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Johnny Upright

Ich werde nicht Johnny Uprights Adresse nennen. Es mag genügen, daß er in der respektabelsten Straße von East End wohnt – einer Straße, die man in Amerika für sehr armselig ansehen würde, die aber in Ost-London eine reine Oase bedeutet. Auf allen Seiten ist sie von konzentriertester Unsauberkeit umgeben, von Straßen, die von einer elenden, schmutzigen Jugend wimmeln. Aber ihre eigenen Bürgersteige sind verhältnismäßig frei von spielenden Kindern, und sie sieht direkt verödet aus, so wenige Menschen verkehren in ihr.

Jedes Haus in dieser Straße steht Schulter an Schulter mit dem Nachbarhaus, genau wie in den andern Straßen von East End. Die Häuser haben jedes nur einen Eingang. Sie sind achtzehn Fuß breit, und hinter jedem liegt ein kleiner, von einer Mauer umgebener Hof, von dem man, wenn es nicht regnet, ein Stückchen grauen Himmels sehen kann. Man vergesse nicht, daß wir jetzt East-End-Luxus betrachten. Einige von den Bewohnern dieser Straße sind so wohlhabend, daß sie sich eine »Sklavin« halten können. Johnny Upright hat eine solche, und ich kenne sie sehr gut, denn sie war die erste Bekanntschaft, die ich in diesem seltsamen Teil der Welt machte.

Ich kam in Johnny Uprights Haus und wurde von der Sklavin empfangen. Ihre Stellung war bedauernswert und verachtet, aber sie betrachtete mich mitleidig und geringschätzig. Sie zeigte deutlich, daß sie unsere Unterhaltung so sehr wie möglich abzukürzen wünschte. Es war Sonntag, und Johnny Upright war nicht zu Hause, so daß es nichts mehr zu sagen gab. Aber ich blieb stehen und diskutierte mit ihr, ob das alles war, was sie mir zu sagen hätte, bis ich die Aufmerksamkeit von Frau Johnny Upright erregte und sie in die Tür trat. Ehe sie mich jedoch eines Blickes würdigte, begann sie mit dem Mädchen zu schelten, weil sie die Tür nicht geschlossen hatte.

Nein, Mr. Johnny Upright sei nicht zu Hause und empfinge zudem nicht am Sonntag. Ich sagte, das sei sehr schade. Ob ich denn käme, um Arbeit zu erhalten? Nein, im Gegenteil, ich sei eigentlich gekommen, um mit ihm über ein Geschäft zu reden, das Vorteile für ihn haben könnte.

Da erhielt alles ein anderes Aussehen. Der Herr sei in der Kirche, käme aber in einer Stunde heim, und dann könnte ich sicher mit ihm reden.

Ob ich nicht so freundlich sein wolle, näherzutreten? – nein, das bat die Dame doch nicht, obwohl ich es mit meiner Bemerkung, daß ich in der Wirtschaft an der Ecke warten wolle, darauf abgesehen hatte. Ich begab mich daher an die Ecke, aber die Wirtschaft war während der Kirchzeit geschlossen, und so setzte ich mich mangels etwas Besserem auf eine Treppe in der Nähe, um zu warten. Und hier fand mich die Sklavin, als sie mir mürrisch und erstaunt mitteilte, daß die gnädige Frau mir erlaubte, in der Küche zu warten.

»Es kommen so viele und wollen Arbeit haben«, erklärte Frau Johnny Upright. »Ich hoffe deshalb, daß Sie es mir nicht übelnehmen werden, wie ich Sie empfing.«

»Durchaus nicht, durchaus nicht«, antwortete ich herablassend, um doch einmal meine Lumpen mit Würde zu tragen. »Das sehe ich vollkommen ein. Ich kann mir denken, daß Sie von Arbeitsuchenden überlaufen werden.«

»Furchtbar«, erwiderte sie mit einem beredten Blick und führte mich dann – nicht in die Küche, sondern ins Eßzimmer, was ich als Ergebnis meines vornehmen Auftretens betrachtete.

Dieses Eßzimmer lag im selben Stock wie die Küche, etwa vier Fuß unter der Straße, und war selbst jetzt, mitten am Tage, so dunkel, daß meine Augen sich erst daran gewöhnen mußten. Ein matter Lichtschimmer sickerte durch ein Fenster herein, dessen Oberteil in Straßenhöhe lag, und ich stellte fest, daß ich bei der Beleuchtung eine Zeitung lesen konnte.

