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Meine Wohnung und die einiger anderer

Für Ost-Londoner Verhältnisse war das Zimmer, das ich für sechs Schilling wöchentlich mietete, wirklich komfortabel. Aber mit amerikanischen Augen gesehen, war es schlecht möbliert, ungemütlich und klein. Als ich die Einrichtung durch einen gewöhnlichen Schreibmaschinentisch vermehrt hatte, konnte ich mich kaum darin umdrehen. Am besten ließ es sich durch eine Art Schlängeln ausführen, das große Gewandtheit und Geistesgegenwart erforderte.

Als ich eingezogen war oder vielmehr mein Eigentum hingeschafft hatte, zog ich meine »Wanderkleidung« an und machte mich auf den Weg. Da ich mich nun einmal schon mit der Mietsfrage beschäftigt hatte, sah ich mir Wohnungen an, wobei ich immer den Gedanken festhielt, daß ich ein armer junger Mann mit Frau und vielen Kindern wäre.

Meine erste Beobachtung war, daß nur sehr wenige Häuser leer standen. Ich ging tatsächlich meilenweit in allen Richtungen, um ein einziges leeres Haus zu finden – ein entschiedener Beweis dafür, daß die Gegend übervölkert war.

Da es klar ist, daß ich als armer junger Mann mit Familie kein ganzes Haus in diesem wenig einladenden Stadtteil mieten konnte, begann ich mich nach unmöblierten Zimmern umzusehen, in denen ich Frau und Kinder, Hab und Gut zusammen unterbringen konnte. Es gab nicht viele, ich fand sie immer nur einzeln, denn ein Zimmer sieht man für genügend an, daß die Familie eines armen Mannes darin kochen, essen und schlafen kann. Als ich nach dem Preis für zwei Zimmer fragte, warf der Hauswart mir einen Blick zu, wie der, mit dem eine gewisse Person Oliver Twist ansah, wenn er um mehr bat.

Ich erfuhr bald, daß man ein Zimmer nicht nur für einen armen Mann und seine Familie als genügend ansah, sondern daß verschiedene Familien, die ein einziges Zimmer bewohnten, noch Platz übrig hatten, um ein oder zwei Untermieter aufzunehmen. Wenn man ein solches Zimmer für drei bis sechs Schilling wöchentlich mieten kann, so ist es nur recht und billig, daß sie einem gutempfohlenen Schlafburschen für acht Pence oder einen Schilling gestatten, sich in der Stube aufzuhalten. Zuweilen kann er sich sogar von seiner Wirtin für einige wenige Schillinge mit beköstigen lassen. Über diesen Punkt konnte ich jedoch keine Aufklärung erlangen, da ich mich ja für einen Familienversorger ausgab.

In den Häusern, die ich untersuchte, gab es keine Badeeinrichtung, und ich erfuhr, daß sich in keinem der vielen tausend Häuser, die ich passiert hatte, eine solche befand. In Anbetracht des Umstandes, daß ich Frau und Kinder hatte, und daß noch ein paar Untermieter das Zimmer mit uns teilen sollten, mußte es eine schwierige Angelegenheit sein, in einer Blechwanne in der Stube zu baden. Aber – dafür sparte man ja Seife; jedes Ding hat sein Gutes, und der liebe Gott sitzt ja immer noch in seinem Himmel.

Ich mietete indessen nicht, sondern kehrte in meine und Johnny Uprights Straße zurück. Bei dem Gedanken an meine Frau, meine Kinder, meine Schlafburschen und die kleinen Zellen, in denen ich sie alle untergebracht hatte, war meine Vorstellung allmählich so eingeengt, daß es eine Weile dauerte, ehe ich mich wieder an all den Raum in meinem eigenen Zimmer gewöhnt hatte. Dessen Dimensionen waren erstaunlich. War dies wirklich das Zimmer, das ich für sechs Schilling die Woche gemietet hatte? Unmöglich! Aber meine Wirtin, die anklopfte, um sich nach meinen Wünschen zu erkundigen, verscheuchte allen Zweifel.

