Jack London
Ein Sohn der Sonne
Jack London

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Die Teufel von Fuatino

I.

Von all seinen vielen Schonern und Kuttern, die zwischen den Koralleninseln der Südsee herumpirschten, liebte David Grief die Rattler am meisten. Es war dies ein jachtähnlicher Schoner von 90 Tonnen, der so schnell war, daß er in den Tagen des Opiumschmuggels von San Diego nach Puget Sound berühmt gewesen war. Er hatte Robbenraubfang in der Beringsee und Waffenschmuggel im fernen Osten betrieben. Allen Regierungsbeamten ein Dorn im Auge, war das Schiff die Freude aller Seefahrer und der Stolz seines Erbauers gewesen. Und noch jetzt, nach vierzig Jahren, war sie die alte, gute Rattler, die die Wogen so prachtvoll durchschnitt, daß ein Seemann es sehen mußte, um es zu glauben, und immer noch verursachte sie in den Häfen von Valparaiso bis Manila manche heftige Debatte, bei der Zunge wie Fäuste gebraucht wurden.

In der Nacht, von der hier die Rede ist, machte sie bei der denkbar schwächsten Brise mit ganz schlaff hängendem Großsegel eine Fahrt von vier Knoten durch die ruhige See. Eine Stunde lang hatte David Grief sich vorn in Lee über die Reling gelehnt und in das phosphoreszierende Kielwasser gestarrt. Der von den Toppsegeln zurückgefächelte schwache Lufthauch strich ihm kühl über die Wangen, und er begeisterte sich an seinem herrlichen Schiff.

»Ach, ist sie nicht prächtig, Taute, was?« sagte er zu dem Kanaken, der den Ausguck hatte, und seine Hand streichelte zärtlich die Teakholzreling.

»Eh, Kapitän,« antwortete der Kanake mit der reichen, kraftvollen, klingenden Stimme des Polynesiers, »dreißig Jahre befahre ich die See, aber noch nie habe ich ein Schiff wie dieses gesehen. Auf Raiatea nennen wir sie Fanauao.«

»Die Taggeborene«, übersetzte Grief den Kosenamen. »Wer nannte sie so?«

Ehe Taute antworten konnte, sah er gerade voraus etwas, das seine Aufmerksamkeit völlig in Anspruch nahm.

Grief blickte ebenfalls hin.

»Land«, sagte Taute.

»Ja, Fuatino«, bestätigte Grief, dessen Augen noch auf der Stelle ruhten, wo der sternenleuchtende Horizont von einem dunklen Punkt durchbrochen wurde. »Es stimmt, ich werde dem Kapitän Bescheid sagen.«

Die Rattler glitt weiter, bis man die Umrisse der Insel sehen, das schläfrige Brüllen der Brandung und das Meckern der Ziegen hören und den Blumenduft, den der Landwind herübertrug, spüren konnte.

»Wenn kein Riff wäre, könnten wir in einer Nacht wie dieser glatt einfahren«, meinte Kapitän Glaß, der den Rudergast beaufsichtigte, welcher das Rad jetzt hart herumlegte.

Eine Meile vom Lande entfernt drehte die Rattler bei, um das Tageslicht abzuwarten, ehe sie sich in die gefährliche Einfahrt von Fuatino wagte. Es war eine völlig tropische Nacht, ohne einen Hauch, ohne Matrosen zum Schlafen auf das Deck. Achtern bereiteten der Kapitän, der Steuermann und David Grief sich ihre Betten in ähnlicher primitiver Weise. Sie legten sich auf ihre Decken, rauchten und erzählten sich leise, was sie von Mataara, der Königin von Fuatino, und von der Liebesgeschichte ihrer Tochter Naumoo und Motuaro wußten.

»Ja, es ist eine sehr romantische Rasse,« sagte Brown, der Steuermann, »ebenso romantisch wie wir Weißen.«

»Gerade so romantisch wie Pilsach,« lachte Grief, »und das will etwas heißen. Wie lange ist es eigentlich her, Kapitän, daß er Ihnen durchbrannte?«

»Elf Jahre«, grunzte Kapitän Glaß ärgerlich.

»Erzählen Sie ein bißchen davon«, bat Brown. »Es heißt, daß er Fuatino seitdem nicht mehr verlassen hätte. Stimmt das?«

»Das stimmt«, polterte der Kapitän. »Er ist in seine Frau verliebt. Das verteufelte kleine Frauenzimmer! Hat ihn mir einfach gestohlen, und einen bessern Seemann hat's auf diesen Meeren nie gegeben, wenn er auch Holländer ist.«

»Deutscher«, berichtigte Grief.

»Das kommt auf eins hinaus«, lautete die Antwort. »In der Nacht, als wir hier an Land gingen und Notutu ihren Blick auf ihn warf, war die See um einen guten Mann ärmer. Sie glotzten sich beide schön an. Ehe man pieps sagen konnte, hatte sie ihm einen Kranz aus irgendwelchen weißen Blumen auf den Kopf gesetzt, und fünf Minuten später liefen sie wie ein paar Kinder, sich an den Händen haltend, über den Strand. Ich hoffe nur, daß er jetzt den großen Korallenblock im Kanal gesprengt hat. Ich schramme mir jedesmal eine Kupferplatte daran ab.«

»Erzählen Sie weiter«, drängte Brown.

»Das ist alles. Es war aus mit ihm. Heiratete noch dieselbe Nacht und kam nicht mehr an Bord. Am nächsten Tage suchte ich ihn auf. Fand ihn in einer Grashütte im Busch, barfüßig, ein weißer Wilder, ganz unter Blumen und anderm Zeugs vergraben und auf einer Gitarre spielend. Sah aus wie 'n Pfingstochse. Sagte mir, ich solle seine Sachen an Land schicken. Ich sagte, erst wolle ich ihn gehängt sehen. Das ist die ganze Geschichte. Morgen werden Sie die beiden zu sehen kriegen. Jetzt haben sie noch dazu drei Junge, prächtiges kleines Gesindel. Ich habe ihm ein Grammophon und eine Menge Platten mitgebracht.«

»Und dann machten Sie ihn zum Händler?« wandte sich der Steuermann an Grief.

»Was blieb mir übrig? Fuatino ist ein Land der Liebe und Pilsach ein Liebender. Er kennt die Eingeborenen und ist nebenbei einer der besten Händler, die ich jemals hatte. Er ist durchaus zuverlässig. Sie werden ihn ja morgen kennen lernen.«

»Hören Sie mal, junger Mann«, sagte Kapitän Glaß drohend zu seinem Steuermann. »Sind Sie romantisch veranlagt? Wenn Sie es sind, dann bleiben Sie gefälligst an Bord. Fuatino ist das Land der romantischen Tollheit. Jeder ist in irgend jemand verliebt. Sie leben nur für die Liebe. Es kommt von der Kokosmilch oder von der Luft und der See. Die Geschichte dieser Insel besteht seit zehntausend Jahren nur aus Liebesgeschichten. Ich weiß das. Ich habe mit den Alten gesprochen. Und wenn ich Sie auf dem Strand erwische Hand in Hand – –« Plötzlich hielt er inne. Die beiden andern folgten seinem Blick, der am Großmast vorbei an die Reling glitt, und sahen eine braune Hand und einen muskulösen, nassen Arm, denen gleich darauf eine zweite Hand und ein zweiter Arm folgten. Dann kam ein Kopf mit langen, wirren Locken und ein Gesicht, in dem ein paar schelmische schwarze Augen lachend blitzten.

»Mein Gott«, stammelte Brown. »Ein Faun – ein richtiger Meeresfaun.«

»Der Ziegenmann«, sagte Glaß.

»Es ist Mauriri«, sagte Grief. »Mein Blutsbruder nach dem heiligen Brauch der Eingeborenen. Mein Name ist der seine, seiner der meine.«

Breite braune Schultern und eine prachtvolle Brust schoben sich über die Reling, dann folgte, anscheinend ohne Anstrengung, der mächtige Körper, und der Mann betrat geräuschlos das Deck. Brown, der sich zu allem andern eher als zum Steuermann eines Südseeschoners eignete, war entzückt. Alles, was er darüber gelesen hatte, mußte den Gedanken an einen Faun in ihm wachrufen. »Aber ein trauriger Faun«, dachte der junge Mann, als der goldbraune Waldgott über das Deck auf den mit ausgestreckter Hand dasitzenden David Grief zuschritt.

»David«, sagte David Grief.

»Mauriri, mein großer Bruder«, sagte Mauriri.

