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Drittes Kapitel. Die Zweite Fahne

»Die gesetzgebende Gewalt mag so vernünftig sein, als sie will: es hilft dem Staate nichts, wenn die ausführende nicht mächtig ist.«

Goethe

 

I

Ein paar Jahre nach dem Umsturz ließ ein Prinz von Preußen seinen Hausrat durch Auktion verkaufen, wobei auch die Flöte Friedrich des Großen ausgeboten wurde. Eine Gruppe Potsdamer Offiziere beschloß, diese Reliquie dem Hause Hohenzollern zu erhalten, kam zur Versteigerung, und einer sagte dem Prinzen: »Wir dulden nicht, daß dieses Kleinod in profane Hände wandert. Wir wollen uns alle wie ein Mann vor die Flöte des großen Königs stellen.«

Der Prinz sah sie kalt an und erwiderte: »Hätten Sie sich damals, am 9. November so entschlossen vor den König gestellt, so brauchte die Flöte gar nicht verkauft zu werden!«

Die Flöte ging in bürgerliche Hände über, so wie die Republik. Auf der Bronzetafel der Geschichte ist keines Junkers Name eingeritzt, der nach dreihundertjähriger Tradition für seinen König, für die alte Fahne, für seinen Offizierseid gefallen wäre. Die bürgerlichen Seeoffiziere Zenker und Weniger, die sich beim Aufstand der Kieler Matrosen weigerten, die rote Fahne aufziehen zu lassen, ließen sich vor der Kriegsfahne des Schiffes »König« niederschießen; sie und ein alter General, der sich in Goslar aus Gram vor dem Denkmal Bismarcks erschoß, das sind die drei einzigen Helden, die die tausendfältig wiederholte Phrase von preußischer Königstreue verwirklicht haben, als nur noch Nachteil und Gefahr damit verbunden war. Der Dritte, der eine Geste machte, war ein junger Offizier, der im Hof des Berliner Polizeipräsidiums beim Befehl »Nicht schießen« öffentlich seinen Degen zerbrach; dergleichen hatte er wohl einmal bei Wildenbruch im Königlichen Schauspielhaus gesehen. Man hat nichts mehr von ihm gehört. Außer dem alten General erschoß sich aus Gram um sein Land am 9. November nur noch der Jude Ballin.

Sonst rührte sich unter den Zehntausenden keine Hand. Wo waren damals alle jene, die schon nach ein paar Monaten gegen die »November-Verbrecher« agitierten, die mächtigen Armeeführer, Admirale, Feldmarschälle, Volkstribunen? Sie sagten, die Flucht ihres Königs habe sie mattgesetzt? War also das Ideal an die Person gebunden, die Institution nicht ewig, so konnte sie kaum von Gottes Gnade sein. Hat etwa Papst Alexander Borgia die Heiligkeit des Stuhles Petri für immer ausgelöscht, weil er selber ein Abenteurer war?

Die deutsche Revolution hat ein neues Kuriosum in die Geschichte getragen. Offiziere und Junker, Vasallen und Paladine des Königs brachen ihm, als er fortging, die Treue; die einzigen, die sie ihm hielten, waren die Bürger, es war das Volk. Denn mit Ehrfurcht trat es vor seine Fürsten hin, soweit sie nicht im ersten Schreck entflohen waren, und baten mit verlegener Miene doch abzureisen. Als die Kronprinzessin im Potsdamer Schlosse Soldaten vorfahren hörte und mit Schrecken, von ihren Kindern umgeben, sich an die Gefangennahme der Zarin erinnerte, trat der Abgesandte ein, stand stramm und meldete in militärischem Tone, wie er's gelernt hatte:

»Eure Majestät steht unter unserem Schutz. Alles ist bewacht. Wir bitten um Euer Majestät Befehle.«

Keinem der 22 deutschen Könige und Fürsten, keinem ihrer Söhne, Neffen oder Vettern, – es sollen im Ganzen 120 gewesen sein – hat ein deutscher Soldat oder Arbeiter etwas weggenommen, keinen von den Tausenden ihres hohen und niedrigen Hofgesindes hat einer angefaßt, und wenn man vier Wochen später durch die kleinen Städte fuhr, versicherten einem die Bürger mit Stolz, ihr Herzog sei unter allen der letzte gewesen, der abdanken mußte.

Nur der Fürst von Waldeck rettete die Ehre, indem er sich weigerte abzugehen, mit der Begründung, er sei auch »Landesherr von Pyrmont« und als solcher noch nicht zum Abgang gedrängt. Da nannten ihn seine Untertanen »den Trotzigen«, bis er am Ende doch fortgehen mußte. Er glich jenen Oboisten in Haydns humorvollem Orchestersatz, in dem ein Musiker nach dem andern sein Instrument hinlegt und leise den Saal verläßt, bis mit einer Schluß-Kadenz als letzte auch die Erste Violine verschwindet.

Auch die Hohenzollern waren vom Volke herzlich gebeten worden dazubleiben. Am 6. November hatte Ebert, Chef der Arbeiter-Fraktion, dem General Groener vergeblich einen Sohn des Kaisers als Nachfolger vorgeschlagen. Am 8. entschuldigte sich der sozialistische Minister Scheidemann vor dem Kabinett mit den Worten: »Wir haben uns die größte Mühe gegeben, auf die Massen beruhigend einzuwirken. Wenn sie in der Kaiserfrage doch in Bewegung gekommen sind, so haben dies in erster Linie die bürgerlichen Blätter gemacht. Uns ist der Weg zum Kanzler wirklich furchtbar schwer geworden! Wenn aber die Abdankung und die Einsetzung eines Kaisersohnes jetzt nicht erfolgt, so wird die Frage der Republik akut.« Und als sich am 9. November die Monarchie durch Einsetzung eines Sohnes durchaus nicht mehr retten ließ, bat Ebert den Prinzen Max, Thronfolger im Großherzogtum Baden, vergeblich, als Reichsverweser zu bleiben; genau wie 1848 die bürgerliche Revolution irgend einem Erzherzog dasselbe Amt antrug. Ohne fürstliche Protektion konnten sich die Deutschen einen freien Staat nicht vorstellen. Ebert selber wollte die Macht aus den Händen des Prinzen Max nur nach Rücksprache mit seinen Freunden annehmen und nahm sie schließlich nur unter der Bedingung, daß seine Ernennung zum Reichskanzler »im Rahmen der Reichsverfassung« erfolge.

Es war die wunderlichste Revolution der Geschichte: der Träger der alten Macht bat den angeblichen Landesverräter, sie ihm abzunehmen. Der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, Wels, beschwor die Arbeiter am Morgen des 9. November, ihre Betriebe nicht zu verlassen, und Scheidemann rief die bürgerliche Republik vom Reichstage schließlich nur aus, weil der schärfere Liebknecht vor 10 Minuten die Rote Republik vom Schloß her ausgerufen hatte. Es war eine Konkurrenz der Balkone, die in jener Mittagsstunde das Schicksal entschied, und »zornesrot« schrie nach der Verkündigung Ebert seinen Genossen an:

»Das durftest Du nicht! Über die Staatsform hat die National-Versammlung zu entscheiden!«

Aber die Meuterer, aber die Matrosen! Als sie in den letzten Oktobertagen den Gehorsam verweigerten, war's nur, weil ihnen eine Seeschlacht befohlen wurde, die sie nach dreijährigem Hafenleben plötzlich suchen sollten, weil und obwohl Hindenburg den Abbruch des Krieges ausgesprochen hatte. Was sie dann forderten, am 5. November, war nichts als dies: Freilassung ihrer gefangenen Kameraden, keine schlechte Eintragung in ihr Führungsbuch, einheitliches Essen, keine Grußpflicht außerhalb des Dienstes und schließlich Veränderung der Anrede des Offiziers: in dritter Person nur am Anfang: »Herr Kapitän haben befohlen –«, weiterhin aber »Sie«. Dies war die Forderung von 80.000 Matrosen, die damals 3000 Offiziere an Bord und alle Geschütze in ihrer Macht hatten.

Die Ordnung bei den Arbeiter- und Soldatenräten war so groß, daß Hindenburg selber ihre Unterstützung befahl, worauf sie in Dresden und anderen Orten Offiziere hineinnahmen; die Offiziere von Königsberg bedankten sich, indem sie ihnen 44 Gänse aus ihrer Gänse-Mästerei übergaben. Daß Ordnung in Deutschland vor Freiheit ging, noch im chaotischen Augenblicke, wo alles an Freiheit zu erringen war, zeigte sich in den verrufenen Großstädten am besten. Als Hamburgs Sozialisten am Morgen des 9. November das Gewerkschaftshaus von ihren schärferen Brüdern, den Unabhängigen, besetzt fanden, erwirkten sie beim bürgerlichen Richter eine »Einstweilige Verfügung«, zeigten diese am Tore vor, worauf die Unabhängigen abzogen; und als Eberts Truppen die Matrosen im Berliner Marstall belagerten, kam es am Nachmittage zu einem Waffenstillstand: alles erklärte, heut ist Weihnachten, wir gehen heim zu Muttern und werden nach den Feiertagen weiter kämpfen. Auch Liebknechts Truppen hätten die völlig unverteidigten Gebäude der Wilhelmstraße besetzen können, wenn nicht grade Weihnachten war.

Ein paar hundert unterernährte Matrosen, die das Berliner Schloß wochenlang besetzt hielten, standen führerlos plötzlich in den Kaiserlichen Kellern, die in der Art einer Lebensmittel-Ausstellung alles enthielten, was deutsche Nasen seit vier Jahren sonst nicht gerochen hatten. Werden sie sich nicht darauf stürzen und ein Gelage halten »wie noch keiner in Illyrien?« Sie setzten eine Kommission zur Verwaltung ein, sicherten die Türen dieser 54 unterirdischen Räume mit Stinkbomben und Posten, nahmen die vom Hofmarschall-Amt zurückgelassenen Bücher und führten sie genau so weiter, indem sie Rationen täglich an ihre Kameraden verteilten. Als sie später in den oberen Sälen Maschinen-Gewehre an den Fenstern aufstellten, legten sie Zeitungspapier unter, um das Parkett zu schonen. Nach der Beschießung des Schlosses durch ihre feindlichen Brüder ordneten sie im Schloßhofe die Reste der zerschossenen Mauern in drei sauber gestaffelte Haufen: Kalk, Eisen, Glas.

So waren auch nach der Beschießung Deutschlands die Bürger in drei Haufen geordnet: die alte Macht, die neue Macht und die Radikalen. Die Frage war in dieser Revolte nicht, welche Partei mehr Mut, sondern welche mehr Angst hatte. Da die Barrikaden nicht aus Steinen und Wagen, sondern aus Weltanschauungen aufgetürmt, die Waffen nicht Kanonen und Gewehre, sondern Stimmen und Reden waren, so fehlte dem Ganzen jener Elan, der alle Revolutionen entschieden hat. Nur dort, wo geschossen wurde, gegen die Radikalen, war er da und hat, da Zwei gegen Einen standen, zum Untergang der Republik viel beigetragen.

Auch hier entscheiden die ersten Schritte: das deutsche Schicksal, und so auch die weitere Laufbahn Hindenburgs, ist grade in diesen ersten Wochen der Republik geformt worden. So lange der Gegner noch Furcht hat, Gewalt oder einen metallenen Ton erwartet, achtet er die neue Macht; steht er lauschend in seinem Verstecke, angespannten Ohrs und vernimmt nichts, so tritt er lächelnd hervor, stößt leise seinen Kameraden an und sagt: Wo nichts zu fürchten ist, ist etwas wieder zu gewinnen!

 

II

Hindenburg – denn nun regiert er allein und die Gemeinschaft mit dem General Groener hat nichts mehr von Ludendorffs gewisser Magie – Hindenburg hatte den Bürgern, die er an seiner Stelle den Waffenstillstand schließen ließ, noch als Kaiserlicher Feldmarschall die Bedingungen in Spa mitgegeben. Als Kaiserlicher Minister saß Erzberger mit seinen drei Begleitern am 8. November im Waggon des Marschalls Foch im Walde von Compiègne, eine Kaiserliche Regierung empfing und publizierte die Bedingungen des Feindes, die am 9. morgens ganz Deutschland las. In diesen Tagen verhüllten noch Zensur, Verbote, Belagerungszustand und die Noten eines unbekannten Prinzen den Blick der Menge.

Foch hatte gemäß der Grundlage Räumung, Abgabe von Waffen und Bahnwagen, Auslieferung der Flotte gefordert, darüber hinaus aber, also gegen die erste Abrede, Besetzung des Rheinlandes und einseitige Rückgabe nur der fremden Gefangenen. Diese entschieden ungerechte Bedingung hatte Erzberger bestritten, im Vertrauen auf Hindenburg. Hatte dieser nicht in mehreren Dokumenten im Laufe des Oktober erklärt, nur ein anständiger Friede auf Grund von Wilsons 14 Punkten wäre abzuschließen, sonst lieber bis zum Untergang weiter zu kämpfen?

Doch hier, wie in der Kaiserfrage, trat ein Umschwung in Hindenburgs Herzen von heut auf morgen ein, den niemand erwartet hatte. Am 10. drahtete er aus Spa an seinen Unterhändler Erzberger:

»In den Bedingungen muß versucht werden, Erleichterung in folgenden Punkten zu erreichen: Verlängerung der Fristen, keine neutralen Zonen im Rheinland, weniger Waggons, Blockade, Gefangene.« Dann aber fährt er fort: »Gelingt Durchsetzung dieser Punkte nicht, so wäre trotzdem abzuschließen.«

Trotzdem! Mit Schrecken las Erzberger dieses Wort: nun war er gezwungen, alles zu unterschreiben. Der Mann, der 16 Monate vorher den ersten halben Friedenswillen der Volksvertreter ausgesprochen, der erste Bürger, der gewagt hatte, die Zahlen der Flottenleitung als falsch, die Politik der Feldherrn im U-Bootkriege als verkehrt zu bezeichnen, saß nun, von drei Zeugen umgeben, als einziger Deutscher mitten auf dem Schlachtfelde dem unbewegten Gesichte des Siegers gegenüber und mußte auf Hindenburgs Geheiß alles unterschreiben, was der Feind forderte, – ganz wie im Februar der Bürger Trotzki dem unbewegten Gesichte des Generals Hoffmann gegenüber gesessen. Doch hinter Trotzki hatte kein russischer Feldherr gestanden, ihm zu befehlen; er hatte diesen Zaren sein Leben lang, den Krieg drei Jahre lang bekämpft und mußte die tragische Rolle jedes neuen Führers spielen, der die Macht aus dem Zusammenbruch übernahm. Jetzt aber und hier saß ein Bürger, der vor drei Tagen noch als des Kaisers Minister ins Lager des Feindes gefahren, der von rückwärts vom Feldherrn des Kaisers geleitet war und handeln mußte, nach Geheiß.

Warum erhob er sich nicht, wie Trotzki dies vor ihm und Graf Rantzau es nach ihm getan, brach die Verhandlung ab, gab der Regierung und dem Feldherrn seinen Auftrag zurück und zwang diesen nun selber zu unterschreiben? Freilich mußte für jene beiden ein anderer Russe und ein anderer Deutscher am Ende doch seinen Namen hergeben. Die Demütigung aber, an deren Vorgeschichte sie keine Schuld traf, hatten Trotzki und Rantzau doch andern Männern überlassen. Daß Erzberger in dieser Stunde das »Dennoch« Hindenburgs als Befehl erfaßte und unterschrieb, war die Folge der Legende von Tannenberg; es hat ihn das Leben gekostet.

Vier Tage später verbrachte Hindenburg in Kassel einen der seltensten Tage seines langen Lebens. Ungewiß, was seiner wartete, gerüstet, daß ihn irgendein Trupp Soldaten gefangen nähme, war er mit dem festen Mute, der seinem König und seinem Kameraden fehlte, mitten nach Deutschland gefahren. Noch als der Zug in Kassel hielt, wo er sein Hauptquartier jetzt aufschlagen wollte, war er des Empfanges nicht ganz sicher. Würde er nicht betrunkene und raubende Söldnerhaufen finden, wie er's in den Geschichten anderer Revolutionen gelesen? Würden sie ihn nicht beleidigen? Die Achselstücke hätte der Alte nicht hergegeben! Doch was geschah? Sein Begleiter, Hauptmann von Wallenberg, erzählt:

»Die auffallende Ordnung, der freundliche und ehrerbietige Empfang taten dem Herzen des Feldmarschalls wohl. Der Arbeiter- und Soldatenrat, nicht mit roter, sondern schwarzer Binde, meldete sich dienstlich, und er hatte das Gefühl, daß die an der Allee stehenden Menschen es darauf anlegten, dem ernsten, treuen Manne mit der Äußerung ihrer Hingabe wohlzutun … Nachmittags kamen zahlreiche Abordnungen, um dem Feldmarschall zu huldigen. Eine große Anzahl Kinder umringte ihn und sang. Der Feldmarschall war erschüttert von der Liebe, die ihm aus den Kinderherzen entgegenschlug. Die Tränen stiegen ihm in die Augen, und er sagte schluchzend: »Ja, die Zeit ist furchtbar schwer. Aber wir wollen auf Gott vertraun, dann wird es wieder besser werden.«

»Hindenburg gehört dem deutschen Volke und Heere,« hieß es im Aufruf des Kasseler Arbeiter- und Soldatenrates. »Nie hat er in der Größe seiner Pflichterfüllung uns näher gestanden als heute. Seine Person steht unter unserem Schutz. Der Feldmarschall trägt die Waffen, ebenso werden sie die Offiziere und Soldaten des Hauptquartieres behalten.«

Nun aber sind die Herren hungrig und wollen essen. Der Hauptmann schreibt: »Die Verpflegung im Hotel wurde dienstlich geliefert. Sie war erbärmlich schlecht, auch in der Zubereitung. Mitten zwischen Angestellten und Offizieren saß der Feldmarschall und löffelte aus einem Napf eine Suppe, deren Zusammensetzung für Magen und Zunge ein Rätsel war. Es lag vielleicht ein klein wenig Absicht darin, der obersten Spitze des Heeres die Not der Zeit recht fühlbar zu machen.«

Staunend sitzt der Hauptmann vor dieser Suppe. Da er in seinem Hauptquartier von der Not der Zeit nur immer dauernd gelesen, kann er die Bestandteile dieser Suppe nicht enträtseln, die alle andern Deutschen seit zwei Jahren herausschmecken, denn sie mußten zum Erwerbe dieser rätselhaften Kräuter und Rüben vorher ein paar Stunden Schlange stehen. Offenbar sind die Herren des Großen Hauptquartiers, die so viel mehr vom Kriege wissen als alle andern Deutschen, mindestens sind sie in diesem Saale die einzigen, die bis zum 15. November 1918 noch nie eine Kriegssuppe aus einem Napf gelöffelt haben; denn während sie das Erzbecken von Briey und die Getreidefelder bis zum Peipussee als unerläßlich zur Ernährung des deutschen Volkes bezeichneten, war unversehens dasselbe Volk beinahe verhungert, das ohne diese Eroberungen schon seit zwei Jahren wieder Eier, Rindfleisch und ein Glas guten Bieres hätte genießen können, ohne »die Ehre« zu gefährden.

