eines Wollenden auf einen nicht Wollenden.

Die Gewalt fragt nicht: »Willst du?'« –sondern sie sagt: »Du mußt!« Und fügt hinzu: »Wie ich will!«

Nur einer kann der Angreifer sein. Einen Angriff gegen einen Angriff gibt es nicht; es gibt nur eine Verteidigung gegen einen Angriff.

Verteidigung und Angriff sind somit völlig entgegengesetzte Begriffe; wie Gewalt und Angriff identische oder gleichartige Begriffe sind.

Die beiden Eigenschaften der Gewalt aber sind: sich zu behaupten; und: sich zu stärken und auszubreiten.

 

Die erfolgreiche Ausübung der Gewalt setzt die Macht zu ihr voraus.

Gewalt ohne die Macht zur Gewalt hob sie auf; nur die Macht ihrer Stärke machte sie wirksam.

Wer hat nun die Macht, die Gewalt auszuüben? –In wessen Händen liegt die Ausübung der Gewalt?

Einen Augenblick stockte er hier.

Gewalt konnte entweder von Einzelnen oder von einer Körperschaft ausgeübt werden.

Um die ersteren handelte es sich hier nicht; als Antwort aber auf die zweite Frage nach der Körperschaft ergab sich die einzige: der Staat.

Es gab keinen Zweifel:

Der Staat allein hat die Macht, Gewalt auszuüben. Jede andere Gewalt tritt vor der seinen zurück und wird zu nichts.

Der Staat ist die Verkörperung der Macht; er ist allmächtig.

In seinen Händen liegt die Ausübung der Gewalt.

– Die Antwort war entscheidend.

 

Der Staat? – Die zweite Frage stellte sich von selbst

– was ist der Staat?

– Viele und widersprechende Erklärungen fand dieser umstrittene Begriff.

Die einfachste und zugleich treffendste schien ihm diese zu sein:

Eine Anzahl von Menschen erklärt ein Stück Erdoberfläche – ein bestimmtes Gebiet – mit allem, was darauf und darunter ist, für ihr Eigentum und benennt es mit dem Namen eines Staates.

Die Einwohnerschaft dieses Gebietes wird »Nation« oder »Volk« genannt, und es umschließt sie mir seinen Grenzen als »Vaterland«.

Die innerhalb dieser Grenzen lebenden Bewohner, die Staatsbürger oder Untertanen, werden den zur Zeit in diesem Staate geltenden Gesetzen unterworfen; wer diese Gesetze nicht freiwillig befolgt, wird dazu gezwungen, und zwar durch Anwendung von Gewalt.

– Der Staat beruhte demnach auf Gewalt.

Sein Wesen war Gewalt.

Da aber das Wesen der Gewalt der Angriff war, so konnte auch der Staat nur eine angreifende Körperschaft sein.

 

Woher und von wem empfängt nun der Staat die Macht zur Ausübung der Gewalt? –Es war die dritte Frage.

Zweifellos nur von dem Willen der Mehrheit. Er muß der Stärkere sein, um seine Macht zur Tat werden zu lassen.

Der Staatskörper ist der verkörperte Wille dieser Mehrheit.

Mochte er sich nennen, wie er wollte: Monarchie, Republik oder Demokratie; mochte an seiner Spitze stehen, wer wollte: ein absoluter Herrscher, ein Präsident oder eine Volksvertretung – immer mußte er eine Mehrheit (mochte es nun eine nur scheinbare oder eine wirkliche sein) hinter sich haben, um sein »Hoheitsrecht«, die angemaßte oder die ihm verliehene Gewalt, ausüben zu können. Denn nur so war er stark genug, um seine Macht zur Tat werden zu lassen: zu herrschen und zu regieren.

Die Mehrheit verleiht dem Staate seine Macht; auf ihr beruht seine Macht; ohne sie ist er machtlos.

 

Daher muß es das ständige Streben und das unausgesetzte Ziel des Staates sein, sich die Mehrheit zu sichern, um seinen Willen zur Macht aufrecht zu erhalten und ihn durchführen zu können; ihn zu stärken und zu erweitern; seine Macht zur Allmacht zu gestalten.

Das ausübende Organ des Staates heißt Regierung. In den Händen der Regierung liegt die Macht, den Willen des Staates zur Geltung zu bringen: die Staatsgewalt.

Und der Kampf um diese Staatsgewalt, um die Regierung, heißt: Politik.

 

Die Untersuchung über den Staat und sein Wesen führte naturgemäß zu einer Betrachtung der anderen Formen menschlicher Vereinigung.

Der Staat war nicht die einzige dieser Formen. Es gab andere Arten des Zusammenschlusses, die, so vielfältig und verschieden sie auch sein mochten, doch unter dem Namen »Gesellschaft« zusammengefaßt werden konnten.

Was nun war die Gesellschaft?

Wie schon ihr Name besagte, war sie eine »Gesellung«, der Zusammenschluß einer mehr oder minder großen Anzahl von Menschen zu einem bestimmten Zweck –im Grunde nichts anderes, als eine Vereinigung: wo zwei Menschen zusammenkommen, und sei es auch nur zu dem Zweck eines Gespräches, bilden sie eine Gesellschaft. So verschieden wie ihre Zwecke konnten auch die Formen dieser Gesellschaften, dieser Vereine sein.

Welches war nun der Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft? Der, daß die letztere eine freie Vereinigung war, der erstere jedoch nicht.

Die Gesellschaft umfaßt die, welche zu ihr gehören wollen und die sie aufnimmt, einerlei, woher sie kommen; der Staat umschließt alle, die in einem bestimmten Gebiet wohnen, auch wenn sie nicht zu ihm gehören wollen; er »nimmt sie auf«, auch gegen ihren Willen. Er umschließt zwar alle, aber ist keine Gesellschaft »Aller«.

Im Staate steht stets eine Minderheit gegen eine Mehrheit; die Gesellschaft steht zusammen, solange sie zusammenstehen will.

Ist in der Gesellschaft ein Einzelner oder eine Anzahl ihrer Mitglieder gegen sie, so steht es diesem Einzelnen oder dieser Minderheit frei, jederzeit frei, sie zu verlassen: aus ihr, der Gesellschaft, auszutreten und zu bleiben, wo sie sind; der Staat gestattet einen solchen Austritt nur, wenn seine »Untertanen« nicht bleiben, wo sie sind – verließen sie sein Gebiet, gab es für sie nur die Wahl, sich in einen anderen Staat zu begeben und sich damit einer anderen Mehrheit zu unterwerfen.

Der Gesellschaft kann sich daher der Einzelne entziehen, ohne damit seine Umgebung zu verlieren; dem Staate nur, wenn er auf diese Umgebung Verzicht leistet.

Durch seinen Austritt löst der Einzelne die Gesellschaft für sich auf; der Staat hingegen löst den Einzelnen in sich auf.

Wenn sich in einer Gesellschaft die Minderheit dem Willen der Mehrheit unterwirft, so tut sie es freiwillig; im Staate tut sie es gezwungen, weil ihr keine andere Möglichkeit übrig bleibt.

Die Gesellschaft kann ihr Mitglied ausstoßen, es »ächten«. Der Staat kann seinen Untertanen zwar ebenfalls verstoßen, ihn »verbannen«, aber er tut es nur selten und zieht es vor, ihn zu bestrafen und zu bessern, indem er ihn einsperrt, oder, wenn ihm dies aussichtslos erscheint, vernichtet.

Ist der Zweck einer Gesellschaft erfüllt, so löst sie sich auf. Ihre Mitglieder gehen auseinander, wie sie zusammengekommen sind, um sich zu ähnlichen oder anderen Zwecken untereinander oder mit anderen wieder zu vereinigen. Ihre Auflösung bedeutet daher nicht Untergang, sondern Wiedergeburt und Auferstehung. Auch der Staat kann seine Formen wechseln, und er wechselt sie, wenn auch niemals freiwillig, aber er bleibt immer, was er ist: eine Vereinigung der einen gegen die anderen.

Innerhalb eines Gebietes kann es nur einen Staat geben; nur einen, der die Oberhoheit besitzt. Ein Staat innerhalb eines Staates ist ein Widerspruch in sich.

Der Staat schließt die Gesellschaft in sich ein. Sie besteht nur durch seine Gnade, und sie wird von ihm nur geduldet. Es gibt keine Art und Form der Gesellschaft, keinen Verein, den der Staat nicht auflösen kann, wenn er es für gut befindet und die Macht dazu hat. Nur geheime Organisationen haben Hoffnung auf ein mehr oder minder kurzes Bestehen, aber über kurz oder lang schlägt auch ihre Stunde.

– Staat und Gesellschaft sind somit nicht ähnliche und gleiche, sondern völlig verschiedene Begriffe, die sich ausschließen; sie miteinander verwechseln, heißt die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens mit einander verwechseln und verwirren. Sie sind natürliche Feinde und bekämpfen sich als solche unablässig. Der Sieg des einen bedeutet den Untergang der anderen, und umgekehrt.

Endlicher Sieger bleibt schließlich der Staat, wenn er die Gesellschaft so in sich aufgesogen hat, daß er eines mit ihr oder sie eines mit ihm: wenn er die Gesellschaft »Aller« geworden ist. Siegerin ist die Gesellschaft, wenn sie den Staat verdrängt hat und an seine Stelle getreten ist. Geht der Staat aber in der Gesellschaft auf, so hört er auf, ein Staat zu sein, und wird eine Gesellschaft wie jede andere.

