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Am dritten Morgen nach Grahams Abreise sorgte Dick dafür, daß sein Meiereiverwalter um elf Uhr bei ihm war, als Paula auf ihrem üblichen Morgengang zu ihm kam und ihr: »Guten Morgen, edler Herr!« durch die Tür rief. Die Familie Mason, die sich mit ihrer lärmenden Jugend in mehreren Automobilen einstellte, befreite Paula für die Zeit des Lunch und den Nachmittag, und Dick bemerkte, daß sie sich auch den Abend sicherte, indem sie sie zum Bridge und einem kleinen Tanz da behielt. Am vierten Vormittag aber, dem Tage, an dem Graham zurückerwartet wurde, war Dick um elf Uhr allein in seinem Arbeitszimmer. Er saß an seinem Schreibtisch und unterschrieb Briefe, als er Paula auf den Zehenspitzen hereinkommen hörte. Er sah nicht auf, während er aber seinen Namen unter die Briefe setzte, lauschte er intensiv auf das leise Rascheln ihres seidenen Kimonos. Er wußte, daß sie sich über ihn beugte, und wagte kaum zu atmen. Als sie aber einen sanften Kuß auf sein Haar gedrückt und ihr: »Guten Morgen, edler Herr« gesagt hatte, entschlüpfte sie lächelnd seinen sehnend ausgestreckten Armen. Was ebenso stark wie die Enttäuschung auf ihn wirkte, war der glückliche Ausdruck in ihrem Antlitz. Sie, die so wenig verstand, ihre Stimmungen zu verbergen, war helläugig und glücklich wie ein Kind. Graham sollte am Nachmittag kommen, und Dick mußte unwillkürlich beides miteinander in Verbindung bringen.

Er gab sich nicht die Mühe, festzustellen, ob sie die Syringen im Turmzimmer erneuert hatte, und beim Lunch mußte er sich stehenden Fußes eine Menge Arbeit für den Nachmittag ausdenken, als Paula vorschlug, Graham in Eldorado abzuholen und selbst zu fahren.

»Fahren?« fragte Dick.

»Ja, mit Duddy und Fuddy«, erklärte sie. »Sie sind sehr unruhig, und ich habe das Gefühl, es täte ihnen gut, wenn sie ein bißchen Bewegung bekämen. Wenn du aber mitkommen willst, fahren wir selbstverständlich wohin du willst, und lassen ihn mit dem Auto abholen.«

Dick kämpfte mit sich, um sich nicht einzugestehen, daß ihr Wesen Furcht ausdrückte, wie sie jetzt darauf wartete, ob er ihre Aufforderung annehmen oder abschlagen würde.

»Duddy und Fuddy, die Ärmsten, würden in den ewigen Jagdgründen sein, wenn sie mich dort hinfahren sollten, wo ich heute nachmittag hin muß«, lachte er, indem er gleichzeitig sein Programm entwarf. »Bis Mittag muß ich hundertzwanzig Meilen hinter mir haben. Ich nehme den Rennwagen, und es wird eine staubige Ratterei, nur hin und wieder über ebenes Gelände. Ich bringe es einfach nicht übers Herz, dich mitzunehmen.«

Paula seufzte, aber sie war eine so schlechte Schauspielerin, daß er nicht umhin konnte, aus dem Seufzer, mit dem sie auf seine Gesellschaft verzichtete, eine gewisse Erleichterung über seinen Entschluß herauszuhören.

»Wohin?« fragte sie heiter, und wieder bemerkte er die warme Röte in ihren Wangen und den strahlend glücklichen Ausdruck in ihren Augen.

»Ach, ich muß schnell einen Abstecher den Fluß entlang machen, um nach den Baggern zu sehen, und dann fahre ich weiter nach Sacramento, um Wing Fo Wong zu begrüßen.«

»Und wer, um Himmels willen, ist Wing Fo Wong,« fragte sie lächelnd, »daß du ihn absolut besuchen mußt?«

»Eine sehr wichtige Persönlichkeit, mein Kind. Er ist reichlich seine zwei Millionen schwer, und die hat er sich mit Kartoffeln und Spargeln im Delta verdient. Ich habe ihm dreihundert Morgen Sumpfland bei Teal Slough verpachtet«, wandte er sich an die drei jungen Leute. »Das Land liegt dicht bei Sacramento, am westlichen Flußufer. Es ist ein gutes Beispiel für die Bodenteuerung, die sicher kommen wird. Als ich es kaufte, war es nichts als Moor, und die alten Leute lachten mich aus.

