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Selbstmord

Wenn das Dasein so abhängig von Zufällen und die Aussicht auf Glück so gering ist, muß das Leben notwendigerweise billig und Selbstmord eine alltägliche Begebenheit werden. Ja, daß Menschen selbst ihrem Leben ein Ende machen, ist so gewöhnlich, daß man keine Zeitung zur Hand nehmen kann, ohne von Selbstmorden zu lesen, während Selbstmordversuche für die Zeitungen nicht mehr Interesse haben als die üblichen Fälle von Trunkenheit, mit denen die Polizeigerichte sich beschäftigen; und das Gericht behandelt denn auch all diese Sachen mit derselben Schnelligkeit und Gleichgültigkeit.

Ich erinnere mich einer solchen Sache, die vor dem Themse-Polizeigericht behandelt wurde. Ich rühme mich guter Augen und Ohren und einer scharfen Auffassung von Menschen und Dingen, aber ich muß gestehen, daß, als ich im Gerichtssaal stand, mir alles vor den Augen flimmerte wegen der erstaunlichen Schnelligkeit, mit der man Säufer und Unruhstifter, Bummler, Rowdys, Diebe und Hehler, Spieler und Dirnen durch die Maschine des Rechts gehen ließ. Die Schranke stand mitten im Gerichtssaal, wo es am hellsten war, und vor sie traten Männer, Frauen und Kinder in einer ebenso unendlichen Reihenfolge wie die, in der die Urteile von den Lippen der Richter ertönten.

Ich dachte noch über die Sache eines schwindsüchtigen Hehlers nach, der sich darauf berufen hatte, daß er außerstande wäre, so schwer zu arbeiten, wie es notwendig sei, um Frau und Kinder zu versorgen, und der zu einem Jahr schwerer Zwangsarbeit verurteilt war, als ein etwa zwanzigjähriger junger Mann vor die Schranke trat.

Ich verstand seinen Namen, Alfred Freeman, hörte aber nicht, weswegen er angeklagt war. Eine dicke, üppige Frau segelte in die Zeugenloge und gab ihre Erklärung ab. Ich konnte verstehen, daß sie mit dem Schleusenwärter der Britannia-Schleuse verheiratet war. Mitten in der Nacht hatte sie es plätschern hören; sie war zur Schleuse gelaufen und hatte dort den Angeklagten im Wasser gefunden.

Ich sah von ihr auf den Angeklagten – es handelte sich also um einen Selbstmordversuch, und da stand der junge Mann schlaff und gleichgültig, eine Locke kräftigen braunen Haares fiel ihm in die Stirn herab; seine Züge waren hart, vergrämt und doch noch ganz kindlich.

»Ja, Herr Richter,« antwortete die Frau des Schleusenwärters, »sobald ich ihn etwas herausgezogen hatte, war er auch schon wieder drinnen. Ich mußte Hilfe herbeirufen, und da gerade einige Arbeiter vorbeikamen, halfen sie mir, ihn herauszuziehen; und dann übergaben wir ihn der Polizei.«

Der Richter machte der Frau ein Kompliment über ihre Körperkräfte, und der ganze Gerichtssaal lachte.

Aber ich sah nur diesen Knaben, der noch auf der Schwelle des Lebens stand, wie er kämpfte, um seinen Tod im Schlamm zu finden – und ich meine, daß es hier nichts zu lachen gab.

Hierauf wurde ein Mann als Zeuge vorgeführt; er konnte den guten Charakter des jungen Mannes bezeugen und gab ergänzende Auskünfte. Er war der Vorarbeiter des Knaben oder war es früher gewesen. Alfred war ein guter Knabe, da aber seine Familie in elenden Verhältnissen lebte, hatte er daheim stets mit Sorgen zu kämpfen gehabt. Dann war seine Mutter krank geworden, und das hatte ihm solchen Kummer bereitet, daß er zuletzt nicht mehr imstande gewesen war, zu arbeiten. Er, der Vorarbeiter, war mit Rücksicht auf seine eigene Stellung gezwungen gewesen, den Knaben zu entlassen, da er seine Arbeit zu schlecht ausführte.

»Haben Sie hierzu etwas zu sagen?« fragte der Richter kurz.

Der junge Mann auf der Anklagebank murmelte undeutlich. Er war immer noch ganz schlaff.

»Was sagt er, Schutzmann?« fragte der Richter jetzt ungeduldig.