Und während des ganzen Gesprächs nannte jeder den andern bei seinem eignen Namen, wie Männer tun, die Blutsbrüderschaft geschlossen haben. Im übrigen sprachen sie polynesisch, und Brown konnte nur erraten, wovon die Rede war.

»Du bist weit geschwommen, um talofa zu sagen«, meinte Grief, als der andre sich, von Wasser triefend, niedersetzte.

»Viele Tage und viele Nächte habe ich nach dir ausgespäht, großer Bruder«, erwiderte Mauriri. »Ich saß auf dem großen Felsen, wo das Dynamit aufbewahrt wird, zu dessen Wächter man mich gemacht hat. Ich sah dich einlaufen und wieder in der Dunkelheit verschwinden. Ich dachte mir, daß du bis zum Morgen warten würdest, und folgte dir. Große Trauer ist über uns gekommen. Mataara hat viele Tage nach deinem Kommen gerufen. Sie ist eine alte Frau, Motuaro ist tot, und sie ist traurig.«

»Heiratete er nicht Naumoo?« fragte Grief, nachdem er den Kopf geschüttelt und geseufzt hatte, wie es die Sitte gebot.

»Ja. Schließlich liefen sie zu den Ziegen und lebten dort, bis Mataara ihnen verzieh; dann kehrten sie zu ihr in das große Haus zurück. Aber jetzt ist er tot, und Naumoo wird auch bald sterben. Groß ist unser Schmerz, großer Bruder. Tori ist tot und Tati-Tori und Petoo und Nari und Pilsach und viele andre.«

»Pilsach auch!« rief Grief. »War denn eine große Krankheit?«

»Es war ein großes Sterben. Höre, großer Bruder. Vor drei Wochen kam ein fremder Schoner. Vom Großen Fels aus sah ich seine Masten. Er wurde von den Booten eingeschleppt und lief mehrmals auf die Riffe auf. Jetzt liegt er auf dem Strande, und sie bessern die Schäden aus. Es sind acht weiße Männer an Bord. Sie haben Frauen mit von einer Insel weit im Osten. Die Frauen reden eine Sprache, die der unsern ähnlich ist, so daß wir sie verstehen können. Sie sagen, daß die Männer auf dem Schoner sie gestohlen haben. Wir wissen es nicht, aber sie singen und tanzen und sind glücklich.«

»Und die Männer?« unterbrach ihn Grief.

»Sie sprechen französisch. Ich weiß es, denn vor langer Zeit war auf deinem Schoner ein Steuermann, der französisch sprach. Sie haben zwei Häuptlinge, und die sehen nicht wie die andern aus. Sie haben blaue Augen wie du und sind Teufel. Einer ist ein größerer Teufel als der andre. Die übrigen sechs sind auch Teufel. Sie zahlen uns nichts für unsre Jamswurzeln, unsern Taro, unsre Brotfrüchte. Sie nehmen uns alles, und wenn wir uns beklagen, dann töten sie uns. So wurden Tori und Tati-Tori und Petoo und andre getötet. Wir können nicht kämpfen, denn wir haben keine Flinten – nur zwei oder drei alte.

Sie mißhandeln unsre Frauen. Motuaro wurde getötet, als er Naumoo verteidigte, die sie nun auf ihren Schoner gebracht haben. Aus demselben Grunde wurde Pilsach getötet. Der eine von den beiden Häuptlingen, der größte Teufel, schoß ihn in seinem Walboot und dann noch zweimal, als er auf den Strand zu kriechen versuchte. Pilsach war ein tapferer Mann, und jetzt sitzt Notutu in ihrem Hause und weint ohne Aufhören. Viele, die sich fürchteten, sind fortgelaufen, um bei den Ziegen zu leben. Aber in den Bergen ist nicht Nahrung genug für sie alle. Und keiner will mehr fischen und in den Gärten arbeiten, weil die Teufel ihnen alles, was sie haben, fortnehmen. Aber wir sind bereit, zu kämpfen.

Großer Bruder, wir brauchen Gewehre und viel Munition. Ehe ich zu dir herausschwamm, benachrichtigte ich die Männer, und sie warten. Die fremden weißen Männer wissen nicht, daß du gekommen bist. Gib mir ein Boot und Gewehre, und ich bin drüben, ehe die Sonne aufgeht. Und wenn du morgen kommst, wirst du uns bereit finden, unter deinem Befehl die fremden Weißen zu töten. Sie müssen getötet werden. Großer Bruder, du bist von unserm Blut, und Männer und Frauen haben die Götter um dein Kommen angefleht, und nun bist du gekommen.«

»Ich werde dich im Boot an Land begleiten«, sagte Grief.

»Nein, großer Bruder«, entgegnete Mauriri, »du mußt auf dem Schoner bleiben. Die fremden weißen Männer werden den Schoner fürchten und gar nicht an uns denken. Wir werden Gewehre haben, ohne daß sie es wissen. Sobald sie deinen Schoner erblicken, werden sie sich fürchten. Schicke lieber diesen jungen Mann mit dem Boot.«

Und so kam es, daß Brown, durchzittert von der Romantik der Abenteuer, von denen er gelesen und gehört, die er aber nie erlebt hatte, auf dem Achtersitz eines mit Gewehren und Munition angefüllten Walbootes Platz nahm, das von vier Raiatea-Matrosen gerudert und von einem goldbraunen, aus dem Meere getauchten Faun durch die warme tropische Dunkelheit nach der sagenhaften Liebesinsel Fuatino gesteuert wurde, die von Seeräubern überfallen worden war.

II.

Wenn man eine Linie von Jaluit in den Marschallinseln bis Bougainville in den Salomoninseln und mitten durch diese Linie eine andre nach Ukuor in den Karolinen zieht, so stößt man, zwei Grad südlich vom Äquator, auf Fuatino, das hoch aus diesem einsamen Meere emporragt. Von einem den Hawaianern, Samoanern, Tahitianern und Maoris verwandten Stamm bewohnt, bildet diese Insel die äußerste Spitze eines Keils, den die Polynesier weit nach Westen zwischen Melanesier und Mikronesier getrieben haben.

Und nach Fuatino steuerte David Grief am nächsten Morgen – zwei Meilen östlich und dann gerade in die aufgehende Sonne hinein. Der leichte Wind hielt an, und die Rattler glitt durch die glatte See mit einer Schnelligkeit, die für jeden andern Südseeschoner bei dreifach stärkerem Winde ungewöhnlich gewesen wäre.

Fuatino war nichts als ein alter Krater, der in Urzeiten durch eine verheerende Katastrophe vom Meeresgrunde emporgeschleudert war. Im Westen bildete der bis zur Meereshöhe abgebröckelte Kraterrand selbst die Hafeneinfahrt. Derart war Fuatino ein zackiges, nach Westen offenes Hufeisen. Und in dieses Hufeisen hinein steuerte nun die Rattler. Kapitän Glaß stand auf Deck, das Glas in der Hand, und blickte auf seine selbstverfertigte Seekarte, die er auf dem Kajütendach ausgebreitet hatte. Dann richtete er sich mit einem halb bestürzten, halb ergebenen Ausdruck auf.

»Ich spüre, daß es kommt,« sagte er, »das Fieber. Es ist eigentlich erst morgen fällig. Es packt mich immer tüchtig, Herr Grief. In fünf Minuten weiß ich nichts mehr von mir. Sie werden selbst den Schoner führen müssen. – Boy! Mach' meine Koje zurecht. Viele Decken! Und füll' die Wärmflasche! Es ist so still, Her Grief, daß ich glaube, Sie kommen am großen Riff vorbei, ohne zu bugsieren. Gehen Sie einfach in den Wind. Die Rattler ist das einzige Fahrzeug in der ganzen Südsee, das es machen kann, und ich weiß, daß Sie den Trick kennen. Sie können eben um den Großen Fels herumkommen, aber achten Sie auf den Großbaum.«

Er hatte hastig, fast wie ein Betrunkener gesprochen; sein schwindelndes Hirn kämpfte gegen den drohenden Malariaanfall. Als er auf die Kajüttreppe zuwankte, wurde sein Gesicht schon fleckig und rot, wie mit einem schrecklichen Ausschlag übersät. Seine Augen wurden glasig, seine Hände zitterten, und seine Zähne schlugen frostklappernd zusammen.