Ihr kennt doch die Moore? Sie taugen zu nichts außer für Enten und als Weide, wenn das Wasser sehr niedrig steht. Es hätte mich mehr als dreihundert Dollar den Morgen gekostet, sie zu drainieren. Und was für einen Vertrag, meint ihr, habe ich auf zehn Jahre mit dem alten Wing Fo Wong geschlossen? Zweitausend für den Morgen. Ich würde noch mehr verdienen, wollte ich selbst Handelsgärtnerei dort betreiben. Die Chinesen sind die reinen Hexenmeister im Gemüsebau und schreckliche Arbeitstiere. Sie kennen keinen Achtstundentag, nein, achtzehn Stunden! Der geringste Kuli ist Mitinhaber und hat seinen mikroskopischen Gewinnanteil. Auf diese Weise umgeht Wing Fo Wong den Achtstundentag.«

 

An dem langen Nachmittag wurde Dick zweimal verwarnt und einmal aufgeschrieben. Er fuhr allein und sehr schnell, aber trotzdem sicher. Unglücksfälle, für die er persönlich verantwortlich gewesen wäre, gab es bei ihm nicht.

Aber so schnell er auch fuhr, und so eifrig er sich in die Geschäfte stürzte, die er mit Carlson und Wing Fo Wong zu erledigen hatte, blieb in seinem Bewußtsein doch der Gedanke wach, daß Paula etwas höchst Ungewöhnliches tat, wenn sie Graham den langen Weg von Eldorado nach dem Großen Hause kutschierte.

»Pah!« sagte er bei sich, indem er die Geschwindigkeit ein klein wenig verringerte. »Ich möchte doch wissen, was Paulchen sagen würde, wenn ich eine solche Ausfahrt mit einem hübschen, jungen Mädchen machte!«

Er lachte laut bei dem Gedanken, denn schon früh in seiner Ehe hatte er entdeckt, daß Paula sehr gut auf eine eigene, stille Art eifersüchtig sein konnte. Sie hatte ihm weder eine Szene gemacht noch Bemerkungen oder Fragen gestellt, sondern geschwiegen, aber doch in einer Weise, über die er sich nicht täuschen konnte, ihre Kränkung gezeigt, wenn er gegen andere Frauen unnötig aufmerksam war.

Er lachte bei dem Gedanken an Frau Dehameny, die hübsche, kleine, dunkle Witwe – Paulas, nicht seine Freundin, – die vor langer Zeit ihr Gast gewesen war. Paula hatte erklärt, am Nachmittag nicht ausreiten zu wollen, und beim Lunch hatte sie gehört, wie er mit Frau Dehameny einen Ritt in die Riesentannen-Cañons, an der Wohnung der Philosophen vorbei, verabredete. Dann aber war Paula ihnen, kurz nach ihrem Aufbruch nachgeritten, so daß sie auf dem Ritt nicht zwei, sondern drei gewesen waren!

Er schob den Handschuh vom linken Handgelenk, um auf seine Armbanduhr zu sehen. In fünf Minuten würde Graham aus dem Zuge in Eldorado steigen. Dick, der sich selbst auf dem Heimwege befand, fuhr jetzt wie rasend. Erst ein gutes Stück hinter Eldorado holte er den Jagdwagen mit Duddy und Fuddy davor ein. Graham saß neben Paula, die die Zügel hielt. Dick verlangsamte die Fahrt im Vorbeifahren, rief Graham einen: »Guten Tag« zu und fügte, wieder schneller fahrend, heiter hinzu: »Es tut mir leid, daß ich so viel Staub machen muß. Lassen Sie uns vor dem Essen eine Partie Billard spielen, Evan, wenn Sie bis dahin angelangt sind.«

 

»So geht das nicht weiter. Wir müssen etwas tun – und zwar sofort.«

Sie waren im Musikzimmer. Paula saß am Flügel und wandte ihr Antlitz Graham zu, der, sich fast über sie beugend, dicht neben ihr stand.

»Sie müssen Ihren Entschluß fassen«, fuhr Graham fort.

Sie sahen beide nicht aus, als hätte ihnen das Große, das ihnen widerfahren war, Glück gebracht, jetzt, da sie ihre Entscheidung treffen sollten.

»Ich will nicht, daß Sie abreisen«, sagte Paula eindringlich. »Ich weiß nicht, was ich will. Sie müssen Nachsicht mit mir haben. Ich denke nicht an mich. Ich habe mich zu sehr hineinverstrickt, um an mich zu denken. Mir – mir ist eine solche Situation so ungewohnt«, schloß sie mit einem leisen, blassen Lächeln.

»Aber wir müssen einen Entschluß fassen, Liebste. Dick ist doch nicht blind.«

»Was gab es für ihn zu sehen?« fragte sie. »Nichts als den einen Kuß im Cañon, und den kann er unmöglich gesehen haben. Können Sie sich sonst etwas denken?«

»Ich wünschte, es gäbe sonst etwas«, antwortete er, in ihren leichteren Ton fallend, um gleich darauf wieder in seine frühere düstere Stimmung zurückzuschwingen. »Ich bin wahnsinnig verliebt in Sie. Weiter kann ich nicht kommen. Ich weiß nicht, ob Sie ebenso wahnsinnig verliebt in mich sind. Ich weiß überhaupt nicht, wie es mit Ihnen steht.«

Er legte seine Hand auf die ihre, die auf den Tasten lag, aber sie zog sie sanft zurück.