Die Gesellschaft ist somit eine freie Vereinigung – sie kennt nur freie und gleichberechtigte Mitglieder; der Staat hingegen ist eine Zwangsvereinigung – er kennt nur Herrschende und Beherrschte, Unfreie und Ungleiche – Untertanen.

Der Staat steht über dem Einzelnen – er ist sein Herr; die Gesellschaft steht unter ihm – sie ist seine Dienerin.

Das Wesen des Staates ist somit Zwang; das Wesen der Gesellschaft Freiheit.

Um es nochmals zu sagen: der eine ist eine Zwangsvereinigung; die andere eine freie Vereinigung.

 

Welche Zwecke nun verfolgte der Staat, daß er sich mit Gewalt an die Stelle solcher anderen Vereinigungen setzte und sie sich unterordnete?

Waren seine Zwecke lautere, warum brauchte er zu ihrer Durchführung die Anwendung von Gewalt? – Und waren sie, wie er sagte, gemeinnützige, warum duldete er andere Institutionen nicht neben sich und bewies nicht im freien Wettbewerb mit ihnen seine Überlegenheit?

Er tat es nicht. Er stellte sich außerhalb jeden Wettbewerbs und zeigte damit, daß seine wahren Zwecke nur unlautere und versteckte sein konnten.

Seine vorgeblichen Zwecke einer ebenso vorurteilslosen, wie scharfen Prüfung zu unterziehen, war daher geboten. – Als ihren ersten und hauptsächlichsten gab er selbst die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung an: den Schutz der Bürger, seiner Untertanen, ihre Sicherheit und ihre Wohlfahrt – das Wohl der Allgemeinheit.

Nun, was es mit diesem allgemeinen Wohl auf sich hatte und wie es darum bestellt war, das hatte er, Ernst Förster, bereits genugsam gesehen, und jeder mußte es sehen, der Augen hatte, zu sehen: es gab kein »allgemeines Wohl«, kein Glück und keinen Wohlstand aller, sondern es gab nur die Wohlfahrt der einen auf Kosten der anderen – Reichtum und Überfluß auf der einen, Armut und Verelendung auf der anderen Seite.

Die Behauptung des Staates, der Beschützer aller zu sein und einen Zustand des allgemeinen Wohles zu erstreben und zu erhalten, war demnach eine Lüge, durch die tatsächlichen Verhältnisse als solche erwiesen, und nur ein Lügner oder ein Gedankenloser konnte sie ihm nachsprechen.

 

Was der Staat also in Wirklichkeit schuf und erhielt, war nicht die Gleichheit, sondern die Ungleichheit; die Unordnung, nicht die Ordnung.

Gleichheit hieß ein Zustand gleicher Bedingungen für alle Mitglieder der menschlichen Gesellschaft – ein Zustand, in welchem jeder und alle die gleichen Möglichkeiten zum Leben hatten: die gleichen Rechte auf ihre Arbeit, auf das Produkt ihrer Arbeit und auf die Verwertung ihrer Arbeit (deren Austausch).

Ordnung hieß ein Zustand, in dem ihre Mitglieder sich ungestört ihrer Arbeit hingeben und sich ungestört des Ertrages ihrer Arbeit erfreuen konnten.

Der heutige Zustand der menschlichen Gesellschaft war weder ein Zustand der Gleichheit, noch der Ordnung. Es war eine künstliche Ordnung und eine scheinbare Gleichheit, hinter denen sich eine völlige Unsicherheit und ein soziales Chaos verbarg, dieser bedingt durch jene.

 

Diese künstliche Ungleichheit und damit die Unsicherheit schuf der Staat, indem er den einen Rechte über die anderen verlieh: Vorrechte – Rechte, die sie voraus hatten (Privilegien oder Monopole).

Diese Vorrechte waren die Waffen, mit denen er jene belehnte im sozialen Daseinskampf. Mit ihrer Hilfe gingen sie als Sieger aus ihm hervor. So schuf er künstlich Starke und Schwache; und machte jene zu Herren, diese zu Knechten.

 

Welcher Art waren nun diese Privilegien oder Monopole?

Um sie finden und fassen zu können, war es nötig, nach der Untersuchung über das wahre Wesen des Staates die weitere anzustellen: nach dem Wesen der Arbeit; dem des Tausches; sowie dem des Mittels zu diesem Tausche, dem Gelde.

Mit dieser Frage aber kehrte Ernst Förster zu der ersten Erkenntnis zurück, die sich ihm aufgezwungen hatte, als sich ihm zuerst die auf Ungleichheit beruhende Ungerechtigkeit der sozialen Verhältnisse in ihrer ganzen Furchtbarkeit offenbart: daß diese Verhältnisse so waren, wie sie waren, weil der Arbeit verwehrt war, sich ihren vollen Ertrag zu sichern.

Was war Arbeit?

Arbeit –einerlei ob körperliche oder geistige –heißt jede auf Erzielung eines nutzbaren Wertes gerichtete Tätigkeit, und der durch sie erzeugte Gegenstand heißt Produkt.

Die Arbeit allein schafft Werte; die Arbeit allein sollte daher folgerichtig die rechtmäßige Basis des Preises bilden, der diesen Wert bestimmt.

Beschränkt der Erzeuger die Nutzbarkeit seiner Arbeit nicht auf seinen persönlichen Verbrauch (und kein Mensch von heute kann es, weil er seine sämtlichen Lebensbedürfnisse nicht selbst herzustellen vermag), so ist er gezwungen, sie gegen die Arbeit anderer einzutauschen. Die auf diese Weise notwendig gewordene Arbeitsteilung hat den Tausch geschaffen –den Austausch der Arbeit gegen die Arbeit, des Produktes gegen das Produkt, kurz, den Verkehr zwischen dem Produzenten und dem Konsumenten.

 

An die Stelle des ursprünglichen direkten Austausches von Produkt gegen Produkt bei unzivilisierten Völkern ist längst unter zivilisierten Völkern der indirekte getreten – der Tausch auf Grund eines Austauschmittels: des Geldes. Das dem Tausche übergebene Produkt, die Ware, tauscht sich im allgemeinen Verkehr nur noch indirekt um – Ware wird zu Geld, Geld wieder zu Ware, und so weiter; und das Geld selbst ist nichts als eine Ware in anderer Form – Ware in Form von Geld.

 

Wenn aber so das Geld nichts als eine Ware ist, so müßte es auch, wie jede andere Ware, von jedem, der sie benötigt, geschaffen und in den Handel gebracht werden und gegen andere Ware eingetauscht werden dürfen.

Durfte es das?

Sicherlich nicht.

Warum nicht?

Weil sich eine Anzahl von Menschen, der Staat, das Recht zur Herstellung und zur Verausgabung des Umlaufmittels, des Geldes, vorbehielt, oder die Erlaubnis zu dieser Herstellung und zu dieser Verausgabung nur bestimmten anderen Menschen, Inhabern von Banken, erteilte. So, kraft dieses Vorrechtes, das Geld zu schaffen und in den Verkehr zu bringen, entzieht der Staat es der freien Konkurrenz und monopolisiert es.

Als alleiniger Fabrikant des Geldes ist er naturgemäß imstande, den Preis dieser Ware so hoch oder so niedrig anzusetzen, wie es ihm beliebt, da alle, die Geld brauchen, (und wer braucht es nicht außer denen, die es haben?) gezwungen sind, ihm jeden Preis zu zahlen, den er fordert. So ist es, das Geld, sein erstes und hauptsächlichstes Monopol – das, welches ihm seine größte Macht verleiht und auf dem im Grunde seine ganze Existenz beruht.

 

Zu welchem Preise nun verausgabt der Staat diese von ihm monopolisierte Ware, das Geld, an die Verbraucher? Verkauft er es zu dem Preise der Herstellung und der Übertragung?

Mitnichten.

Stellte er es zu diesem Preise (der unter dem Bruchteil eines vom Hundert zurückbleibt) zur Verfügung, so könnte gesagt werden, daß er zwar auf diese Ware ein Monopol erzwungen habe (an und für sich eine Verletzung des freien Handels), daß aber diese Verletzung der freien Konkurrenz nie so verhängnisvoll zu werden vermochte, wie sie es geworden war und wurde.

Denn statt sich billigerweise mit den Herstellungskosten einer für das ganze Volk geschaffenen Ware zu begnügen, erhob dieser Beschützer des Wohles der Allgemeinheit, wie er sich selbst nannte und sich so gerne nennen hörte, auf die Herstellungs- und Vertriebskosten des Geldes einen Aufschlag, der weit über beide hinausging und der von ihm willkürlich festgesetzt und kontrolliert wurde.

Dieser Aufschlag war der Zins.

 

Indem der Staat kraft seines Monopols und die Banken kraft der ihnen verliehenen Privilegien, die ihnen erlaubten, ihr Diskonto beliebig hoch zu schrauben, diesen Aufschlag auf das Geld erhoben, schufen sie den Wucher und begünstigten ihn.

Zwar nannte der Staat es nicht so. Er erklärte als »Wucher« nur, was über den von ihm festgelegten Preis – als welcher im allgemeinen der von fünf Prozent galt – hinausgeht und verfolgt ihn hier und da als solchen. Aber abgesehen davon, daß die jeweiligen Staatsbanken stets Mittel und Wege finden, den Prozentsatz des Geldes, durch Aufhäufung und Zurückhaltung des harten Geldes, des Goldes und Silbers, und durch Verausgabung allgemein gültiger Noten, des Papiergeldes, über die hinterlegten Werte hinaus, sowie durch andere Machinationen und Spekulationen auf jede Höhe zu treiben, die ihnen beliebt und die die Hungergrenze der Arbeit noch eben erträgt, abgesehen hiervon waren mindestens vier von diesen fünf Prozent schon reiner Wucher – sie überschritten die Kosten um mindestens vier Fünftel und genügten vollkommen, um die bestehenden Verhältnisse: hier Reichtum und dort Armut, aufrecht zu erhalten und die Arbeit zur Sklavin des Geldes zu machen.