»Es dauert zwei Stunden, ehe ich in Schweiß gerate,« stammelte er mit einem unheimlichen Grinsen, »und dann noch ein paar Stunden, und ich bin wieder in Ordnung. Ich kenne die verfluchte Geschichte durch und durch. S-S-S-ie n-n-ehmen d-d-d«

Seine Stimme sank zu einem undeutlichen Gestammel herab. In der Kajüte brach er zusammen, und sein Dienstherr mußte den Befehl über den Schoner übernehmen. Die Rattler hatte gerade die Einfahrt erreicht. Die Enden der Hufeisen bildeten zwei mächtige, tausend Fuß hohe Felsen, die beide mit der eigentlichen Insel nur durch schmale Landzungen zusammenhingen. Von dem südlichen Felsen erstreckte sich ein Korallenriff fast über die ganze Breite von etwa einer halben Meile. Die von Kapitän Glaß erwähnte Einfahrt wand sich durch dieses Riff hindurch, führte dann gerade auf den nördlichen Felsen zu und an ihm entlang. Der Großmast des Schiffes berührte fast die überhängende Felswand, und wenn David Grief an Steuerbord über die Reling blickte, konnte er das steil abschießende Riff zwei Faden unter sich sehen. Ein Walboot wurde zu Wasser gelassen und nahm die Rattler ins Schlepp, um sie klar vom Felsen zu halten; dann benutzte Grief die schwache Brise, schwenkte hinein und glitt an der Korallenwand entlang. Die Schiffswand schrammte den Felsen, aber so leicht, daß keine von den Kupferplatten beschädigt wurde.

Jetzt lag der Hafen von Fuatino offen vor ihm, ein runder See von fünf Meilen Durchmesser, umrahmt von dem weißen Korallenstrand, aus dem sich unvermittelt die grünbekleideten Böschungen zu den drohenden Kraterwänden erhoben. Den Kamm bildeten zackige vulkanische Spitzen, über denen die Passatwolken wie ein Heiligenschein thronten. Jeder Winkel, jeder Spalt in der zermürbten Lava bildete einen Stützpunkt für kriechende und kletternde Ranken und Bäume; das Grün überschäumte gleichsam den Felsen. Feine, nebelartige Wasserfälle stäubten hundert Fuß tief in den Abgrund hinunter. Und um den Zauber vollkommen zu machen, war die warme feuchte Luft schwanger vom Duft der gelben Zimtblüten.

Gegen die leichte unregelmäßige Landbrise ankreuzend, näherte sich die Rattler dem Strande. Grief holte das Walboot ein und suchte das Gestade mit dem Glase ab. Nichts Lebendiges regte sich. In der heißen Tropensonne schlief das Land. Kein Willkommen wurde der Rattler geboten. Am Nordende des Strandes, wo der Saum von Kokospalmen das Dorf verbarg, konnte er die dunklen Steven einiger Kanus in den Kanuhäusern sehen, und hoch auf dem Strande lag der fremde Schoner. Nichts regte sich an Bord oder in der Nähe des Schiffes. Erst fünfzig Schritt vom Strande ließ Grief in vierzig Faden Tiefe den Anker fallen. In der Mitte des Bassins hatte er vor vielen Jahren bei dreihundert Faden noch keinen Grund gefunden, was doch bei einem stillen Krater wie Fuatino zu erwarten gewesen wäre. Als die Kette durch das Klüsgatt rasselte, bemerkte er eine Anzahl prächtig gewachsener polynesischer Frauen in wehenden Ahus und mit Blumen geschmückt an Bord des Schoners. Ferner bemerkte er, was sie nicht sahen, wie eine zusammengekauerte männliche Gestalt über das Deck huschte, sich auf den Strand hinabließ und im grünen Schirm des Busches untertauchte.

Während die Segel beschlagen, das Sonnensegel ausgespannt und das Tauwerk aufgerollt wurde, schritt Grief an Deck auf und ab und spähte vergebens nach einem Lebenszeichen an Land. Einmal hörte er unzweifelhaft in der Ferne, in der Richtung des Großen Felsens, eine Büchse knallen, da aber keine weiteren Schüsse folgten, vermutete er, daß ein Jäger eine wilde Ziege geschossen hätte. Nach zwei Stunden hatte Kapitän Glaß unter einem Berg von Decken aufgehört, vor Kälte zu zittern, und stand jetzt alle Qualen einer gründlichen Schwitzkur aus. »In einer halben Stunde ist es vorbei«, sagte er schwach.

»Schön«, meinte Grief. »Es sieht aus, als ob die ganze Insel ausgestorben wäre; ich gehe jetzt an Land, um Mataara zu besuchen und mich über die Lage zu orientieren.«

»Es ist eine schlimme Bande, halten Sie die Augen offen«, warnte ihn der Kapitän. »Wenn Sie nicht in einer Stunde zurück sein können, so geben Sie mir Nachricht.«

Grief nahm das Ruder, und vier von seinen Raiatea-Leuten beugten sich über die Riemen. Als sie den Strand erreicht hatten, betrachtete er neugierig die Frauen unter dem Sonnensegel des Schoners. Er winkte mit der Hand, und sie kicherten und winkten wieder.

»Talofa!« rief er.

Sie verstanden ihn, erwiderten jedoch seinen Gruß mit dem Worte »Irana«, woraus er schloß, daß sie von den Gesellschaftsinseln stammten.

Einer der Matrosen nannte, ohne zu zögern, den Namen der Insel: »Huahine«, und auf Griefs Frage bestätigten sie es unter Kichern und Lachen.

»Es sieht aus, als wäre es der Schoner vom alten Dupuy«, sagte Grief leise auf Tahitanisch. »Starrt nicht so hinüber. Was meint ihr, ist das nicht die Valetta?«

Während die Matrosen aus dem Boot kletterten und es auf den Strand zogen, warfen sie verstohlene Blicke auf das Fahrzeug.

»Es ist die Valetta«, bestätigte Taute. »Vor sieben Jahren hat sie ihren Mast verloren. In Papeete wurde ein neuer eingesetzt, der zehn Fuß niedriger war. Das ist er.«

»Geht hinüber und sprecht mit den Frauen, Jungens. Von Raiatea kann man beinahe nach Huahine hinübersehen, und ihr werdet sicher einige von ihnen kennen. Sucht soviel wie möglich zu erfahren. Und wenn sich einer von den Weißen zeigt, dann seht, ohne Streit auszukommen.«

Ein ganzes Heer von Einsiedlerkrebsen flüchtete raschelnd vor Griefs Füßen, als er über den Strand schritt; aber unter den Palmen wühlten und grunzten nicht wie sonst die Schweine. Die Kokosnüsse lagen, wie sie gefallen waren, und in den Kopraschuppen deutete nichts darauf, daß gearbeitet wurde. Fleiß und Sauberkeit waren verschwunden, und die Grashütten eine wie die andre verödet. Er stieß auf einen alten Mann, der blind und zahnlos und voller Runzeln war; er saß hinter einem Baum versteckt und zitterte vor Angst, als man ihn ansprach. Grief dachte, daß der Ort wie von der Pest verheert war. Jetzt näherte er sich dem Versammlungshause. Alles war trostlos und öde. Es waren keine mit Blumen bekränzten Männer und Mädchen zu sehen, keine braunen Kinder spielten im Schatten der Avocadobäume. In der Tür saß, zusammengekauert und sich hin und her wiegend, die alte Königin Mataara. Bei seinem Anblick brach sie in Tränen aus, und während sie ihm ihr Herz ausschüttete, entschuldigte sie sich immer wieder bei ihm, daß sie ihm keine Gastfreundschaft erweisen konnte.

»Sie haben Naumoo geraubt«, schloß sie. »Motuoro ist tot. Mein Volk ist geflohen und hungert bei den Ziegen. Und es gibt keinen, der dir auch nur eine Kokosnuß zum Trunk öffnen könnte. O Bruder, deine weißen Brüder sind Teufel.«

»Das sind nicht meine Brüder, Mataara«, erklärte Grief. »Es sind Räuber, Schurken, und ich werde schon die Insel von ihnen säubern – –«

Er unterbrach sich und drehte sich blitzschnell um, seine Hand fuhr nach dem Gürtel, und in der nächsten Sekunde zeigte die Mündung seines großen Coltrevolvers auf das Gesicht eines krummgebeugten Mannes, der zwischen den Bäumen hervorgesprungen war. Er feuerte nicht, obwohl der Mann nicht stehenblieb, sondern sich ihm zu Füßen warf. Dann begann er einen Strom schrecklicher Laute hervorzusprudeln, und Grief erkannte in ihm das Geschöpf, das er von der Valetta fortschleichen und im Busch verschwinden gesehen hatte. Aber erst, als er den Mann aufgehoben hatte und die Zuckungen des durch eine Hasenscharte verunzierten Mundes beobachten konnte, verstand er, was der Mann sagte.