»Können Sie es denn nicht verstehen?« klagte er. »Und doch wollten Sie, daß ich wiederkam.«

»Ich wollte, daß Sie wiederkamen«, sagte sie und sah ihm mit ihrem offenen Blick ins Gesicht. »Ich wollte, daß Sie wiederkamen«, wiederholte sie weicher, wie in Gedanken verloren.

»Und ich verstehe nicht ein Wort von alledem«, rief er ungeduldig. »Lieben Sie mich?«

»Ich liebe Sie, Evan, das wissen Sie ja. Aber ...« Sie hielt inne, und es war, als versuchte sie, ruhig zu denken.

»Aber was?« sagte er gebieterisch. »Weiter.«

»Aber ich liebe auch Dick. Ist das nicht lächerlich?«

Er erwiderte ihr Lächeln nicht, und es trat ein warmer Glanz in ihre Augen, als sie seinen knabenhaft verdrossenen Ausdruck sah. Eine Frage brannte ihr auf der Zunge, aber sie bezwang sich und schwieg, während er nachdachte, was sie wohl hatte fragen wollen.

»Ich tadle Sie nicht, weil Sie Dick lieben, weil ... Sie fortfahren, Dick zu lieben«, antwortete er ungeduldig. »Ich kann ja gar nicht verstehen, was Sie im Vergleich mit ihm an mir finden. Das ist meine ehrliche Meinung. Er ist in meinen Augen ein großer Mann. Das ›Große Herz‹ sollte er heißen.«

Sie belohnte ihn mit einem Lächeln.

»Aber wenn Sie Dick weiter lieben, wie ist es dann mit mir?«

»Aber Sie liebe ich auch.«

»Das ist doch unmöglich«, rief er, indem er hastig vom Flügel zurücktrat, durchs Zimmer schritt, sich vor das Bild an der gegenüberliegenden Wand stellte und es betrachtete, als hätte er es noch nie gesehen.

Sie wartete mit einem ruhigen Lächeln und freute sich über seine Unbeherrschtheit.

»Sie können doch nicht zwei Männer auf einmal lieben«, schleuderte er ihr entgegen.

»Aber ich tue es, Evan. Ich weiß nur nicht, wen von ihnen ich mehr liebe. Dick kenne ich so lange, Sie ... Sie sind eine –«

»Neue Bekanntschaft«, unterbrach er sie und schritt zornig durchs Zimmer.

»Das nicht, nein, das nicht, Evan. Ich liebe Sie ebenso sehr wie Dick. Ich liebe Sie mehr. Ich weiß es selber nicht.«

Sie sank ganz zusammen, vergrub ihr Gesicht in den Händen und erlaubte ihm, seine Hand sanft auf ihre Schulter zu legen.

»Sie müssen doch einsehen, daß es nicht so leicht für mich ist«, fuhr sie fort. »Es steht so viel auf dem Spiel, so vieles, das ich nicht verstehen kann. Sie sagen, Sie verständen nicht ein Wort von dem allen. Aber denken Sie einmal an mich. Ich verstehe noch weniger davon und weiß weder ein noch aus. Sie sind ein Mann, mit der Erfahrung, der Natur eines Mannes. Für Sie ist alles so einfach. Sie liebt mich, sie liebt mich nicht. Aber ich bin verwirrt. Ich, – und ich bin doch nicht erst gestern geboren, – ich habe keine Erfahrung in verschiedenerlei Liebe. Ich liebte nur einen Mann ... und jetzt Sie. Sie und Ihre Liebe zu mir haben eine vollkommen glückliche Ehe vernichtet, Evan.«

»Ich weiß«, sagte er.

»– Ich weiß nichts«, fuhr sie fort. »Ich muß Zeit haben, es entweder in Ordnung zu bringen oder sich selber ordnen zu lassen. Wäre Dick nicht ...« klagte sie.

Unbewußt legte Grahams Hand sich fester auf ihre Schulter.

»Nein, nein – noch nicht«, sagte sie leise, und ebenso leise schob sie seine Hand fort, ließ aber ihre eigene einen Augenblick auf der seinen ruhen, ehe sie sich losriß.