Wucher. Nichts anderes. Denn Wucher ist jede Forderung, die die Grenze der Kosten überschreitet.

 

Der Zins ist es also, der das Kapital zu dem schrecklichen Feinde der Arbeit macht, als der es verschrien und gefürchtet, gehaßt und bekämpft wird.

Denn was ist das Kapital?

Alles nicht im Umlauf befindliche Geld heißt Kapital, einerlei ob dieses Kapital groß oder klein ist, aus einer Million oder ein paar Mark besteht. Kapital ist einfach zurückgelegtes, zur Reproduktion in anderer Form bestimmtes Geld. Aufgehäufte Arbeit nennen es die einen; aufgehäuftes Produkt die anderen, und beide sagen im Grunde dasselbe, wenn auch mit anderen Worten.

Kapital ist Arbeit, die bereits ihren Lohn erhalten hat; ihm die Möglichkeit geben, sich gegen Zinsen auszuleihen, heißt nichts anderes, als sich bereits bezahlte Arbeit abermals und immer wieder, bei jedem neuen Ausleihen von neuem, bezahlen zu lassen.

An und für sich harmlos, als Ertrag der Arbeit, wird so das Kapital zur furchtbarsten Waffe in den Händen der Ausbeutung durch die ihm künstlich verliehene Eigenschaft: sich ohne Arbeit, gewissermaßen aus sich selbst heraus, zu vermehren; sich produktiv zu machen durch die Eigenschaft des Zinses.

Zur furchtbarsten Waffe.

Denn der Zins zwingt die Arbeit, ständig ihre Produkte teurer zurückzukaufen, als sie sie verkauft hat, und auf diese Weise dem Kapital einen immerwährenden Tribut zu entrichten, der dieses zu ihrem Herrn, und sie, die Arbeit, zu seiner Sklavin macht.

Die Folgen dieser ständigen Steuer auf das Geld sind: Herabsetzung der Produktion; dadurch bedingte Verminderung der Konsumtion; Stockung des wirtschaftlichen Lebens und ökonomische Krisen.

So erscheint das Monopol, das auf dem Gelde ruht, als das erste und verderblichste in der Reihe der staatlichen Monopole.

 

Das Zweite der großen Monopole des Staates ist das Monopol des Grund und Bodens.

Wie das Geldmonopol den Zins schafft, so schafft dieses die Miete oder die Rente.

Rente heißt die Abgabe, die der Mieter eines Hauses oder der Pächter von Land an den Eigentümer des Hauses oder an den Besitzer des Grund und Bodens zu zahlen hat.

Der Staat schützt die Inhaber von Grund und Boden in ihren Besitztiteln auf mehr Flächenraum, als sie selbst zu besetzen und zu bebauen vermögen, und macht so, wenigstens in bestimmten Ländern, diese Einzelnen zu Herren weiter Gebiete, und ihre Bewohner zu deren wirklichen Untertanen.

Neben den Geldwucher tritt so der Bodenwucher, und wie jener den Arbeiter trifft, trifft dieser den Landmann und Bauern und macht auch ihn zum Hörigen.

 

Noch andere Monopole schafft der Staat: er schützt bestimmte Gattungen von Waren durch Zölle und verleiht ihren Erzeugern so Privilegien, die sie in den Stand setzen, diese Waren billig herzustellen und teuer zu verkaufen; er verleiht Erfindern die Privilegien von Patenten, die sie zur alleinigen Herstellung und zum ausschießlichen Vertrieb ihrer Erfindungen berechtigen; er verleiht geistigen Arbeitern, Autoren, die Vorrechte des Urheberschutzes: stellt sie unter den Schutz des Urheberrechts, das ihnen ermöglicht, auf kürzere oder längere Zeit, oft nicht nur zu ihren Lebzeiten, sondern über ihren Tod hinaus, über die alleinige Verwertung ihrer Werke zu bestimmen und sie dem Nachdruck, der freien Konkurrenz, zu entziehen.

Aber diese letztgenannten Monopole ziehen nur bestimmte Kreise in sich, gewissermaßen nur Ausschnitte des Volkes, treffen daher in ihren Wirkungen nur diese und nicht wie das Geldmonopol die große Masse dieses Volkes selbst, also jeden Arbeiter, und sind daher auch in ihren Wirkungen weniger schädlich, als dieses, das verheerendste aller und die eigentliche Waffe in der Hand des Kapitals gegen die Arbeit.

 

Hier machte der, welcher diese Untersuchungen anstellte und zu diesen, für ihn neuen und überraschenden Resultaten gekommen war – Resultaten, deren ganze Tragweite er erst zu ahnen begann –, einen Augenblick halt.

Eine andere Frage, wie der Einwurf eines Gegners, erhob sich:

Wie war es möglich, daß so wenige erst diese wahren und letzten Ursachen der sozialen Ungerechtigkeit erkannten? – Daß fast keiner sah, was doch alle hätten sehen müssen?

Wenn Ernst Förster nochmals auf den von ihm selbst zurückgelegten Weg zurückblickte, sah er, wie gerade und folgerichtig dieser Weg gewesen war:

Er war, wie alle Sozialisten, ausgegangen von der Frage: warum die Arbeit, die einzige Quelle aller Werte, sich nicht in den vollen Ertrag dieser Werte zu setzen vermochte, und die Antwort war gewesen: weil eine fremde Macht sich zwischen sie und ihren ungehinderten Austausch drängte; er hatte sodann das Wesen dieser Macht untersucht und gefunden, daß sie Gewalt war und daß diese Gewalt sich in einem künstlichen Organismus, dem Staate, verkörperte; und er hatte endlich gesehen, wie dieser Staat seine Macht zugunsten der einen, der wenigen, auf Kosten der anderen, der vielen, mißbrauchte.

So war er zu festen und bündigen, nicht anzweifelbaren Resultaten gelangt.

Jetzt, wo diese Resultate fertig vor ihm lagen und er sah, wie klar und einfach, wie zwingend selbstverständlich sie waren, stutzte er, und fast wäre er irre an ihnen geworden.

Ein großes Erstaunen ergriff ihn.

Wie kam es, fragte er sich wieder, daß nicht jeder sie gefunden? – daß sie nicht Allgemeingut, statt offenbar nur das Gut weniger waren ?

Alle gingen diese Fragen an; jedem waren sie Fragen des eigenen Lebens, und täglich stellte sie dieses Leben. Alle diese Begriffe: Staat und Gewalt, Recht und Macht, Arbeit und Tausch, Geld und Zins, sie und viele andere lagen auf aller Lippen – wer aber wußte im Grunde, was sie bedeuteten?

Es war erstaunlich:

Geld rollte durch die Hände der Menschen, und sie wußten kaum, was das war –Geld; unzählige Male an einem Tage tauschten sie ihre Arbeit ein und aus und hatten von dem wahren Wesen des Tausches keine Ahnung; sie lebten in einem Staat, und nicht einer unter tausend, nicht einer unter hunderttausend hätte eine klare und richtige Definition des Staatsbegriffes zu geben vermocht, wenn man ihn fragte.

Es war erstaunlich. Es war mehr als das: es war erschreckend, wie gedankenlos und leichtfertig die Menschen Begriffe, von deren Verständnis das Glück und die Wohlfahrt ihres Lebens abhing, gebrauchten und in wie verschiedenem Sinne. Wie war es da möglich, daß sie sich je einigten?

Gewiß, die meisten unter ihnen wußten oder ahnten doch, daß der soziale Körper durch und durch krank war und einer gründlichen Heilung bedurfte. Denn seine klaffenden Wunden, seine eiternden, überall hervorbrechenden Geschwüre zeigen es nur zu deutlich. Aber wie der Kranke, der sich fürchtet, von dem kundigen Arzte den Grund seiner Krankheit zu erfahren und der sich statt dessen lieber in die Hände von Kurpfuschern und Charlatanen begibt, die ein Interesse daran haben, seine Schwäche auszubeuten und seine Krankheit hinzuziehen, so scheuten sie sich vor dem eigenen Denken und Erkennen, das ihnen bald den rechten Namen ihrer Krankheit genannt hätte.

Erschreckend fürwahr!

Überall wurden heute die elementarsten Kenntnisse in den Wissenschaften gefordert und gelehrt; hier, in der sozialen, der wichtigsten von allen, fehlten, als würden sie sorgsam geheimgehalten, auch die primitivsten.

Aber eine solche allgemeine Unkenntnis auf diesem nächstliegenden und wichtigsten Gebiete des Lebens mußte tiefere Ursachen haben.

Er sah jetzt auch sie.

Der wahre Name der sozialen Krankheit war: Gewalt!

Der Staat aber, dieser große Betrüger, hatte ein Interesse daran, die Gesellschaft der Menschen über den Grund ihrer Krankheit, die er ihnen selbst eingeimpft, im Unklaren zu lassen; und statt sie zu heilen, indem er sich von ihr befreite, drängte und schwatzte er ihr lieber kostspielige und schädliche Mixturen auf und nahm ihr dafür ihr Geld ab. Um sie zu betören und zu betäuben, umgab er sich mit dem Pomp und Flitter großer Worte und einer ungeheuren Menge von Dienern und Handlangern aller Art, bemächtigte sich des Marktes, ließ keinen Zweifel aufkommen, unterdrückte jede Kritik, und verfolgte die wahren Helfer der Menschheit und tat sie in Acht und Bann.