Da Hindenburgs Begleiter das alles vier Jahre versäumt hat, kehrt er nun wie ein Nordpolfahrer mit Staunen in seine Heimat zurück, begreift nicht mehr, was für merkwürdige Tafelsitten seine Mitbürger inzwischen angenommen haben und kann, obwohl er ihre Freundlichkeit rühmt, sich's garnicht anders zusammenreimen, als daß drüben in der Küche der rote Spartakisten-Koch mit Absicht eine so erbärmliche Suppe für den Feldmarschall gebraut habe, damit er auch einmal die große Zeit im eignen Magen spüre. Hätten die Herren in ihren Villen, in ihren Kasinos nur einen Monat, nur eine Woche lang das Menu der Heimat probiert, vielleicht wäre ihnen im Geschmack des mit Stroh durchbackenen, dunklen und feuchten Brotes der Geschmack an der flandrischen Küste vergangen und der Gedanke aufgestiegen, daß man die Deutschen nicht zu Herren Europas heraufpeinigen sollte, sondern wie andere Sterbliche ernähren.

Hindenburg tat, was er konnte. Während der erste Admiral mit andern höchsten Offizieren drahtlich der Regierung erklärte, unter ihr nicht weiter dienen zu wollen, ließ sich der Feldmarschall vom General Groener zum Anschluß an die neue Ordnung überreden. Hindenburgs Appell an die Truppen zur Ordnung wirkte auf Ebert stark ein, er schloß mit den schönen Worten: »Im Kampfe habt ihr eueren Generalfeldmarschall niemals im Stich gelassen. Ich vertraue auch jetzt auf euch!« Als die Radikalen trotzdem am 20. November Hindenburgs Entfernung forderten, erklärte Ebert, der Feldmarschall habe »auf Ehrenwort versichert, hinter der neuen Regierung zu stehen. Die Demobilmachung erfordert Vermeidung jeder unnötigen Erschütterung im Heere.« Da aber nichts als Groeners Begütigung greifbar war, auch jenes Wort nur telephonisch gegeben sein kann, so wollte Ebert ein Schreiben in Händen haben. Bis dahin war in einer chaotischen Zeit, wo keiner dem andern traute, alles nur persönliches Vertrauen; Hindenburg hat es nicht enttäuscht. Aber erst im Dezember entschloß er sich zu folgendem Schreiben an Ebert:

»Wenn ich mich in nachfolgenden Zeilen an Sie wende, so tue ich dies, weil mir berichtet wird, daß auch Sie als treuer deutscher Mann ihr Vaterland über alles lieben, unter Hintenansetzung persönlicher Meinungen und Wünsche, wie ich es habe tun müssen, um der Not des Vaterlandes gerecht zu werden. In diesem Sinne habe ich mich mit Ihnen verbunden zur Rettung unseres Volkes vor dem drohenden Zusammenbruch. In Ihre Hände ist das Schicksal des deutschen Volkes gelegt. Von Ihrem Entschlusse wird es abhängen, ob das deutsche Volk noch einmal zu neuem Aufschwunge gelangen wird. Ich bin bereit und mit mir das ganze Heer, Sie hierbei rückhaltlos zu unterstützen. Wir alle wissen, daß nach diesem bedauerlichen Ausgang des Krieges der neue Aufbau des Reiches nur auf neuen Grundlagen und mit neuen Formen erfolgen kann.«

Doch zugleich greift er, obwohl ihn niemand gefragt hat, sogleich mit politischen Ratschlägen ein: »Meiner Überzeugung nach können nur folgende Maßnahmen uns aus den jetzigen Schwierigkeiten erretten«: National-Versammlung noch im Dezember, Entfernung der Arbeiterräte, an deren Stelle einige bei den Behörden nur beratend mitarbeiten sollten, Sicherung der Regierung durch Polizei und Heer. Dann tadelt er noch »die jetzige Arbeitsunlust bei den exorbitanten Löhnen«: alles wie einst im Mai! »Ich weiß, daß ich von radikaler Seite angefeindet werde, weil ich mich angeblich in Politik mische. Es war mir aber eine Herzenssache, Vorstehendes Ihnen auszusprechen.«

Dieses hochmütige Amtsschreiben nahm die Stelle des Eides an, den jede andere revolutionäre Regierung von dem weiter amtierenden Feldherrn gefordert hätte. Welch ein Zeugnis für die abnorme Lage! Ein Monat war seit dem 9. November vergangen: Hindenburg, seine Freunde und Offiziere hatten gesehen, wie zaghaft die neue Macht sich bewegte, wie jeder dort bleiben durfte, wo der Kaiser ihn hingestellt, wie niemand zur Verantwortung gezogen, niemand entlassen wurde; wie die neue Regierung stark nur im Kampfe gegen ihre Radikalen, wie verlegen sie im Verhältnis zur alten Macht war. Mußten sich nicht die alten Mächte schon nach einem Monat gestärkt fühlen, wenn ihr oberster Vertreter so ganz von oben her der neuen Macht die Hand entgegenstreckte?

Es ist nicht etwa so, daß der regierende Kanzler dem alten Feldherrn schreibt: Wir haben zwar das größte Mißtrauen gegen Kaiserliche Generale, ihre Gesinnungen als Offizier und Junker sind grade die, die unsere siegreiche Partei seit 30 Jahren bekämpfte; indessen in der Not vertrauen wir Ihnen die Auflösung des Heeres an, da Sie persönlich für einen Freund des Soldaten gelten. Neben Ihnen wird ein Vertrauensmann unserer Regierung stehen, der Sie beständig von unserem Willen unterrichten soll. Übrigens ersuchen wir Sie, sich mit Demobilmachung und nicht mit Politik zu befassen. Nichts von alldem. Es ist der Feldherr der alten Macht, der ganz als großer Herr dem Sattler schreibt, ihm sei berichtet worden, daß auch er ein guter Deutscher sei, und was das neue Reich betrifft, das nach dem »bedauerlichen Ausgang des Krieges« aufzurichten sei, so solle man erst einmal die Arbeiterräte auseinanderjagen und zwar mit tüchtiger Polizei.

Wieviel feuriger klingt der Brief, mit dem derselbe Offizier um diese Zeit für seinen Kaiser eintritt! Als der Feind seine Auslieferung forderte, schreibt Hindenburg an den Marschall Foch: »Ein Soldat, der nicht für seinen Obersten eintritt, dem er Mannestreue geschworen hat, ein solcher Soldat wäre dieses Ehrennamens nicht wert … Auch dieser Krieg hat auf beiden Seiten Beispiele hohen, sittlichen soldatischen Denkens und Empfindens gezeitigt … Als Oberbefehlshaber einer Armee, die Jahrhunderte hindurch die Tradition echter soldatischer Ehre und ritterlicher Gesinnung als kostbarstes Gut gepflegt hat, werden Sie unsere Auffassung zu würdigen wissen.«

Dieser elegante Brief zeigt, wie Hindenburg auch im Feinde seine Kameraden ehrt, wie der gemeinsame Marschallstab ihn dem Franzosen stärker verbindet als das Deutschtum dem Handwerker. Spricht dieser Junkerbrief nicht grade für die Theorie von Eberts Partei, die der Junker verabscheut: daß Gleichheit an Stellung, Klasse, Interesse Menschen oft stärker verbindet als Gleichheit von Blut und Sprache? Foch kann den deutschen Brief nicht lesen, doch seine Übersetzung spricht zu ihm, als hätte ihn sein Bruder geschrieben; Ebert kann den seinigen lesen, doch eine Welt scheidet ihn von seinem Landsmann. Denn dieses ist der Brief eines schlachtengewohnten, sternstrahlenden Offiziers an einen andern, jener der Brief eines stolzen Marschalls an einen kleinen Handwerker, dem nur die Schwäche der Andern für einen Augenblick den Marschallstab in die allzu schwielige Faust gedrückt hat. Wo bleibt noch Blut und Boden, wo Rasse und Sprache, wenn man diese paradigmatischen Briefe vergleicht!

Und wieder sitzt Hindenburg in Kolberg, wohin ihn die Unruhen im Osten gezogen wie vor fast fünf Jahren, um die Polen abzuwehren, die damals Russen hießen. Wo sind nun die blitzenden Paragraphen des Gewaltfriedens von Brest-Litowsk? Im Februar besetzen die Russen Litauen, nehmen Riga, die Polen stehen in Posen, noch tut jeder, was ihm behagt, und das Große Hauptquartier, das ein kleines geworden ist, sucht einige Ordnung in all die Freikorps und Freischaren zu bringen, die dort unter patriotischen Vorwänden ein Lager- und Biwakleben treiben, wie sich's der alte Hindenburg einst anders geträumt hat. Er wartet nur auf den Frieden, aber der kommt nicht, und jeden Tag kann es wieder losgehen.

Während in Weimar die junge Republik ohnmächtig gegen einen Friedensvertrag kämpft, der dem isolierten Deutschland droht, streitet in der Brust der 400 neugewählten Volksvertreter die Sorge um ihr Land mit der Sorge um ihren Besitz. Blicken sie nach Paris, so sehen sie einen Feind, der aus den beiden deutschen Gewaltfrieden von Brest und Bukarest, wenn er will, den Schein einer Entschuldigung für einen dritten borgen kann: fünf Großmächte, zwar uneinig, aber doch alle entschlossen, die Deutschen zu unterwerfen. Blicken sie nach Moskau, so sehen sie die sechste Großmacht, mit tapferen Soldaten vom Schicksal ihnen zugeführt, in deren Bunde sie den Bund der Feinde bekämpfen könnten. Nach Westen bedeutet die Unterschrift eine lange Reihe unfreier Jahre bei Sicherung des privaten Eigentums; nach Osten würde ein Kriegsbund erneute Chancen für das Land bei Unsicherheit des Eigentums bedeuten. Da sie eine rein bürgerliche war, mußte die deutsche Revolution ihren Blick vom Osten wegwenden.

Noch einmal fragt sich die Versammlung in Weimar, ob Deutschland allein den Feind bekämpfen könnte. Hindenburg verneint es zuerst im Mai; am 20. Juni erklärt er: »Wir sind in der Lage, im Osten die Provinz Posen zurück zu erobern und unsere Grenzen zu halten. Im Westen können wir bei ernstlichen Angriffen unserer Gegner angesichts der numerischen Überlegenheit der Entente und deren Möglichkeit, uns auf beiden Flügeln zu umfassen, kaum auf Erfolg rechnen. Ein günstiger Ausgang der Gesamtoperation ist daher sehr fraglich, aber ich muß als Soldat den ehrenvollen Untergang einem schmählichen Frieden vorziehen.«

Wirklich ist um Annahme oder Ablehnung in Weimar bis in die letzten Tage mit voller Ungewißheit der Abstimmung gekämpft worden. Gegen den Frieden waren von vornherein Nationalisten und Kommunisten, aber zwischen ihnen schwankten viele, und grade die Ehrenpunkte des Friedens erregten die Menschen. Der reaktionäre General Maerker, der damals in Weimar Parteien und Männer aufputschte, behauptet, es wäre eine Mehrheit gegen den Frieden zu finden gewesen: »Die Entscheidung gab schließlich ein Fernspruch des Generals Groener an den Reichspräsidenten Ebert, in dem er jeden Kampf für aussichtslos erklärte und seiner Überzeugung Ausdruck verlieh, daß auch das Heer sich schließlich mit der Unterzeichnung abfinden würde.«

Bei diesem langen Telephonat in Kolberg – so schildert es ein Offizier, der im Zimmer war, – stand Hindenburg, der sich nicht sprechen ließ, an den Schreibtisch gelehnt, von dem aus der sitzende Groener nach Weimar sprach. Dann, als dieser abhängte, sagte Hindenburg: »Nun werden Sie auch diese schwere Verantwortung tragen müssen.«

Dicht vor der Unterzeichnung, am 25. Juni nahm er den Abschied. So stark war das Dienstgefühl in ihm, daß er nicht einfach seinen Rücktritt erklärte. »Der Wunsch,« schrieb er jetzt, »mich ins Privatleben zurückzuziehen, wird bei meinem hohen Alter allgemein verstanden werden, umso mehr, als ja bekannt ist, wie schwer es mir, meinen Anschauungen, meiner ganzen Persönlichkeit und der Vergangenheit nach fallen würde, in der jetzigen Zeit mein Amt weiter auszuüben.« Ebert sprach ihm den »unauslöschlichen Dank des deutschen Volkes aus.«

Den Truppen sagte der Feldmarschall in einem bewegten Armeebefehl Lebewohl:

»Ich habe mich seinerzeit der Regierung gegenüber dahin ausgesprochen, daß ich als Soldat den ehrenvollen Untergang einem schimpflichen Frieden vorziehen muß. Diese Erklärung bin ich Euch schuldig.« Folgt Rückblick »auf die drei Königlichen und Kaiserlichen Kriegsherren, denen ich dienen durfte. Eine Zeit stiller, unermüdlicher Friedensarbeit, stolzen Aufstieges, großer Siege und zähen Beharrens stehen mir dabei vor Augen. Ich gedenke aber auch in tiefem Schmerze der traurigen Tage des Zusammenbruchs unseres Vaterlandes.« Folgt Dank und Bitte: »Die persönlichen Anschauungen müssen, so schwer es Euch auch fallen mag, zurückgestellt werden. Nur durch einmütige Arbeit kann es mit Gottes Hilfe gelingen, unser armes deutsches Vaterland aus tiefster Erniedrigung wieder besseren Zeiten entgegenzuführen. Lebt wohl, ich werde Euch nie vergessen. Hindenburg.«

Dieses einzige Schriftstück, in dem er das »von« vor seinem Namen wegläßt, zeigt den Feldmarschall als einen alten Offizier mit viel Würde, und in dem schönen Schlußsatze die gewisse Note, die den Deutschen an ihm wohlgefiel. Trotz jener Ratschläge an Ebert hat er sich in diesen acht Monaten nach Dienst und Pflicht auf noble Art dem unruhigen Heere gewidmet, vor dem die beiden andern Führer fortgelaufen sind. Diese Epoche stellt den moralischen Höhepunkt seines Lebens dar. Wie sehr wünscht man nach diesem Dokumente seines zweiten Abschieds, daß der Vorhang fiele!

 

III

Daß dieser Vorhang sechs Jahre später noch einmal aufging, begreift nur, wer die Versäumnisse dieser Republik, sei es auch bloß pragmatisch erkennt. Was trug sich in diesen sechs Jahren in Deutschland zu? Was hätte sich zutragen sollen?

Der Fluch einer bankrotten Erbschaft, wie er nach verlorenem Kriege jeden Umsturz trifft, konnte hier nicht wie im russischen Bauernlande durch radikale Austilgung der alten Macht entsühnt werden. Deutschland, dessen Führung stets fast ganz dem Adel, dessen Leistung stets fast ganz den Bürgern angehört hat, konnte nur durch kleine Verschiebungen, nicht durch gewaltsamen Ruck, nur langsam und in einer Art von Selbsttäuschung umgebildet werden, die seiner Hypnose im Kriege entspricht. Auch eine beherzte Gruppe, die den ersten Augenblick der allgemeinen Lähmung ergriff, hätte die Macht auf die Dauer nicht festhalten können. Der tiefere Grund liegt in der psychologischen Schichtung, die der beruflichen nicht entspricht.

So wie die Hofbeamten der ägyptischen Könige sich Gräber in Pyramidenform bauten gleich ihren Herren, nur kleiner, so kopieren die Deutschen die Pyramide ihres Militärstaates in hundert Variationen. Das platonische Urbild, das vor ihrer Seele schwebt, muß immer wieder nachgebildet werden; darum wiederholen sie die Pyramide, auf der der König stand, in ungezählten kleinen, von der mächtigen Partei bis zum Kegelklub. Der einsam ruhende Stein vermag sich nicht zu fühlen; erst wenn er Mitglied einer Pyramide wird, zugleich tragend und drückend, dann wird das Leben wert, in Dienen und Herrschen gelebt zu werden. Darum hält nicht der Bürger zum Bürger, der Arbeiter zum Arbeiter, sondern der reiche Bürger sucht sich durch Geld, Höflichkeit, schönstenfalls durch Heirat dem Adel zu nähern, stößt sich nach unten ab, schwingt sich nach oben auf und erträgt lieber das Lächeln der Oberen, statt mit den Untern über sie zu lachen. Wenn der höhere Arbeiter ebenso versucht Bürger zu werden, so wächst eine Stauung; der Kleinbürger, vom Großbürger verlassen, vom Arbeiter gesucht, wird zur formlosen Mittelmasse. Jeder Druck des deutschen Stromes versackt in den Lagunen dieses Kleinbürgertums und verläßt diese Stelle mit ermatteter Kraft und vermindertem Gehalte, wie der Nil unterhalb seiner Sümpfe.

Ein Staat, in dem durch Jahrhunderte die Junker das Legitime bedeuteten, mußte an Stelle des Willens zur Freiheit den Willen zur Legitimität züchten. Nicht weil er zu national, sondern weil er zu begierig war dazu zu gehören, hat der deutsche Arbeiter seine Revolution verloren.

Als sich aus diesem endlosen, langsam und schräg zur Sonne der Macht hinaufsteigenden Zuge der Deutschen die Untersten ablösten und statt von unten mitzuschieben, den ganzen schrägen Zug von der Seite berennen wollten, als sich der Arbeiter von seinem Genossen lossagte, um ihm nicht in die bürgerliche Dämmerung zu folgen, da bestätigte er nur dieses Streben seiner Brüder; doch indem er sie bekämpfte, zwang er sie gradezu mit den Oberen zu paktieren, auch in den kurzen Augenblicken, da diese nicht mehr oben oder doch unsichtbar waren. So wurde die ruhige Mehrheit der Arbeiter, wie das ganze Deutschland vier Jahre zuvor, in einen Krieg nach zwei Fronten gezwungen und tat, was Schlieffen geraten: sie warfen sich ganz gegen die eine Seite, gegen ihre radikalen Brüder, in der Hoffnung, nach deren Niederwerfung sich stärker gegen die alte Macht wenden zu können, – zu spät, der Augenblick war verpaßt, die alte Macht inzwischen erstarkt! Man kann ein solches Dilemma tragisch nennen; jedenfalls ist es deutsch.

Die Bürger hatten den Waffenstillstand dem Militäradel abgenommen und ihn dadurch zugleich an jeder moralischen Reinigung gehindert; nun fiel ihnen erst recht der Abschluß des Friedens zu. Hier entstand eine doppelte Verschiebung. Die Bürger und bürgerlichen Arbeiter, die den neuen Staat regierten, klagten in Reden und Manifesten, in Zeitungen und Büchern nur immer den Feind an wegen seines Gewaltfriedens, niemals die, die ihn durch jahrelange Ablehnung eines vernünftigen verschuldet hatten. Diese aber, seit Jahrhunderten gewohnt zu regieren, waren schlauer und klagten nicht den Feind, sondern die Bürger an, weil sie den Frieden unterschrieben hätten. Die Kühnheit ging so weit, daß in der neuen Nationalversammlung die Vertreter der alten Macht ihr bewährtes Motiv, Patriotismus, erklingen ließen, selbstgefällig flötend, als ob er ein Verdienst wäre. Gewaltig gestalteten sich die moralpolitischen Folgen jener Abwälzung des Waffenstillstandes, die Ludendorff als Meisterstück erfunden.