Die riesige Gestalt in der blauen Uniform beugte ihr Ohr dem Mund des Arrestanten zu und erklärte dann laut:

»Er sagt, daß es ihm sehr leid tut, Euer Hochwürden.«

»Führen Sie ihn in den Arrest zurück«, sagte Seine Hochwürden; und schon hatte die nächste Sache begonnen, und man war im Begriff, die Zeugen zu vereidigen.

Der junge Mann folgte gleichgültig dem Gefängniswärter. Er war abgeurteilt, und das hatte genau fünf Minuten gedauert. Jetzt waren zwei Herumtreiber von den Docks im Begriff, sich gegenseitig den Diebstahl einer Angelrute in die Schuhe zu schieben, die vielleicht fünf Pence wert war.

Wenn man all diese Schererei mit den armen Menschen hat, so kommt es daher, daß sie nicht recht wissen, wie sie sich das Leben nehmen sollen, und meistens zwei oder drei vergebliche Versuche machen, ehe es ihnen glückt. Das macht Schutzleuten und Behörden natürlich nur Mühe. Es geschieht daher nicht selten, daß der Richter dem Selbstmordarrestanten die mangelhafte Vorbereitung seines Versuchs vorwirft. Ein Beispiel bietet der Richter R. S., der Vorsitzende des Gerichts in S. B., der kürzlich die Sache gegen Ann Wood, die versucht hatte, sich im Kanal zu ertränken, zur Behandlung hatte.

»Wenn Sie es tun wollten, warum taten Sie es dann nicht ordentlich?« fragte Herr R. S. ärgerlich. »Warum sorgten Sie nicht dafür, richtig unter Wasser zu kommen und der Sache ein Ende zu machen, statt uns soviel Mühe zu bereiten?«

Armut, Unglück und Furcht vor dem Arbeitshaus ist die Hauptursache der Selbstmorde in den arbeitenden Klassen. »Ich will lieber ins Wasser gehen als ins Arbeitshaus«, hatte Ellen Hugh Hunt gesagt. Letzten Mittwoch wurde in Shoreditch vor ihrer Leiche Verhör abgehalten, und ihr Mann war aus dem Arbeitshaus in Islington gekommen, um Zeugnis abzulegen. Er erklärte, daß er Obsthändler gewesen war, aber Unglück gehabt hatte, in Not geraten und zuletzt ins Arbeitshaus gekommen war – wohin seine Frau ihm nicht hatte folgen wollen.

Man hatte sie zuletzt um ein Uhr nachts gesehen. Drei Stunden später fand man ihren Hut und ihre Jacke am Regent-Kanal, und später fischte man ihre Leiche aus dem Wasser. Das Urteil lautete: Selbstmord in plötzlicher geistiger Verwirrung.

Derartige Urteile sind Verbrechen an der Wahrheit. Das Gesetz lügt, und so müssen seine Handhaber ganz schamlos lügen. Das kann man unter anderm aus folgendem Beispiel ersehen: Ein gefallenes Mädchen, verachtet und bespien von all und jedem, gibt sich und ihrem Kind eine Dosis Opium; das Kind stirbt, während sie selbst nach einigen Wochen im Hospital gerettet wird. Hierauf wird sie zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Weil sie geheilt wird, macht das Gesetz sie für ihre Tat verantwortlich, wäre sie aber gestorben, so hätte dasselbe Gesetz ein Urteil abgegeben, demzufolge sie plötzlich geistig verwirrt gewesen wäre.

Im Falle Ellen Hugh Hunt könnte man mit derselben Klarheit und Logik behaupten, daß ihr Mann an plötzlicher geistiger Verwirrung litt, als er ins Arbeitshaus in Islington ging, wie man es von ihr behauptet, weil sie in den Regent-Kanal sprang. Was von beiden vorzuziehen ist, darüber können die Ansichten geteilt sein, es beruht auf individueller Auffassung. Ich weiß, daß ich jedenfalls in derselben Situation den Kanal wählen würde. Ich erkühne mich zu behaupten, daß ich ebensowenig geistig verwirrt bin wie Ellen Hugh Hunt und die ganze übrige Menschheit.