»Wenn Sie mich anrühren, kann ich nicht denken«, flehte sie. »Ich – ich kann nicht denken.«

»Dann muß ich gehen«, drohte er, ohne sich dessen bewußt zu werden. Sie machte eine abwehrende Bewegung. »Wie die Situation jetzt ist, ist sie ganz unmöglich, unerträglich. Ich komme mir vor wie ein Hund und weiß doch, daß ich kein Hund bin. Ich hasse Betrug, – ich kann Leute belügen, die selbst Lügner sind, aber einen Mann wie Dick kann ich nicht belügen. Viel lieber ginge ich gleich zu ihm und sagte: ›Dick, ich liebe Ihre Frau, sie liebt mich. Was wollen Sie dabei machen?‹«

»Ja, tun Sie das!« sagte Paula eifrig.

Graham richtete sich auf, als hätte er seinen Entschluß gefaßt.

»Dann tue ich es, und zwar sofort.«

»Nein, nein!« rief sie in plötzlichem Schrecken. »Sie müssen abreisen.« Wieder versagte ihre Stimme. »Aber ich kann Sie nicht lassen.«

 

Hatte Dick noch gezweifelt, so schwand sein letzter Zweifel an dem, was sich in Paulas Herzen regte, bei Grahams Rückkehr. Er brauchte Paula nur anzusehen. Sie war wie ein Mensch, der aus dem Schlaf erwacht ist, mit einem glücklicheren Klang in ihrem glücklichen Lachen und einem wärmeren Ton in ihrem Singen. Sie war früh auf und ging spät zu Bett, beseelt von einer nie ruhenden Lebenslust und einem ewigen Tätigkeitsdrang. Sie befand sich vor Erregung wie in einem Champagnerrausch. Doch Dick bemerkte bald, daß alles daher kam, daß sie sich nicht Zeit zum Denken zu lassen wagte. Er sah, daß sie abmagerte. Aber die einzige Folge war, wie er sich gestehen mußte, daß sie entzückender als je wurde, so zart und fein, daß sie trotz ihren natürlichen, lebhaften Farben und ihrer Anmut fast unirdisch wirkte.

Und im Großen Haus ging alles seinen Gang, heiter, unerbittlich, ohne die leiseste Reibung. Dick dachte zuweilen, wie lange es wohl auf diese Weise weitergehen könnte, und ihm schauderte bei dem Gedanken an eine Zukunft, in der es nicht so weiter ging. Und doch, dessen war er sicher, ahnte keiner etwas außer ihm. Aber wie lange würde es dauern? Nicht sehr lange, sagte er sich.

Er wußte, daß seine chinesischen Diener Wunder von Scharfsinn waren – und von Diskretion, mußte er hinzufügen. Aber die Frauen! Frauen waren so boshaft. Und jede beliebige Frau, die einen Tag, einen Abend im Hause war, konnte die Situation ahnen, – jedenfalls, soweit sie Paula betraf, denn Grahams Stellung war noch nicht klar zu erkennen.

Paula, in so vieler Beziehung anders als andere Frauen, war es auch in diesem Punkt. Er hatte sie nie boshaft gesehen, hatte nie erlebt, daß sie anderen Frauen auflauerte, in der Hoffnung, sie auf einem Fehltritt zu ertappen, – außer, wenn es ihm galt. Und er lachte wieder bei dem Gedanken an die Geschichte mit Frau Dehameny.

Etwas, das Dick andauernd beschäftigte, war, ob Paula jetzt daran dachte, daß er etwas wüßte.

Und Paula dachte wirklich hieran – eine Zeitlang, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen. Sie konnte keine Veränderung in seiner Laune und seinem Wesen bemerken. Er erledigte seine ungeheure Arbeit wie gewöhnlich, spielte wie gewöhnlich, sang seine Lieder und war ein froher, gemütlicher Bursche. Sie versuchte sich einzureden, daß sein Benehmen gegen sie sanfter geworden war, aber sie quälte sich selbst mit der Furcht, daß sie sich das nur einbildete. Aber sehr lange blieb sie nicht im Zweifel. Zuweilen, wenn sie zu vielen beim Dinner, abends im Wohnzimmer oder beim Bridge saßen, konnte sie ihn unbemerkt unter gesenkten Lidern ansehen, bis sie sicher war, die Gewißheit in seinen Augen und in seinen Zügen zu lesen. Aber sie deutete das Graham gegenüber mit keinem Worte an. Daß er es wußte, half ja auch nichts. Es konnte ihn vielleicht sogar zur Abreise veranlassen, und sie gestand sich ehrlich, daß sie das am allerletzten wünschte.

Als sie jedoch zu der Erkenntnis kam, daß Dick es wußte oder erriet, wurde sie trotzig und begann gleichsam bewußt mit dem Feuer zu spielen. Wenn Dick etwas wußte, warum sagte er dann nichts? Er nahm doch sonst kein Blatt vor den Mund. Sie wünschte und fürchtete doch wieder, daß er sprechen würde, bis die Furcht der aufrichtigen Hoffnung wich, daß er es täte. War er es doch immer, der handelte und Entschlüsse faßte, – gleichgültig, was es betraf. Wenn es zu handeln galt, hatte sie sich stets auf ihn verlassen. Dick konnte sicher eine Lösung finden. Er wußte für alles eine Lösung. Warum schwieg er?