Dazu trat, – wenn wir die Entschuldigungen voranstellen –, der Mangel an regierenden Talenten bei den neuen Parteien. In einer 50 jährigen Diktatur, die zuerst Bismarcks, dann Wilhelms, zuletzt Ludendorffs Namen getragen, mußten die politischen Talente verkümmern, die aus der Zeit vor Achtundvierzig und dem ihr folgenden Konflikte etwa vererbt worden waren. Die Junker, die zwar nicht regieren, doch herrschen gelernt hatten, wußten als echte Offiziere immer für Ersatz und Nachschub zu sorgen, und die dreißig oder vierzig Familien, die in Preußen faktisch zweihundert Jahre lang kommandiert hatten, sorgten dafür, daß ihnen Vitalität und Geld aus dem Staate zuflossen. Indem sie je einen Bruder oder Vetter in die Regierung entsandten, erinnerten sie an jene Unternehmer aus Genua oder Portugal, die ehedem immer einen Sohn mit ihrer Segelflotte hinausschickten, um die Schätze zu bergen, die sie dann in ihren Comptoirs behaglich verkaufen konnten. Ein Minister für Landwirtschaft an der Spree sorgte für viele hundert mächtige Junker an Elbe und Oder.

Die neuen Männer, die jetzt kamen, um den Millionen ihrer Parteigenossen zu helfen, handelten dogmatisch und überzeugt. Was ihnen fehlte, war Sibirien. Die letzten Opfer des Sozialisten-Gesetzes waren tot oder befreit; es blieben nur wenige übrig, die eingesperrt oder verbannt gewesen waren. Da die zur Macht Gelangten weder gekämpft noch ernstlich gelitten hatten, wie die Revolutionäre in andern Ländern, da man ihnen die Macht im toten Augenblick aufgedrungen, erschraken sie vor einer Anerkennung, der sie sich nicht gewachsen fühlten. Sie fürchteten dabei nicht etwa die Verantwortung, die zu übernehmen preußische Schule war; sie fürchteten sich buchstäblich vor dem Gebrauch der Macht. Da sie so gering an Zahl und so ungeübt waren, glichen diese Führer einer kleinen Schauspieler-Gesellschaft, die von heut auf morgen alle großen Rollen besetzen sollte, denn die für morgen im Auto angesagten Schauspieler waren durch Unfall auf der Chaussee liegen geblieben.

Da die schräg nach oben laufende Bewegung des bürgerlichen Ehrgeizes vom Umsturz nicht unterbrochen wurde, nahm diese Leidenschaft für das Legitime jetzt beim Zusammenbruche die Farbe des Nationalismus an. Jeder fürchtete, er könnte nicht vaterländisch genug erscheinen und verbreiterte den unsichtbaren Trauerflor an seinem Ärmel. Waren die Arbeiter nicht dreißig Jahre lang vaterlandslose Gesellen gescholten, waren sie nicht inzwischen feldgraue Helden geworden? Jetzt war der Augenblick, mit denen zu verschmelzen, die sogar ihre Partei nach dem Vaterlande zu nennen gewagt hatten. Das alte Reich, das sie so lange bekämpften, erschien den Sozialisten jetzt in Glorie, und sie begannen Bismarck zu verehren, in der Art eines Sohnes, der mit seinem Vater immer in Streit gelebt, ihn aber nach seinem Tode zu verherrlichen anfängt. Selbst als Klang gewann das Reich einen magischen Ton, alles schmückte sich mit diesem Namen, nie hatte man unter den Kaisern so viel von Reichsregierung, Reichsverbänden, Reichsanstalten gesprochen. Das einzige Wort, das niemand auszusprechen wagte, war das Wort Republik, das peinliche Erinnerungen an welsche Zustände weckte, und das Ausland, genötigt von Empire zu sprechen, hörte schon im Namen, daß sich im Grunde nichts geändert hatte.

Die neuen Führer taten beinahe nichts, um der Außenwelt zu beweisen, daß Deutschland sich geändert hätte, aber alles, um der Innenwelt zu beweisen, es sei gar nicht so schlimm. Im beständigen Kampfe gegen ihre radikalen Brüder, die einen sozialistischen Staat erstrebten, suchten sie den Anschluß an die alte Welt, waren auf jeden Rückblick stolzer als auf einen Vorblick, ließen jede Maßnahme zur Sozialisierung in Kommissionen verschwinden. Auf alle Art schonten sie die Gefühle des Bürgers, und da sie seine linke Hand faßten, dieser aber mit seiner Rechten wieder die Linke des Adels, wurde der elektrische Strom durch alle Klassen geleitet, und nur die Kommunisten standen abseits, denn ihnen gab niemand die Hand. Der einzige, der den Führern imponierte, war der Gegner.

So waren denn alle zufrieden, als sich in der Nationalversammlung zum größten Teil die alten Herren aus dem Reichstag wiederfanden; man war in Weimar, aber davon spürte man wenig. Der alte Reichstag, der sich während des Umsturzes in die Ferien geschickt hatte, hatte sich in den Wochen des Umsturzes nur einmal bemerkbar gemacht: am 1. Dezember legte sein Präsident bei der neuen Regierung flammenden Protest dagegen ein, daß den Abgeordneten ihre Freikarten auf der Eisenbahn entzogen wären. Daß dann der neue in Weimar den Sozialisten sogar im Augenblicke ihrer Macht nicht die Hälfte aller Mandate brachte, bewies wiederum die Bürgerlichkeit des deutschen Volkes und bleibt eine große Entlastung der damals regierenden Sozialisten; eine andere liegt darin, daß selbst bei dieser ersten Wahl, zwei Monate nach dem Umsturz, noch gegen 80 von der geschlagenen Rechten, aber nur 22 radikale Linke gewählt wurden.

Alles wurde vom Wunsche bestimmt, dem Bürger zu gefallen; alle alten Parteien nannten sich plötzlich »Volks-Partei«. Die neuen sprachen von Objektivität. Diese, zur Demokratie gehörige Eigenschaft, die in Zeiten des Umsturzes jede starke Bewegung lähmt, ist den Deutschen besonders teuer, wenn sie eine Entscheidung ersetzen kann. Um als Staatsmänner zu erscheinen, die sich aus Parteimännern entwickelt hätten, gab mancher unter den neuen Männern erst die alte Partei preis und dann den neuen Staat. In Berlin waren die ersten Maßnahmen eines sozialistischen Polizeipräsidenten, daß er den Gasthäusern erlaubte, bis ins Morgengrauen offen zu halten, wodurch die Angestellten geschädigt wurden. Als man dem sozialistischen Minister Severing einmal eine Ovation vor dem Staatsrat bringen wollte, verbot er sie, weil »Demonstrationen im Regierungsviertel nicht erlaubt« wären. Die Feier des sozialistischen 1. Mai wurde von einem sozialistischen Minister in späteren Jahren verboten. Das Tragen des Reichs-Banners mit seinen vielumkämpften Farben durch die Straßen wurde verboten, seine Enthüllung erst am Orte der Versammlung erlaubt, und die schwarze Wachstuch-Hülle, in der die Fahne der Regierung durch die Straßen der Hauptstadt schlich, ist als Symbol durch keinen Einfall einer Komödie zu überbieten. Schließlich bewilligten die Sozialisten, die dem Kaiser jedes neue Schiff verweigert hatten, der Republik den ersten Panzerkreuzer, in dem sie wieder in das Meer des Heldentodes hinausfahren sollten. Die alten Mächte, die die neuen »November-Verbrecher« nannten, gaben ihnen einen Ehrentitel, den sie nicht verdienten.

Während die neuen Machthaber die Erfüllung ihrer Ideen versäumten, erleichterten sie dem Gegner die Rückkehr zu den seinigen. Nach einem dreißig Jahre währenden Ausschluß von allen höheren Ämtern entstand beim Umsturz ein Vakuum, das nur die Erhaltung der alten Beamten überwinden konnte. Die sogenannten »unpolitischen Beamten«, die mächtigen, schon von Bismarck gehaßten »Geheimräte«, waren nach den alten Gesetzen unabsetzbar, durften nicht einmal nach wesentlichen Verfehlungen versetzt werden, da eine Degradation nicht erlaubt und Versetzung in ein gleichgestelltes Ministerium praktisch nicht möglich war. Der Widerstand eines Geheimrates auf seinem Arbeitsgebiete war also nicht zu brechen, am wenigsten, wenn es sich um Zahlungen handelte. Niemandem kam der kühne Einfall, dies Gesetz von heut auf morgen zu ändern. Da das Bureau als Chor zu seinem Chorführer und nicht zu dem rasch auf der Bühne wechselnden Heldentenore, dem politischen Minister hielt, so bildeten sich Blocks von Widerständen, die, durch streng königliche Tradition verbunden, den modernen Ministern unmöglich machten, anders zu regieren als ihre Vorgänger. Wenn sich dies System der Geheimräte, die jemand »den weltlichen Klerus der regierenden gegenüber den regierten Klassen« genannt hat, wenn es sich in den Bienenstöcken der Provinzen und Bezirke fortsetzte, so war ein neuer Geist im Staate nicht zu stabilieren. Ein Faß, das nicht durch und durch gewaschen wird, bevor man den neuen Wein einfüllt, wird immer nach dem alten schmecken.

Doch diesen alten Geschmack zu erhalten, war ja eben der Wunsch jener schräg nach oben gestaffelten Reihe. König und Adel blieben so vornehm, wie sie immer gewesen, Republik galt in der Gesellschaft nicht für fein, schon weil sie an den Augenblick der Schwäche erinnerte, der inneren Niederlegung mehr als der äußeren Niederlage. Da erhielten denn alle Hofschranzen von 22 Fürsten ihre Pensionen, während ihresgleichen in andern Ländern von der Revolution verbannt worden war. Da blieben die alten Gutsbezirke, Zentren junkerlicher Unterdrückung, noch zehn Jahre lang weiter bestehen, um »der slavischen Hochflut einen Damm entgegenzusetzen«, (die großen Herren nahmen ins Innere dieses Dammes die polnischen Arbeiter hinüber, weil sie billiger waren). Da blieben die alten, verwitterten Güter in ihrer Unfruchtbarkeit bestehen, und als sich niemand daran wagte, sie aufzuteilen, machte es die Geschichte klar, daß der König leichter zu überwinden war als der Junker. Da befreiten sich durch Inflation, also durch die Kriegsfolgen, die das Volk arm machten, die Edelleute und auch die Großbürger auf ihrem Besitz von allen Schulden, indem sie ihre Hypotheken loswurden und überdies vom Staate Millionen zur Erhaltung ihres alten Eigentums empfingen. Und wenn diese flammend nationalen adligen Vorkämpfer Preußens durch den Friedensvertrag mit ihren Gütern nach Polen fielen und daher mit dem besten sozialistischen Willen nicht mehr unterstützt werden konnten, so wurden sie polnische Staatsbürger, um desto besser im Auslande »die Fahne des Deutschtums hochzuhalten«.

Als die über den Luftstoß erstaunten und rasch beruhigten alten Mächte sich sofort wieder zusammenschlossen, ließ es die Objektivität der neuen geschehen, daß sie, sechs Wochen nach dem Umsturz, in ihren Wahlaufrufen den neuen Staat zu verhöhnen begannen. »Die Revolution hat uns statt der verheißenen Freiheit Diktatur gebracht und eine unerträgliche Willkür, statt des versprochenen Brotes Hungersgefahr.« Sie ließen es geschehen, daß irgendein Dummkopf der alten Eroberer-Kreise schnell eine Liga für Völkerbund gründete; daß der erste Bürger des Staates öffentlich beschimpft wurde, hierauf er den legalen Weg zum Richter ging, der nun, mit Schmissen im Gesicht, sich daran weidete, den Präsidenten der Republik moralisch verurteilen zu können. Denn wenn die Deutschen Revolution machen wollen, gehen sie zum Richter und nicht zur Geschichte.

Als man die neue Flagge Schwarz-Rot-Gold durchzusetzen wagte, ließ man zugleich für die Seeschiffe die alte bestehen und riskierte die neue nur in Form einer sogenannten Gösch oben einzusetzen. Selbst dann, als die schwersten Angriffe in die Staatsgewalt geschahen, als im Jahre 20 die Regierung vertrieben und im Jahre 22 der leitende Minister ermordet worden war, griff die Regierung nicht mit fester Hand nach jenen alten Offizieren, die solche Akte hervorgerufen hatten.

Dies alles wurde möglich, nicht weil die neuen Machthaber besonders schwache Naturen waren, die man persönlich anklagen könnte, sondern weil ihr deutscher Charakter sie nach Jahrhunderte langer Untertanenschaft zur Schwäche verurteilte. Die neuen Männer waren anständige Leute. Außer einem Finanz-Minister in Preußen, der sich den Weinkeller des Kaisers »kaufte« und ein Schlößchen neu herrichten ließ, wird man sie integer finden. Alle haben ihr Land als arme Leute verlassen; keiner war in Finanzprozesse verwickelt; Loebe, der wohl ein Jahrzehnt Präsident des Reichstages gewesen und jedes Jahr 45.000 Mark bezogen, lebte ganz einfach, gab jeden Monat alles übrige Geld einer Kinder-Fürsorge und legte nichts zurück als jährliche 2000 Mark für das künftige Studium seines Sohnes. Severing verließ sein Amt das erste Mal freiwillig, obwohl ein paar Tage später sein Gehalt sich um einen großen Satz erhöht hätte. Vergebens versuchten die alten Mächte, Erzberger eine Steuerschiebung und einem demokratischen Minister das Geschenk eines Winzerverbandes in Gestalt von ein paar Kisten Wein vor Gericht zu beweisen; was herauskam, war nichts im Vergleich zu den Vorteilen, die sich Jahrhunderte lang und nach dem Umsturz aufs neue die alten Familien von der Regierung zu verschaffen wußten.

Was die neuen Männer irritierte, war also durchaus nicht das Geld; es war die Gesellschaft. Der Smoking hat die Republik verdorben. Denn diese zur Macht gelangten Handwerker, Buchdrucker, Sekretäre, die ihr Leben lang vor den Doppeltüren ihrer höher geborenen Landsleute antichambriert hatten, sie hatten einen Traum gehabt: das war der leichte Ton, das flache Lächeln, die glatte Phrase jener für Frack und Lackschuhe oder aber für die Uniform gebornen Herren. Ihre gesellschaftliche Unsicherheit war stärker als ihr Klassengefühl, und doch waren vor Jahren alle grundehrlich für ihre Klasse und gegen die alte Gesellschaft ins Feld gezogen.

Freilich gab es einfache, – es gab aber kaum Naturen unter ihnen, die bedachten, wie rasch der Assimilierte erkannt und verachtet, wie der auf sich selbst stehende Mann respektiert wird. Sie bedachten nicht, daß der erfahrene Führer bei seinem Gegner nicht zuerst nach der Stärke des Anhanges, sondern nach der Stärke seines Selbstgefühles fragt, daß er sich selbst mit dem Gegner vergleicht und mißt, und dann erst seine Partei mit jener Partei. Ein paar Manieren, die jeder Kellner nach ein paar Wochen gelernt hat, galt es vor allem zu besitzen und zu zeigen, und um dem Lächeln zu entgehen, das sich um die Mundwinkel einer alten Exzellenz kräuseln könnte, versäumten die neuen Machthaber, den alten Exzellenzen zu imponieren. Der erste Reichspräsident, nach einem tadellosen Leben, lernte mit Fünfzig mit einem Male reiten, weil Könige im alten Europa ihrem Volke zu Pferde erscheinen mußten; andere lernten jagen. Eine galante Dame der Gesellschaft rühmte sich, einen großen Arbeiter-Minister in die Geheimnisse der höheren Liebe eingeführt zu haben. In glänzenden Autos fuhren sie von einer Sitzung in die andere und ließen sich alle Wochen bei Banketten photographieren. Der erste Wehrminister, ein früherer Buchdrucker, fühlte sich vom Glanz der Uniformen ringsumher so gehoben, daß er die Verschwörung darin nicht bemerkte, und alle eilten in die Villen der neuen Bank-Fürsten, nicht etwa um an deren Spekulation, nur um an ihren Gartenfesten teilzunehmen. Statt am Traktor einer neuen Zeit zu stehen, um ihr Feld zu pflügen, pflückten sie die verspäteten Rosen des Neunzehnten Jahrhunderts.

 

IV

Wie phantastisch rauschte die Zeit! Wer auch nur mit dem schweifenden Blick und halben Ohr des Zeitungslesers ihr folgte, welche Farben und Töne nahm er undeutlich wahr!

Von deutschen Thronen waren zweiundzwanzig Fürsten gestiegen, deren kleinster doch noch ein Diadem, einen Hofmarschall und Tausende von Untertanen hatte, die sich vor ihm verneigten, seine Anrede abwarteten, seiner Gnade entgegenlächelten, und nun saßen Männer an der Stelle ihrer Macht, die in den Hinterstuben der Geschichte geboren, in Kargheit oder Armut erwachsen waren, die Throne selber blieben verhängt, die Schlösser wurden Museen, und das Volk, ungewiß, ob es das fürstliche Parkett ohne übergezogene Wollschuhe mit Füßen treten dürfte, huschte an Sonntagen hindurch und hatte ein schlechtes Gewissen. An der Stelle des mächtigsten, dessen Worten durch zwanzig Jahre Europa gelauscht hatte, saß der Sattler mit dem quadratischen Schädel, suchte Gerechtigkeit und Ausgleich und machte es doch niemand recht, doch zugleich suchten die Fürsten, die Land und Macht verloren, ihr Gold zu retten und ließen lieber das niedrige Wort Abfindung an ihre erlauchten Namen heften, als daß sie auf ein paar Millionen zugunsten eines verhungerten Volkes verzichteten, sei es auch nur, um dadurch ihre Rückkehr vorzubereiten. Ein machtloser Bürger hatte dem siegreichen Marschall des Feindes in einem kalten Waggon gegenüber gesessen, und andern Tags hatte das ganze Volk gelesen, welche Provinzen, welche Waffen und Schiffe die Deutschen herausgeben mußten, verzweifelt, denn auf den fernen Schlachtfeldern in fremden Ländern lagen ihre Toten, und sie fragten, warum. Zu Tausenden waren Soldaten aus einem langen Kriege heimgekehrt, mit Staunen und Erbitterung zogen sie nun in ihre Vaterstadt, warteten vergebens auf ein Wort des Dankes, standen fremd vor ihren tanzenden Freunden und Schwestern, bevor sie sich unter sie mischten. Mit pathetischen Gefühlen gemeinsamen Schicksals wollte das Nachbarland zu den Brüdern gleicher Sprache stoßen, aber da war das Gold, das die großen Herren der Kohlenminen und der Fabriken zurückhielt, und lange bevor der Feind es verbot, wurde der Anschluß Österreichs untergraben. 900 Männer, die nicht mehr verbrochen hatten als ihre Gegenspieler beim Feinde, sollten zum ungerechten Gerichte ausgeliefert werden, aber nur einer wollte es vor aller Welt wagen, sein Recht zu erklären, und dieser eine war ein Landfremder, ein Jude. Zehntausend fremder Soldaten standen am deutschen Rhein, dunkle Marokkaner weckten zugleich den Abscheu und die Furcht blonder Frauen, aber Verkäufer und Händler hatten gemischte Gefühle, als die Fremden Kunden ihrer Waren- und Gasthäuser abmarschierten. Um Schulden einzutreiben, rückte der westliche Nachbar aufs neue ins Land, und in echtem Haßgefühle begannen junge Leute in führerlosen Scharen einen Kleinkrieg mitten zwischen den Fabriken, als ob sie in den Schluchten des Apennin hausten, während sich die großen Diktatoren für einen Tag einsperren ließen, um dann als Märtyrer unter ihre Arbeiter zu treten. Zwanzig Parteien suchten in langen Programmen Verwirrung und Not zu verscheuchen, und während die ewigen Worte Freiheit und Recht aus den Kehlen der Volksredner fuhren, saßen in den Fraktionszimmern nervöse Männer und rechneten mit dem Bleistifte Mandate zusammen, um noch ein Ministerium für ihre Parteigenossen herauszufischen. Ein Parteiführer klagte den andern vor Gericht der Verleumdung an, wochenlang wühlten alle Blicke in den Geldbeuteln des Kleinbürgers, aber wenige Monate darauf war der eine von der Kugel eines Mörders auf einem Abhang zusammengebrochen, der andere im brennenden Gotthardzuge verkohlt. War durch vier Jahre das Blut der Millionen geflossen, so schmolz nun das Gold ihm nach, und wie es seit langem unsichtbar und durch sein Gegenteil, gemeines Papier vertreten war, so entfärbte sich nun auch das Papier, verlor von einem Tage zum andern seinen Wert, man eilte, um noch zur Stunde des Empfanges das Geld lieber zu vertanzen, als daß es morgen wertlos daläge, und Alle gierten nach einem Papier jener Länder, in denen noch alles fest zu stehen schien. Zur gleichen Zeit raffte ein Führer der patriotischen Phrase, dessen scharfes Auge um ein paar Meter weiter sah als das der andern, den Papierberg zusammen, verkaufte ihn jenseits der Grenze, borgte vom Staate, gab nach ein paar Wochen das zu nichts gewordne Geld zurück, kaufte dafür, was immer in seine Hände fiel, Schiffe, Hotels, Bahnen, Theater, Gruben, bis er aus dem Zusammenbruche seines Volkes den größten von allen Goldbarren sich geschmiedet hatte, plötzlich zurückfiel und noch im Tode dieses Volk um die Erbschaftssteuer betrog. Tausende junger Soldaten ließen sich anwerben wie vor dreihundert Jahren, zogen auf Beute und Abenteuer nach Osten, nannten Blut den Besitztitel des Feldes, das sie besiedeln wollten und wurden schließlich zurückgeschlagen, um arm heimkehrend ihre Enttäuschung in Bünden gegen den neuen Staat zu sammeln. Und Sparkassen leerten sich, Versicherungen wurden null, Erbschaften hörten auf, das Mißtrauen aller gegen alle führte zur Auflösung ältester Bindungen, und wo neue Zusammenbrüche zum Elend von tausend Gutgläubigen führten, wurde auf den Juden eingeschlagen, der als Landfremder an allem schuld und in allem reich und glücklich wäre. Als dann die auferlegte Schuld nicht bezahlt wurde, erschienen breitschulterige Amerikaner, die in endlosen Konferenzen Milliarden zusammenrechneten, Kartenhäuser für künftige Generationen, die alles bezahlen sollten, und während die Konferenzen immer neue Hunderttausende in ihren Hotels verschwendeten, um einen Plan gegen den Hunger der Millionen zu finden, stiegen die Selbstmorde. Zugleich schleppte die Goldgier fremder Völker dieselben Milliarden ins Land, die sie eben als geschuldet herausziehen wollten, schmeichelten sich hohe Zinsen vor und staunten, als von ihrem Geld im ganzen Lande die schönsten Bauten erstanden, und plötzlich brachen Putsche herein, wie wenn einer ins Wasser springt, herumspritzt, bis wieder alle ruhig weiterplätschern.