So sah er, Ernst Förster, ihn jetzt: in die Wolken der Autorität gehüllt, aus denen heraus er seine Gebote gab, wie einst Gott die seinen gegeben; und zu seinen Füßen ein willenlos gebeugtes, betörtes und furchterstarrtes, nach ihm allein um Rettung schreiendes Volk.

Ihn aber sollte er nicht mehr täuschen, durch keine Maske mehr, welche auch immer er sich vornehmen mochte: weder durch die des wohlwollenden Beschützers, noch durch die des väterlichen Freundes; nicht durch die eines Helfers am Wohle der Allgemeinheit, noch durch die eines fürsorglichen Beraters; durch die eines redlichen Verwalters an dem anvertrauten Gute nicht und nicht durch die eines getreuen Dieners des Volkes.

Mochte er der Freund der einen sein, einer Minderheit – sicherlich war er der Feind der anderen, der großen Mehrheit, wie töricht diese auch sein mochte, ihm zu glauben.

Er hatte ihm die Maske heruntergerissen und in kalte und leere Züge gesehen, die keine menschlichen waren.

Er hatte ihn erkannt als den, der er war: als den Feind!

Wie ein Feind mußte er hinfort bekämpft werden.

– Der Glaube an seine Autorität war es, der den Staat hielt. Dieser Glaube schützte und stützte ihn; mit ihm stand und fiel er.

Den Glauben an diese seine Autorität galt es daher, zu untergraben.

 

Die Jahre, die ihm diese Erkenntnisse schenkten, vergingen schnell bei seiner unruhigen Tätigkeit, die ihn heute hier- und morgen dorthin sandte, schnell die Tage, und schneller noch deren Stunden, und es waren ihrer nicht zu viele, in denen er seine Gedanken ihre eigenen Wege gehen lassen durfte.

Besser wurde es, als er einmal für einen erkrankten Kollegen die Berichterstattung über eine soziale Versammlung übernahm, sie zur Zufriedenheit erledigte und bei seiner Zeitung von dem Redner des Abends, wegen der Sorgfalt und Objektivität seiner Arbeit, zu weiteren Referaten erbeten wurde. So erhielt er nach und nach die ständige Berichterstattung über diese und ähnliche Versammlungen zugewiesen. Es war ein Schritt vorwärts für ihn. Nicht nur, daß die neue Arbeit seine Existenz sicherte und ihm sogar erlaubte, an die Zukunft zu denken, sie verschaffte ihm auch die erwünschte Gelegenheit, sich mit den politischen und sozialen Anschauungen all dieser Männer in führenden und oft maßgebenden Stellungen vertraut zu machen, und manchen lehrreichen Blick hinter die Kulissen zu tun, wie in das verschlungene Gewirr der Fäden, an denen die Geschicke der Völker gelenkt wurden.

Er tat auch diese neue Arbeit in seiner stillen Weise und mit der Gewissenhaftigkeit, die seiner Natur eigen war, und sie erlaubte ihm, seinen Tagen eine festere Einteilung zu geben, als ihm bisher möglich gewesen.

 

Eines Tages stand er vor einer Entscheidung.

Er wurde zu dem Chefredakteur des Blattes selbst gerufen, dieser fast unnahbaren Persönlichkeit.

Er saß dem klugen und erfahrenen Manne gegenüber, dessen Worte allwöchentlich einmal eine halbe Welt vernahm, dessen Einfluß dem eines Machthabers gleichkam und der für seine Zigarren in einem Jahre mehr ausgab, als er, der kleine Reporter, sich in demselben Zeitraum verdiente. Nach Anerkennung seiner bisherigen Tätigkeit wurde er gefragt, ob er nicht Neigung habe, sie mit einer selbständigeren zu vertauschen, die ihm mit der Zeit Gelegenheit geben würde, auch eigene Anschauungen zu verwerten.

Er hielt mit der Antwort zurück und wurde weiter gefragt.

Ob er einer Partei angehöre?

Nein, er gehöre keiner Partei an.

Ob er sich zu irgendeiner Bewegung hingezogen fühle?

Ja, zu der sozialen.

Dann fragte er selbst, obwohl er die Antwort im voraus wußte.

Ob er seine Anschauungen frei äußern dürfe?

Im Rahmen der Zeitung – gewiß.

Ob er auch gegen den Staat schreiben dürfe?

Gegen bestimmte Einrichtungen des Staates, ja, wenn es dieselben seien, gegen die auch das Blatt Stellung nähme.

Nein, gegen die Institution des Staates selbst.

Da sah er die Verblüffung in den Mienen seines Chefs, hörte aber die Antwort:

Auch das, wenn er in den Richtlinien der Zeitung ginge, die, wie er wisse, eine liberale mit starker Hinneigung zur Demokratie sei und eine Beschränkung der Regierungsgewalt in mancher Hinsicht sogar begünstige. Aber er meine doch etwa nicht den Staat als solchen, den Staat an und für sich?

Gerade das meine er.

Aber einen Staat, eine ausübende Gewalt, müsse es doch geben?

Das eben habe er angefangen zu bezweifeln. Der Staat sei jedenfalls für ihn die Hauptursache der sozialen Ungleichheit und Ungerechtigkeit, und sein Bestehen der Krebsschaden der Gesellschaft.

Aber dann sei er ja ein Anarchist!

Förster hörte das Wort nicht zum ersten Male. Er gab weder zu, es zu sein, noch lehnte er es ab. Seine Weltanschauung war noch im Werden. Noch war er nicht imstande, jede Frage nach ihr zu beantworten und sie nach allen Seiten hin zu begründen und zu beleuchten. Noch verstand er den wahren Sinn des gehörten Wortes nicht.

Er führte daher nur kurz die Gründe an, die ihn zu seiner jetzigen Stellungnahme gegen den Staat geführt, und fügte hinzu, daß es ihm unmöglich sein würde, irgendeiner Anschauung Ausdruck zu verleihen, die nicht eine selbsterworbene und für ihn feststehende sei; daß er auch die bescheidenste Stellung der vorzöge, die ihm einen solchen Zwang auferlege; mit einem Wort: daß er die Selbständigkeit des Denkens für das höchste Glück des Lebens halte, das nur durch eines noch erhöht werden könne, die äußere Selbständigkeit des Handelns; und daß er sich beide auf seine eigene Weise erwerben müsse, so gut oder so schlecht es eben ginge ....

Damit war diese Unterredung zu Ende.

Sie sind nicht ehrgeizig, hörte er noch. Aber zugleich las er in den klugen und scharfen Augen, die auf ihm ruhten, so etwas wie Bewunderung und vielleicht, wenn er recht las, auch ein wenig wie Neid.

 

Seine Kollegen wollten wissen, was ihn so lange im Allerheiligsten gehalten, und als sie es hörten, verstanden sie ihn nicht.

Aber er verstand sich. Er konnte keine selbstangelegten Ketten tragen, auch keine goldenen. Drückten goldene nicht schwerer noch, als eiserne, und schnitten sie nicht tiefer, als nur ins Fleisch?

Er wußte, er würde nie die Kunst lernen, die hier bis zur Meisterschaft geübt wurde: auf Befehl zu schreiben, nach rechts heute und morgen nach links, und dabei mit einem Auge nach oben und dem anderen nach unten zu schielen.

Viel hatte er bereits von seiner Achtung vor dem geschriebenen Wort verloren.

Zeitungen? – Nein, sie waren keine Rufer im Streit der Meinungen, die den Weg wiesen über den Tag hinaus; Grammophone waren sie, die mißtönig wiedergaben, was der Tag in sie hineinschrie.

Jede stand im Dienste einer politischen Partei. Ihrer Partei Einfluß zu verschaffen, war ihre Aufgabe. Um ihn, diesen Einfluß, zu erlangen und ihn sich zu sichern, mußte alles nach einer Richtung hin gesehen und dargestellt – gedeutet, gefälscht und, wenn es nicht anders ging, erfunden werden.

Abhängig wie von ihr, war sie zugleich abhängig von ihrem Leserkreis. Ihn verlieren, hieß den Einfluß verlieren, und ihm mißfallen, fallen. So war die Zeitung von heute die Wetterfahne der öffentlichen Meinung; diese der Kompaß, nach dem sie steuerte; und mit ihr hoben und senkten sich die raschelnden Blätter, heute durchflogen und fortgeworfen und morgen zerstoben in alle Winde.

Einmal erfaßt von ihrem Getriebe, würde er tiefer und tiefer hineingezogen werden, bis er sich selbst verlor und seine Überzeugung; blieb er dagegen, was er war, der bescheidene Berichterstatter des Alltags, so konnte er an allem Geschrei vorbeigehen und sich immer wieder flüchten zu sich selbst.

So blieb er es, und das Jagen und Hasten der Menschen um ihn her, das Surren und Schwirren der Räder, das Dröhnen und Stampfen der Maschinen in dem Palast, der die halbe Straße einnahm und sie bald ganz eingenommen haben würde, in dem auch er ein- und ausging, dies alles, das ihn erst betäubt und verwirrt hatte, ließ ihn jetzt so gleichgültig, wie der Lärm der Straße.