Und während ich hier auf Johnny Uprights Heimkehr warte, will ich erklären, was ich wollte. Ich wünschte in der Zeit, da ich mit den Bewohnern von East End zusammen wohnen, essen und schlafen sollte, eine Zuflucht in der Nähe zu haben, die ich hin und wieder aufsuchen konnte, um mich zu überzeugen, daß es noch gute Kleider und Sauberkeit gab. Hier wollte ich auch meine Post empfangen, meine Aufzeichnungen machen und hin und wieder in anderen Kleidern Streifzüge nach zivilisierten Gegenden unternehmen.

Aber ich stand einem schwierigen Problem gegenüber. Ein Logis, in dem mein Eigentum sicher sein sollte, erforderte eine Wirtin, der ein Mann, welcher ein solches Doppelleben führte, verdächtig sein mußte; und eine Wirtin wiederum, die sich nichts daraus machte, daß ihr Mieter derart lebte, konnte keine Garantie für die Sicherheit meines Eigentums bieten. Um diese Schwierigkeit zu überwinden, suchte ich Hilfe bei Johnny Upright. Als Detektiv mit einer Erfahrung von einigen dreißig Jahren bei dauerndem Dienst, in East End weit und breit bekannt unter dem Namen, den ein verurteilter Verbrecher ihm gegeben hatte, war er eben der Mann, eine ehrliche Wirtin für mich zu finden und sie in bezug auf mein seltsames Tun und Lassen zu beruhigen.

Seine beiden Töchter kamen vor ihm aus der Kirche. Prächtige Mädel in ihrem Sonntagsputz, mit all der seltsam zarten Anmut, die für die echte Londonerin charakteristisch ist, einer Schönheit, die eigentlich nur ein Versprechen auf unbestimmte Zeit und verurteilt ist zu entschwinden wie die Farbenpracht des Sonnenuntergangs. Sie betrachteten mich mit freimütiger Neugier, als sei ich ein seltsames Tier, und ignorierten mich dann den Rest der Wartezeit hindurch vollkommen. Dann kam Johnny Upright selbst und ging mit mir nach oben, damit wir miteinander reden könnten.

»Sprechen Sie lauter«, unterbrach er mich gleich. »Ich bin so schrecklich erkältet und höre nicht gut.«

Ich dachte unwillkürlich, wo wohl der Gehilfe verborgen sein mochte, der die Aufgabe hatte, alles, was ich jetzt laut verraten sollte, aufzuschreiben, und noch heute weiß ich nicht, ob Johnny Upright wirklich erkältet war oder einen Gehilfen im Nebenzimmer hatte, obgleich ich seither viel mit ihm zusammengekommen bin und über die Sache nachgedacht habe. Soviel aber steht fest, daß er, obgleich ich ihm offen jede Auskunft über mich und mein Vorhaben erteilte, seine Meinung erst aussprach, als er mich am nächsten Tage gut gekleidet in seiner Straße angefahren kommen sah. Da wurde ich herzlich von ihm begrüßt und mußte mit ihm ins Eßzimmer gehen und mit seiner Familie Tee trinken.

»Wir sind einfache Leute,« sagte er, »nicht sehr verwöhnt, und Sie müssen versuchen, sich in unser anspruchsloses Leben zu finden.«

Die Töchter erröteten und waren verwirrt, als sie mich begrüßten, und er tat nichts, um es ihnen zu erleichtern.

»Ha! ha!« lachte er herzlich und schlug auf den Tisch. »Die Mädel glaubten, Sie wären gestern gekommen, um ein Stück Brot zu erbetteln! Ha! ha! ho! ho! ho!«

Sie leugneten es gekränkt mit wütenden Blicken und schuldvoll geröteten Wangen, als wäre es die Höhe wahren Feingefühls, durch Lumpen hindurch einen Mann entdecken zu können, der nicht in Lumpen zu gehen brauchte.

Und während ich hier saß und Brot mit Marmelade aß, entwickelte sich eine lustige Szene. Die Töchter meinten, daß ich beleidigt sein müßte, weil sie mich für einen Bettler gehalten hatten, während der Vater meinte, es sei ein großes Kompliment für meine Tüchtigkeit, daß die Verkleidung so gut geglückt wäre. Ich genoß das alles, wie ich das Brot und die Marmelade und den Tee genoß, bis der Augenblick kam, da Johnny Upright mit mir gehen sollte, um ein Logis für mich zu suchen, was ihm sechs Häuser weiter in seiner eigenen respektablen, wohlhabenden Straße glückte, in einem Hause, das seinem eigenen Hause glich wie ein Tropfen Wasser dem anderen.


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