Und Schüsse knallten, Papiere rauschten, Freikorps trommelten, Redner polterten, Girls sangen, Jazz quiekten schrill durcheinander; nur, wer das Ohr an den Boden legte, hörte das Volk leise stöhnen.

Und doch, aus so viel phantastischem Geschehen verstanden die neuen kein Bild für die Menge zu formen! Was die Demokraten bei aller Redlichkeit von denen unterscheidet, die vor und nach ihnen dasselbe Volk beherrschten, war ihr vollkommener Mangel an Phantasie. Nach den grauen Jahren des Krieges wollte die Menge Farben, nach den Jahren des Gehorsams wollte sie Einfälle. Statt, wie nach ihnen die Diktatoren, das bunte Vorbild Moskaus nachzuahmen, mit neuen Emblemen, neuen Namen und Musiken der Menge die neue Epoche sinnlich vor Aug' und Ohr zu führen, setzten sie ihr ernstes Treiben in unsichtbaren Kommissionen fort und suchten die Menge durch Vorträge über Sozialisierung und Broschüren über Geburtenkontrolle zu erheitern.

Hatte die Bewegung nicht auch ihre Helden gehabt? Warum kam niemand der Einfall, eine Bebel-Fabrik, einen Liebknecht-Platz, ein Denkmal für Lassalle zu errichten? Warum wurden die Leiden der Vorkämpfer, die Taten der Achtundvierziger dem deutschen Volke nicht vorgeführt? Warum wurden Herweghs Gedichte nicht in Männerchören gesungen? Warum gähnte die Langeweile aus den Programmen, deren grundlegendes in seinen 2000 Worten nicht ein einziges neues von Klang und Farbe enthielt? Dem Arbeiter wurde das Selbstgefühl nicht gegeben, das ihn empfinden ließ: der Staat, das bin ich! Dem Bürger wurde nichts gezeigt, was ihn verführen könnte. Sogar der Name der Radikalen wurde von einem alten römischen Aufrührer genommen, so dass er in kein deutsches Ohr fiel, statt daß man Hutten oder Engels wieder belebt hätte. Keine neuen Hymnen und keine neue Fahne, kein Redner und kein Autor, kein Kleid und keine Geste glänzte auf, um einer, der alten Embleme beraubten Menge zu leuchten. Und doch kann ein Staat auf die Dauer nicht ohne Gedanken, so kann er zum Anfang nicht ohne Symbole leben.

 

V

War all dies nicht schon einmal so gewesen? Siebzig Jahre vor diesem Umsturz schrieb ein preußischer Offizier, dem Gefängnis entflohen, Rüstow, später Schweizer Oberst-Brigadier, nach dem Jahre 48 über jene letzte Revolution: »Die Volks-Bewaffnung sollte im Innern das Volksrecht schützen, aber nach wenigen Tagen begann die Reaktion des Philisteriums. Die Blicke des Bürgers wandten sich ab von den Schuldigen in der Höhe und hängten sich ängstlich an die Schreckbilder einer Bedrohung des Eigentums. Kommunismus, die Vogelscheuche für preußische Generale, wird mit rasender Schnelle das Gespenst der deutschen Bourgeoisie. Die bewaffnete Contre-Revolution wird garnicht mehr gesehen, sie wandelt in allen Gassen. Die Volksbewegung schillert plötzlich in einer neuen Färbung und wird zur Verteidigung des privaten Eigentums, bis sie im Staate zu einer Bürgerwehr verkrüppelte.«

70 Jahre später waren die geschlagenen Mächte nicht dümmer geworden; gewohnt zu regieren, begriffen sie rasch, wie es anzufangen sei. Nachdem ein Operetten-Putsch im Jahre 20 mißglückt war, beschlossen die alten Mächte, den neuen Staat, der doch nicht um sich schlug, statt ihn verfrüht zu berennen, lieber mit Geduld von innen auszuhöhlen. Sie brauchten ein Dutzend Jahre.

Bot der geschlossene Friede nicht gleich das beste Mittel dar? Man nehme nur das Volk am Ehrenpunkte, so wird man rasch verstanden! In Weimar hatten die Volksvertreter den Versailler Vertrag ohne den »Schuldartikel« angenommen; als dann Clemenceau in 24 Stunden das Ganze ohne Widerrede forderte und neuen Krieg androhte, schrieben die Deutschen, sie nähmen unter Zwang an, aber »durch Gewaltakte wird die Ehre des deutschen Volkes nicht berührt.« Das war vor aller Welt geschehen, am nächsten Tage aber schon vergessen, so daß die alten Mächte durchs Land zogen mit dem Rufe: Die Republik hat unsere Ehre verkauft! Zugleich machten sie aus der Alleinschuld Deutschlands, die alle leugneten, die Unschuld Deutschlands am Kriege und begannen dem Volke einzuprägen, es hätte den Krieg weder begonnen noch verloren. Die Machthaber griffen nicht ein, als dies aus hundert Büchern und Reden widerhallte. Zwar hatte niemand den Wunsch, dem geschlagenen Heere den Titel des »unbesiegten Heeres« zu verweigern, wenn es sich nun einmal täuschen wollte; die große Folge aber wurde übersehen: daß ein Jahrzehnt solcher Erziehung genügte, um einer gläubigen Jugend mit der Behauptung der deutschen Unschuld den Gedanken der feindlichen Bosheit und damit der Rache ins Herz zu pflanzen.

Die Sonne, die Offiziere und Junker wieder munter machte, war die neue Reichswehr. Was sollte sie hindern, unter der neuen Fahne zu dienen? Ihr Eid auf den König? Der hatte in öffentlichem Schreiben ausdrücklich alle Offiziere und Beamten des Eides entbunden. War damit nicht alles in Ordnung? Niemand schien einzufallen, daß zu einer Scheidung zwei gehören; daß man in einem Bunde tiefere Gefühle für Eid und Treue haben und beide halten kann, weil Herz und Gewissen sich darin gebunden fühlen. Ein jesuitischer Kniff erlaubte allen, bei fleckenlos erhaltener Ehre unter einem verhaßten Fahnentuche zu dienen, das sie als Träger der Revolution, als Zertrümmerer der Königsgewalt verachteten. War der erste Eid so einfach aufzuheben, warum sollte man nicht mit innerem Vorbehalte einen zweiten schwören? Später haben die Nationalsozialisten erklärt, unter solchen Umständen wäre es sogar Pflicht, einen falschen Eid zu schwören.

Mit offenen Armen kam man den alten Offizieren entgegen; da man keinen Trotzki hatte, nahm man sie alle und stellte beinahe keinen neuen daneben ein. Im preußischen Offizierskorps hatte im Jahre 1913 der Adel 22 % betragen; im Jahre 1921 betrug er schon wieder 21,3 %. In diesen 0,7 % lag offenbar der Sieg der Revolution. Da durch die Verkleinerung des Heeres Tausende draußen bleiben mußten, sorgte der neue Staat auch hier für die alten Offiziere, keine Pension wurde gekürzt, kein Privilegium entzogen: 0,7 %, das war der Fortschritt. Nach dem Siebziger Kriege war ein Unteroffizier General geworden, nach Weltkrieg und Revolution brachte es keiner über den Hauptmann.

Noske, der erste Wehrminister, sprach die Begründung aus: »Einer, der aus seiner Überzeugung kein Hehl macht, ist mir lieber, als der den Republikaner spielt.« Daß man auch echte, sogar nur echte Republikaner anstellen mußte, fiel ihm nicht ein. Die Offiziere nahmen ihren »Proletenchef« in ihr Kasino, ehrten ihn nach Gebühr, bis sie ihn schließlich auf der Spitze ihrer Degen brieten und verspeisten. Von so netten Offizieren fühlte sich der Wehrminister vor seinen feindlichen Brüdern prächtig geschützt. Als dem Reichspräsidenten Ebert ein Freikorps in schneidigem Marsche vorgeführt wurde, hörte der General Märker, wie der Wehrminister zu seinem Genossen Ebert sagte: »Sei nur ruhig, es wird alles wieder gut!« Als man den Wehrminister dann vor diesem General warnte, schickte er ihm den Brief als Zeichen des Vertrauens zu. Woher das Vertrauen kam? Der General hatte ihm einmal gesagt: »Für Sie, Herr Minister, lasse ich mich in Stücke hauen und meine Landesjäger auch!« Der gute Bürgergeneral schrieb dies auf und ließ es später sogar drucken. Mußte er nach solchen Ausbrüchen der Treue nicht alle Forderungen der Offiziere energisch vertreten? Jeder Etat der Republik wurde kritisiert und verkleinert, nur der Wehr-Etat ist in 14 Jahren niemals angetastet worden! Wagte jemand im Kabinett ein Wort, so erklärte der Wehrminister schlicht, dann könnte er nicht mehr für die Haltung der Truppen garantieren; es ist sogar nie ein Beschluß im Kabinett durchgedrungen gegen Einspruch des Wehrministers. So regierte er und die Reichswehr heimlich das Land, und hinter ihm regierte ein unsichtbarer Major.

Jenem ersten Wehrminister brach freilich bald ein Putsch, zwar nicht das Genick, doch wenigstens den Arm. Ein Herr Kapp, Verwaltungsbeamter aus Preußen, natürlich Korpsstudent und Reserve-Offizier, hatte sich mit einem gekränkt entlassenen Hauptmann und einem Major aus den Baltischen Freikorps verbündet, dazu mit einem Kapitän, der gerne weiter Krieg spielen wollte, und schließlich den Berliner Reichswehr-General gewonnen: sie würden diese tönerne Republik in einer Stunde umstoßen! Mit ein paar Bataillonen aus der Ostmark war es gelungen, in Berlin die Häuser der Regierung zu besetzen, – aber nur diese, denn damals, im Jahre 20, gingen die Arbeiter doch noch auf die Straße, wenn der Staat in Gefahr war. Der General, der sich vorher in Stücke hauen lassen wollte, war zweideutig hinein verstrickt. Flucht der Regierung, Generalstreik, Rückkehr, – und bald war alles zerstoben.

In dem Prozesse, der dann vor dem Reichstage folgte, traten im Dämmerlichte eines rotgoldenen Saales eine Woche lang fast alle Träger der alten und der neuen Macht nebeneinander als Zeugen auf und gaben Proben von einer politischen Melange, deren Zusammensetzung so undurchdringlich war, wie jene Suppe Hindenburgs in Kassel. Da gab es einen sozialistischen Finanzminister, der vorher mit den Hintermännern der Revolte angeknüpft hatte, um auf alle Fälle dabei zu sein, Generale, die gleichfalls wie beim Pferderennen auf beide Nummern gesetzt hatten, Staatssekretäre, die sich an nichts erinneren konnten: ein Wald von Exzellenzen! Der erstaunlichste aber war der General Ludendorff, der, wie er aussagte, ganz zufällig an jenem Märzmorgen um 7 Uhr am Brandenburger Tor spazieren ging, als die Aufrührer-Truppen mit klingendem Spiel durch dieses Tor ihren Einzug hielten. Die große Komödie dieses Prozesses ging der Tragödie der Republik voraus, wie der Fall Zabern dem Weltkrieg. Am Ende wurde einer von den Junkern zu sehr bequemer Festung verurteilt, die er auf kurze Zeit bezog, alle andern Kavaliere blieben frei. Der Wald rauschte leise auf. Alle Exzellenzen bezogen weiter ihre Pensionen.

Die neuen Generale, welche sämtlich die alten Generale waren, hatten es garnicht schwer. Die deutschen Kinder, die zweihundert Jahre das Soldatenspiel im Frieden gewohnt waren, lachten glücklich auf, als ihnen der Weihnachtsmann neue bescherte. Als sie lasen, eine Brigade habe einen neuen Oberst, der durch seine Niederwerfung des Wahehe-Aufstandes in Westafrika berühmt geworden sei, schien ihnen dieser Offizier grade der rechte für sie selber. Alle alten Abzeichen, die sie sich im November 18 ohne Gegenwehr von den Achseln hatten nehmen lassen, kamen in Januar 19 unbemerkt wieder. Als im selben Januar 19 ein Freikorps zum ersten Male wieder durch die Straßen der Hauptstadt marschierte, schrieb eine Zeitung: »Und nun klang wieder Gleichschritt auf! Diese männliche Zucht, deutsche Straffheit, aufrecht kernige Haltung! Wie herrlich in der sauberen Ordnung, in der leuchtenden Disziplin. Blutfrische Gestalten: das Freiwillige Landesjäger-Korps! Zurufe flattern in die Reihen, Jubel schallt hinüber!«

Unter den Führern der Reichswehr war von Seeckt der interessanteste. Hochgebildet, obwohl preußischer General, Feind Ludendorffs und Hindenburgs, die im Anfang des Krieges mit ihm konkurrierten, hatte er fünfzigjährig beim Zusammenbruch eine Erschütterung, vielleicht auch Erleuchtung über das alte System erlebt, die ihn entschieden zum Neuen trieb. Das Offizierskorps aber, das er neu aufbaute, besetzte er mit lauter Generalstäblern aus dem Kriege und ließ die Front-Offiziere gehen: diese hätten ihm, sagte er, nach vier Jahren wirklichen Frontdienstes den kriegerischen Geist verdorben; um ihn zu erhalten, mußte man Männer heranziehen, die den Schützengraben nicht kannten. Als am Tage des Kapp-Putsches der Wehrminister ihn aufforderte zu schießen, lehnte er mit vier anderen hohen Offizieren ab; nur ein bürgerlicher General gehorchte. Als später in der Inflation Bayern abfallen wollte und das Reich in größerer Gefahr war als beim Zusammenbruch, war Seeckt der geborene Diktator, und das Vertrauen des Präsidenten gab ihm die ganze Macht. Doch er zögerte und zeigte seinen Charakter als eines Cunctators, der sich niemals ganz einsetzen wollte.

Aber weder er noch der Wehrminister Gessler, der seinen Namen mit Recht trug, noch der anständige Süddeutsche Groener regierten im Grunde selber. Hinter ihnen saß in einem kleinen Zimmer des Wehrministeriums ein jüngerer Offizier, der ein Jahrzehnt lang die Hauptfragen entschied. Er war gewandt genug, um in einem bestimmten Augenblicke den Sozialisten einzureden, sie mögen den Posten des Wehrministers nicht anstreben, da sie grade ohne Beteiligung viel freier in der Kritik seien. Es war der Major von Schleicher, dessen Geschick und Intrigen später zu schicksalsvoller Wirkung kommen sollten.

 

VI

Hindenburg schrieb Memoiren. Da saß er nun in einer riesigen Villa, die ihm die Stadt geschenkt hatte, allein mit seiner Frau und ergriff gleich nach seinem zweiten Abschied dies Mittel, der plötzlichen Langeweile Herr zu werden. Sie waren allein, die beiden alten Leute, Töchter verheiratet, sein Sohn stand irgendwo als Hauptmann bei der Reichswehr. Die Komitees, Feiern und Reden ermüdeten den Feldmarschall, und wenn er mit seiner Frau Besorgungen machte, gab es, wie er sagte, »immer gleich ein Verkehrshindernis.«

Im Anblick seiner Räume denkt man an Bismarck, der ebenso eingerichtet war und über General Roons geschmackvolles Haus spottete: »Nur Leute, die nichts vom Essen verstehen, richten sich so schön ein.« Zwischen Geweihen und Andenken aller Art stand da ein großer Globus, den ihm die Hofgenerale als sinniges Andenken an den Weltkrieg geschenkt hatten. Dieser Globus veranlaßte Hindenburg zu einer bedeutsamen Äußerung. Ein Jahr nach der Schlacht von Tannenberg hatte er zu seinem Leibmaler vor der Karte gesagt, das Schlachtfeld der Polen wäre nur so groß wie ein Nagel, sein eigenes aber so groß wie die ganze Hand. Jetzt blieb er mit demselben Maler vor dem Globus stehen, legte seine Hand darauf, wie damals auf die Karte und sagte:

»Sehn Sie, ich kann meine Schlachtfelder mit meiner Hand nicht mehr bedecken.« »Bei diesen Worten,« fügt der Maler hinzu, »schien er innerlich bewegt.«

So hatte die langjährige Legende, die sich in den Jahren nach dem Krieg nur immer weiter spann, so hatten die Verführungen des Ruhmes ihn doch noch in so hohem Alter ergriffen; er rechnete offenbar den Balkan, Afrika und andere Schauplätze des Krieges zu seinen Schlachtfeldern, denn dort hatten die ihm formell unterstellten Truppen tatsächlich gekämpft. Nach so schweren Erfahrungen begreift man gerne die holde Illusion.