Nicht ehrgeizig? – Doch. Er geizte nach der Ehre, wahr zu sein gegen sich und damit gegen andere. Diesem Ehrgeiz konnte er nur Genüge tun, wenn er seinen Weg ging, an dem Tage vorbei, und allein blieb mit sich selbst.

 

Auch an den Menschen – und er kam mit vielen zusammen, viel zu vielen für ihn – ging er jetzt vorbei, ohne sich bei ihnen aufzuhalten.

Er sah, daß die meisten nur sprachen, um nicht denken zu müssen, und daß sie sich zufrieden gaben mit aufgelesenen Schlagworten. Es war erstaunlich zu sehen, wie bescheiden sie, die es doch sonst nicht waren, hierin wurden. Immer bereit, bei jeder Frage in die Breite zu gehen, fürchteten sie sich gradezu vor jeder Klarheit und empfanden seine suchenden Fragen, die unerbittlich dahin drängten, als lästig.

Was sie so leichthin sprachen und ebenso leichthin schrieben, war Literatur. Literatur, die sich in unzähligen Aufsätzen durch die Blätter wälzte und in Büchern zu Bergen häufte. Er fing an, dieses Wort zu hassen. Es bedeutete ihm mehr und mehr: jede Frage in einem Brei von Worten ersticken; das Verständliche bis zur Unkenntlichkeit verzerren; sich von den Begriffen entfernen, statt ihnen näher zu kommen.

Nicht dort, auf den Bierbänken und in den Kaffeehäusern, wo sie zusammensaßen, wo täglich eine Weltanschauung fabriziert wurde, um dann in irgendeiner Zeitschrift als die allein seligmachende gepriesen zu werden, in ihr ein kurzes Dasein zu fristen und mit ihr zu sterben (Weltanschauungen, die an- und abgelegt wurden, wie Moden) nicht dort, unter diesen heillosen Schwätzern, konnte er jemals hoffen zu finden, was er suchte.

Ihre Gedanken, wie hohl; ihre Worte, wie leer; ihre papiernen Revolutionen, wie lächerlich waren sie nicht!

Auch dort, in der Literatur, war der äußere Erfolg des Tages alles, und alle strebten nach ihm: sich genannt zu sehen um jeden Preis, ihre Rolle zu spielen, beklatscht und bejubelt zu werden, um dann – abzutreten. Und was erreichten sie mit ihrer unermüdlichen Arbeit, ihrem fieberischen Begehren, ihrem atemlosen Hasten? – Nichts, was, wie ihm schien, dieses Aufwandes an Kraft wert gewesen wäre.

Denn wie wurden auch hier, in der Literatur, wie dort in der Politik, in Wahrheit die Erfolge gemacht? – Er sah es, und Ekel ergriff ihn. Einer Clique anzugehören, war das erste Erfordernis zum Erfolg. Die besorgte dann das weitere: die Unfähigkeit, die zu ihr gehörte, heraufzuloben, dagegen alles andere, und sei es das Bedeutendste, herunterzureißen, oder, was sicherer war, totzuschweigen. Gab es nicht zum Beispiel bei seiner eigenen Zeitung Namen, die, wen immer sie deckten, nie genannt werden durften als Strafe dafür, daß der, welcher ihn trug, sich einmal irgend wie mißliebig bei ihr gemacht hatte?

Überall drängte sich auch hier, zwischen Angebot und Nachfrage, zwischen Produktion und Publikum, ein unübersehbarer Schwarm von Vermittlern, die die Werte bestimmten, ehe sie diese weitergaben, und das Publikum, das urteilslose, war töricht genug, sich alles als eigene Meinung aufschwatzen zu lassen, ohne selbst zu urteilen. Die Folge davon war, daß, wie in der Politik die Mehrheit, so hier der Durchschnitt der Mittelmäßigkeit sich breit vor alle wirklichen und bleibenden Werte lagerte und den Zugang zu ihnen versperrte oder doch erschwerte.

Das waren die Ehren, die der Tag zu vergeben hatte.

Ehrgeizig? – Nein, er geizte nicht nach diesen Ehren. Er hatte dort nichts zu suchen, und er suchte dort nichts, wie nah ihn auch seine Brotarbeit rein äußerlich dem ganzen Treiben jetzt brachte.

 

Aber auch in der sozialen Bewegung fand er noch immer keinen Platz für sich. Bereit zu kämpfen, sah er nicht, wo er hier kämpfen konnte. Alles war Partei, aber eine Partei gegen den Staat gab es nicht. Es hätte auch keine Partei sein können. Es gab unzählige reformatorische Einzelbewegungen (nichts fast, was nicht reformiert werden sollte), aber eine Bewegung, die den Staat in die Gesellschaft reformieren wollte, gab es nicht. Und darauf, darauf vor allem, kam es doch an.

Alle, die eine Änderung wünschten, wandten sich an den Staat, um mit ihm oder durch ihn zu erreichen, was sie wollten und riefen seine Gewalt oder seinen Schutz zu Hilfe, um es zu erreichen. Was hatte er, Ernst Förster, bei ihnen zu suchen, er, der doch eben die Gewalt als die Wurzel alles Übels erkannt hatte?

Alle strebten sie nach Einfluß durch die Macht. Aber als die einzige Macht, die von Bestand sein konnte, sahen sie den Staat. Gab es denn keine Macht, außer der Gewalt? –

Er wollte sehen, wer die waren, welche die Gewalt hatten und sie ausübten.

Er ging also dorthin, wo die Gesetze gemacht wurden – in das Parlament, oder, wie es hier genannt wurde, den Reichstag.

Ein heiß umstrittenes Gesetz sollte zur dritten Lesung und damit zur Annahme gelangen.

Das Haus war überfüllt, aber er erhielt leicht durch einen in dem Hause beschäftigten Kollegen Einlaß. Seine Erwartungen waren gewiß nicht hoch gespannt, aber was er hier sah und hörte, ließ auch die schlimmsten Befürchtungen weit hinter sich.

Welcher Abgrund von Dummheit und Verlogenheit! – Welcher Mangel an Erkenntnis auch in den einfachsten Fragen! – mußte er sich immer wieder sagen, während stundenlang das uferlose Geschwätz in seiner Selbstgefälligkeit und Trivialität über ihn hinwegplätscherte.

Als es aber zuletzt in wüsten gegenseitigen Beschimpfungen, die nicht weit davon entfernt waren, in Tätlichkeiten auszuarten, endete, während dort oben ein würdiger Greis die Glocke schwang und mit mahnenden Worten und Ordnungsrufen die Tobenden zu beschwichtigen suchte, hatte er genug des würdelosen Spieles und verließ das Haus.

Diesen Menschen, die sich benahmen wie Gassen- und die abgekanzelt wurden wie Schuljungen, diese Menschen ohne Würde und, wie es schien, auch ohne Scham, ihnen waren die Geschicke eines ganzen, großen Volkes anvertraut! –

Ihn ekelte.

Denn ein Spiel war es im Grunde nur, wenn auch ein furchtbar ernstes. Sie alle hier, von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken, wollten und verteidigten die Gewalt, und wie wild sie sich auch gebärdeten, verstanden sie sich doch in diesem einen Punkte mit Augurenlächeln. Das stärkste Argument konnten sie gegeneinander nicht gebrauchen. Sie hätten sich mit ihm selbst getroffen und es wäre auf sie zurückgefallen.

Auch dorthin ging er, wo die Gesetze ausgeübt wurden. Hier ging es sehr würdevoll zu. Da saßen oben in schwarzen Talaren, Roben und Baretten die Richter, und vor ihnen stand ein armes Mädchen aus dem Volke, das von irgendeinem Nichtstuer, dem sie in den Weg gelaufen, verführt und geschwängert worden war und die dann, in ihrer Not und Verzweiflung und ihrer sinnlosen Angst vor der Schande, ihren Leib mit Hilfe einer weisen Frau von dem unerwünschten Geschenk vor der Zeit befreit hatte.

Da war ein gestrenger Herr, Staatsanwalt genannt, der mit offenbar schmutzgeübten Händen das arme, kleine Leben durchwühlte und nachwies, wie sie sich des schändlichen Verbrechens gegen das keimende Leben schuldig gemacht und sich so schwer gegen die Menschheit vergangen habe.

Und da war endlich ein von Staatswegen bestellter Verteidiger, dem man es ansah, wie sehr ihn die aufgebürdete Sache langweilte, und der sich ihrer möglichst schnell durch ein paar, gewiß schon hundertmal gebrauchte Redensarten zu entledigen trachtete.

– Daraufhin wurde »im Namen des Königs« das Urteil gesprochen und die Schluchzende von den Bütteln zur Verbüßung ihrer schweren Strafe abgeführt.

Da hatte er auch hier genug. Aber ihn schauderte.

»Im Namen ...« im Namen Gottes, im Namen des Volkes, im Namen der Gerechtigkeit – unter irgend einem Namen mußte natürlich »Recht gesprochen« werden ... Im Namen der Gewalt wäre so viel einfacher und so viel ehrlicher gewesen! ...

Gesetze – wie konnte ein vernünftiger Mensch noch die mindeste Achtung vor ihnen haben, wenn er sah, wie sie gemacht und wie sie ausgeübt wurden! – Und doch beugte sich Alles vor dem magischen Wort! – –

Gesetze – wie viele von ihnen standen nur auf dem Papier und kein Mensch dachte daran, sie zu befolgen! ...