»Retten Sie mich, Herr, retten Sie mich!« jammerte der Mann auf englisch, obwohl er unverkennbar ein eingeborener Südseeinsulaner war. »Ich kenne Sie, retten Sie mich!«

Und dann folgte ein wilder Ausbruch unzusammenhängender Worte, der erst versiegte, als Grief ihn bei den Schultern packte und schüttelte, bis er schwieg.

»Ich kenne dich«, sagte Grief. »Du warst vor zwei Jahren doch Koch im französischen Hotel auf Papeete. Sie nannten dich Hasenscharte.«

Der Mann nickte heftig.

»Und jetzt bin ich Koch auf der Valetta«, spie und sprudelte er, indem sein Mund verzweifelt kämpfte, um die Worte herauszubringen. »Ich kenne Sie. Ich habe Sie im Hotel gesehen. Und ich habe Sie bei Lavina getroffen. Ich sah Sie auf der Kittiwake. Ich sah Sie auf der Mariposawerft. Sie sind Kapitän Grief, und Sie können mich retten. Diese Männer sind Teufel. Sie haben Kapitän Dupuy getötet. Mich haben sie gezwungen, ihnen zu helfen, die halbe Mannschaft zu töten. Zwei haben sie von den Dwarssalingen heruntergeschossen, die übrigen im Wasser. Ich kannte sie alle. Sie haben die Mädchen in Huahine gestohlen. Dann bekamen sie Verstärkung durch Verbrecher aus Noumea. Sie haben die Händler auf den Neuen Hebriden beraubt. Sie töteten den Händler in Vanikori und stahlen zwei Frauen dort. Sie – –«

Mehr hörte Grief nicht. Vom Hafen her ertönte das Knallen von Büchsen, und er lief zum Strand hinab. Seeräuber aus Tahiti und Sträflinge aus Neu-Caledonia! Eine schöne Gesellschaft! Und jetzt griffen sie offenbar den Schoner an. Hasenscharte folgte ihm, immer noch seine Geschichte von den weißen Teufeln sprudelnd.

Das Schießen hörte so plötzlich auf, wie es begonnen hatte, aber Grief rannte mit trüben Ahnungen weiter, bis er an einer Wegbiegung auf Mauriri stieß, der ihm vom Strande her entgegenlief.

»Großer Bruder«, keuchte der Ziegenmann. »Ich kam zu spät. Sie haben deinen Schoner genommen. Komm! Denn sie suchen dich schon.«

Sie liefen den Weg zurück, den Grief gekommen war. »Wo ist Brown?« fragte er.

»Auf dem Großen Felsen. Ich erzähle es dir später. Komm jetzt!«

»Aber meine Leute im Walboot?«

Mauriri dachte an nichts, als fortzukommen.

»Bei den Frauen auf dem fremden Schoner. Sie werden nicht getötet werden. Ich spreche die Wahrheit. Die Teufel brauchen Seeleute. Aber dich werden sie töten. Horch!« Vom Wasser herüber klang ein französisches Jagdlied, von einem brüchigen Tenor gesungen.

»Jetzt gehen sie an Land. Sie haben deinen Schoner genommen – – das sah ich. Komm!«

III.

Obwohl David Grief nicht davor zurückschreckte, seine Haut zu wagen, war er doch nicht unüberlegt tollkühn. Er wußte, wann es zu kämpfen und wann es auszureißen galt, und daß er jetzt laufen mußte, war ihm keinen Augenblick zweifelhaft. Er schoß den Pfad hinauf, an dem blinden Alten, der im Schatten saß, vorbei, vorbei an Mataara, die im Eingang des Versammlungshauses zusammengekauert saß, und immer weiter, dicht hinter Mauriri. Ihm auf den Fersen folgte wie ein Hund Hasenscharte. Hinter ihnen her drangen die Rufe der Verfolger, aber der Weg, den Mauriri einschlug, war für sie schauerlich. Er verengte sich immer mehr und führte fast senkrecht empor. Das letzte Grashaus lag hinter ihnen, und durch ein hohes Dickicht von Cassibäumen und Schwärme großer goldener Wespen ging es steil hinauf, bis es zuletzt nur noch ein Ziegensteig war. Mauriri wies auf einen nackten Felsabsatz über ihnen.

»Wenn wir den hinter uns haben, sind wir in Sicherheit, großer Bruder«, sagte er. »Die weißen Teufel wagen sich nicht hin, denn dort können wir ihnen Felsblöcke auf die Köpfe schleudern, und einen andern Weg gibt es nicht. Wenn wir den Felsen überschreiten, bleiben sie immer zurück und schießen von hier aus. Komm!«

Eine Viertelstunde später machten sie halt, wo der Pfad auf den nackten Felsen stieß.

»Wart' einen Augenblick; dann aber schnell!« mahnte Mauriri.

Er selbst sprang zuerst in die blendende Sonne, und im selben Augenblick knallten unten mehrere Büchsen. Die Kugeln umpfiffen ihn, und kleine Staubwölkchen wirbelten auf, aber er kam sicher hinüber. Grief folgte ihm, und so nahe schwirrte eine Kugel, daß er einen Schlag auf der Wange spürte. Auch Hasenscharte wurde nicht getroffen, obwohl er langsamer als die andern war.

Den Rest des Tages lagen sie in einer Felsenschlucht, wo Taro und Papaia wuchsen. Und hier erfuhr Grief alles und schmiedete seine Pläne.

»Es war ein Unglück«, sagte Mauriri. »Von allen Nächten hatten die weißen Teufel gerade diese eine zum Fischen ausersehen. Es war finster, als wir durch die Einfahrt kamen. Sie waren in Booten und Kanus. Stets haben sie ihre Büchsen bei sich. Einen Raiatea-Mann erschossen sie. Brown war sehr tapfer. Wir versuchten, an ihnen vorbei bis zum Ende der Bucht zu gelangen, wurden aber von ihnen abgeschnitten und zwischen dem Großen Fels und dem Dorf eingeschlossen. Wir retteten die Schußwaffen und die ganze Munition, aber sie nahmen das Boot. So hörten sie von deinem Kommen. Brown ist jetzt mit den Büchsen und der Munition auf dieser Seite.«

»Aber warum kletterte er nicht über den Großen Fels und warnte uns, ehe wir einliefen?« sagte Grief vorwurfsvoll.

»Sie kannten den Weg nicht. Nur die Ziegen und ich kennen ihn, und ich dachte nicht daran und kroch durch den Busch bis ans Wasser, um zu dir zu schwimmen. Aber die Teufel waren schon im Busch und schossen auf Brown und die Raiatea-Leute. Mich jagten sie bis spät in den Morgen hinein. Dann fuhrst du mit deinem Schoner ein, und ich entkam, aber du warst schon an Land.«

»Du warst es, der den Schuß abgab?«

»Ja, um dich zu warnen. Aber sie waren klug genug, nicht auch noch zu schießen, und es war meine letzte Patrone.«

»Und du, Hasenscharte?« fragte Grief den Koch. Sein Bericht war lang und wurde mühsam hervorgestammelt. Vor einem Jahr hatte er auf der Valetta Tahiti verlassen und die Paumotus befahren. Besitzer und Kapitän des Schiffes war der alte Dupuy. Auf der letzten Reise hatte er in Tahiti zwei Fremde als Steuermann und Superkargo geheuert. Noch einen dritten Fremden hatte er an Bord, der auf Fanriki als Agent abgesetzt werden sollte. Steuermann und Superkargo hießen Raoul van Asveld und Karl Lepsius.

»Es sind Brüder, das weiß ich, denn ich habe sie im Dunkeln auf Deck miteinander reden hören, als sie sich unbelauscht glaubten«, erklärte Hasenscharte. Die Valetta kreuzte durch die Lowinseln und holte von den Stationen Dupuys Schildpatt und Perlen. Frans Amundson, so hieß der dritte Fremde, löste Pierre Gollard in Fanriki ab. Pierre Gollard kam an Bord, um nach Tahiti zurückzukehren. Die Eingeborenen von Fanriki sagten, er hätte eine Menge Perlen für Dupuy. In der ersten Nacht nach der Abfahrt von Fanriki gab es eine Schießerei in der Kajüte. Dann wurden die Leichen von Dupuy und Pierre Gollard über Bord geworfen. Die Tahiti-Leute flüchteten ins Vorderkastell und blieben dort zwei Tage lang ohne Nahrung. Dann ließ Raoul van Asveld ihnen durch Hasenscharte Essen bringen, in das er Gift getan hatte. Die Hälfte der Matrosen starb.