Und bei alledem lebte sie ihr sorgloses Leben weiter, eifrig und ruhelos; zuweilen wurde sie von Gewissensbissen geplagt, meistens aber wollte sie nicht zu tief denken, ließ sich in dieser großen Stunde ihres Lebens nur vom Strome mitreißen. Wie sie selbst sagte: sie lebte nur, lebte, lebte. Zuweilen wußte sie kaum, was sie dachte, fühlte nur den Stolz, daß zwei solche Männer ihr zu Füßen lagen.

Als Weib von derselben Rasse und vom gleichen Typ erfüllte es sie mit Stolz, die zwei grauäugigen, blonden Männer zusammen zu sehen. Sie war aufgeregt, fieberhaft, aber nicht nervös. Sie verglich zuweilen ganz kaltblütig die beiden Männer, wenn sie zusammen waren, und mußte, ob sie wollte oder nicht, darüber nachdenken, für welchen von beiden sie sich am liebsten schmückte und anziehend machte. Graham beherrschte sie, und sie hatte Dick beherrscht und kämpfte immer noch, um ihre Herrschaft zu bewahren.

Fast grausam war dieser Stolz, der sie bei dem Gedanken durchbebte, daß zwei solche Männer um ihretwegen und durch sie litten, denn sie konnte sich nicht verbergen, daß Dick, wenn er es erfuhr, oder vielmehr, seit er es wußte, auch leiden mußte.

In tiefster Seele war sie sich bewußt, daß ihre Handlungsweise rücksichtslos und wahnsinnig war, und daß es nur mit einer Katastrophe für einen von ihnen enden konnte. Aber sie war es zufrieden, über dem Abgrund hin und her flattern zu können, und wollte ihn nicht sehen. Lachend schlug sie alle weiteren Betrachtungen in den Wind und gab sich zufrieden mit dem flüchtigen Augenblick, glühend und bebend vor Freude, daß sie lebte, wie sie nie zu leben geträumt.

 

Aber es ist Mann und Weib nicht gegeben, dauernd einen festen, unveränderlichen Abstand zwischen sich zu lassen. Unmerkbar kamen Paula und Graham sich näher. Von langen Blicken und Händedrücken führte der Weg zu zärtlichen Berührungen, bis es zu einer neuen Umarmung und einem neuen, langen Kuß kam. Und diesmal zürnte Paula nicht, sondern sagte gebieterisch:

»Du darfst nicht gehen.«

»Ich darf nicht bleiben«, wiederholte Graham zum tausendsten Male. »Ach, ich habe hinter Türen geküßt und alle möglichen Dummheiten gemacht«, klagte er. »Aber hier handelt es sich um dich und um Dick.«

»Es wird schon alles werden, ich sage dir, es wird alles werden. Evan.«

»Dann komm mit mir, laß uns selbst das Schicksal in die Hand nehmen. Komm – jetzt gleich!«

Sie zog sich zurück.

»Denk an das,« drang Graham in sie, »was Dick sagte: Selbst wenn du, Paula, seine Gattin, ihn verließest, würde er sagen: Gott segne euch, Kinder.«

»Und gerade deshalb ist es so schwer, Evan. Sieh, er ist so schonungsvoll, wie er damals sagte, daß er sein würde, – schonungsvoll gegen mich, meine ich, und mehr als das. Sieh ihn doch an –«

»Er weiß es? Hat er etwas gesagt?« rief Graham.

»Er hat nichts gesagt, aber ich bin sicher, daß er es weiß oder erraten hat. Sieh ihn doch an! Er will nicht mit dir konkurrieren –«

»Konkurrieren?«

»Eben. Er will nicht mit dir konkurrieren. Denk an die Pferdeschau von gestern. Er ritt gerade Mustangs zu, aber von dem Augenblick an, als wir kamen, stieg er nicht auf ein Pferd mehr. Und dabei ist er ein fabelhafter Reiter. Du hast dein Glück versucht, und offen gestanden: du könntest dich unmöglich mit ihm messen. Aber er wollte sich nicht vor dir zeigen. Das allein beweist mir, daß er errät, wie es mit uns steht.

Wenn du aufpaßt, wirst du selber merken, daß ich recht habe. Er läßt mir meinen Willen, und ich kann soviel Dummheiten machen, wie ich will. Glaub mir, – ich kenne ihn. Er versucht nach seinen eigenen Moralgesetzen zu handeln. Er könnte die Philosophen lehren, was angewandte Philosophie ist.