Gesetze – wenn die, die die Macht hatten, sie brauchten, so schufen sie sich Gesetze. Und im Volk herrschte die Ansicht, daß, wenn einer von den Mächtigen selbst in ihre Schlingen und Netze geriet, er mit Hilfe guter Rechtsanwälte, seines Einflusses und seines Geldes immer noch Mittel und Wege fand, durch ihre Maschen hindurchzuschlüpfen. Wie dem auch sei, sicher war, daß nur nach toten und starren Paragraphen, und nicht nach Vernunft und Herz geurteilt wurde, und daß auch hier, wie überall, alles gemacht wurde.

Ihn ekelte. Und ihn schauderte.

 

Reformiert wurde an allen Ecken und Enden mit beängstigender und atemraubender Geschäftigkeit und öffentliche wie private Wohlfahrtspflege wetteiferten miteinander, so daß man sich wundern mußte, wie es bei so viel zärtlicher Nächstenliebe und väterlicher Fürsorge überhaupt noch Elend und Jammer auf Erden geben konnte. Da gab es Mutterschutz und Findelhäuser, Besserungsanstalten für »gefallene Mädchen« und die verwahrloste Jugend, Altersversorgungen und Invalidenrenten, Arbeitslosigkeits- und Unfallversicherungen, Volksküchen und Ledigenheime; Hospitäler und Obdachlosenunterkünfte, Arbeitersiedelungen und Fabrikschutzgesetze, und hundert andere mehr oder minder lobenswerte Institutionen. Denn »das soziale Gewissen war erwacht« ...

Der Arbeiter begann zu fühlen, daß er um den besten Teil seiner Arbeit bestohlen wurde und daß eine geheimnisvolle Macht ihn zwang, für andere statt für sich zu arbeiten. Eine dumpfe Unzufriedenheit hatte angefangen, sich breiter Massen zu bemächtigen.

Da galt es einzugreifen und vorzubeugen, um ihren Ausbruch zu verhüten. Mit bloßem Gejammer über »das Grundübel unserer Zeit« war nichts mehr getan. Dem Untier mußte ein Brocken hingeworfen werden, sonst biß es zu.

Wie die bevorrechtigten Klassen in einem ähnlich dumpfen Gefühl von Schuld und Scham begonnen hatten, sich herabzulassen zu den Enterbten, und durch das »soziale Liebeswerk« diese Schuld von sich abwälzen zu können glaubten, so wollte nun der Staat die Arbeit gegen das Kapital in Schutz nehmen.

Natürlich nur im Rahmen der »bestehenden Verhältnisse«. An den Kernpunkt, die »heiligen« Privilegien, durfte beileibe nicht gerührt werden, denn das hieße ja, ihn selbst, den Staat, »in seinen Grundfesten erschüttern«, und der Arbeit wurde selbstverständlich nur gegeben, was ihr – vorher genommen war. Woher anders sollte es auch kommen, als von der Arbeit? –

So waren denn alle diese schönen Reformen nur Flickwerk auf den alten Rock des Staates, und diese ganze Bettelwirtschaft, dies armselige Lumpentum, war im Grunde nichts als ein infernalischer Trick, den großen Tag der Abrechnung möglichst lange hinauszuschieben und bis zu dem unausbleiblichen zu retten, was eben noch zu retten war.

 

Die soziale Frage war erwacht. Und wie hungrige Wölfe hatten sich alle, die sich berufen fühlten, die Menschen zu bessern und zu retten, und, wie sie sagten, »mitzuarbeiten an dem großen Menschheitswerk«, in unbezähmbarem Tätigkeitsdrang auf diese Frage gestürzt. Zu Bergen türmten sich bei der Bedeutung und dem Umfang der fast alle Gebiete des Lebens umfassenden Frage die Bücher und Schriften, und die Luft erdröhnte von dem Getöse der streitenden Stimmen.

Mit ziemlicher Schärfe teilten sie sich für den, der sie übersah – und Ernst Förster begann, sie zu übersehen – in die, welchen die Änderung und Besserung der sozialen Verhältnisse eine Sache des Gefühls, des Herzens; und in die, denen sie eine Sache des Verstandes, des Kopfes, war: in die, welche in erster Linie eine solche Besserung und Änderung von einer Änderung und Besserung der Menschen, und in die, die sie von einer solchen der Verhältnisse erwarteten.

Die Zahl der ersteren war, da Fühlen so weit leichter und bequemer war als Denken, natürlich die weitaus größere. Alle Ethiker, alle Moralisten und Sittenprediger, alle die Philanthropen und Religionsgläubigen der verschiedenen Richtungen gehörten zu ihnen, und was sie an Mahnungen und Beschwörungen, Bitten und Fürbitten, Belehrungen und Unterweisungen vorbrachten, genügte zwar immer noch nicht, um aus armen, sündigen Menschen Engel, aber vollkommen, sie allesamt verwirrt, sich selbst aber reichlich lächerlich zu machen. In Wirklichkeit kümmerte sich kein Mensch um ihre Salbadereien und die Welt ging ihren harten Tritt an ihnen vorbei und über sie hinweg.

Die anderen, im Gegensatz zu diesen Gefühls-, die Verstandes-Sozialisten, schieden sich wiederum.

Es waren einmal die, welche eine Änderung und Besserung der Verhältnisse nur innerhalb des Staates, mittels des Stimmzettels oder anderer Maßnahmen der Gewalt, für möglich und wünschenswert hielten, die, welche eine Änderung bestimmter Verhältnisse innerhalb des bestehenden Staates oder eine Änderung dieser bestehenden Staatsform in eine andere befürworteten – Sozialreformer, oder, wie sie sich selbst nannten und so gern nennen hörten: Realpolitiker. Alle die sogenannten Linksparteien, die Liberalen und Demokraten, gehörten hierher.

Und es waren die, welche, im Gegensatz zu ihnen und allen anderen, nur in einer radikalen Umwälzung des Staates, in einem Aufgehen des Staates in die von jedem Zwange freie Gesellschaft, in seiner Unschädlichmachung und endlichen Abschaffung die einzige Hoffnung auf gesunde wirtschaftliche Zustände erblickten.

Aber wer waren sie und wo? – Man hörte nicht viel von ihnen; und es waren ihrer offenbar so wenige.

Aber es gab sie. Es mußte sie geben.

Er, der Sucher, verdankte ihren Schriften seine ersten grundlegenden Erkenntnisse von dem wahren Wesen des Staates und der Gesellschaft. – Er würde nicht mehr aufhören nach ihnen zu suchen, und er würde sie finden.

Eine Literatur war geschaffen, die allein ganze Bibliotheken füllte, und ein Heer von Zeitschriften und Zeitungen, alten und neuen, und immer neuen wogte und flatterte um sie herum.

Redlich hatte er, Ernst Förster, der Deutsche, mit jener schrecklichen Eigenschaft «seiner Nation, der Gründlichkeit (die so oft eine so fatale Ähnlichkeit mit Oberflächlichkeit hat) sich durchzufressen versucht. Erst in London, damals, als er hineingerissen wurde in die neue Bewegung; jetzt wieder hier in Berlin, wo er seine freien Stunden opfern mußte. Er hatte Bände auf Bände und zahllose Artikel über zahllose Teilfragen mit Eifer studiert. Aber er konnte auch jetzt noch nicht sagen, daß sie ihn viel klüger gemacht hatten. Überall, fast überall schien ihm das Letzte, das Wichtigste, das, worauf es allein ankam, ungesagt geblieben; und fast alles, das meiste, war nichts, als ein mehr oder minder geistreiches Herumreden um die Frage, auf die es allein ankam, aber nicht ihre Ergründung und Lösung. Was mit einem Satze hätte gesagt werden können, wurde auseinandergezerrt und breitgetreten; und der eine Satz, der entscheidende, blieb schließlich denn doch noch ungesagt ...

Denn immer und überall wurde das soziale Problem von dem Standpunkte aus erörtert: wie es sich von oben her, von den einen für die anderen, lösen ließ; selten, fast nie, von dem, wie ihm schien, einzig richtigen: wie es sich aus sich selbst heraus lösen mußte.

Gründlich sein hieß doch wohl: den Dingen auf den Grund gehen. Das wollte er. Ohne Furcht und Schwanken. Es gab nur einen Fehler des Denkens: die Unlogik. Und nur ein Verbrechen: den Kompromiß.

– Wieder, wie damals in London, warf er alles beiseite, wieder wollte er sich nur auf sein eigenes Sehen und Denken verlassen. Das Leben war kurz. Es genügte gerade, um den als richtig erkannten Weg bis ans Ende zu verfolgen; nicht, um alle die Wege zu gehen, auf denen andere gingen.

Schnell und entschlossen drang er weiter zu den Quellen vor, die seinen ersten Durst wirklich gelöscht.

Die ersten grundlegenden Erkenntnisse waren so gewonnen; Lichter leuchteten auf; Vorurteile fielen, eines nach dem anderen. Sie sollten fallen bis auf das letzte. Er fühlte, wie er vorwärts kam und wie der Weg leichter wurde und leichter.

Jeder Tag fast schenkte seinem Betrachten und Suchen eine neue Erkenntnis. Jede bedeutete ein neues Glück, und es war ihm eine Lust zu leben.

Wie hatte er nur je verzweifeln können!

 

In dieser Zeit, dem zweiten Jahre seines Lebens in Berlin, trat die Liebe in sein Leben.

Sie hatte bisher nicht viel Raum in ihm eingenommen. Die flüchtigen Verhältnisse, wie sie Zufall und augenblickliche, vorübergehende Neigung schufen, verdienten ihren Namen nicht.

Nun kam sie und überleuchtete seine Tage mit ihrem süßen Zauber.