»Er richtete seine Büchse auf mich, Herr, was konnte ich tun?« wimmerte Hasenscharte. »Zwei von den Tahiti-Leuten flohen in die Takelung und wurden erschossen. Fanriki war zehn Meilen entfernt, aber trotzdem sprangen die übrigen über Bord, um hinzuschwimmen. Sie wurden im Wasser erschossen. Nur ich und die beiden Teufel blieben am Leben. Ich sollte für sie kochen. Am selben Tage fuhren sie nach Fanriki zurück und holten Frans Amundson ab, der mit ihnen im Bunde war.«

Dann folgte der Bericht über Hasenschartes Leiden während der zweiten Fahrt des Schoners nach Westen. Als einziger überlebender Zeuge wußte er, daß sie ihn getötet haben würden, wenn sie ihn nicht als Koch gebraucht hätten. In Noumea hatten sich ihnen fünf Sträflinge angeschlossen. Hasenscharte durfte nirgends an Land gehen, und Grief war der erste Mensch, dem er sein Herz ausschütten konnte.

»Und jetzt werden sie mich töten,« sprudelte Hasenscharte, »denn sie wissen, daß ich Ihnen alles erzählt habe. Aber ich bin kein Feigling, und ich will bei Ihnen bleiben, Herr, und mit Ihnen sterben.«

Der Ziegenmann schüttelte den Kopf und stand auf. »Leg' dich schlafen«, sagte er zu Grief. »Wir müssen heute nacht weit schwimmen. Den Koch werde ich jetzt höher in die Berge bringen, wo meine Brüder mit den Ziegen leben.«

IV.

»Es ist gut, daß du schwimmst wie ein Mann, großer Bruder«, flüsterte Mauriri.

Von der Bergschlucht waren sie zum Strande der Bucht hinabgestiegen. Sie schwammen leise, ohne zu plätschern, Mauriri voran. Die schwarzen Kraterwände erhoben sich rings um sie, und es sah aus, als schwämmen sie auf dem Grunde einer gewaltigen Schüssel. Über ihnen wölbte sich, schwach leuchtend, der von Sternen überstäubte Himmel. Vor sich konnten sie die Lichter der Rattler erblicken, und aus der Ferne erklangen die Töne eines Chorals von dem Grammophon, das für Pilsach bestimmt gewesen war.

Die beiden Schwimmer wandten sich nach links, um dem gekaperten Schiff nicht zu nahe zu kommen. Die Klänge des Chorals wurden von Lachen und Singen abgelöst, und dann setzte das Grammophon wieder ein. Grief mußte lächeln, als jetzt »Führe mich, freundliches Licht« über die dunkle Fläche klang.

»Wir müssen durch das Riff und versuchen, auf den Großen Felsen zu kommen«, flüsterte Mauriri. »Die Teufel haben die Landzunge besetzt. Horch!«

Ein halbes Dutzend Büchsenschüsse, die in unregelmäßigen Abständen knallten, bezeugten, daß Brown noch den Felsen hielt, und daß die Piraten ihn von der Landenge aus belagerten.

Nach zwei Stunden hatten sie den finster dräuenden Schatten des Großen Felsen erreicht. Mauriri tastete sich vorwärts, bis er einen Spalt fand, der hundert Fuß aufwärts zu einem schmalen Grat führte.

»Warte hier«, sagte Mauriri. »Ich gehe zu Brown. Am Morgen kehre ich zurück.«

Mauriri lauschte in der Finsternis.

»Selbst du, großer Bruder, kannst das nicht. Ich bin der Ziegenmann, und auf ganz Fuatino bin ich der einzige, der nachts über den Großen Felsen gehen kann, ja, es ist das erstemal, daß selbst ich es tue. Strecke die Hand aus. Fühlst du etwas? Hier liegt Pilsachs Dynamit. Lege dich dicht an die Wand, und du kannst gut schlafen, ohne hinabzustürzen. Ich gehe jetzt.«

Und hoch über der rauschenden Brandung, auf einem schmalen Felsvorsprung saß David Grief neben einer Tonne Dynamit und entwarf seinen Kriegsplan, dann legte er den Kopf auf seinen Arm und schlief ein.

Als Mauriri ihn am Morgen über den Gipfel des Großen Felsen führte, verstand David Grief, warum es in der Nacht nicht möglich gewesen wäre. Trotz seiner Seemannsnerven, die schwieriges Klettern gewöhnt waren, wunderte er sich, daß er das Wagestück überhaupt, selbst jetzt bei hellem Tage, unternehmen konnte. Es gab Stellen, an denen er sich, stets unter der sorgsamsten Führung Mauriris, über hundert Fuß tiefe Spalten vornüber fallen lassen mußte, bis seine ausgestreckte Hand einen Halt an der gegenüberliegenden Wand fand, worauf er die Füße nachziehen konnte. Einmal galt es, einen zehn Fuß weiten Sprung über einen tausend Fuß tief gähnenden Schlund schräg hinunter auf einen Absatz zu machen, der kaum Platz für seine Füße bot. Und einmal verlor er trotz seines kühlen Kopfes die Selbstbeherrschung, als er auf einem nur zwölf Zoll breiten Vorsprung stand, wo er nirgends einen Halt fand. Er schwankte, aber da schwang Mauriri sich an ihm vorbei über die Tiefe und versetzte ihm dabei einen scharfen Hieb auf den Rücken, der ihn wieder zu sich brachte. Jetzt verstand er, warum Mauriri die Bezeichnung »Ziegenmann« erhalten hatte.

V.

Die Verteidigung des Großen Felsen hatte ihre Vorzüge und ihre Nachteile. Für den Belagerer uneinnehmbar, konnten zwei Mann die Stellung gegen Zehntausende halten. Dazu beherrschte sie die Ausfahrt in das offene Meer, und so konnten die beiden Schoner mit Raoul van Asveld und seiner Räuberbande nicht entkommen. Mit seiner Tonne Dynamit, die er höher hinauf auf den Felsen geschafft hatte, war Grief Herr der Situation. Das bewies er eines Morgens, als die Schoner den Versuch machten, in See zu stechen. Die Valetta übernahm die Führung, im Schlepp des Walbootes, das mit Gefangenen aus Fuatino bemannt war. Grief und der Ziegenmann blickten von ihrer sicheren Zuflucht dreihundert Fuß tief auf sie hinab. Ihre Gewehre lagen neben ihnen, dazu ein glimmender Feuerschwamm und ein großes Bündel mit Lunten versehener Dynamitpatronen. Als das Boot gerade unter ihnen war, schüttelte Mauriri den Kopf:

»Es sind unsre Brüder, wir dürfen nicht schießen.«

Vorn auf der Valetta standen einige von Griefs eignen Raiatea-Leuten. Einer stand achtern am Rade. Die Piraten befanden sich unter Deck oder auf dem andern Schoner, bis auf einen, der, ein Gewehr in der Hand, mittschiffs stand. Als Deckung hielt er Naumoo, die Tochter der Königin, dicht an sich.

»Das ist der Hauptteufel«, flüsterte Mauriri, »und seine Augen sind ebenso blau wie die deinen. Er ist ein schrecklicher Mann. Schau! Er hält Naumoo vor sich, damit wir nicht auf ihn schießen können.«

Ein leichter Gegenwind und die Strömung hemmten die Schnelligkeit des Schoners.

»Sprechen Sie englisch?« rief Grief hinunter.

Der Mann zuckte zusammen, dann hob er die Büchse und blickte hinauf. Es war etwas Blitzhaftes, Katzenartiges in seinen Bewegungen, und sein sonnengebräuntes Gesicht funkelte vor Kampfgier. Es war das Gesicht eines Mörders.

»Ja«, antwortete er. »Was wünschen Sie?«

»Kehren Sie um, oder ich sprenge den Schoner in die Luft«, warnte Grief ihn. Er blies auf den Feuerschwamm und sagte leise zu Mauriri: »Ruf Naumoo zu, daß sie sich losreißen und nach achtern laufen soll.«

Auf der Rattler, die gleich hinterher folgte, knallten die Büchsen, und die Kugeln stoben gegen den Felsen. Van Asveld lachte verächtlich, und Mauriri rief dem Mädchen etwas in der Sprache der Eingeborenen zu. Als das Schiff gerade unter ihnen war, sah Grief, wie das junge Mädchen sich losriß, und im selben Augenblick berührte er mit dem Schwamm die Lunte, sprang an den Rand des Felsen und ließ das Dynamit fallen. Van Asveld war es indessen gelungen, Naumoo wieder zu fangen, und er kämpfte mit ihr. Der Ziegenmann hielt seine Büchse auf ihn gerichtet und wartete auf eine Gelegenheit, um zum Schusse zu kommen. Das Dynamit fiel auf das Deck und rollte an das Backbordspeigatt. Van Asveld sah es, ließ das Mädchen los, und beide liefen nach achtern, um sich in Sicherheit zu bringen. Der Ziegenmann feuerte, traf aber nur die Ecke der Kombüse. Die Kugeln von der Rattler flogen dichter, und die beiden Männer auf dem Felsen zogen sich zurück und warteten. Mauriri wollte sehen, was unten geschah, aber Grief hielt ihn zurück.