Ich habe ihn sagen hören, Liebe sei etwas, das man weder fesseln, noch zwingen könne. Es ist sehr richtig: Wenn du und ich zu ihm gingen, würde er sagen: ›Gott segne euch, Kinder!‹ Selbst wenn es ihm das Herz bräche, würde er es sagen. Vergangene Liebe gibt seiner Ansicht nach keinen Anspruch auf die Gegenwart, und jede Liebesstunde, habe ich ihn sagen hören, mache sich bezahlt. Nachforderungen gebe es nicht.«

»Darin bin ich ganz mit ihm einig«, sagte Graham. ›Du hast mir versprochen, mich ewig zu lieben‹, sagt der Verlassene und versucht, die Forderung einzutreiben, als wäre es ein Wechsel auf so und so viele Dollar. Dollar ist Dollar, aber Liebe lebt oder stirbt. Wie kann Liebe eingelöst werden, wenn sie tot ist? Wir sind uns alle drei in dieser Beziehung einig, und alles ist so einfach. Wir lieben uns. Das genügt. Warum auch nur eine Minute warten?«

Seine Hände suchten die ihren, die auf den Tasten ruhten, er beugte sich über sie und küßte ihr Haar, und dann hob er langsam ihr Gesicht und küßte ihre willigen Lippen.

»Dick liebt mich nicht so, wie du mich liebst«, sagte sie. »Er hat mich so lange besessen, daß ich ihm wohl eine Art Gewohnheit geworden bin. Und ehe ich dich kannte, habe ich oft schon darüber nachgedacht, wen er mehr liebt: mich oder das Gut.«

»Es ist doch so einfach«, drang Graham in sie. »Wir müssen nur ehrliches Spiel spielen. Laß uns fortgehen.«

Aber sie zog sich hastig von ihm zurück, setzte sich nieder und barg ihr flammendes Gesicht in den Händen.

»Du verstehst das nicht, Evan. Ich liebe Dick, – ich werde ihn immer lieben.«

»Und mich?« fragte Graham scharf.

»Welche Frage!« lächelte sie. »Du bist der einzige Mann außer Dick, der mich je geküßt hat – so geküßt, – und den ich so geküßt habe. Aber ich kann mich nicht entschließen. Ein anderer muß die Entscheidung für mich treffen, ich selber kann es nicht. Ich vergleiche euch beide, wäge euch gegeneinander ab. Ich erinnere mich Dicks und all der Jahre, die wir miteinander verlebt haben. Und dann frage ich mein Herz nach dir. Und ich weiß nichts, ich weiß nichts. Du bist ein großer Mann – mein stolzer Verehrer. Aber Dick ist größer als du. Du – du bist erdgebundener – ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll – menschlicher. Und deshalb eben liebe ich dich mehr ... oder glaube es doch zu tun.

Nein, warte«, sagte sie widerstrebend und hielt seine eifrige Hand fest in der ihren. »Ich will dir noch mehr sagen. Ich denke an Dick und all die Jahre, die wir miteinander verlebten. Aber ich denke auch daran, wie es ihm heute und morgen ergehen wird. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß irgendein Mann auf der Welt meinen Mann bemitleiden sollte, – daß du ihn bemitleiden solltest, und das müßtest du, wenn ich zugäbe, daß ich dich mehr liebte. Deshalb bin ich so unentschlossen und weiß nicht, was tun. Ich würde vor Scham sterben, wenn ein Mann Dick um meinetwillen bedauern würde. Er ist noch nie in seinem Leben bedauert worden. Er ist immer und überall der erste gewesen, – strahlend, hell, stark, unangreifbar. Und mehr als das: – er verdient kein Mitleid. Und wir haben die Schuld, ich ... und du, Evan.«

Sie schob hastig Evans Hand beiseite.

»Und jedesmal, wenn ich dir erlaube, mich zu berühren, macht es ihn bedauernswert. Kannst du nicht sehen, wie schwer das alles für mich ist? Und ich habe doch auch meinen Stolz. Daß du mich treulos gegen ihn sehen mußt, wie in solchen Kleinigkeiten,« – sie ergriff seine Hand wieder und streichelte sie mit ihren weichen Fingerspitzen – »das kränkt mich in meiner Liebe zu dir, verringert mich, muß mich in deinen Augen verringern.«

Sie streichelte beruhigend seine ungeduldige Hand, und dann drehte sie sie, träumerisch und geistesabwesend, fast als wäre sie sich ihres Tuns nicht bewußt, um und küßte langsam die Handfläche. Im nächsten Augenblick hatte er sie hochgerissen und an sich gepreßt.

»Da siehst du!« sagte sie vorwurfsvoll und löste sich aus seinen Armen.

 

Paula gab nach und widerstand doch gleichzeitig. »Ich liebe meinen Mann, vergiß das nicht«, sagte sie immer wieder zu Graham, und im nächsten Augenblick konnte sie in seinen Armen liegen.