– Er mußte lange um sie kämpfen, die ihm vor allen anderen Mädchen auffiel, als er ihr zum ersten Male in einer Versammlung begegnete; zu der es ihn mit seltsamer und ungekannter Macht zog, als er sie wiedersah; und die er liebte, als er sie kennenlernte.

Sie kam in ihren Anschauungen aus der weitverzweigten Bewegung ihres Geschlechtes, die als ihr Ziel die »Gleichstellung mit dem Manne« verkündete.

So sehr er Anteil nahm an der Befreiung der Frau als Individuum, so gering war dieses Interesse, wenn er sah, wie die Frauen, welche um »ihre Rechte kämpften«, diese Rechte nur darin erblickten, dieselben Torheiten und Verbrechen begehen zu dürfen wie die Männer – wie ihnen nur daran lag, an der Ausübung der Gewalt über andere teilzunehmen.

Er sagte das der Geliebten. Er zeigte ihr, wie es nicht darauf ankam, daß die Frau als Frau, sondern, daß sie als Individuum frei werde, und daß es für die Frauenfrage, wie für jede andere soziale Frage, nur eine Lösung geben könne: die durch die Freiheit; wie ökonomische Unabhängigkeit auch hier das erste Erfordernis zu sozialer Gleichstellung mit dem Manne sein und die eine der anderen von selbst folgen müsse; wie sie erlangt werden könne; und wie es also eigentlich gar keine »Frauenfrage« gäbe ...

In vielen und langen Gesprächen, die auch ihm manche Klarheit brachten, zog er sie nach und nach hinüber zu sich; und langsam wurde sein Standpunkt der ihre.

Vorher aber mußte noch vieles, was trennte, zusammengerissen werden, ehe sie zueinander gelangen konnten. Äußeres: Einmischung und Widerstand von Angehörigen und Verwandten der engen Kreise, aus denen sie kam. Inneres: letzte Vorurteile, nicht mehr anerkannt, aber doch noch zu tief wurzelnd, als daß der Boden nicht erst umgeackert werden mußte, um sie bloßzulegen und auszuroden.

So sehr er sie liebte, er dachte nicht daran, sie zu heiraten, ihre Leben für immer aneinander mit unlöslichen Ketten zu binden. Nicht um die Welt vermochte er einzusehen, warum es ein Verbrechen sein sollte, wenn sich zwei Menschen in Liebe vereinten, ohne andere erst um ihre Erlaubnis zu fragen; warum diese Vereinigung allein anständig sein sollte, weil ihre Namen in Bücher eingetragen und sie mit Worten und mit Wasser besprengt worden waren.

Eine Ehe schließen, das bedeutete: sich freiwillig unter eine Sitte und unter Gesetze begeben, die ihm, die eine geschmacklos, die anderen furchtbar erschienen.

Geschmacklos jene. Man denke: zwei Menschen machen dritte zu Zeugen ihrer intimsten Handlungen; stellen ein Bündnis, das frei und unberührt sein sollte wie kein anderes, unter fremde Billigung; zerren auf die Straße, was einzig in die Verschwiegenheit der vier Wände gehört! – Konnte Liebe plumper und roher ihres Duftes beraubt werden? ...

Furchtbar diese, die dem einen Menschen lebenslänglich Gewalt über den anderen gaben; ihn zwangen, sich ihm hinzugeben, auch wenn er es nicht wollte oder nicht mehr wollte; ihn banden mit Ketten, die um so drückender und unlöslicher wurden, je mehr die Verhältnisse und die Zeit sie härteten.

Nein, er würde nie heiraten. Und wenn die Ehe das Glück verbürgt hätte, er hätte es nicht getan ...

Schuf sie nicht vielmehr das Gegenteil vom Glück? – Gab es ein wahreres Wort, als daß die Ehe das Grab der Liebe war? – Überall sah er das sprichwörtlich gewordene Elend der Ehe. Hier lag es offen zu Tage, dort verbarg es sich scheu. Er brauchte nur an die Ehe seiner Mutter zu denken, von deren Jammer er wenig wußte, aber manches zu ahnen begonnen, um das Wort allein schon zu hassen.

Wie alle jungen Männer glaubte auch er sie ewig zu lieben, die er liebte; aber so blind machte ihn seine Liebe nicht, daß er es ihr sagte und zuschwur.

Wie alle jungen Mädchen wollte auch sie geheiratet sein. Wie alle sagte sie ihm, er liebe sie nicht genug, als sie hörte, daß er es nicht wolle; und lange waren ihre Argumente gegen seine Beweisführungen nur Tränen, obwohl sie viel zu vernünftig und freidenkend war, um ihm im Grunde nicht Recht zu geben.

Dann aber kam sie eines Tages zu ihm, und es wurde zwischen ihnen, wie es sein sollte.

Sie lebten weiter für sich, jeder in seiner Häuslichkeit: er in seiner kleinen Wohnung, wo sie ihn besuchte, und sie bei ihren Leuten, die nicht mehr gefragt wurden. Sie waren glücklich, wenn sie beieinander waren, aber auch sie sah ein, daß es nicht nötig war, immer zusammenzusein, um glücklich zu sein; und sie begriffen, daß sie es dann vielleicht weniger gewesen wären, als jetzt, und nicht immer so, wie jetzt.

Sie waren glücklich und kümmerten sich nicht um das Urteil anderer, nicht um ihre Billigung und nicht um ihre Verurteilung; und wenn sie hier und da auffielen, so war es, weil von diesen beiden jungen Menschen der Schimmer eines so echten Glückes ausging, wie man es offenbar nur selten zu sehen gewohnt war.

 

Als das zweite Jahr zu Ende ging, stellte es ihn vor eine folgenschwere Entscheidung.

Die Gewalt, die er erkannt hatte als das, was sie war, und deren Rechte über seine Person er nicht anerkannte, streckte ihre Hand nach ihm aus, diesmal zu einem mörderischen Griff – er sollte, wie es hieß, der »allgemeinen Wehrpflicht« Genüge leisten. Das hieß: er sollte auf Jahre hinaus in eine Uniform gesteckt und aus einem Menschen zu einer willenlosen Maschine gemacht werden. Das hieß: er sollte in einer Umgebung von Schmutz und Rohheit in dem Gebrauch von Waffen unterrichtet werden, um sie dann, wenn es verlangt wurde, gegen Menschen zu richten, die er nicht kannte, und die ihm nichts zuleide getan hatten, gegebenenfalls selbst gegen die Menschen, unter denen er lebte. Das hieß: er sollte einen Schwur leisten, diese Gewalt, dieselbe Gewalt, die ihn zu diesem allem zwang, gegen andere Gewalten zu verteidigen. Das hieß, mit einem Wort (und es gab kein anderes dafür): sich in die tiefste Entwürdigung begeben, in die ein Mensch von anderen Menschen gezwungen werden konnte! ...

Sie sagten, daß diese Bereitschaft in den Waffen notwendig sei zur Verteidigung des Vaterlandes, falls es einem Angriff feindlicher Nachbarn ausgesetzt würde. – Er wußte es besser.

Schon, als er noch ein kleiner Kerl gewesen war und man ihn quälte mit diesen endlosen Reihen von Kriegen und Schlachten, aus denen allein die Weltgeschichte zu bestehen schien, dachte er zuweilen: wenn diese Kaiser und Könige mit den komischen Namen etwas miteinander haben, warum gehen sie denn nicht selbst aufeinander los und machen ihre Sache unter sich ab, wie es in jedem ehrlichen Streit unter uns Jungen Sitte ist?

Jetzt lächelte er natürlich über diese kindliche Auffassung, aber er fand doch das Stück gesunden Empfindens wieder, das in ihr steckte. Er wußte jetzt, daß Kriege nicht geführt wurden, weil die Völker sie wollten, sondern daß die Völker in sie hineingehetzt und hineingezwungen wurden, weil Interessen, bisweilen offene, meistens jedoch dunkle und versteckte, die nicht die Interessen Aller, sondern die Interessen einer Minderheit waren, aufeinanderstießen und zu einer gewaltsamen Lösung gebracht wurden: weil Grenzen und Bereiche der Macht dort beschränkt und hier erweitert werden sollten.

Mit einem Wort wieder: weil noch nicht genug gestohlen und geraubt war, sondern weil noch mehr gestohlen und geraubt werden mußte, um Habgier und Unersättlichkeit zu befriedigen.

Er wußte heute noch mehr.

Er wußte, daß Kriege von heute letzten Endes nur das letzte Mittel der Gewalt waren, sich in ihren eigenen Grenzen zu behaupten – das erwachende Mißtrauen der Massen gegen das Raubsystem im Innern abzulenken durch Raubzüge nach Außen.

Er wußte dies, und weil er es wußte, war er entschlossen, dieses Unrecht, das er anders nicht hindern konnte, für seine Person nicht mitzumachen. Wenn er aber gezwungen werden sollte an ihm teilzunehmen – und selbstverständlich würde es werden – mußte er sich ihm entziehen.

Mochten sie es Fahnenflucht nennen. Er hatte nicht zu ihrer Fahne geschworen und konnte daher vor ihr nicht fliehen. Es war seine Sache, zu entscheiden, zu welcher Fahne und Farbe er sich bekennen wollte.

Mochten sie es Verrat am Vaterlande nennen. Er hatte das Recht zu leben, wo er wollte, und nicht das Land war sein Vaterland, in dem er zufällig geboren war, sondern das, welches ihm die günstigsten Lebensbedingungen bot; das Land, das er sich wählte, nicht das, welches man ihm anwies.