Die Menschen folgen ihren Instinkten nicht mehr mit der alten, natürlichen Zuversicht. Sie haben sich zu denkenden Wesen entwickelt und können sich verstandesmäßig an das Leben klammern oder dem Leben entsagen, je nachdem es ihnen großen Genuß oder großen Schmerz verspricht. Ich behaupte, daß Ellen Hugh Hunt, die um all die Güter des Lebens betrogen worden war, welche sie durch zweiundfünfzigjährigen Dienst in der Welt verdient hatte, und der nur die Aussicht auf die Schrecken des Arbeitshauses blieb, daß Ellen Hugh Hunt sehr vernünftig und klarblickend war, als sie sich dafür entschied, in den Kanal zu springen. Ich erkühne mich sogar zu behaupten, daß das Gericht klüger gehandelt haben würde, wenn es das Urteil gesprochen hätte, daß die menschliche Gesellschaft geistig verwirrt gewesen sein mußte, wenn sie erlauben konnte, daß Ellen Hugh Hunt um alle Güter des Lebens betrogen wurde, zu denen zweiundfünfzigjähriger Dienst im Leben sie berechtigte.

Augenblickliche geistige Verwirrung! Ach – diese verfluchten Phrasen, diese Lügen der Sprache, hinter denen Leute mit vollen Magen und heilen Hemden sich verstecken und sich gegen alle Verantwortung für ihre Brüder und Schwestern mit leeren Magen und ohne Zeug auf dem Leibe decken wollen.

Ich will hier von einigen ganz alltäglichen Begebenheiten erzählen, über die die East-End-Zeitung »Observer« berichtete:

Ein Heizer namens Johnny King war wegen Selbstmordversuches angeklagt. Mittwoch erschien der Angeklagte in der Bow-Street-Polizeiwache und erklärte, eine Portion Phosphor verschluckt zu haben, weil er keine Arbeit bekommen könnte und nichts zu leben hätte. King erhielt ein Brechmittel und gab einen Teil des Giftes von sich. Vor Gericht erklärte er jetzt, daß er seine Tat bereute. Obwohl er ein gutes Zeugnis für sechzehnjährigen Dienst hatte, war es ihm nicht möglich gewesen, irgendwelche Arbeit zu bekommen. Der Richter Dickinson schickte den Angeklagten in den Arrest zurück, damit der Gefängnisgeistliche ihm ins Gewissen reden konnte.

Timothy Warner, zweiunddreißig Jahre alt, stand wegen eines ähnlichen Verbrechens vor Gericht. Er war von der Limehouse-Brücke gesprungen und hatte, als er gerettet wurde, gesagt: Es war meine Absicht, zu sterben.

Ein junges Mädchen von angenehmem Äußern, Ellen Gray, wurde verhaftet unter der Anklage, einen Selbstmordversuch begangen zu haben. Am Sonntagmorgen um halb neun hatte der Schutzmann Nr. 834 die Angeklagte halb bewußtlos in einer Haustür in der Benworth-Straße gefunden. In der einen Hand hielt sie eine leere Flasche; sie war imstande zu erklären, daß sie zwei bis drei Stunden vorher eine Portion Opiumlösung getrunken hatte. Da sie offenbar stark angegriffen war, wurde nach dem Kreisarzt geschickt, der verordnete, daß sie Kaffee bekommen und wach gehalten werden sollte. Vor Gericht gab die Angeklagte als Grund, weshalb sie sich das Leben nehmen wollte, an, daß sie kein Heim und keine Freunde hätte.

Ich behaupte nicht, daß alle Menschen, die Selbstmord begehen, klug sind, so wenig wie ich behaupte, daß alle, die keinen Selbstmord begehen, es sind. Übrigens ist die Sorge, sich Nahrung und Unterkunft zu beschaffen, eine der häufigsten Ursachen geistiger Verwirrung. Straßenhändler und Trödler, eine Klasse von Arbeitern, die mehr als alle andern von der Hand in den Mund leben, machen den größten Prozentsatz der Arbeiter aus, die in die Irrenanstalten kommen. Es werden jährlich 26,9 Männer und 36,9 Frauen auf je 10 000 eingeliefert, während von Soldaten, die wenigstens Nahrung und Unterkunft sicher haben, nur 13 von 10 000 und von Landleuten und Viehzüchtern nur 5,1 von 10 000 geisteskrank werden. Ein Straßenhändler hat also doppelt soviel Aussicht, den Verstand zu verlieren, wie ein Soldat und fünfmal soviel wie ein Landmann.