Was blieb ihm denn auch außer dem Haus als die Jagd, zu der ihn jetzt alle Welt einlud! Über die Republik mußte er sich doch bloß ärgern, und jemals wieder mitzutun, kam ihm gewiß schon aus Stolz nicht in den Sinn. Deshalb griff er auch niemals ein, wenn die Republik eine Ehrenrettung brauchte. Als Erzberger in seinem heftigen Kampfe jenen dankbaren Händedruck Hindenburgs nach dem Waffenstillstande erwähnte, erklärte dieser öffentlich, er habe ihm wohl gedankt, nicht aber die Hand gedrückt. Und als Ebert um seine Ehre kämpfte, schwieg er. Wenige Wochen später, als Ebert tot war, verkündete Hindenburg: »Eberts Streben war immer darauf gerichtet, dem deutschen Volke treu zu dienen. Das wird jederzeit dankbar im deutschen Volke anerkannt werden.« Hätte er dieses Urteil auf Grund gemeinsamer Dienstzeit drei Monate vorher gesagt, er hätte Eberts Ehre, ja sein Leben gerettet.

Indessen, Objektivität ist eine Tugend für Demokraten, und Hindenburg hatte sich nach anderer Seite zu wehren. Von Doorn aus hatte der Kaiser eine eigene Version von seiner Flucht verbreiten lassen, die Berichte widersprachen einander, alle Personen, die am 9. November in Spa gewesen, hatten ein Protokoll publiziert, das dem Kaiser nicht gefiel; er wollte durchaus ein unfreier Mann gewesen sein, den man gewaltsam über die Grenze schickte. Darauf schrieb Hindenburg, von dritter Seite aufgefordert, einen Brief, der beginnt:

»Allerdurchlauchtigster, Großmächtigster Kaiser! Allergnädigster Kaiser, König und Herr! Für den von Eurer Majestät am unseligen 9. November gefaßten Entschluß ins Ausland zu gehen, trage ich die Verantwortung.« Doch bald fährt er fort: »Daß ich abends zur sofortigen Abreise gedrängt hätte, ist ein Irrtum, der kürzlich gegen meinen Willen öffentlich erwähnt worden ist. Für mich besteht kein Zweifel daran, daß Eure Majestät nicht abgereist wären, wenn Allerhöchst dieselbe nicht geglaubt hätten, daß ich in meiner Stellung als Chef des Generalstabes diesen Schritt für den im Interesse Eurer Majestät und des Vaterlandes gebotenen ansähe. Schon im Protokoll … ist ausgesprochen worden, daß ich von Eurer Majestät Abreise erst Kenntnis erhielt, nachdem sie ausgeführt worden.« Am Schlusse heißt es dann, »daß ich mein Leben lang mit unbegrenzter Treue zu meinem Kaiserlichen und Königlichen Herrn gestanden habe und stehen werde.«

Diesen merkwürdigen Brief, in dem es zwischen Kurialien wetterleuchtet, beantwortete der Kaiser – alles amtlich und sogleich publiziert – erst nach zwei Monaten, wohl um Unzufriedenheit anzudeuten. Er sei froh, daß die Mißdeutung jetzt geklärt sei. Er habe immer gewartet, daß die Beteiligten von sich aus vor aller Welt bekunden würden, »daß der Entschluß zur Abreise Mir gegen Meine innere Überzeugung von Meinen verantwortlichen politischen Ratgebern abgenötigt worden ist. Ich weiß Ihnen Dank, daß dieser für die Hochhaltung einwandfreier, geschichtlicher Wahrheit, für das Ansehen Meines Hauses und Meiner persönlichen Ehre notwendige Schritt jetzt endlich erfolgt ist … Sie haben in treuer, schwerer Pflichterfüllung Ihrem Kaiser und König den Rat gegeben, den Sie nach Ihrer Auffassung der Lage geben zu müssen glaubten. Ob diese Auffassung die richtige war, darüber kann erst geurteilt werden, wenn die Tatsachen der Unglückstage geklärt sind.«

In so grollendem Dialoge klingt das durch gegenseitiges Mißtrauen beständig gefährdete Verhältnis aus. Wieviel gewinnt beim Vergleich der Vasall vor dem König! Er nimmt die Verantwortung auf sich, anstatt ihm ins Gesicht zu schleudern, ein echter Mann könne solche Entscheidung nur allein treffen, vollends ein König; nur daß er ihn gedrängt habe, will er nicht wahr haben, und daß er dies festzustellen wagt, und in einem komplizierten Konditional-Satze sich und zugleich den König zu retten sucht, ist das Äußerste, was der Kadett auch heute noch seinem Königsgedanken abringen kann. Der andere hält ihm nicht bloß seine Verantwortung vor, er sagt auch gleich, der Rat sei falsch gewesen. So ist in Wilhelms Hirn der Kaiser nur aus dem Lande geflohen, weil Hindenburgs Herz voll unbegründeter Furcht war. Das war das letzte Wort, das beide Männer im Leben tauschten.

Hindenburg schrieb Memoiren; er ließ sie schreiben. Sein Buch wollte, gemäß der Vorrede, weder rechtfertigen noch anklagen, und tat doch beides, was das Schicksal der meisten Autobiographien bleibt. Wäre es von ihm selber geschrieben, so hätte es bei seiner Einfachheit einen stärkeren Wert als Charakterprobe; indem er es statt dessen beim General von Mertz nach seinen Richtlinien in Auftrag gab, dann korrigierte und unterzeichnete, wie er es mit vielen Denkschriften Ludendorffs gemacht hatte – nur ohne die Richtlinien –, übertrug er seine Privat-Theorie vom Feldherrn auf den Autor, der offenbar auch nur »die großen Linien entwerfen, die Ausführung aber seinen Untergebenen lassen müsse.«

Wie der glatte, kalte Stil des Buches, der ihm gefallen haben muß, sonst hätte er nicht unterschrieben, den eigenen Hindenburgs verfälscht, zeigt ein Vergleich mit seinen Briefen. Hatte er nach der Schlacht bei Königgrätz als Leutnant den Eltern gradezu geschrieben: »Ich stürzte bewußtlos nieder und meine Leute umringten mich, mich für tot haltend,« so heißt es jetzt: »Es war ein stolzes Gefühl, als ich hoch aufatmend, aus leichter Kopfwunde blutend, unter meinen eroberten Kanonen stand.«

Auch die Familie ließ er mitarbeiten. Hatte ihn der jüngere Bruder nicht schon 1915 dem deutschen Volk in einem hübschen Buche geschildert? »Der damals wohl 80 jährige Gärtner,« schrieb damals Bernhard von Hindenburg aus der Jugend seines Bruders, »erzählte ihm, daß er noch 14 Tage unter Friedrich dem Großen als kleiner Trommlerjunge gedient habe. So fällt auf das Kind ein letzter Sonnenstrahl einer ruhmvollen Vergangenheit.« Vier Jahre später schrieb Hindenburg oder ließ schreiben: »Genau entsinne ich mich eines hochbetagten Gärtners, der noch 14 Tage unter Friedrich dem Großen gedient hatte. So fiel gewissermaßen auf mich als Kind noch ein letzter Sonnenstrahl ruhmvoller friderizianischer Vergangenheit.«

Da er so gern präzis und in Zahlen dachte, ist eine kleine Statistik bei seinem Lebensbuche wohl in seinem Sinne. Mit erstaunlicher Kürze stellt er sein Werden dar: 20 Seiten über 40 Jahre, und über die 8 Jahre des Generalstabes im ganzen 4 Seiten; Bismarck kommt dabei nur einmal auf einer Zeile vor, Schlieffen garnicht. Auf drei Zeilen die Besuche der berühmten Flieger und U-Boot-Kommandanten. Im Verzeichnis der Personen kommen 26 Fürsten vor, aber kein Gelehrter oder Künstler, (mit Ausnahme von zwei Namen auf einer Zeile), sonst nur Generale. 97 dieser Namen sind Adlige, daneben 6 bürgerliche Offiziere. Die andern Bürgerlichen, die im Buche vorkommen, sind sämtlich feindliche Heerführer und Staatsmänner.

Umso mehr Raum nehmen die Könige ein. Daß der alte Kaiser Wilhelm immer dasselbe fragte und immer wieder vergaß, diese unschuldige Erfahrung wird so dargestellt: »Ich wurde von meinem Kriegsherrn durch die Frage beglückt, bei welcher Gelegenheit ich mir den Schwerterorden verdient hätte. In späteren Jahren … hat mein Kaiser und König noch manches Mal bei einer Versetzungs- und Beförderungs-Meldung die gleiche Frage an mich gerichtet. Stets durchzuckte es mich dann mit eben solchem Stolz und eben solcher Freude wie damals.« Geht er im Kriege jagen, so heißt es im Buch: »Den Höhepunkt bildete Dank der Gnade Seiner Majestät die Erlegung eines besonders starken Elches im Königlichen Jagdrevier.« Meldet sich bei ihm der Kronprinz, so heißt das: »Seine Kaiserliche und Königliche Hoheit der Deutsche Kronprinz … ehrte mich in Montmédie durch Aufstellung einer Sturmkompanie auf dem Bahnsteige. Dieser Empfang entsprach ganz dem ritterlichen Sinn des hohen Herrn, dem ich fortan öfters begegnen sollte.«

Ist mit dem Kaiser wieder einmal über den Frieden gesprochen worden, so heißt das: »Ich war Zeuge, mit welchem tiefinnerem Pflichtbewußtsein Gott und Menschen gegenüber sich mein Allerhöchster Kriegsherr der Lösung dieser Friedens-Anregung hingab.« Gratuliert ihm der Kaiser am 70. Geburtstage, so heißt das: »Seine Majestät, mein Kaiser, König und Herr, hatte die große Gnade, mir als erster an diesem Tage persönlich seinen Glückwunsch in meinem Heim (Hauptquartier) auszusprechen. Das war für mich die größte Weihe des Tages.« Einmal wirft doch ein deutsches Flugzeug aus Versehen eine Bombe ins Hauptquartier. Der Kaiser zeigt dem Feldmarschall andern Tags die im Garten gefundenen Sprengstücke, worauf jener den Bericht mit den erschütterten Worten endet: »In einer gewissen Gefahr hatten wir also doch geschwebt.«

Die schönsten Worte findet Hindenburgs literarischer Arbeiter für seinen militärischen Arbeiter; mit sanfter Wendung geht er über Ludendorffs Nervenkrise in der Schlacht bei Tannenberg hinweg, durchaus Kavalier. Nach Ludendorffs Abgang heißt es: »Am folgenden Tage betrat ich die bisher gemeinsamen Arbeitsräume wieder. Mir war zu Mute, wie wenn ich von der Beerdigung eines mir besonders teuren Toten in die verödete Wohnung zurückkehrte. Bis zum heutigen Tage, ich schreibe dies im September 1919, habe ich meinen vieljährigen treuen Gehilfen und Berater nicht wieder gesehen. Ich habe ihn viel tausend Mal gesucht und in meinem dankerfüllten Herzen stets gefunden.«

Andere Stellen sind fürs Volk redigiert. Warum soll man die Wahrheit über jenen zwei Jahre währenden Streit mit Falkenhayn erzählen? Warum soll der Bauer erfahren, daß es auch oben im Gutshause zuweilen Streit gibt? Der Herrschende muß die Türe schließen, damit der Vasall ihn zu verehren nicht verlerne. Wegen Falkenhayn, schreibt er daher, habe man nur eine Legende gesponnen, und als dann der Kaiser die beiden Feldherren kommen läßt, um ihnen die Leitung aller Armeen an Stelle Falkenhayns zu übergeben, stellt er sich ganz überrascht: erst auf dem Bahnhof bei Ankunft habe er die Nachricht empfangen. Nachdem er schon vor 18 Monaten den Rivalen zu stürzen versucht hat, und dies mit Recht, scheint er ihn nach dem Buche vielmehr verehrt zu haben, und bei der Übernahme »reichte mir der General von Falkenhayn zum Abschiede die Hand mit den Worten: Gott helfe Ihnen und unserem Vaterlande!« Nach Darbietung dieser Opern-Gruppe fährt er fort: »Welche Gründe unsere plötzliche Berufung in den neuen Wirkungskreis veranlaßten, erfuhr ich aus dem Munde meines Kaisers … weder bei der Übernahme meiner neuen Stellung noch später. Derartige Feststellungen rein historischen Wertes zu machen, fehlte mir immer die Neigung, damals auch die Zeit.«

Solche Stilisierungen fürs Volk bleiben ohne Anstand, so lange sie niemand anklagen. Die politische Bedeutung, die Hindenburgs Buch gewinnen sollte, beginnt erst dort, wo die Schuld abgewälzt wird. »Als Mensch habe ich gedacht, gehandelt und geirrt,« sagt er im Vorwort; im Buch aber kommt kein Irrtum vor, der bleibt stets bei den Andern. »Der Deutsche,« heißt es an einer Stelle über Spionage im Lande, »erwies sich nicht als so weit politisch geschult, daß er im Stande gewesen wäre sich zu beherrschen. Er mußte seine Gedanken aussprechen, mochten sie für den Augenblick noch so verheerend wirken. Er glaubte, seine Eitelkeit befriedigen zu müssen, indem er sein Wissen und seine Gefühle der weiten Welt mitteilte. Dieser Fehler hat uns im großen Ringen um unser völkisches Dasein mehr geschadet als militärische Mißerfolge.«

Nach diesem allgemeinen Vorwurfe kommt Hindenburg gegen Ende des Buches auf den Herbst 18 zu sprechen. Am 29. September hatte er zusammen mit Ludendorff Waffenstillstand binnen 24 Stunden gefordert, war nach Berlin gereist, um dem Prinzen Max die Absendung des Kabels abzudringen, stand also als Initiator im Mittelpunkte der weltpolitischen Entscheidung. Von all dem sagen die Memoiren das Gegenteil:

»Ich möchte dem Kaiser (in Berlin) nahe sein, wenn er in diesen Tagen meiner bedürfen sollte. Politische Einwirkungen ausüben zu wollen, lag mir fern … Ich selbst hatte auch damals noch die feste Zuversicht, daß wir dem Gegner trotz des Abnehmens unserer Kräfte das Betreten des vaterländischen Bodens monatelang verwehren konnten. Gelang dies, so war auch die politische Lage nicht hoffnungslos … In der Nacht vom 4. auf den 5. Oktober erging unser Angebot an den Präsidenten der Vereinigten Staaten … So war der endgültige Ausgang des Kampfes nicht mehr zu ändern, wenn es uns nicht gelang, ein Aufgebot letzter heimatlicher Kräfte zu Stande zu bringen. Eine Massenerhebung des Volkes würde den Eindruck auf den Gegner und unser eigenes Heer nicht verfehlt haben. War aber eine solche brauchbare, lebensstarke und opferwillige Masse noch vorhanden? Jedenfalls war unser Versuch, eine solche in die Front zu bringen, vergeblich: die Heimat erlahmte früher als das Heer, unter diesen Umständen vermochten wir dem immer härter werdenden Drucke keinen eindrucksvollen Widerstand entgegenzusetzen. Unsere Regierung gab nach in der Hoffnung auf Milde und Gerechtigkeit. Der deutsche Soldat und der deutsche Staatsmann gingen in verschiedenen Richtungen. Der eingetretene Riß wurde nicht mehr befestigt.«

Warum bezeichnete Hindenburg vorher die diplomatischen Tugenden als dem deutschen Wesen fremd? Gibt es eine elegantere Form, die Wahrheit auf den Kopf zu stellen? Daß er den Waffenstillstand gefordert, daß Ludendorff in beider Namen die Massenerhebung abgelehnt, daß Hindenburg dann am 10. November den Abschluß mit dem hammerschlagenden Worte erzwungen hat »so wäre trotzdem abzuschließen«, daß in keinem Dokument aus jenen entscheidenden sechs Wochen die Heimat angeklagt worden war, erfährt das deutsche Volk, dem dieses Buch gilt, nicht. Da war nur eine feige Regierung und hinter ihr war ein ermattetes Volk, das alles verschuldet hat! Und um es noch einmal mit einem eindrucksvollen Bilde den Lesern einzuhämmern, heißt es im Nachwort:

»Wie Siegfried unter dem hinterlistigen Speerwurf des grimmen Hagen, so stürzte unsere ermattende Front.«

Von tausend Rednerlippen ist dieser Satz wiederholt, in Millionen deutscher Herzen ist er gegraben worden. Die Jugend mußte es glauben, weil sie anderes nicht zu hören bekam; die Krieger, sie hörten es gerne, weil es einen Zusammenbruch entschuldigte, dem doch kein Heer hätte entgehen können; die Bürger zu Hause aber glaubten es, weil keiner sich getroffen fühlte, weil jeder im andern und zwar im Sozialisten den grimmen Hagen sah, der den herrlichen Siegfried erdolchte.