Er konnte es wohl verstehen, wie man seine Heimat lieben und sie verteidigen konnte, den Fleck Erde, auf dem man zur Welt gekommen und aufgewachsen und mit dem man durch tausend Fäden der Erinnerung verknüpft war. Aber Vaterland? – Das war ein völlig haltloser und wechselnder Begriff: geographische Grenzen, heute so und morgen so benannt, hier so und dort so gezogen, je nachdem der Sieg sie erweiterte, die Niederlage sie einengte; Grenzen, innerhalb derer die »Majorität« herrschte.

Wie Unzählige waren nicht schon diesem schrecklichen Irrtum der Verwechselung der beiden Begriffe zum Opfer gefallen! – Wie Unzählige hatten nicht ihr Leben gelassen, weil sie glaubten, ihre Heimat zu verteidigen, während sie in Wirklichkeit nichts anderes verteidigt hatten, als die Machtgelüste von Machthabern, die sich ihren falschverstandenen Patriotismus zunutze machten.

Denn Patriotismus, das war auch so ein Wort, mit dem ein Mißbrauch sondergleichen getrieben wurde, während hinter ihm der Moloch des Militarismus sein scheußliches Antlitz verbarg.

Ihm sein junges Leben auch noch hinwerfen? – Er dachte nicht daran.

Mochten sie also nennen, wie sie wollten, was er tat. Ihm war es gleich. Er hatte die Furcht vor Worten verloren; und er hatte keine vor den Menschen, die sie brauchten.

Es gab kein Unrecht, das sie nicht mit ihren Worten verteidigten; und keine Beschimpfung, die sie nicht gegen die schleuderten, die sich weigerten, ihnen bei der Ausübung dieses Unrechts zu helfen. Welchen Wert also konnte das Urteil dieser Verteidiger des Unrechts haben? – Keinen.

– Es gab kein Schwanken mehr für ihn. Aber jetzt durfte es auch kein Zaudern mehr geben.

Er hatte den Zeitpunkt hinausgeschoben, so lange es ging. Jetzt ging es nicht mehr.

Bereits zweimal war er vorgeladen worden. Fremde Hände hatten seinen nackten Körper betastet; er war nicht angesprochen worden, wie es unter anständigen Menschen Sitte ist, sondern angebrüllt, wie ein Vieh; und gleich einem solchen sollte er sich nun zur Schlachtbank führen lassen. Niemals.

Er hatte sich entschieden. Entschlossen war er längst gewesen.

 

Wieder ergab sich die Wahl des Landes, auf das er seine Blicke zu lenken hatte, von selbst. Es konnte nur die Schweiz sein.

Im Falle eines Krieges war die Schweiz das Land, das aller Voraussicht nach am längsten seine Neutralität würde bewahren können; und wenn man es die freie Schweiz nannte, so traf das, wenn es auch im Grunde falsch war (denn die Schweiz war ein Staat, wie jeder andere Staat und daher nicht frei) doch insofern zu, als in ihm, dem konstitutionellen Lande, die politische Freiheit der Bürger eine größere war, als hier, in dem monarchisch regierten; und mit ihr manche andere Freiheit.

Es war auch das Land, in das seine Mutter mit ihm, dem Kinde, gegangen, als sie sich dem Joch ihrer Ehe entzogen; seine ersten Erinnerungen verknüpften sich mit ihm, seinen weißen Gipfeln und blauen Seen zwischen grünen Matten und steilen Wänden; und er selbst hatte es späterhin, vor zwei Jahren, auf kurze Wochen gestreift.

Er bereitete alles vor, veräußerte seine kleine Einrichtung und nahm mit sich nur in strenger Auswahl als sein teuerstes Besitztum neben einigen Andenken die Bücher, die er lieben gelernt und denen er so unendlich viel verdankte, die ihm zu Quellen des Lichtes geworden waren in der Dunkelheit ringsumher, von denen er sich nie zu trennen vermocht hätte und aus denen er immer wieder schöpfen würde – wenige Bücher, ihm aber die größten.

 

Das Schicksal bewahrte ihn vor dem Äußersten: mit einem ganzen Leben zu brechen und alles, was dem Menschen am teuersten ist, hinter sich zu lassen, für immer.

Er hatte keine Familie mehr. Die Genossen seiner ersten Jugend, auch der erste seiner Knabenzeit, waren für ihn verschollen; die alten Freunde im Walde längst zur Ruhe gegangen.

Aber einer Wahl wurde er nicht enthoben und schwer genug wurde sie ihm.

Wieder kämpfte er lange um sie, die er liebte. Er schlug ihr vor, mit ihm zu gehen – als die geliebte Freundin und Gefährtin auch weiterer Jahre. Aber sie entschied sich anders. Zuviel hielt sie zurück – Familie und Verhältnisse, von denen sie sich nicht zu trennen vermochte, und all das zusammen war stärker noch, als ihre Neigung zu ihm.

Es schmerzte ihn. Aber wie hätte er ihr zu zürnen vermocht? – War nicht das, was ihn trieb, ebenfalls stärker als seine Liebe?

Er blieb fest, wie damals, als er sich einer Sitte nicht beugen wollte, die freiwillig anzuerkennen und mitzumachen ihm eine unentschuldbare Feigheit gewesen wäre. Feig wäre es ihm nicht erschienen, jetzt zu bleiben und sich der Gewalt zu beugen; nur – unmöglich.

Sie schieden als Freunde. Es war ein Schmerz für ihn, wie er ihn so stark seit den Jahren der Kindheit nicht mehr empfunden, damals, als er seine Mutter verlor.

Ein Sucher, der schon daran war, ein Finder zu werden, kehrte zurück in das Land, das ein Verzweifelnder vor zwei Jahren verlassen.

Denn das war er aus dem Zweifler und Verzweifler geworden: ein Sucher. Ein Sucher, der Boden suchte, auf dem er stehen konnte. –E in Sucher und ein Kämpfer: kein Kämpfer im Sinne eines Streiters im offenen Kampfe des Tages und mit diesem Tag, sondern ein Kämpfer um die Erkenntnis in der eigenen Brust.

Noch war er es, ein Sucher ... Seine Zweifel waren noch nicht ganz geschwunden, aber ihrer Lösung war ein Ziel gegeben. Nichts war mehr nötig, als diesem Ziel jetzt nachzugehen. Aber ganz vergangen war die Verzweiflung trüber Tage: in einem Raum zu stehen und sich bedroht zu sehen von einem unsichtbaren Feinde, den er nicht kannte und den zu stellen unmöglich schien.

Nicht leer mehr war der Raum und nicht mehr dunkel. Denn hell war das Licht hereingebrochen, und nun erkannte er auch das grauenhafte Wesen in seiner Mitte: es zeigte ihm einen Koloß aus Eisen, dessen furchtbarer Schatten die letzten Winkel des Lebens erfüllte, ein Ungeheuer von unförmlicher Gestalt, wie ein Götzenbild aus fernen Zeiten, und vor dem die Menschen opferten wie einst.

Aber wie entsetzlich auch sein Anblick war – wer näher trat und es zu betrachten wagte, sah, daß dieses blutige Gebild von Eisen hohl war und daß es auf tönernen Füßen stand.

Kein leeres Wort mehr war ihm das Wort, welches ihn vor allen anderen Worten der Sprache angezogen von Anbeginn und das er liebte wie kein anderes. Eine Verheißung war es ihm geworden in diesen Jahren, eine sichere; ein Versprechen, dem er vertraute; und der Tag nun nahe, an dem er es ganz verstehen sollte.

Er würde die Freiheit suchen, und er war gewiß, sie zu finden. Und wenn die Nacht sie versteckt hielt hinter Mauern und wenn die Gewalt sich vor sie stellte – er würde sie finden! Denn wieder rief ihn eine Stimme jetzt, dringender, als je, und so sehnsüchtig, wie nie zuvor.

Es war die Stimme, die er so oft und immer gehört.

Jetzt wußte er: es war die Stimme der Freiheit.

 

Zum ersten Male in diesen Jahren des Suchens wurde ihm bewußt, daß ihm, wenn sonst keine andere, so doch eine Gabe verliehen war, die: die Dinge und Menschen unvoreingenommen zu sehen; Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden; und – einen Gedanken folgerichtig zu Ende denken zu können. Und ihm schien, wenn er andere reden hörte, daß das immerhin etwas sei.

In Wirklichkeit war es alles.

Diese Gabe hatte ihn zu der Erkenntnis geführt, vor der er jetzt als vor der wichtigsten seines bisherigen Lebens stand: daß die Gewalt das Übel und daß der Staat der Feind war. Diese Gabe hatte ihn davor bewahrt, in die Schlinge zu fallen, in die die meisten gerieten: daß die soziale Frage, um deren Lösung es sich handelte, durch die Gewalt und mittels des Staates gelöst werden konnte.

Diese Gabe hatte ihm geholfen, dem großen Schwindel auf die Spur zu kommen, mit dem die einen Menschen die anderen bestahlen und betrogen, unterwarfen, knechteten und beaufsichtigten, lähmten und vergifteten.

Welche Erkenntnis! – Welch größere wohl konnte es geben! Er faßte sie noch einmal zusammen:

Gewalt – das künstliche Hindernis auf dem Wege natürlicher Entwickelung.

Der Staat – die verkörperte Gewalt.

Er – der Angreifer, und daher der Verbrecher.

Der Staat – der Feind, der größte; ja, der einzige. – Förster jauchzte auf.

Alles in ihm straffte sich. Seine Augen waren klar und hell. Und in solchen Stunden war die Flamme in ihnen Brand.


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