»Ach ja,« antwortete sie mir, »diese Straße ist die allerletzte. Alle andern waren noch vor acht bis zehn Jahren wie sie, und alle Bewohner waren sehr respektabel. Aber die andern haben uns verjagt. Wir in dieser Straße sind die einzigen, die noch übrig sind. Es ist schrecklich!«

Und dann setzte sie mir näher auseinander, wie die Übervölkerung gekommen war, die die Mieten in die Höhe getrieben und das Niveau herabgedrückt hatte.

»Sehen Sie, Leute wie wir sind ja nicht gewohnt, uns so zusammenpferchen zu lassen wie die andern. Wir brauchen mehr Raum. Die andern, die Eingewanderten und die allergewöhnlichsten Leute können gut zu fünf oder sechs Familien in diesen Häusern wohnen, und dann können sie natürlich zusammen mehr bezahlen als wir ... und stellen Sie sich vor, daß noch vor wenigen Jahren die ganze Nachbarschaft so nett war, wie man es nur wünschen konnte!«

Ich betrachtete sie. Hier stand ich einer Frau aus der besten englischen Arbeiterklasse gegenüber, einer Frau mit Anzeichen von Verfeinerung, aus der Klasse, die dazu verurteilt war, langsam von dem widerlichen, fauligen Menschenstrom fortgeschwemmt zu werden, den die Oberklassen aus dem inneren London vertreiben. Dort werden Banken, Fabriken, Hotels und Kontorhäuser gebaut, während die Armen obdachlos gemacht und nach Osten gedrängt werden, Woge auf Woge überschwemmt und verunreinigt Stadtteil auf Stadtteil, die bessere Arbeiterklasse wird als Pioniere zur Besetzung der Grenzen vorausgejagt oder vom Strom verschlungen – wenn nicht in der ersten Generation, dann in der zweiten und dritten.

Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Reihe an Johnny Uprights Straße kommt. Das weiß er auch selber gut.

»In einigen Jahren«, sagte er, »ist mein Mietvertrag abgelaufen. Mein Wirt gehört unserer eigenen Klasse an, er hat nie einen einzigen Mieter in seinen Häusern steigern wollen, denn dann hätten wir nicht wohnen bleiben können. Aber er kann ja jeden Tag verkaufen oder sterben; für uns ist das dasselbe – ein Wucherer bekommt das Haus, er richtet eine Werkstatt ein auf dem kleinen Stückchen Garten hinter dem Hause, wo ich meinen Weinstock gepflanzt habe, und dann vermietet er an ebenso viele Familien, wie das Haus Zimmer hat. Dann ist Johnny Upright hier erledigt!«

Und in Gedanken sah ich Johnny Upright und seine gute Frau, seine hübschen Töchter und sein schlampiges Dienstmädchen wie so viele andere Schatten durch das Dunkel gen Osten gejagt, das brüllende Großstadtungeheuer auf den Fersen.

Johnny Upright ist nicht der einzige Flüchtling. Ganz an der Grenze der Großstadt wohnen kleine Kaufleute, Geschäftsführer und tüchtige Kontoristen. Sie wohnen in kleinen, villenartigen Häusern mit kleinen Blumengärten, wo sie jedenfalls Platz haben, sich zu regen und zu atmen. Sie brüsten sich vor Stolz, wenn sie an den Abgrund denken, dem sie entgangen sind, und sie danken Gott, weil sie nicht sind wie so viele andere ... Aber seht! auf sie zu kommt Johnny Upright, das Großstadtungeheuer auf den Fersen. Die Mietskasernen schießen wie durch Zauberschlag hoch, die Gärten werden bebaut, die Villen in viele Wohnungen geteilt, und die dunkle Nacht Londons läßt ihren schwarzen Vorhang über die Szene sinken ...


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