Als mit diesen Worten aus dem Munde des deutschen Volkshelden der Streit zwischen den Deutschen entzündet war, sagte der arische Abgeordnete David im Reichstage: »Hindenburg hat seine Autorität hinter die Dolchstoß-Legende gesetzt … Es konnte garnichts verwerflicheres und verhängnisvolleres für die Versöhnung der inneren Gegensätze geschehen, als das Hinauswerfen dieser furchtbaren Anklage gegen unser Volk, gegen die Heimat, die unsäglich gelitten, die alles daran gesetzt hat, um uns nicht zusammenbrechen zu lassen … Der Dolchstoß war die Depesche Hindenburgs, die sofortige Waffenstillstand forderte! Dieses Signal war der Dolchstoß für alle Truppen, die überhaupt noch glaubten, daß ein Sieg erfochten werden könnte!«

In einem großen Prozeß hat sich einige Jahre später die entscheidende Bedeutung dieser Aussage für die Erschütterung der Republik gezeigt. Jetzt hatte die abgesetzte Rechte ein Wort, hinter dem sie ihre Kriegsschuld verstecken konnte: die größte Autorität im Lande hatte sie für sich. In amtlich eingeführten Schulbüchern »Quellensammlung«, Teubner-Verlag, 1931. hat die Republik den Dolchstoß als Grund der Niederlage auf Hindenburgs Wort zurückgeführt. Der englische General, dem das Wort zugeschrieben wurde, hat es dementiert. Der Erfinder des Gedankens ist auch kein englischer General gewesen, sondern ein deutscher: General von der Schulenburg schlug kurz vor der Abdankung des Kaisers als letztes Rettungsmittel folgendes vor:

»Man solle sofort ausgesuchte Führer von ausgesuchten Truppen nach Verviers, Aachen und Köln schicken, um dort mit Waffengewalt die Ordnung wieder herzustellen. Voraussetzung dafür ist eine richtige Parole. Unter unseren Leuten wird die Parole unter allen Umständen ziehen, daß die Marine mit jüdischen Kriegsgewinnlern und Drückebergern ihnen in den Rücken gefallen ist und dem Heer die Verpflegung sperrte.«

Seit Hindenburgs Darstellung schwoll der Chor der deutschen Stimmen an, der Sieg wäre »zum Greifen nahe« gewesen, nur die heimtückischen Sozialisten hätten ihn zerstört. »Die Chance,« schrieb der im Prozeß verklagte Professor, »die Chance für Sieg und Niederlage im Gesamtkrieg hing grade in jenen Oktobertagen an einem Seidenfaden.« Im Prozesse wurden u. a. folgende Symptome geltend gemacht: In den Lazaretten hatten die Genesenden sich geweigert, die vorgeschriebenen »Gesundungs-Übungen« zu machen. Ein invalider Offizier sagte aus, die Schaffnerin in der Trambahn sei ihm nicht mehr ehrerbietig entgegengekommen. »Die Soldaten anderer Armeen sind eben im Essen genügsamer gewesen als der deutsche Soldat,« sagte ein Oberst, der wohl den Krieg in der Offiziersmesse zugebracht hatte. Die Verhetzung sei planmäßig von den Sozialisten vorbereitet und durchgeführt worden, diese hätten von Anfang an den Sieg sabotiert. »Wir bestreiten entschieden, daß im Herbst 18 eine erdrückende Übermacht des Gegners den Entschluß der Obersten Heeresleitung zur Aufgabe des Kampfes veranlaßte: dann wäre die Art des Zusammenbruches eine andere gewesen. Das Gerede von Verständigung, der ganze Geist der neuen Regierung, der seit Juli 17 wirkte, hat die Truppen vergiftet.«

Den Hauptgrund der Unzufriedenheit hatte damals die Truppe in den Vers gebracht: »Gleiche Löhnung, gleiches Essen, und der Krieg wär' längst vergessen!« Was sie verlangten, war aber nur, daß der Offizier nichts besseres als der gemeine Mann bekäme. Was mußte er denken, der gemeine Mann, wenn er im Jahre 18 noch an gewissen Tafeln in Stein gezeichnete Menüs fand? Das Messer des Dolchstoßes, sagten später alte Soldaten, müßte Korkzieher, Büchsenöffner und Sektblecher enthalten. Freilich haben zu Tode gehetzte Soldaten in den Schlachten des letzten Sommers der jungen Mannschaft einmal zugerufen: Streikbrecher! Was hatten sie seit Jahr und Tag erlebt oder doch von Mund zu Munde gehen hören! Zwei Leute waren durchs Sperrfeuer mit der schriftlichen Meldung in den Graben geschickt worden: »Infanterie-Regiment Kirchbach 7. 10. 17. Regimentsbefehl. Hindenburgs Dank vom 70. Geburtstag ist aus den Zeitungen auszuschneiden und in Quartieren, an Unterständen usw. anzuschlagen.« Sicher war das nicht Hindenburgs Befehl, aber es war ein dummer Befehl, und noch dümmer waren die Soldaten, die ihn ausführten, anstatt das Papier in den Dreck zu werfen. Wenn sie von den wohlgepflegten Etappe-Offizieren bei ihrer zerfetzten Heimkehr als »Frontschwein« begrüßt wurden, wenn keiner der abertausend Reserve-Offiziere in eine höhere Stelle des Stabes aufrücken durfte, wenn die jüngsten Leutnants den ältesten Landsturm-Mann anbrüllten, so mußte eine Armee seit zweihundert Jahren in preußischem Gehorsam erzogen sein, um nicht an der Front die Revolution zu machen.

Was dachte wohl der Feldmarschall, wenn er die Zeugnisse seiner Generale las? Dies alles entsprach zwar nicht seiner privaten Darstellung in den Memoiren vom Jahre 19, aber seiner amtlichen vom Jahre 18: der Kronprinz rühmt den Kampfgeist der Truppen, sie hätten auch im letzten Jahre nicht versagt und nennt als Grund der Unzufriedenheit »die ungeheuren Blutopfer der drei Kriegsjahre, Aussicht auf weitere Verluste, Gemütsdepressionen, Ernährungs- und Kohlennot, Versagen des U-Bootskrieges.« General von Kuhl, glänzender Verteidiger der Feldherrn im Untersuchungsausschuß, zieht den Schluß, das Mißglücken der letzten Offensive habe den Krieg entschieden, aber noch im August 18 hätten die Truppen wie einst gekämpft, und fügt den kalten Generals-Satz hinzu: »Der Jahrgang 99 war verbraucht, der Jahrgang 1900 noch nicht reif.« Jener Major, den Hindenburg am 1. Oktober 18 nach Berlin sandte, um den Abgeordneten die Wahrheit zu verkünden, sagte ihnen in seinem Auftrage: »Unsere Truppen haben sich vortrefflich gehalten, der alte Heldensinn ist nicht verloren!« Und der Major von Hindenburg, der Neffe, schließt seinen Bericht über diese Darstellung des Onkels mit den bitteren Worten: »Nach der festen Überzeugung des Feldmarschalls war der Dolchstoß von hinten die Ursache des deutschen Zusammenbruches. Niemand wird ihn eines andern belehren. Die katastrophalen Folgen von Ludendorffs überstürztem Waffenstillstands-Angebot sieht er nicht.«

Wollte aber der Feldmarschall, der sich irrtümlich auf einen englischen General beruft, durchaus einen Feind zum Zeugen, wollte er grade einen Engländer hören, so konnte er sich aus Churchills Kriegsbuch den schönen Epilog zum Beispiel nehmen, den dieser nicht den Generälen, aber dem deutschen Volke widmete: »Seit Menschengedenken hatte man keinen solchen Kraftausbruch erlebt wie den des deutschen Volkes. Vier Jahre lang trotzte Deutschland in fünf Kontinenten, zu Lande, zu Wasser, in der Luft. Die deutschen Armeen hielten die wankenden Verbündeten aufrecht, traten auf allen Kriegsschauplätzen siegreich auf, standen überall auf erobertem Boden und fügten ihren Gegnern die doppelten Blutverluste zu. Um ihre Kraft und ihre Kenntnisse zu überwinden, ihrem Wüten Einhalt zu tun, mußten die größten Nationen der Welt auf dem Schlachtfeld erscheinen … Wahrlich, ihr Deutschen, für die Geschichte habt ihr genug geleistet!«

Wie war das alles möglich ohne die Millionen in der Heimat! Hatte der Feldmarschall diese Menschen vor oder nach der Suppe von Kassel wirklich nie mehr mit Augen gesehen? Stiegen vor ihm, als er im Salon-Wagen nach Kolberg und später wieder nach Hannover fuhr, auf Straßen und Bahnsteigen nicht die hohlen Gesichter von Frauen und Kindern auf, für die der Krieg keine Badekur gewesen? 13 Millionen hatten die Waffen ergriffen, aber die 52 übrigen Millionen waren vier Jahre lang belagert worden. Das deutsche Volk hatte vier Jahre lang den ungeheuren Krieg geführt. Die Feldherrn haben ihn verloren.

 

VII

Sie schienen entschlossen, den Sieg im deutschen Volke wieder zu gewinnen. Noch ehe die Memoiren erschienen, im November 19 wurden sie zu einem großen Schauspiel geladen, von dem entscheidende Folgen für Hindenburgs und Deutschlands Schicksal ausgehen sollten. Der Ausschuß, den der neue Reichstag zur Untersuchung der Katastrophe eingesetzt hatte, lud nun die beiden Feldherrn vor. Es war kein Tribunal, kein Richter sollte sie verurteilen, wie jene Kriegsgerichte, die Benedek, Bazaine, Kuropatkin für verlorene Kriege oder Schlachten bestraften. Der Ausschuß im Reichstage war nur da, um die historische Wahrheit zu ergründen, konnte wie ein Richter jedermann vorladen, vorführen, vereidigen, das Wort entziehen und hatte wenige Tage zuvor Helfferich wegen seines hochfahrenden Auftretens mit 300 Mark Geldstrafe belegt. Nun hatte Ludendorff erklärt, nur gemeinsam mit Hindenburg vor die Schranken zu treten.

Wenn sie wollten, konnten sie absagen. Was war von dieser schwachen Regierung zu fürchten? Würden sie eine Kompanie Reichswehr-Soldaten in ihre Häuser schicken, um sie gewaltsam vorzuführen? Nicht einmal bei Ludendorff hätte die Volksmeinung dies ertragen. Erschienen sie also vor einer Kommission, die sie verachteten, so mußten sie besondere Zwecke haben; sie sollten sich bald enthüllen.

Um die Vernehmung Hindenburgs zu einem nationalen Feste zu gestalten, boten die Nationalisten alles auf: Salon-Wagen, Ehrenkompanie, Einholung, zwei Offiziere der Reichswehr als persönliche Adjutanten, Posten der Reichswehr. Dann zogen vor seinem Berliner Quartier Schulen mit ihren Lehrern auf, das Freikorps Lützow, ungehindert von der Sicherheitswehr, nahm mit einer alten Standarte aus den Befreiungs-Kriegen Aufstellung und führte mitten in einer Berliner Straße einen Parademarsch aus, den Hindenburg entblößten Hauptes abnahm; schließlich, am Morgen der Vernehmung, kamen 300 Studenten in Wichs angefahren, umringten das Auto und riefen: »Wir dulden nicht, daß unser größter Mann von dummen Jungen vernommen wird!«

Helfferich, vor dessen Hause diese Dinge vor sich gingen, denn er hatte den Feldmarschall zu Gaste geladen, gehörte zu jenen unruhigen Politikern, die abends links einschlafen und früh rechts aufwachen. Als der schwere Traum des Krieges vorüber war, erwachte der Demokrat auf der äußersten rechten Seite, bereute seinen Widerstand gegen den U-Bootkrieg und hatte soeben mit Heftigkeit vor dem Ausschuß alles verteidigt, was er drei Jahre vorher in einem andern Ausschuß desselben Reichstages bekämpft hatte. In diesen Tagen suchte er den Ausschuß zu sprengen; als es ihm nicht gelang, bereitete er mit seinen Freunden ein Schriftstück für den Feldmarschall vor, das dieser verlesen sollte. Mit Ludendorff war alles verabredet, um die Aussagen aufeinander abzustimmen. In der Villa jenes Vize-Kanzlers, der ihm damals zuerst zu opponieren wagte, doch auf den ersten drohenden Finger mit Respekt eingeschwenkt hatte, sahen sich die beiden Feldherren wieder: ein Jahr und ein Monat, nachdem sie zum letzten Mal die gewohnte Morgenstunde in Ludendorffs Zimmer verbracht, wo das Zentralgehirn der deutschen Nation seine Pläne spann.

Dezemberlicht und Schneegestöber, Polizei und Maschinengewehre rings um den Reichstag, Hochrufe nach dem Wagen und Schmährufe auf die Republik, Helfferich versucht dem Riesenschritte des Feldmarschalls auf der großen Treppe mit seinem Tritt zu folgen. In der Halle wartet Ludendorff. Im Vorsaal Ovation. Bethmann-Hollweg, von niemand bemerkt, sieht den Jubel von einem Sessel aus an und schüttelt ein bitter-leises Lachen in sich hinein. Im Saal Empfang durch den Vorsitzenden. Alles hat sich erhoben, der Ausschuß, die Schreiber, die Presse, Herren und Damen als Zuhörer, Diplomaten ehemals feindlicher Staaten, die ersten Maler und Schauspieler, die das Schauspiel genießen wollen. Erstes Erstaunen: die Feldherren sind in Zivil. Männer, die in der Uniform geboren schienen, haben der pazifistischen Mode des Tages das Opfer gebracht, sich in schwarzes Tuch ohne glänzende Knöpfe zu hüllen. Dem Riesen steht alles gut. Als er sich setzt, findet er auf seinem Platz einen Strauß von Chrysanthemen mit Schwarz-Weiß-Roter Schleife. Hätte der Vorsitzende die Schleife abnehmen sollen? Gewiß nicht, es ist ja keine Fahne. Wer ist der Vorsitzende?

Auch einer, der unruhig schläft, auch eigentlich ein Demokrat, nur hat er noch nicht ausgeträumt, er liegt noch links. Vor drei Tagen ist der konservative Vorsitzende zurückgetreten, dem es nicht paßte, den Feldmarschall zu vernehmen; zum ersten Mal, – zum letzten, sitzen die alten Mächte vor den neuen und sind gehalten Auskunft zu erteilen; dort hinten sitzt »das Volk«, so weit es Eintrittskarten erhalten. Mußte die Republik nicht den feurigsten und klügsten Mann erwählen, um diese Stunde zu leiten? Man wählte den, der an der Reihe war. Er spricht dem Feldmarschall sein Bedauern aus, daß er bei dem schlechten Wetter hätte herreisen müssen; General Ludendorff hätte leider darauf bestanden.

Der Feldmarschall wird vereidigt: endlich hören die Tribünen einmal seinen berühmten Baß. Wird er mit dieser Stimme die neuen Mächte niederstrecken? Welch eine Lage für den 72 jährigen Junker! Zum ersten Male seit zwanzig Jahren muß er heut einem andern Auskunft geben, der nicht sein König ist. Diese hier, denen er antworten soll, das glaubt er sicher selber, diese haben seinen König vertrieben. Wird er mit seiner gewaltigen Faust sie alle zusammenschmettern? Nichts davon. Die Tribünen werden einen alten Offizier besten Stiles kennenlernen. Alles hat sich nach der Vereidigung wieder gesetzt. Hierauf erhebt sich Ludendorff und liest mit scharfer, abgehackter Stimme im Namen beider Feldherrn eine Rechtsverwahrung, nach der sie die Aussage verweigern könnten, da Gefahr gerichtlicher Verfolgung besteht. Trotzdem seien sie gekommen, damit das deutsche Volk klar sehe, wie sich die Ereignisse wirklich abgespielt haben. Jetzt wendet sich der höfliche Vorsitzende an Hindenburg:

»Die Fragen sind Ihnen zugegangen, Exzellenz. Die erste betrifft den U-Bootkrieg.«

Hindenburg, sehr höflich: »Bevor ich diese Frage pflichtgemäß beantworte, bitte ich die Grundlage für unser ganzes Denken, Tun und Handeln während der Kriegszeit in einem Abriß verlesen zu dürfen, denn aus dieser Grundlage ist alles herausgewachsen, was wir getan haben.«

Kann man die elegante Bitte eines alten Haudegens ablehnen? »Herr Feldmarschall,« sagt der Vorsitzende, »wir hatten die Absicht, von der Verlesung längerer Schriftstücke Abstand zu nehmen, da es sich hier lediglich um Feststellung von Tatsachen handelt. Ich weiß nicht, in wie weit diese Auseinandersetzung, die der Herr Feldmarschall verlesen wollen, sich lediglich auf Feststellung von Tatsachen bezieht. Alle Werturteile will der Ausschuß vorläufig vermeiden.« Und schon ist seine Position geschwächt! In diesem Saal regiert der Bürger Gothein, übrigens Königlicher Geheimer Baurat, gewählt von einem Ausschuß, den die Volksvertreter der Republik gewählt haben. Heute vertritt er und nicht der Feldmarschall das deutsche Volk. 6 Fragen, präzis gefaßt, wie unter Offizieren üblich, hat er den beiden Feldherrn zugeschickt. Warum besteht er nicht auf seinem U-Boot? Warum spricht er in der dritten Person? Muß diese dienstlich gehorsame Anrede nicht in dem Feldmarschall das Gefühl erwecken, daß er auch hier regiert? Hatten nicht schon die Bauern den zehnjährigen Junker in dritter Person angesprochen und nach ihnen eine Armee von Burschen, Ordonnanzen, Offizieren? Würde es ihm jemals einfallen, den armen Bürger dort anzureden »Herr Vorsitzender haben«? Schon stilisiert er seine Antwort um zwei Grad militärischer:

»Ich gebe nur historische Daten, halte aber für unbedingt notwendig, daß ich diese in kurzem Abriß den Herren ins Gedächtnis rufe.« Das heißt, ihr habt ja alles vergessen! Übrigens weiß er genau, daß das Papier in seiner Hand ganz etwas anderes enthält als Daten. Jetzt also wäre der Augenblick für den regierenden Bürger, den vorgeladenen Junker an der Verlesung zu hindern. Aber der Feldmarschall imponiert ihm gewaltig. Er hat doch die Schlacht bei Tannenberg geschlagen! Und da sollte ein gewöhnlicher Bürger ihm ins Wort fallen? Und Hindenburg nimmt eine große Hornbrille heraus, setzt sie sich auf, nimmt seinen Bogen vor und beginnt im bequemen Ton eines Geschichten-Erzählers also:

»Als wir in die Oberste Heeresleitung eintraten, war der Weltkrieg zwei Jahre im Fluß. Getragen von der Liebe zum Vaterlande, kannten wir nur ein Ziel, das deutsche Reich und das deutsche Volk vor Schaden zu bewahren und einem guten Frieden entgegenzuführen. Dazu war der Wille zum Siege nötig. Dieser war gebunden an den Glauben an unser gutes Recht. Ein General, der seinem Lande nicht den Sieg erstreiten will, darf keine Kommando-Gewalt übernehmen oder doch nur mit dem gleichzeitigen Auftrage zu kapitulieren. Solchen Auftrag haben wir nicht erhalten. Wir hätten ihn abgelehnt … Unsere Politik hat versagt! Wir wollten keinen Krieg und begannen doch den größten –«

Glocke des Vorsitzenden. »Hindenburg,« so lautet der Bericht, »zuckt nervös zusammen, stutzt und unterbricht sich mitten im Worte.« Das Unerhörte ist geschehen: ein Mensch, ja sogar eine Glocke hat Hindenburg unterbrochen! Darauf geschieht das zweite Unerhörte: Hindenburg wird nervös. Ist es ein Wunder? Ist er 72 Jahre geworden, um zu erlauben, daß ihn ein Zivilist unterbricht? Man blicke nur dies ganze Leben zurück, und man wird finden, daß er zwar in der Jugend, wohl auch noch mit Vierzig Jahren stramm zu stehen wußte, wenn ein höherer Offizier erschien. Da er aber niemals als Zeuge vor Gericht stand, wo hätte er je einer übergeordneten Zivilmacht gegenüber sitzen sollen? Es ist die erste Unterbrechung seines Lebens. Was sagt des Bürgers Stimme?