»Die Lunte war zu lang«, sagte er. »Das nächste Mal wird es besser gehen.«

Es dauerte eine halbe Minute, ehe die Explosion erfolgte. Sie konnten indessen die Wirkung nicht gleich sehen, da die Schützen auf der Rattler sich jetzt eingeschossen hatten und ein heftiges Feuer unterhielten. Einmal wagte Grief sich doch vor, um einen Blick hinunterzuwerfen, obwohl ihm die Kugeln um die Ohren pfiffen. An Backbord der Valetta waren Deck und Reling fortgerissen, sie krengte stark und trieb in den Hafen zurück. Die Besatzung und die Frauen von Huahine, die sich in der Kajüte der Valetta befunden hatten, schwammen zur Rattler und kletterten an Bord. Die Fuatino-Leute, die mit dem Walboot die Valetta bugsiert hatten, ruderten wild durch die Einfahrt nach dem Südstrand zurück.

Vom Ufer der Landenge ertönte das Knallen von vier Büchsen; Brown und seine Leute hatten sich einen Weg durch den Busch gebahnt und griffen jetzt ein. Auch Grief und Mauriri feuerten, vermochten aber nicht viel auszurichten, da ihre Feinde auf der Rattler Deckung hinter den Kajütaufbauten suchten, während Wind und Strömung das Fahrzeug immer weiter zurücktrieben. Die Valetta war spurlos in der Tiefe des Kraters verschwunden.

Jetzt zeigte Raoul van Asveld eine Kühnheit und Besonnenheit, die die Bewunderung Griefs erregte. Mit Büchsenschüssen von der Rattler zwang er die fliehenden Fuatino-Leute zur Umkehr; gleichzeitig schickte er die Hälfte seiner Banditen mit dem Boot an Land und ließ sie die Landenge besetzen, wodurch Brown von der Insel selbst abgeschnitten wurde. Und den Rest des Morgens hindurch konnte Grief aus dem Schießen hören, wie Brown auf der entgegengesetzten Seite nach dem Großen Felsen zurückgetrieben wurde. Mit Ausnahme des Verlustes der Valetta war die Lage unverändert.

VI.

Auf dem Großen Felsen sah es in Wirklichkeit katastrophal aus. Es gab weder Nahrung noch Wasser. Mehrere Nächte hintereinander schwamm Mauriri in Begleitung eines Raiatea-Mannes bis ans Ende der Bucht, um Lebensmittel zu holen. Dann kam eine Nacht, in der Lichter über dem Wasser aufblitzten und Schüsse knallten. Der Große Fels war auch von der Wasserseite blockiert.

»Eine merkwürdige Situation«, meinte Brown, der jetzt alle Abenteuer erlebte, von denen er geträumt hatte. »Wir haben sie und können sie nicht loslassen, und Raoul hat uns und kann nichts machen. Er kann nicht entwischen, und während wir ihn bewachen, können wir verhungern.«

»Wenn es nur regnen würde, daß die Felslöcher sich füllten«, sagte Mauriri. Sie waren jetzt vierundzwanzig Stunden ohne Wasser gewesen. »Großer Bruder, heute nacht werden du und ich Wasser holen. Es ist eine Arbeit für starke Männer.«

In der Nacht führte er Grief vom Großen Felsen auf die Landenge hinunter. Sie waren beide mit festverkorkten Kokosnußkalabassen versehen. Dann schwammen sie etwa hundert Fuß weit hinaus. Sie konnten hin und wieder das Plätschern von Riemen oder das Schlagen eines Paddels gegen die Kanuwand hören; zuweilen blitzte ein Streichholz auf, wenn einer der Männer in den Booten, die den Felsen bewachten, sich eine Zigarette oder seine Pfeife anzündete.

»Warte hier und halte die Kalabassen,« flüsterte Mauriri. Dann tauchte er. Grief beobachtete die phosphoreszierende Spur im Wasser, die sich allmählich trübte und verschwand. Erst nach einer guten halben Minute tauchte Mauriri geräuschlos wieder neben ihm auf. »Hier! Trink!«

Er hatte eine Kalabasse gefüllt, und Grief trank das labende frische Wasser, das Mauriri ihm aus der salzigen Tiefe gebracht hatte.

»Es kommt vom Lande«, sagte Mauriri.

»Ganz unten auf dem Grunde?«

»Nein. Das Meer ist hier so tief, wie die Berge hoch sind. Fünfzig Fuß unter der Oberfläche strömt es. Tauch' hinunter, bis du seine Kühle spürst.«

Nach Taucherart füllte und leerte Grief seine Lunge erst einigemal, ehe er tauchte. Das Wasser war salzig und warm, aber tief unten wurde es plötzlich kühl und schmeckte brackig. Dann befand er sich in dem klaren unterseeischen Strom. Er zog den Stöpsel aus der Kalabasse, und während das süße Wasser hineingurgelte, sah er, einem Seegespenst gleich, den phosphoreszierenden Umriß eines großen Fisches langsam vorbeigleiten. Dann blieb er oben und hielt das immer schwerer werdende Gewicht der Kalabassen, während Mauriri immer wieder tauchte und eine andre füllte.

»Es waren Haie da«, sagte Grief, als sie an Land zurückschwammen.

»Pah!« lautete die Antwort. »Das sind nur Fischhaie! Wir Männer von Fuatino sind ihre Brüder.«

»Aber die Tigerhaie, die habe ich auch schon hier gesehen.«

»Wenn die kommen, großer Bruder, werden wir kein Wasser mehr zu trinken haben – es sei denn, daß es regnet.«

VII.

Eine Woche darauf schwammen Mauriri und ein Raiatea-Mann mit leeren Kalabassen zurück. Die Tigerhaie waren in die Bucht gekommen. Am nächsten Tage durstete man auf dem Großen Fels. »Wir müssen unser Heil versuchen«, sagte Grief. »Heute nacht werde ich mit Mautau Wasser holen, und morgen, Bruder, wirst du mit Tehaa gehen.«

Nur drei Flaschen konnte Grief füllen, dann vertrieben die Haie sie. Sie waren sechs auf dem Felsen, und ein halbes Liter täglich ist bei der sengenden Hitze der Tropen keine genügende Feuchtigkeit für den Körper eines Mannes. In der folgenden Nacht kehrte Mauriri und Tehaa ohne Wasser zurück. Und am nächsten Tage lernte Brown den Durst kennen. Er erfuhr, was es heißt, wenn die Lippen rissig werden, daß sie bluten, wenn die Mundhöhle sich mit körnigem Schleim bedeckt und die Zunge so anschwillt, daß sie keinen Platz mehr im Munde zu finden scheint.

Bei Einbruch der Dunkelheit schwamm Grief mit Mautau hinaus. Immer wieder tauchten sie durch die salzige Flut in den kühlen süßen Strom hinab und tranken sich satt, während die Kalabassen sich füllten. Dann kam die Reihe an Mautau, um die letzte Kalabasse zu füllen. Grief sah von der Oberfläche aus den Schimmer der Seegespenster, dann das phantastische Phosphoreszieren eines Kampfes unter Wasser. Er schwamm allein zurück, ohne jedoch die kostbare Last der gefüllten Kalabassen im Stich zu lassen.

Auch die Nahrung wurde knapp. Auf dem Felsen wuchs nichts, und der Fuß war zwar mit Schaltieren bedeckt, aber die Brandung war zu stark und der Hang zu abschüssig, als daß man hätte hingelangen können. Hin und wieder fanden sie in einem Spalt einige übelriechende Muscheln und Seeigel, und zuweilen glückte es ihnen, einen Fregattvogel oder eine Möwe in der Schlinge zu fangen. Dann gelang es ihnen, mit einem Stück Vogelfleisch einen Hai zu angeln. Das Haifleisch benutzten sie wieder als Köder und fingen damit mehrere weitere Haie.