 

»Heute sind wir nur zu dreien, Gott sei Dank«, rief Paula, faßte Graham und Dick an der Hand und führte sie zum Diwan, Dicks Lieblingsplatz im großen Wohnzimmer. »Kommt, laßt uns auf dem Fußboden sitzen und uns traurige Geschichten vom Tode und von Königen erzählen.«

Sie war in strahlender Laune, und Dick sah sie mit leisem Erstaunen an, wie sie sich eine Zigarette anzündete. Er konnte die Zigaretten zählen, die sie in den Jahren ihrer Ehe geraucht hatte. Als er sich und Graham später einen Whisky einschenkte, setzte sie ihn wiederum in Erstaunen, indem sie ihn bat, ihr auch »ein kleines Glas« zu geben.

»Es ist schottischer,« – warnte er sie.

»Ach, nur ein ganz kleines, dann sitzen wir drei als gute Kameraden zusammen und lösen alle Welträtsel. Und wenn ihr das von Grund auf getan habt, dann will ich euch das Lied der Walküre vorsingen.«

Sie beteiligte sich an diesem Abend mehr als sonst an der Unterhaltung und bemühte sich, ihren Mann zum Reden zu bringen. Dick fühlte es, fügte sich aber ihrem Willen und redete darauf los.

»Sie will, daß er mit mir konkurriert«, sagte Graham bei sich. Aber hieran dachte Paula nicht. Sie freute sich nur über den Anblick der beiden herrlichen Männer, die so ganz ihr gehörten.

Sie saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Diwan und brauchte nur den Kopf zu drehen, um Graham bequem in dem großen Sessel hingegossen und Dick, auf die Ellenbogen gestützt, zwischen den Kissen zu sehen. Beständig ging ihr Blick von einem zum andern, und während beide, nüchtern und hart, als die unbarmherzigen Realisten, die sie waren, von Kampf und Streit sprachen, nahmen ihre eigenen Gedanken dieselbe Farbe an, bis sie ganz kaltblütig Dick sehen konnte, ohne etwas von dem Mitleid zu spüren, das seit mehreren Tagen anhaltend in ihrem Herzen nagte.

Sie war stolz auf ihn, – er war ein prächtiger Mann, der das Auge jeder Frau erfreuen konnte, aber er tat ihr nicht mehr leid. Sie hatten recht. Alles war Spiel. Die Schnellfüßigsten siegten im Wettlauf und die Stärksten im Kampfe. Sie hatten beide Wettläufe mitgemacht und hatten beide Kämpfe ausgefochten, warum sollte sie es dann nicht tun? Und immer noch den Blick auf beide gerichtet, fragte sie sich das immer wieder. Sie waren keine Mönche, diese zwei Männer. Sie mußten in jener Vergangenheit, aus der sie – wie Mysterien – zu ihr gekommen waren, ein freies Leben gelebt haben. Dick hatte, – das war über jeden Zweifel erhaben, und sie hatte davon reden hören, – andere Frauen auf seinen wilden, tollen Fahrten um den Erdball gehabt. Sie fühlte den Stachel der Eifersucht gegen diese Frauen, und ihr Herz wurde hart. Sie hatten ihre Lust genossen, wo sie sie fanden, – das war sicher!

Mitleid? Warum sollte sie ihn mehr bedauern, als andere ihn bedauern würden? Dies alles war zu groß, zu natürlich, als daß von Mitleid die Rede sein konnte. Sie spielten ein hohes Spiel und konnten nicht alle gewinnen. Dann gingen ihre Gedanken in die Zukunft. Sie hatte immer versucht, derartige Grübeleien zu vermeiden, aber der Whisky hatte ihr Mut gemacht.

Sie kam wieder zu sich, als Dick ihr die Hand über die Augen legte.

»Hast du Visionen?« neckte er sie, als sie sich umwandte und ihm ins Gesicht sah.

Seine Augen lachten, aber sie sah einen Schimmer in ihnen, daß sie halb wider ihren Willen die langen Wimpern über die Augen senkte. Er wußte es. Es war nicht der geringste Zweifel. Jetzt wußte sie, daß er es wußte. Das hatte sie in seinen Augen gelesen. Aber sie gab eine heitere Antwort, und das Gespräch mit Graham fortsetzend, streckte sie die Hand nach seinem halbvollen Glase aus und nippte an dem Whisky.