»Einen Augenblick! Hier ist ein Werturteil, ich erhebe Einspruch gegen diesen Satz.« Darauf setzt ihm der Vorsitzende mit ausgesuchter Höflichkeit die Gründe des Eingreifens auseinander. Wird jetzt die Faust herniederfahren? Nicht doch, der Junker ist ein Kavalier, obwohl er ein Riese ist. Durch eine stumme Verbeugung gibt Hindenburg zu erkennen, daß er sich der Weisung fügt. Was also wird er jetzt tun? Alle blicken gespannt auf den vornehmen alten Herrn. Der hat einen großartigen Einfall. Der alte Recke, der den »Künsteleien des Verstandes« schon immer den Kampf angesagt hat, trifft auch hier das rechte: stumm hat er sich verneigt, das Monitum entgegengenommen, der Zwischenfall ist vorüber: also fährt er, das Blatt vor die Brille haltend, im selben Satze mit unerschütterlicher Ruhe fort:

»– und begannen doch den größten, schwersten und unerbittlichsten, den die Geschichte je gesehen.« Armer Vorsitzender! Jetzt ist es schon Elf, und alle seine U-Boote schwimmen ihm davon! Lauschend und mit ängstlicher Miene sitzt er da, als unter dem Schmunzeln aller Hörer – denn die Galerie im Theater wie im Gerichtssaal ist nie für das Recht, stets für die siegende Schlauheit – der große Baß fortfährt:

»Ich weiß nur das Eine mit absoluter Gewißheit: das deutsche Volk wollte den Krieg nicht, der deutsche Kaiser wollte ihn nicht, die Regierung wollte ihn nicht, der Generalstab erst recht nicht, denn der kannte besser als sonst jemand unsere unendlich schwierige Lage in einem Kriege gegen die Entente.« Nun ist er im vollen Zuge, die Abwehr der Anklage gibt den Übergang zur Erhebung einer neuen Anklage: da kommt sie schon! »Trotzdem konnten wir den gleichen Kampf zu einem günstigen Ende führen, wenn das geschlossene und einheitliche Zusammenwirken von Heer und Heimat eingetreten wäre. Darin hatten wir das Mittel zum Siege der deutschen Sache gesehen. Doch während sich beim Feinde alle Parteien zusammenschlössen, machten sich bei uns Parteiinteresse breit –«

Glocke, – aber jetzt ist er daran gewöhnt, jetzt weiß er schon, daß es nichts bedeutet, er unterbricht nur und hebt die Augen. Wird ihm der Vorsitzende nun endlich das Wort entziehen? Wird er ihm sagen, man habe ihn nicht hergerufen, damit er die Heimat anklage und die Parteien, die er nicht leiden kann? Wird sich in einem einzigen, entschlossenen Satze nicht endlich diese Republik gegen diesen Monarchisten erheben? Nichts davon, eine höfliche Stimme spricht:

»Herr Feldmarschall, hier ist ein Werturteil (das ist des Königlichen Baurates Lieblingswort), das Sie über das Volk im Innern abgegeben haben. Nach dem Beschlüsse des Ausschusses sollen derartige Werturteile nicht gegeben werden. So leid es mir tut, ich kann dem Herrn Feldmarschall gegenüber keine Ausnahme machen gegenüber den Beschlüssen, die einmütig und einstimmig wiederholt vom Ausschuß gefaßt worden sind. Ich bitte also, diese Stelle fortzulassen.« Viel zu viel Worte, lauter demütigende Entschuldigungen! Hat der Zeuge nicht recht, wenn er jetzt seine vorhin bewährte Technik wieder aufnimmt und mit ruhigem Baß in seinem Satze fortfährt:

»– und diese Umstände führten sehr bald zu einer Spaltung und Lockerung des Siegeswillens.«

Die Glocke tönt, die fürchterliche! »Auch das ist ein Werturteil, gegen das ich Einspruch erhebe.« Unruhe im Saale. Der Vorsitzende warnt Zuhörer und Presse. »Ich bitte nunmehr –« Hindenburg aber, jetzt da er den Satz schon in den Saal und von hier aus in die Welt geschleudert hat, scheint zunächst einzulenken, indem er den Zwischensatz improvisiert: »Die Geschichte wird über das, was ich hier nicht sagen darf, das endgültige Urteil sprechen.« Mit dem Worte »darf« hat er die Sympathie des Saales vollends gewonnen, so daß er ungehindert in seiner Schmähung der Heimat fortfahren kann:

»Ich wollte kraftvolle und freudige Mitarbeit und bekam Versagen und Schwäche.«

Der Baurat wird immer unruhiger. Da er keinen entscheidenden Vorstoß wagt, setzt er die Politik der Nadelstiche fort; da er nicht reden kann, wiederholt er beständig dasselbe dumme Wort Werturteil, das sagt er jetzt zum fünften Male, fügt aber nun hinzu: »gegen das ich entschieden Einspruch erheben muß.«

»Die Heimat,« erwidert ihm der Baß des unerschütterlichen Helden, und jetzt holt er erst zum Hauptschlage aus, »die Heimat hat uns von diesem Augenblick an nicht mehr gestützt. Die Sorge, ob die Heimat fest genug bliebe, hat uns nie verlassen … In dieser Zeit setzte die heimliche, planmäßige Zersetzung von Flotte und Heer als Fortsetzung ähnlicher Erscheinungen im Frieden ein … Die braven Truppen, die sich von der revolutionären Zermürbung freihielten, hatten unter dem pflichtwidrigen Verhalten der revolutionären Kameraden schwer zu leiden.«

Nun ist es ausgesprochen! Um diesen Satz in diesem Saale zu sprechen, hatte sich der Feldmarschall von Hannover aufgemacht. Vorgeladen, um zu erklären, warum er den U-Bootkrieg trotz Amerika beschlossen, warum er den Waffenstillstand erzwungen, hat er's verstanden, in der innersten Zelle der verhaßten Republik, im Reichstag selber, vor aller Welt die Partei anzuklagen, die diese Republik geschaffen hat und trägt. Und nun? Wird sich der Vorsitzende zurückziehen, um über diese Haltung des Zeugen zu beschließen? »Unruhe« verzeichnet der Bericht. Rücksprache des Vorsitzenden am Tische mit zwei Abgeordneten. Nach diesem leisen Gespräch wendet er sich wieder um und sagt: »Ich bitte fortzufahren, Herr Feldmarschall!«

Mit unveränderter Stimme, denn wie sollte ihm diese Erlaubnis des Zivilisten jetzt noch imponieren, schließt Hindenburg seine Anklagerede:

»Die Absicht der Führung konnte nicht mehr zur Ausführung gebracht werden. Unsere wiederholten Anträge auf strenge Zucht und Gesetzgebung wurden nicht erfüllt. So mußte unsere Operation mißlingen, es mußte der Zusammenbruch kommen. Die Revolution bildete nur den Schlußstein … Ein englischer General hat mit Recht gesagt, die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden … Das ist die Grundlinie der tragischen Entwickelung des Krieges für Deutschland nach einer Reihe so glänzender, nie dagewesener Erfolge an zahlreichen Fronten.«

Auf diese siegreiche Fanfare hat der klägliche Vorsitzende gar keine Antwort bereit. Mit keinem Wort weist er die Anklage zurück; er kann nur sagen: »Darf ich nun bitten, in die Beantwortung der Fragen einzutreten?« Warum der U-Bootkrieg beschlossen worden sei?

Hindenburg: »Weil andere Mittel, der schwer bedrängten Westfront zu Hilfe zu kommen und den Feind friedenswillig zu machen, nicht mehr bestanden … Dies war der einzige Weg, den Krieg zu beenden.«

Bei der hierauf folgenden Vernehmung Ludendorffs ist der Vorsitzende kürzer angebunden, er ist ja nur der Feldherr gewesen, nicht der Volksheld. Ludendorffs nervöse Stimme überschlägt sich, er wettert, es kommt sogleich zum Zusammenstoße wegen der fatalen Werturteile, worauf Ludendorff heftig ausruft: »Was ist eine Tatsache und was ist ein Werturteil! Ich habe hier einen Eid geschworen! Wenn ich das nicht sagen darf, komme ich mit meinem Gewissen in Konflikt!«

Hierauf zieht sich der Ausschuß zur Beratung zurück. Halbstündige Unterbrechung. Alle Welt nimmt Gelegenheit, sich den beiden Feldherrn zu nähern, sie halten, vollkommene Herren dieses Saales, einen förmlichen Cercle. Nach Aufnahme der Verhandlungen kommt es zum Streit zwischen den anwesenden Zeugen Bethmann Hollweg und dem Grafen Bernstorff auf der einen, den Feldherrn auf der andern Seite. Hindenburg vertritt die Auffassung, Amerika habe »ja doch mit der Entente unter einer Decke gesteckt«, hätte auf alle Fälle den Krieg begonnen. Bernstorff, zu jener Zeit Botschafter in Washington, entkräftet dies. Ludendorff haut mit der Faust auf den Tisch und schreit: »Das ist eine der infamen Lügen, die im Volke herumlaufen, daß Wir an allem schuld sind! Vielmehr haben wir beide durch und durch loyal gehandelt …! Ja, ich gestehe, daß Graf Bernstorff mir durch und durch unsympathisch ist! Er hat den Kanzler über Wilson falsch unterrichtet! Er hat das Schwanken in der U-Bootfrage veranlaßt, das schließlich zum Kriege mit Amerika und den Neutralen führen mußte …! Ich soll nach Aussage des Grafen Bernstorff gesagt haben, ich wollte den Frieden nicht! (Faustschlag). Diese Worte habe ich nie gesagt! Ich verlange, daß der Feldmarschall und meine sämtlichen Mitarbeiter darüber vernommen werden, ob ich je gesagt habe, daß ich dem deutschen Volke keinen Frieden bringen wollte! Das ist ein Hohn auf die Verantwortung, die ich im Herzen fühle!«

Bernstorff weist die Anklage mit vornehmer Ruhe zurück. Jetzt aber greift Hindenburg ein: »Ich weise den Vorwurf gegen meinen Mitarbeiter auf das schärfste mit großer Entrüstung zurück … Ich weiß nicht, ob die Herren ein derartiges Verantwortungsgefühl für das Vaterland kennen, wie wir es jahrelang im Herzen trugen!«

Auch jetzt erhebt sich niemand. Auch jetzt donnert keine Stimme der andern entgegen. Auch jetzt schützt der Königliche Baurat das deutsche Volk nicht, nicht die Mitglieder des Ausschusses und des Reichstages, die alle ihre Söhne und Brüder haben fallen sehen. Warum nicht? Weil es zwei Uhr ist, alle Welt hat Hunger, das Frühstück wartet, wenn auch in verschiedener Güte, und als der bescheidene Zivilist die beiden Feldherrn fragt, ob sie nachmittags wiederkommen wollen, erklären sie, sie seien nicht in der Lage. Sie sind nie wieder gekommen. Rückfahrt, Polizei, Reichswehr, Hochrufe.

Der Mann, der den Sinn dieser Szene begriff, bevor sie zu Ende war, ist ein unbekannter Offizier gewesen, der während der Sitzung draußen vor dem Reichstage zur versammelten Menge eine Rede hielt und vor den Ohren der Polizei über den Platz weghallend ausrief: »Der Augenblick ist ein historischer! Er bildet mit am Fundament für den nationalen Widerstand unseres Volkes! Die Männer, die Deutschlands Ehre vier Jahre lang geschützt haben, sind eben durch dieses Tor geschritten, um der deutschen Wahrheit zum Sieg zu verhelfen! Heil ihnen! Ein Erwachen geht durch unser Volk! In diesem Ausschuß erkennen wir die wahren Volksverräter!«

 

VIII

Im 75. Jahre hat Hindenburg der schwerste Schlag getroffen. Nach 40-jähriger Ehe starb ihm an schwerer Krankheit seine Frau. Der Photograph, der ihn seit Tannenberg mehr verfolgte, als ihm lieb war, hat hier beim Leichenzuge von ihm einen Ausdruck festgehalten, der sich als großes Dokument enthüllt und umso tiefer wirkt, als dieser Mann zwischen all dem Train von Uniform und Fahnen, mit Orden und Sternen einhergeht, die ihm auch in solcher Lage die Sitte seiner Väter vorschreibt. Unter den tausend Bildern, die den Feldmarschall in und nach dem Kriege, auch in den Tagen des Zusammenbruches darstellen, ist nicht eines, das diesem Bilde gleicht. Unendliche Trauer! Hier bietet sich ihm kein Übergang, kein Symbol mehr dar. Ein alter Mann verliert seinen einzigen Freund. Der Riese scheint gebrochen.

Mit den gleichen Gefühlen stand einige Jahre später an Eberts Grabe seine Frau. Die biologischen Umstände, nach denen bei solchen Lebenspaaren der Mann die Frau überlebt oder sie ihn, werden von der größeren Anstrengung des Mannes oder der größeren Hingabe der Frau nicht völlig bestimmt. Mystische Zusammenhänge wirken zwischen ihnen, und auch das ist nicht auszumachen, welche von beiden Auflösungen die natürliche sei. Bismarck sagte in schönem Trotze: »Ich möchte nicht meiner Frau wegsterben, aber ich möchte auch nicht, daß meine Frau mir wegstirbt.« Seine Vitalität war wie die Hindenburgs der der Frau überlegen.

Eberts Tod vor Ablauf seines Amtes brachte neue Verwirrungen in die Politik. Seine Ernennung war nur eine Bestätigung gewesen. Das Schauspiel dieser Volkswahl, die seinem Tode folgte, ist so bedeutend, weil hier die Deutschen zum ersten Mal in ihrer Geschichte sich aufgerufen fühlten, nach eigenem Kopf und Herzen sich ein Haupt zu wählen. Was werden sie tun, fragte neugierig die Welt. Zunächst sprang jede Partei hervor und präsentierte ihren eigenen Kandidaten: anstatt zwei gegenüberzustellen, bestanden die Parteien auf 9 Kandidaten: lauter Politiker, von denen keiner dem ganzen Volke bekannt war, dazu einen Gelehrten und einen General. Auch den tüchtigen Gelehrten kannte nur seine Partei und seine süddeutschen Landesgenossen, der General aber war Ludendorff.

Ließe sich jemand für den Augenblick von dem Vorurteile leiten, die Deutschen wären wirklich noch das Volk der Dichter und Denker, so fiele ihm wohl ein Dutzend Namen ein, geeignet Deutschland darzustellen. Nicht um der Männer, doch um des Typus willen nennen wir Namen wie Max Weber, Simons, Bosch, Eckener, Gelehrte und Erfinder von tiefen Gedanken oder praktischen Leistungen, zugleich durch Alter und Vielseitigkeit, Kenntnis des sozialen Ablaufes und Freiheit der Anschauung geeignet, an der Spitze eines Organismus zu stehen; politisch Männer der Mitte, die den Extremen keinen Schrecken einjagen: würdige Köpfe. Keiner von ihnen oder denen, die mit ihnen zu vergleichen wären, wurde genannt, und als 6 Jahre vorher, in der Weimarer Versammlung, das Telegramm einer Gruppe von Auslands-Deutschen Walter Rathenau zum Präsidenten vorschlug, verzeichnete der Bericht nach der Verlesung dieses Antrages »Heiterkeit«.

An dieser ihrer ersten Volkswahl hatten nur 69 % der Deutschen Interesse. Die Führer der Rechten und der Linken erhielten je 8 und 10 Millionen Stimmen, Ludendorff nur eine Viertel Million. Für den zweiten Wahlgang einigte sich die Linke mit der Mitte auf den Zentrumsführer Marx, und auch die Rechte wollte sich auf ihren Vertreter, einen Bürgermeister einen. Da aber erkannte die Rechte, sie würde die Wahl mit einem unbekannten Manne verlieren. In vier Wochen sollte man sich für die nächsten sieben Jahre entscheiden. Alle Welt suchte nach einem großen Namen, bis einer ausrief: Das Ei des Columbus! Hindenburg! Der Einfall war nur möglich in einem neuen Staate, dessen Schwächen wir mit ihren inneren Gründen skizziert haben. Er wurde aussichtsreich nur nach dem glänzenden Siege, den der Feldmarschall über den Untersuchungs-Ausschuß errungen. War dieser Sieg schon vor 5 Jahren möglich, wie leicht mußte heute die Mehrheit des Volkes für ihn zu gewinnen sein! Der unbekannte Offizier, der damals vor dem Reichstage zur Menge gesprochen, war ein Prophet.

Doch sofort entstanden Zweifel: wird man ihn nicht mit Mac Mahon vergleichen, der als Präsident der Republik nur des abgesetzten Kaisers Statthalter sein wollte? Was wird, warnte Stresemann, das Ausland sagen? Wird man uns nicht jeden moralischen und zugleich noch jeden Geldkredit kündigen? Man fragte an: der Feldmarschall lehnte ab. Große Verlegenheit dort, Aufatmen auf der andern Seite. Junker, Offiziere, Großindustrie, alles was Deutschland vorher regiert hatte und nach sechs Jahren blutarmer Republik nun wieder zu regieren entschlossen war, vereinigte sich zu neuen Sitzungen, um Hindenburg moralisch zu zwingen. Mit ihm, so rechneten sie, würden sie leicht fertig werden, er würde gut aussehen und alles unterschreiben. Tirpitz, der Admiral, der im Anfang des Krieges, schon vor 10 Jahren, auf Hindenburg als gebornen Kanzler gewiesen, das war der Mann den Alten zu überreden! Als erster hatte er damals den politischen Wert einer Legende begriffen, denn da schrieb er vertraulich, er kenne ihn so gut wie garnicht, und doch sei er der einzige Mann. Nur wenn Hindenburg wieder ablehnte, würde man Tirpitz selber aufstellen.

Es war der 6. April 25, in Hindenburgs Zimmer lag wahrscheinlich die Kreuzzeitung auf dem Tische, als Tirpitz eintrat, denn das tat sie seit 60 Jahren. In den ersten Tagen der Revolution hatte sie die Inschrift »Mit Gott, für König und Vaterland« für alle Fälle weggelassen, man wußte nicht, was kam; doch sogleich faßte sie wieder Mut und spie nun seit sechs Jahren ihre Wut gegen die »rote Juden-Republik« ihren Lesern zu und so auch in dieses Haus. Da saßen sie sich nun gegenüber, der 76 jährige Mann mit dem langen weißen Barte und der 77 jährige Mann mit dem großen grauen Schnurrbart und suchten einander zu überreden. Was dabei beide dachten, scheint Hindenburgs Neffe, der Major, unmittelbar erfahren zu haben, denn er schreibt:

»Der Feldmarschall war sich in seinem Innern klar, daß … dieser Schritt Bruch mit seiner Tradition bedeutete, daß er dann der erste und treueste Hüter der Weimarer Verfassung war und sein mußte. Kann er das mit seiner Auffassung, mit seinem dem Kaiser geschwornen Eide vereinbaren? Tirpitz sagte ihm, es sei seine Pflicht als Liebling des Volkes, dem Ruf der Mehrheit zu folgen. Es sei ein Opfer, ja, doch müsse er's dem deutschen Volke bringen! Aber,« setzt der jüngere Hindenburg hinzu, »daß zahlreiche, ebenso wertvolle und ebenso vaterländisch gesinnte Kreise der Wahl des Feldmarschalls … schwere Bedenken entgegenbringen, verschweigt der Großadmiral. Mit Stresemann befürchteten auch viele andere von Hindenburgs Wahl eine schädliche Rückwirkung auf unsere Außenpolitik. Sie glauben nicht, daß der alte Soldat seiner ganzen Erziehung und Tradition nach trotz ehrlichsten Willens die nötige Objektivität aufbringen würde, um sich dem einseitigen Einfluß der ihm persönlich nahestehenden rechten Kreise zu entziehen und sich mit vollem Herzen hinter die neue Staatsform zu stellen.«

Hindenburg fordert drei Tage Bedenkzeit. Welches waren seine Gedanken?

Hannover, die fadeste Stadt des Reiches, wie der Dichter sagt, war seit den Tagen von Werthers Lotte und seit den isabellfarbnen Hengsten der Herzoge von Cumberland nicht kurzweiliger geworden. Wenn der Feldmarschall auf seinem Spaziergange sich an dem Siegesengel auf der Waterloo-Säule erfreut hatte, die den großen Exerzierplatz beschützte, und an dem Welfenroß, dessen Statik ein ewiges Geheimnis bleibt; wenn er die schöne Lindenallee hinaufgegangen oder im Park von Döhren vielleicht eines von den in Freiheit grasenden Rehen entdeckt hatte, so konnte er noch das berühmte Treibhaus besuchen, das alle fünf Jahre aufgestockt werden mußte, weil dort die höchste Palme Europas gepflegt wurde, vielleicht das Urbild jenes kleinen Phönix, das ihm als Tafelaufsatz überallhin in den Krieg gefolgt war. Zweimal wöchentlich trank er dann nachmittags am Rande der Eilenriede in einer Gartenwirtschaft sein Glas Wein, wie alle pensionierten Offiziere vor ihm getan.