Aber der Wassermangel war schrecklich. Mauriri betete zum Ziegengott, Taute zum Gott der Missionare um Regen, und seine beiden Landsleute wurden rückfällig und riefen die Götter aus ihrer Heidenzeit an. Grief lächelte und dachte nach, Brown aber fluchte mit wilden Blicken und geschwollener, schwarzer Zunge. Namentlich verfluchte er das Grammophon, das, wenn die kühlen Abende hereinbrachen, seine Lieder herunterleierte. Der Choral »Jenseits von Lächeln und Weinen« konnte ihn zur Verzweiflung bringen. Es schien das Lieblingslied der Besatzung zu sein und wurde immer wieder gespielt. Wenn Brown auch vor Hunger, Durst und Schwäche halb von Sinnen war, konnte er doch dem Zirpen der Ukulélés und Gitarren und dem Singen der Huahine-Frauen ruhig lauschen. Sobald aber der Gesang des Dreifaltigkeits-Chors über das Wasser tönte, geriet er außer sich. Eines Abends fiel sogar der brüchige Tenor ein und sang den Choral mit.

Da stand Brown auf. Und immer wieder schoß er, blind vor Wut, seine Büchse auf den Schoner ab. Männer und Frauen brachen in Lachen aus, und ein Kugelregen von der Landenge war die Antwort. Der Tenor aber sang, und Brown schoß, bis der Choral zu Ende gespielt war.

In dieser Nacht kehrten Grief und Mauriri nur mit einer Kalabasse zurück. Das Fehlen eines sechs Zoll langen Hautfetzens an Griefs Schulter zeugte von der Berührung mit der sandpapierartigen Haut eines Hais, dem er nur mit Mühe und Not entronnen war.

VIII.

Früh am Morgen des nächsten Tages, ehe noch die Sonne ihre volle Kraft erreicht hatte, schlug Raoul van Asveld eine Unterredung vor. Brown, der hundert Schritt entfernt auf dem Ausguck gelegen hatte, brachte den Bescheid. Grief kauerte an einem kleinen Lagerfeuer und briet ein Stück Haifleisch. Man hatte Seeanemonen und Seeigel gefunden, Tehaa hatte einen Hai geangelt, und Mauriri auf dem Grunde des Spalts, in dem das Dynamit aufbewahrt wurde, einen ansehnlichen Kraken gefangen. In der Dunkelheit waren sie zudem zweimal hinausgeschwommen und hatten Wasser geholt, ehe die Tigerhaie ihnen auf die Spur gekommen waren.

»Er sagt, er möchte gern herkommen und mit Ihnen sprechen«, berichtete Brown. »Aber ich weiß ja, was der Kerl will. Er will nur sehen, wie nahe wir am Verhungern sind.«

»Bringen Sie ihn her«, sagte Grief.

»Und dann töten wir ihn«, rief der Ziegenmann froh. Grief schüttelte den Kopf.

»Aber er ist ein Mörder, großer Bruder, ein Ungeheuer, ein Teufel«, protestierte der Ziegenmann.

»Er darf nicht getötet werden, Bruder. Wir brechen nicht unser Wort.«

»Das ist töricht.«

»So sind wir nun einmal«, antwortete Grief ernst, indem er das Haistück über dem Feuer drehte. Er merkte, wie Tehaa einen Blick voller Gier darauf warf. »Tue das nicht, wenn der große Teufel kommt, Tehaa. Du mußt aussehen, als ob Hunger dir etwas ganz Unbekanntes wäre. Koche diese Seeigel, und du, Bruder, koche den Kraken. Wir werden einen Festschmaus mit dem großen Teufel halten! Spart nichts, kocht alles!«

Grief erhob sich, das Fleisch, das er briet, noch in der Hand, als Raoul van Asveld sich in Begleitung eines kräftigen irischen Terriers dem Lager näherte. Raoul beging nicht den Fehler, die Hand auszustrecken.

»Hallo!« sagte er. »Habe von Ihnen gehört.«

»Ich möchte, ich hätte nie von Ihnen gehört«, antwortete Grief.

»Danke, gleichfalls!« lautete die Antwort. »Ehe ich wußte, wer Sie waren, glaubte ich, mit einem gewöhnlichen Handelskapitän zu tun zu haben. Sonst hätten Sie mich nie hier eingeschlossen.«

»Und ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich Sie auch unterschätzte«, lächelte Grief. »Ich hielt Sie für einen gewöhnlichen Strandräuber und nicht für einen intelligenten Piraten und Mörder. Wir haben uns also nichts vorzuwerfen.«

Das Blut stieg in Raouls sonnengebräunte Wangen, aber er bezwang seinen Zorn. Sein Blick glitt über die Vorräte und die vollen Kalabassen, aber er ließ sich seine Überraschung nicht merken. Er war ein großer, schlanker, gut gewachsener Mann, und Grief betrachtete genau seine Züge, um seinen Charakter abzuschätzen. Die Augen waren kühn und scharf, saßen aber etwas zu dicht zusammen – ein wenig zu nahe im Verhältnis zu der breiten Stirn, dem kräftigen Kinn, den starken Kiefern und den weit ausladenden Backenknochen. Stärke! Das war es, was das Gesicht ausdrückte, und doch spürte Grief, daß dem Manne etwas Unbestimmbares fehlte.

»Wir sind beide starke Männer«, sagte Raoul mit einer Verbeugung. »Vor hundert Jahren würden wir um Kaiserreiche gekämpft haben.«

Jetzt verbeugte Grief sich.

»Aber wie die Dinge stehen, schlagen wir uns jetzt unter dem Zwang der Gesetze gerade der Reiche, deren Geschick wir vermutlich vor hundert Jahren bestimmt haben würden«, sagte er.

»Alles wird zu Staub«, sagte Raoul sinnend, indem er sich niedersetzte. »Essen Sie nur weiter. Lassen Sie sich nicht stören.«

»Wollen Sie nicht mitessen?« forderte Grief ihn auf.

Der andere blickte ihn scharf an.

»Ich klebe von Schweiß«, sagte er. »Kann ich mich waschen?«

Grief nickte und befahl Mauriri, eine Kalabasse zu bringen. Raoul sah dem Ziegenmann in die Augen, konnte aber nur die größte Gleichgültigkeit darin entdecken, als das kostbare Naß auf den Boden verschüttet wurde.

»Der Hund ist durstig«, sagte Raoul.

Eine zweite Kalabasse wurde dem Tiere gereicht. Wieder forschte Raoul in den Augen des Eingeborenen, aber ohne Ergebnis.

»Tut mir leid, daß ich Ihnen keinen Kaffee anbieten kann«, entschuldigte Grief sich. »Sie müssen mit reinem Wasser vorliebnehmen. Eine Kalabasse, Tehaa! Wollen Sie nicht ein Stück Hai versuchen? Hinterher gibt es Kraken und Seeigel nebst Algensalat. Es ist schade, daß wir heute keinen Fregattvogel haben, die Leute waren aber gestern faul und haben keinen gefangen.«

Mit einem Appetit, der nicht vor in Schmalz gebackenen Nägeln zurückgeschreckt wäre, aß Grief gedankenlos und schob die Reste dann dem Hunde hin.

»Ich fürchte, ich habe mich noch nicht recht an die primitive Kost gewöhnt«, seufzte er, sich zurücklehnend. »Die Konservenbüchsen auf der Rattler wären jetzt nicht ohne, aber dieser Dreck – –« Er nahm ein halbes Pfund Haifleisch und warf es dem Hunde hin. »Wenn Sie sich nicht bald ergeben, werde ich mich schließlich daran gewöhnen müssen.«

Raoul lachte etwas gezwungen:

»Ich bin gekommen, um Ihnen ein Angebot zu machen«, sagte er mit Nachdruck.

Grief schüttelte den Kopf.

»Von einem Vergleich kann nicht die Rede sein. Jetzt hab' ich Sie an der Leine, und ich denke nicht daran, loszulassen.«

»Sie glauben also, daß Sie mich in diesem Loch festhalten können!« rief Raoul.

»Lebendig kommen Sie nicht heraus, es sei denn an Händen und Füßen gefesselt.« Grief betrachtete seinen Gast genau, um ihn abzuschätzen. »Ich bin schon früher mit Leuten Ihres Schlages fertig geworden. Wir haben die Südsee hübsch von ihnen gesäubert. Sie – nun ja, wie soll ich sagen – Sie sind eine Art Anachronismus, Sie sind eine Rückfallsform, von der wir uns befreien müssen. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, dann begeben Sie sich wieder auf den Schoner und schießen Sie sich eine Kugel durch den Kopf. Das ist die einzige Möglichkeit für Sie, dem Schicksal zu entgehen, das Ihnen sonst blüht.«

Raoul verstand, daß jede Unterhandlung fruchtlos enden mußte, und kehrte zurück mit der festen Überzeugung, daß die Männer auf dem Großen Felsen jahrelang aushalten konnten. Hätte er aber gesehen, wie Tehaa und die Raiatea-Leute sich, sobald er außer Sicht war, über die Brocken stürzten, die der Hund übriggelassen hatte, so wäre er schnell andrer Meinung geworden.