Unglück und Elend besitzen eine große Macht über das menschliche Gemüt und treiben den einen Menschen in die Irrenanstalt, den andern ins Leichenhaus oder an den Galgen. Wenn das Unabwendbare geschieht, wenn der Vater trotz all seiner Liebe zu Frau und Kindern und trotz seiner Arbeitsfreudigkeit nichts zu tun bekommt, so ist es nicht zu verwundern, wenn sein Hirn ihn im Stich läßt und das klare Licht erlischt. Es ist dies namentlich nicht zu verwundern, wenn man in Betracht zieht, daß sein Körper durch Unterernährung und Krankheit geschwächt ist, und daß es seine Seele foltert, die Leiden von Frau und Kindern zu sehen.

»Er ist ein schöner Mann, mit einer Fülle schwarzen Haares, dunkeln, ausdrucksvollen Augen und fein gezeichneter Nase.« So beschrieben die Journalisten Frank Cavilla, als er an einem trüben Septembertage vor Gericht stand. »Er trug einen furchtbar abgetragenen grauen Anzug und hatte keinen Kragen.«

Frank Cavilla lebte und arbeitete in London als Dekorateur. Er galt als guter Arbeiter, als zuverlässiger Mensch, nicht trunksüchtig, und all seine Nachbarn bezeugten, daß er ein sanfter, liebevoller Gatte und Vater war.

Seine Frau, Hanna Cavilla, war eine dicke, hübsche, heitere Frau. Sie achtete sorgfältig darauf, daß ihre Kinder sauber und nett in die Schule in der Childric-Straße kamen – darüber waren sich alle Nachbarn einig. Und mit einem so gesegneten Mann, der so gut arbeitete und so vernünftig lebte, ging selbstverständlich alles gut, und das Leben war nichts als lauter Freude.

Da geschah das Unabwendbare. Er arbeitete bei einem Baumeister Beck und wohnte in einem der Häuser seines Chefs in der Trundley-Straße. Herr Beck fiel eines Tages von seinem Wagen und war sofort tot. Die Ursache war, daß das Pferd scheute – wie gesagt, es war das Unabwendbare. Jetzt mußte Cavilla sich nach neuer Arbeit umsehen und eine andere Wohnung suchen.

Dieses Unglück kam vor achtzehn Monaten über ihn. Achtzehn Monate lang mußte er den fürchterlichsten Kampf kämpfen. Zuerst mietete er Zimmer in einem kleinen Haus in der Bataviastraße; aber es war ihm nicht möglich, mit seinen Einnahmen auszukommen, es war ihm nicht möglich, feste Arbeit zu finden.

Er kämpfte mannhaft für sein Heim, indem er Gelegenheitsarbeit jeder Art übernahm, aber seine Frau und seine Kinder litten Not vor seinen Augen. Er hungerte selbst und wurde schwach und krank. Als er vor drei Wochen krank wurde, war nichts zu essen im Hause. Keiner von ihnen klagte, keiner sagte ein böses Wort; aber arme Leute wissen, wie es geht. Die Hausfrauen in der Bataviastraße schickten der Familie etwas zu essen; aber so achtbar und angesehen waren die Cavillas, daß man ihnen das Essen anonym schickte, um ihren Stolz nicht zu verletzen.

Das Unabwendbare war über sie gekommen. Cavilla hatte jetzt achtzehn Monate lang gehungert, gelitten und gestritten. Da stand er eines Septembermorgens früh auf, nahm sein Taschenmesser und öffnete es. Zuerst schnitt er seiner zweiunddreißigjährigen Frau Hanna Cavilla den Hals ab. Dann schnitt er seinem Erstgeborenen, dem zwölfjährigen Frank, den Hals ab. Er schnitt seinem achtjährigen Sohn Walter den Hals ab. Er schnitt seiner vierjährigen Tochter Nellie den Hals ab. Er schnitt seinem Jüngsten, dem fünfviertel Jahre alten Ernst, den Hals ab.

Dann saß er den ganzen Tag bei den Toten. Abends kam die Polizei; er sagte den Schutzleuten, wenn sie Licht haben wollten, um zu sehen, so müßten sie selbst ein Pennystück in den Gasautomaten werfen.

Frank Cavilla stand vor Gericht in einem furchtbar abgetragenen grauen Anzug ohne Kragen. Er war ein schöner Mann, mit einer Fülle schwarzen Haares, dunkeln, ausdrucksvollen Augen und feingezeichneter Nase.


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