Aber was war das alles, seit seine Frau nicht mehr neben ihm ging, nicht mehr mit ihm die Beförderungen in dieser verdammten Reichswehr besprach, wo nun doch die meisten Neffen und Freundessöhne untergekommen waren, oder mit gemischten Gefühlen die neusten Nachrichten mit ihm kommentierte, die aus Doorn gekommen waren, wohin ein schmerzlicher Blick nie ganz erlosch. Die Stadt und vor allem das große Haus war ihm nicht mehr lieb, seit er die Frau nicht mehr darin sah, mit der er sein Leben in großem Frieden verbracht hatte. Hindenburgs Entschlüsse in diesen Tagen wären wahrscheinlich andere gewesen, wenn er ein behagliches Heim mit seiner Frau hätte aufgeben müssen, von der nie ein ehrgeiziges Wort in die Welt gedrungen ist.

Früher, als sie noch lebte, hatte er sich's zugeschworen: »Der baumwollene Regenschirm, den ich mir gleich nach dem Kriege kaufe, macht mir jetzt schon Freude. Nach Friedensschluß reite ich mit meinem Kaiser durchs Brandenburger Tor nach dem Schloß, wo ich mitfeiern will. Dann setze ich mich in die nächste Droschke, fahre zu meiner guten alten Frau, und dann sieht mich nie jemand wieder!«

Ja, mit dem Kaiser! »Aus seinem rein militärischen Denken und Empfinden – hatte Oberst Bauer geschrieben –, folgte sein Verhältnis zum Kaiser, das den Rahmen des persönlichen, durch Eid verpflichteten Offiziers nie verließ. Und dieser Eid wiederum war ein in ihm stets leibhaftiges Element, das seine Wurzeln in der einfach-schlichten, aber tiefen Gottesfurcht des Feldmarschalls fand.« So war's! Hatte er nicht selber am Schlusse seines Buches vor dem deutschen Volke feierlich bekannt, er wünsche »aus dem ewig bewegten Meere völkischen Lebens jenen Felsen wieder auftauchen zu sehen, an den sich einst die Hoffnung unserer Väter geklammert hat: das deutsche Kaisertum!«

Wie stand das heute mit diesem Eid? Hatte der Kaiser ihn nicht allen Offizieren und Beamten feierlich zurückgegeben? Hatten nicht Tausende die neue Verfassung beschworen und waren doch im Herzen treue Monarchisten geblieben? Nur er, nur grade er hatte drei Jahre nach dieser Entbindung vom Eid, noch im Jahre 22 in jenem Briefe freiwillig dem Kaiser geschrieben, daß er stets mit unbegrenzter Treue zu seinem Kaiserlichen Herren stehen werde. Wie aber, wenn sich beides verbinden ließ? War nicht das Vaterland noch das nämliche, das dem Kaiser und König so sehr am Herzen lag? Mußte dieser nicht wünschen, daß ein Mann von altem Schrot und Korn es verwalte, anstelle jener roten Gesellen, die ihn daraus verjagt hatten? Wie, wenn das Vaterland noch über dem König stände, bei seinem Verschwinden an seine Stelle träte, da es in ewiger Ruhe liegt, während die Menschen wandern?

Das arme Vaterland war ganz verlassen! Niemand, so hatte Tirpitz ihm gesagt, sei da, um es mit starkem Arm zu lenken; er selber würde, wenn Hindenburg ablehne, in die Bresche springen. Zu alt war er durchaus nicht, das war wahr, denn in diesen sechs Ruhejahren hatte er sich eher verjüngt. Und war ihm die Aufgabe im Grunde nicht vertraut? Eine große Verwaltung, wie er sie gewohnt war, Dienst, ähnlich wie beim Armeekorps, mit Ruhe und Kraft die Leute zusammenhalten, damit sie nicht mehr wie vorher auseinander laufen. Autorität, die war's! Wer hatte sie denn sonst in deutschen Landen? Kommando, das war's! Dazu war ein Palais der rechte Platz, um Ehrfurcht zu gebieten! Glänzende Säle, er kannte sie wohl, als Leutnant hatte er dort beim Grafen Schleinitz getanzt, dem es damals gehörte. Der Train des Hauptquartiers, der sich ihm vier Jahre lang geboten, würde sich jetzt im großen Stil erneuern; die Empfänge von Magdeburg, nur alles viel größer. Die alten Generale, die ihn einst bekämpft hatten, würde er würdig empfangen. Landesherr! Das war die letzte mögliche Beförderung! Hatte er nicht schon nach des Kaisers Abgang gleichsam in seinem Namen kommandiert? Und jetzt, vor diesen Angstmeiern, die ihn mit ihrem »Werturteil« unterbrachen und dann doch immer weiter reden ließen, vor diesen Zivil-Hasen sollte er zurückweichen?

Verfassung! Was er beschwören wird, das wird er halten. Man glaube nur nicht, daß ein alter ehrlicher Soldat zwei Spiele spielt! Glaubten die alten Kameraden, er werde den Kaiser zurückführen, die konnten sich irren! Wozu auch, wenn die Macht nun doch allmählich wieder in jene Hände fällt, die dafür geboren sind! Denn diese Verfassung verbot ihm nicht, mit Seinesgleichen zu regieren. Kam er an die Macht, so würde er seine Klasse streng auf dem Boden dieser Verfassung zu stärken wissen. War denn der deutsche Adel vertrieben wie in Rußland? Er war nicht einmal abgeschafft wie in Österreich. Im neuen Staat, wo alle Klassen gleich sind, bleibt jedem Kavalier das Recht sich zu bewähren. Konnte er seiner Klasse die Unterstützung versagen, die er ihr auf legalem Boden reichen durfte? Wurde er nicht zugleich Oberster Herr der Reichswehr, kehrte also in seine alte Stelle gleichsam zurück? Was Tirpitz kann, wird man am Ende selber noch leisten; übrigens war er ihm, dem Feldmarschall, untergeordnet.

Wo also war ein Gegensatz zwischen den Eiden! Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist: das tiefe monarchische Gefühl, das er niemals verleugnen würde! Dem Vaterlande aber galt die alte Kraft, es wieder aufzurichten war Pflicht eines echten Soldaten!

Heut hieß die Pflicht: sich selbst zu überwinden! Es war nicht wenig! Mit diesem Reichstag sollte er sich schinden oder doch mit seinen Ministern! Das Volk, das er seit seiner Jugend nur immer hatte gehorchen sehen, würde ihm seine Abgesandten ins Palais schicken, einen Bauern, einen Arbeiter! Vielleicht würde eines Tages ein gemeiner Soldat zu ihm als Minister kommen, vielleicht ein gewöhnlicher Gefreiter! Das Opfer war nicht klein, nein, wenn man's recht besah, so war es riesengroß!

Doch Tirpitz hatte recht: man muß das Opfer bringen! Zweimal versuchte er's schon, zur Ruhe zu gelangen. Es ist ihm nicht vergönnt. Der Dienst geht weiter.

 

IX

In magischer Lichtschrift strahlte der Name Hindenburg auf vor dem deutschen Wähler. Er sollte ausziehen, sich ein Haupt zu erküren, und nach Menschenverstand brauchte dies Haupt nur zweierlei zu erfüllen: er mußte ein politisch denkender Mann sein und ein Republikaner. Beides hatte Hindenburg abgelehnt: er sei eine unpolitische Natur und Monarchist. Eben deshalb! rief die Hälfte der Deutschen. Eben deshalb? fragte das Ausland. Aber er ist doch der Sieger von Tannenberg! riefen die Deutschen. Hatten sie schon infolge Abreise leider keinen Fürsten mehr, vor dem sie strammstehen durften, so wollten sie doch einen glänzenden General vom Straßenrand her grüßen. Der Aufruf des Rechtsblockes traf deshalb den tiefsten Grund für die Wahl mit den Worten: »Hindenburg hat das große Opfer seiner Kandidatur gebracht. Wir betrachten es als eine ganz selbstverständliche Pflicht aller Deutschen in Stadt und Land, sich mit ganzer Kraft für unseren Hindenburg einzusetzen.« Die Gründe der Wahl waren also echt preußische Gründe: das Opfer des alten Herrn muß durch seine Wahl belohnt werden. Die Uniform muß wieder an der Spitze des Reiches stehen. Indem wir ihn wählen, machen wir ihn nachträglich zum Sieger, obwohl er es ja eigentlich schon war. So machten sie sich auf, nach den geheimen Träumen ihrer Seele den alten General von echtem Schrot und Korn, den Mann von altem Adel, den zarten Kern in rauher Schale zu wählen, der kein Opfer scheute. Hindenburg hatte das Glück im Leben, daß seine Gefühle von Dienst und Pflicht mit seinen Wünschen nie in Konflikt gerieten.

Stolz und bescheiden sprach er auch in seinem Aufruf vor der Wahl zum Volke nur von Pflicht: »Mein Leben liegt klar vor aller Welt. Ich glaube, in schwerer Zeit meine Pflicht getan zu haben. Wenn meine Pflicht mir nun gebietet, auf dem Boden der Verfassung, ohne Ansehen der Partei, der Person, der Religion und des Berufes als Reichspräsident zu wirken, so soll es an mir nicht fehlen. Als Soldat habe ich immer die ganze Nation im Auge gehabt, nicht die Parteien. Sie sind in einem parlamentarisch regierten Staate notwendig, aber das Staatsoberhaupt muß über ihnen stehen und unabhängig von ihnen für jeden Deutschen walten … Wie der erste Präsident auch als Hüter der Verfassung seine Herkunft aus der sozialdemokratischen Arbeiterschaft nie verleugnet hat, so wird auch hier niemand vermuten können, daß ich meine politische Überzeugung nicht bekenne … Ich reiche jedem Deutschen die Hand, der national denkt, die Würde des deutschen Namens nach innen und außen wahrt und den konfessionellen Frieden will, und sage ihm: Hilf auch du zur Auferstehung unseres Vaterlandes!«

Da diesen patriarchalischen Ton alle Deutschen verstehen, blieb niemand an dem Trugschluß hängen, in dem er seine und Eberts Vergangenheit im selben Atem mit dem Geiste der Republik verglich, und Katholiken und Juden hatten auch noch eine Spezial-Garantie in der Tasche.

Nur seine Anhänger waren überrascht. Sie hatten gehofft, ihm an den Großvaterstuhl Aufrufe und Reden zur Unterschrift zu bringen. Stattdessen warf er sich selber in den Wahlkampf, denn nun wollte der alte Soldat doch nicht geschlagen werden, wie vor vier Wochen sein Gehilfe. »Wenn wir mit unseren Mappen erschienen,« erzählte einer seiner Leute, »so prüfte er jeden Satz, jedes Wort und pflegte die Entwürfe meist zu vereinfachen.« Auch mit der Presse stellte er sich gut, er empfing sie zusammen und einzeln. Hier war kein Ludendorff mehr, der ihn wie im Kriege vertreten konnte; hier war überhaupt ein höchst persönlicher Sieg zu erringen, das fühlte er und trat in Aktion.

Auf die Frage, ob er den Kaiser zuvor um Erlaubnis gebeten, sagte er: »Das ist völlig unwahr. Ich habe in dieser Frage mit dem Hause Hohenzollern keine Fühlung gehabt.« Das war das erste Mal, daß er statt aller Königstitel, die er in den Memoiren verschwendet, vom Hause Hohenzollern sprach wie ein Roter. Überhaupt verstand er, die skeptisch gestimmte Presse sogleich humorvoll anzufassen: »Ein alter Soldat macht nicht viel Worte … Ich will Deutschland den Frieden wieder geben. Ich bin kein Militarist, wie meine Gegner sagen. Ich bin kein Massenmörder, denn im Kriege kann keine Gewähr für die persönliche Sicherheit des Einzelnen übernommen werden. Aber das wiederhole ich: ich bin auch nicht der alte Mann im Rollstuhl, wie man das Volk glauben machen will, bin es heute noch nicht, und so Gott will, noch lange nicht!« Da hatte er gleich hundert Journalisten und durch sie ein paar Millionen Menschen gewonnen. Zum Vertreter der Hearst-Presse sagte er: »Man meint, ich sei kein Berufs-Politiker. Man weiß zur Genüge, daß die neuzeitlichen Berufs-Politiker sich oft wenig zur wirklichen Führung eignen. Es fehlt an Autorität, wenn die Politik zu sehr als Geschäft betrieben wird.« Wie wahr! sagten seine deutschen Gegner, als sie dies lasen, und auch überm Meere drüben verstand man dies Wort. »Ich war ein bißchen eingerostet,« sagte er ein andermal. »Jetzt aber werde ich wieder jung!«

In acht Tagen hatte sich Hindenburg mit solchen tüchtigen Worten unter vielen Zweiflern beliebt gemacht. Auch daß man damals pazifistisch auftreten mußte, wie er's stets verspottet, wußte er wohl. »Wer den Krieg gesehen hat wie ich,« sagte er, »wünscht keinen zweiten.« Doch fügte er hinzu: »Das deutsche Volk wird wieder auferstehen, aber das werde ich nicht mehr erleben. Mein Sohn, der wird es mitmachen … Gott hat ihn mir erhalten, vielleicht damit er sehen darf, was mir versagt ist. Ja, Deutschland wird auferstehen!« Wie er als alter Soldat sich diese Auferstehung dachte, verriet er nur in dem Worte »mitmachen«. Ein paar Jahre zurück, und er hatte zur Jugend von Hannover gesagt: »Ich werde es nicht mehr erleben, aber vom Himmel her werde ich euch zusehen, wenn ihr jungen Leute in Paris einmarschiert!«

Trotz alledem ergab die Wahl nur ein geringes Mehr für ihn: 14,6 Millionen Stimmen standen gegen 13,8, die auf den Katholiken Marx fielen. Und er wäre garnicht gewählt worden, hätten nicht die Kommunisten aus Haß gegen ihre Brüder ihre zwei Millionen Stimmen abgetrennt und ihrem eigenen Kandidaten gegeben, so daß sie zersplitterten. Bei diesem zweiten Wahlgang stimmten 3 Millionen mehr Deutsche als beim ersten. Wer waren diese 3 Millionen? Die unpolitischen, verärgerten kleinen Leute, die nicht aus dem Hause gehen, die nie gewählt haben: verarmte Kleinbürger, denen der Krieg alles genommen, sie waren es, die sich zum ersten Mal an eine Urne wagten, denn in ihrem Herzen klang es wieder: den alten treuen Mann, der so lange für uns gekämpft hat, den armen Feldmarschall, der in Land und Haus das schwerste verloren hat, den dürfen wir im Kampfe nicht verlassen!

Als der Sohn, der nachts am Radio die Resultate zählte und anfangs schon verzagte, schließlich am Morgen die Ziffern beisammen hatte, weckte er, so berichtet der Maler, den alten Herrn: »Vater, du bist Präsident des Deutschen Reiches!«

»So,« sagte Hindenburg. »Dann gebe Gott der Herr seinen Segen dazu. Weißt du, da werde ich noch ein Stündchen weiter schlafen.«

Um dieselbe Stunde treten bei seinem Gegner Marx seine Freunde ein, erschöpft von den Aufregungen ihres 2 monatlichen doppelten Wahlfeldzuges. »Ich bin um 9 schlafen gegangen,« sagte Marx lächelnd. »Jetzt eben aber, als die Schwester weinte, wie sie mit meinem Kaffee eintrat, da habe ich mir gleich gedacht, es wird wohl schief gegangen sein.«

So groß war der Impetus der beiden Männer, die vom deutschen Volke ausersehen waren, als es zum ersten Mal nach tausend Jahren auszog, sich ein Haupt zu erwählen.

An einem strahlenden Maitage fuhr eine Woche später der neue Präsident im Extrazuge in Berlin ein. Alles war wie einst im Kriege, nur alles viel größer: Ehrenkompanie, Kanzler im Frack, Töchterchen mit Blumen und Gedicht, unübersehbare Menge, Hurra rufend. Schade, daß vorn am Kühler des Autos die verhaßten Farben wehn! Langsam fuhr der Wagen durch den Tiergarten, jetzt näherte er sich dem Siegestor. Zweimal war der junge Hindenburg mit klingendem Spiel, mit Orden und glücklichem Gesicht unter den Siegern hier eingezogen; vom dritten Mal hatte er zuweilen im Hauptquartier gesprochen: wie das wohl sein würde. Waren die Geister der Könige nicht in der Luft, als nun der Wagen in den Schatten des tiefen Tores einfuhr, grade durch die Mitte, die sonst nur der Kaiser durchfahren durfte? War er sein Nachfolger? Welche Erfüllung! Nur eines fehlte! Das Schwert, dessen metallenen Klang er ein Leben lang immer leise vernommen, heut hing es nicht an seiner Seite, und wenn er nach dem Kopfe fuhr, um zu grüßen, konnte er nicht mehr nach einer 60 jährigen Gewohnheit die Finger an den Helm legen, sondern mußte den steifen Rand eines hohen schwarzen Zylinders ergreifen, um die Menge zu grüßen. Unter all den Soldaten, die für ihn in Parade standen, war Hindenburg heute der einzige Zivilist.

Als er am nächsten Tage den großen Saal des Reichstages betrat, erhob sich vor ihm in seinen Abgesandten das Volk. Blumen schmückten den Saal und das Pult des Präsidenten, aus allen Logen blickten sie ihn an, die fremden Attachés in ihren einst so feindlichen Uniformen, die Damen in heller Seide, denn es war Mai. Mit festen Schritten ersteigt der Riese die Stufen. Wer wartet dort auf ihn? Ein Zwerg. Ein Zwerg mit einem Dutzend-Gesicht, so erschien neben jener mächtigen Gestalt der Präsident des Reichstages, Loebe. Was liegt vor ihm? Die Eidesformel in riesigen Lettern, damit der alte Herr sich nicht mit einer Brille zu entstellen braucht. Aber was leuchtet unter der Formel, mit welchem Tuch ist das ganze Pult gedeckt? Dort leuchtet Schwarz-Rot-Gold.

Der alte Junker sieht vor sich die Farben leuchten, die er von Jugend an hassen lernte. Schwarz-Rot-Gold war die Fahne gewesen, die Vater und Mutter in Schrecken versetzte, in jenen Tagen der Revolution, als der Knabe in der Wiege lag. Schwarz-Rot-Gold war die Binde jener deutschen Feinde gewesen, von denen er den Schuß an den Kopf erhielt, der den 18 Jährigen beinah das Leben kostete. Schwarz-Rot-Gold war allen Junkern das verhaßte Zeichen dieser Republik, auf deren Verfassung er nun schwören soll.

Doch er steht aufrecht. Aus der Hand des kleinen Arbeiters, den sich die Abgesandten des deutschen Volkes in ihrem Hause zum Haupt erwählt haben, nimmt nun der Mann, den sich die Deutschen zum Haupte ihres Hauses erwählten, die Eidesformel entgegen. Genau sind es 60 Jahre, da schwor er einen langen Eid auf seinen König, in dem er Jesus Christus den Erlöser anrief und sich für alle Zeiten dem König als Vasall unterwarf. Mit diesem Eide hat er sich, bevor er sich entschloß hierher zu treten, auf seine Art zurecht gefunden. Wenn er jetzt einen zweiten schwört, so wird er ihn nicht minder halten: das ist sein fester Wille. Und der mächtige Baß dröhnt durch den Raum:

»Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, die Verfassung und die Gesetze des Reiches wahren, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe!«

Am Schlusse soll die Stimme leise gezittert haben. Tausend Menschen hörten es mit einer Art von Bangigkeit an, wie dieser Eid von diesen alten Lippen fiel.

»Es lebe der Reichspräsident!« ruft der kleine Proletarier. Der riesige Feldmarschall blickt ihn an. Vor seinen Augen glühen die Farben Schwarz-Rot-Gold.


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