IX.

»Jetzt hungern wir zwar, Bruder«, sagte Grief. »Aber besser jetzt eine kurze Weile, als noch lange Zeit zu hungern. Nachdem der große Teufel in Hülle und Fülle bei uns gegessen und gutes Wasser getrunken hat, wird er nicht mehr lange in Fuatino bleiben. Er wird wohl schon morgen den Versuch machen, wegzukommen. Heute nacht werden du und ich auf dem Gipfel des Felsen schlafen, und Tehaa, der gut schießt, wird mit uns gehen, wenn er sich hinauf wagt.«

Tehaa war der einzige der Raiatea-Leute, der das Wagestück unternehmen konnte, und als der Tag anbrach, befand er sich hinter einer Barrikade von Felsblöcken, hundert Schritt von der Stelle, wo Grief und Mauriri lagen.

Das Signal gab ein heftiges Schießen von der Landenge. Brown und seine beiden Raiatea-Leute hatten den Rückzug ihrer Belagerer bemerkt und verfolgten sie jetzt durch den Busch bis an den Strand.

Eine Stunde lang konnte Grief aus seinem Ausguck nichts bemerken. Dann erschien plötzlich die Rattler, die offenbar die Ausfahrt forcieren wollte. Wie beim erstenmal mußten die gefangenen Fuatino-Leute im Walboot bugsieren. Als sie langsam unten vorbeifuhren, rief Mauriri ihnen Weisungen zu, die Grief ihm gab. Neben Grief lag ein ganzer Haufen Dynamitpatronen, die fest zusammengeschnürt und mit ganz kurzen Lunten versehen waren.

Vorn auf dem Deck der Rattler stand mitten unter den Raiatea-Matrosen, die Büchse in der Hand, einer der Verbrecher, wie Mauriri erklärte, der Bruder Raouls. Achtern neben dem Rudergast standen ein zweiter und, mit einem Tau an ihn gebunden, Mataara, die alte Königin. Auf der andern Seite des Rudergastes stand, einen Arm in der Schlinge, Kapitän Glaß, mittschiffs sah man wieder Raoul und, fest an ihn gebunden, Naumoo.

»Guten Morgen, Herr David Grief«, rief Raoul.

»Ich habe Sie doch gewarnt und Ihnen gesagt, daß Sie die Insel nur an Händen und Füßen gefesselt verlassen würden«, rief Grief bedauernd.

»Sie können doch nicht alle Ihre Leute töten, die ich an Bord habe«, lautete die Antwort.

Der Schoner bewegte sich langsam unter den Ruderschlägen der Leute im Walboot und war beinahe unter der Stelle, wo Grief und Mauriri lagen. Die Ruderer hielten inne, wurden aber sofort von dem Mann, der vorn auf der Rattler stand, mit der Büchse bedroht.

»Wirf, großer Bruder!« rief Naumoo in der Sprache von Fuatino. »Ich bin traurig und möchte gern sterben. Er hat sein Messer zur Hand, um das Tau zu durchschneiden, aber ich werde ihn halten. Hab keine Furcht, großer Bruder. Wirf und wirf richtig. Lebe wohl!«

Grief zögerte, dann senkte er den Feuerschwamm, den er zu heller Glut angefacht hatte.

»Wirf!« drängte der Ziegenmann. Noch zögerte Grief. »Wenn sie hinausgelangen, stirbt Naumoo doch. Und auch die andern werden getötet. Was gilt Naumoos Leben gegen das so vieler!«

»Wenn Sie das Dynamit fallen lassen oder einen einzigen Schuß abgeben, töten wir alle, die wir an Bord haben«, rief Raoul nach oben. »Jetzt habe ich Sie, David Grief. Sie können die Leute nicht töten, aber ich kann es. Halt den Mund!«

Die letzten Worte waren an Naumoo gerichtet, die in ihrer Sprache etwas hinaufgerufen hatte. Jetzt packte Raoul sie mit einer Hand am Genick, um sie zum Schweigen zu bringen. Da schlang sie beide Arme um ihn und blickte flehend zu Grief empor.

»Werfen Sie, Herr Grief, und lassen Sie sie alle zur Hölle gehen«, rief Kapitän Glaß mit seiner rauhen Stimme. »Es sind blutige Mörder, und die ganze Kajüte ist voll von ihnen.«

Der Kerl, an den die alte Königin gebunden war, drehte sich halb um und richtete die Büchse drohend auf Kapitän Glaß. In diesem Augenblick feuerte Tehaa aus seinem Versteck auf ihn. Die Büchse entfiel seiner Hand, und mit einem Ausdruck tiefsten Erstaunens brach er zusammen, im Fallen die Königin mit sich reißend.

»Backbord! Hart Backbord!« schrie Grief.

Kapitän Glaß und der Rudergänger legten das Ruder über, und der Bug der Rattler bewegte sich geradewegs auf den Felsen zu. Mitschiffs kämpfte Raoul noch mit Naumoo. Sein Bruder rannte ihm zu Hilfe; einige rasche Schüsse von Tehaa und dem Ziegenmann verfehlten ihn. Als er die Mündung seiner Büchse Naumoo an die Seite setzte, berührte Grief mit dem Feuerschwamm das gespaltene Ende einer Lunte. Er stieß an das große Dynamitbündel, und im selben Augenblick ging unten die Büchse los. Naumoo brach auf dem Deck zusammen, und gleichzeitig fiel das Dynamit. Diesmal war die Lunte kurz genug. In dem Augenblick, als der Sprengstoff das Deck berührte, fand die Explosion statt, und der Teil der Rattler, auf dem Raoul, sein Bruder und Naumoo gestanden hatten, verschwand für immer. Die Seite des Schoners war zerschmettert, und er begann sofort zu sinken. Vorn sprangen alle Raiatea-Leute über Bord. Den ersten Mann, der die Kajüttreppe heraufstürmte, traf Kapitän Glaß mit einem wuchtigen Tritt ins Gesicht, dann aber wurde er über den Haufen geworfen und niedergetrampelt. Den Verbrechern folgten die Huahino-Frauen, und als sie über Bord gesprungen waren, sank die Rattler dicht an der Felswand. Ihre Dwarssalinge guckten noch heraus.

Grief konnte von seinem Standpunkt aus beobachten, was unter der Oberfläche geschah. Er sah Mataara, die sich von dem toten Piraten befreite und dann nach oben schwamm. Als ihr Kopf auftauchte, sah sie Kapitän Glaß, der nicht schwimmen konnte, dicht neben sich untersinken. War die Königin auch eine alte Frau, so war sie doch Insulanerin. Sie schwamm zu ihm, hielt seinen Kopf über Wasser und schleppte ihn zu den Dwarssalingen.

Fünf blonde und braune Köpfe schwammen zwischen den schwarzen der Polynesier auf der Oberfläche. Grief wartete, die Büchse in der Hand, darauf, zum Schuß zu kommen. Der Ziegenmann feuerte, und im nächsten Augenblick sah man den Körper eines Mannes langsam sinken. Aber jetzt war für die Raiatea-Leute der Augenblick der Rache gekommen. Rasch wie die Fische schwammen sie herbei, und vom Felsen konnte Grief sehen, wie die vier überlebenden Verbrecher trotz verzweifelten Widerstandes gepackt, unter Wasser gezogen und wie die Katzen ersäuft wurden.

In zehn Minuten war alles vorbei. Die Huahine-Frauen klammerten sich, lachend und kichernd, an das Walboot, das den Schoner bugsiert hatte. Die Raiatea-Leute hingen jetzt mit Kapitän Glaß und Mataara an den Dwarssalingen und warteten auf Griefs Befehle.

»Die arme, alte Rattler«, sagte Kapitän Glaß später traurig.

»Das hat nichts zu sagen«, antwortete Grief. »In einer Woche haben wir sie gehoben, neue Spanten eingesetzt und können die Reise fortsetzen.« Dann wandte er sich zur Königin: »Wie steht es mit dir, Schwester?«

»Naumoo ist tot und Motuaro, Bruder, aber Fuatino ist wieder unser. Die Sonne scheint wieder für uns. Jetzt sende ich meinem Volk bei den Ziegen in den Bergen Botschaft. Und heute abend soll ein Freudenfest im Versammlungshause gefeiert werden.«

»Wir brauchen schon längst neue Spanten achtern«, meinte Kapitän Glaß. »Aber der Chronometer wird auf dieser Reise wohl nicht mehr funktionieren.«

 


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