Was auch geschah, sagte sie sich, so wollte sie doch das Spiel bis zu Ende durchführen. Es war Wahnsinn, aber es war Leben, lebendiges Leben. Sie hatte noch nie gelebt wie jetzt, und das war reichlich den Preis wert, den sie notgedrungen einmal dafür bezahlen mußte. Die Liebe? – Hatte sie wirklich Dick je geliebt, wie sie jetzt fühlte, daß sie lieben konnte? Hatte sie nicht in allen diesen Jahren Zuneigung mit Liebe verwechselt? Ein warmer Ausdruck trat in ihre Augen, als sie Graham ansah, und sie gestand sich, daß er sie in einer Weise hingerissen hatte, wie Dick es nie getan.

Da sie keinen Alkohol gewohnt war, begann ihr Herz schneller zu schlagen. Dick, der ihr hin und wieder einen Blick zuwarf, war sich vollständig klar darüber, was den neuen Glanz in ihren Augen und die stärkere Röte in ihren Wangen und Lippen verursachte.

Er wurde immer wortkarger, und der Streit über den Mangel der blonden Rasse an Widerstandskraft gegen die Sonne schlief aus lauter Einigkeit über die Sache ein. Schließlich sah er auf seine Uhr, gähnte, reckte sich und erklärte:

»Bettzeit ihn kommen, Kopf gehören weißer Mann, zu sehr schläfrig. Noch einen Whisky vor dem Bett, Evan?«

Graham nickte, denn sie fühlten beide, daß sie sich noch Mut machen mußten.

»Frau Kumpanin, – noch einen Whisky vor dem Bett?« wandte Dick sich an Paula.

Aber sie schüttelte den Kopf und begann die Noten wegzulegen, während die beiden Männer ihre Gläser leerten.

Graham schloß den Flügel, während Dick an der Tür wartete, und als sie hinausgingen, war er mehrere Schritte vor ihnen. Auf seine Anweisung schaltete Graham nacheinander das Licht im Vorraum und in den Gängen aus, und Dick wartete auf sie beim Aufgang zum Turmzimmer, wo Graham sich verabschieden mußte.

Dann wurde die letzte Lampe, die immer noch brannte, ausgeschaltet.

»Nein, die nicht!« hörte Dick Paula rufen. »Die brennt die ganze Nacht.«

Dick hörte nichts, aber er hatte ein Gefühl, als ob das Dunkel ihn verbrannte. Er verfluchte sich, weil er sich früher manchen Kuß im Dunkel geraubt hatte, denn das gab ihm die Kenntnis von hastigen Küssen, ehe das Licht im nächsten Augenblick wieder brannte.

Ihm fehlte der Mut, ihnen ins Gesicht zu sehen, als sie ihm entgegenkamen. Er wünschte nicht, Paulas offenen Blick von den Wimpern verschleiert zu sehen, und er versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden, während er sich Mühe gab, ein harmloses: »Gute Nacht!« zu sagen.

»Wie steht es mit dem Buch – welches Kapitel?« rief er Graham nach, der schon zu seinem Turmzimmer hinaufstieg. Im selben Augenblick steckte Paula ihre Hand in die seine, und so gingen sie miteinander weiter, Paula ihre Hand hin und her schwenkend, hüpfend und plaudernd wie ein kleines Mädchen, das mit einem Erwachsenen geht, während er traurig nachdachte, welche List sie sich nun wohl erdacht haben mochte, um dem Gutenachtkuß, den sie so lange vermieden hatte, zu entgehen.

Aber ihr war offenbar nichts eingefallen. Als sie zu der Stelle kamen, wo auch ihre Wege sich trennten, ließ sie ihre Hand immer noch in der seinen schwingen und begleitete ihn in sein Arbeitszimmer.

Er tat, als fiele ihm plötzlich etwas ein, trat an seinen Schreibtisch und nahm einen Brief in die Hand.

»Ich habe morgen früh mit dem ersten Auto die Antwort versprochen«, erklärte er ihr, stellte das Diktaphon ein und begann zu diktieren.

Während er die ersten Zeilen diktierte, stand sie immer noch daneben und hielt ihn an der Hand. Dann fühlte er, wie ihre Finger seinem schwachen Druck nachgaben und hörte sie ein leises: »Gute Nacht« flüstern.

»Gute Nacht, Kleine«, antwortete er mechanisch und diktierte weiter, als bemerkte er gar nicht, daß sie ging. Und er hörte erst auf, als er wußte, daß sie außer Hörweite war.

 

Während des Diktats am Vormittag war Dick wohl ein dutzendmal im Begriff gewesen, seinem Sekretär zu sagen, daß er den Rest der Korrespondenz selbst erledigen sollte.

»Rufen Sie Hennessy und Mendenhall an«, sagte er zu Blake, als der um Punkt zehn seine Aufzeichnungen zusammenlegte und aufstand. »Sie werden sie im Gestüt finden. Sagen Sie ihnen, daß sie nicht heute, sondern morgen früh kommen sollen.«

Dann erschien Bonbright für eine Stunde, um Dicks Konferenzen mit seinen Verwaltern aufzunehmen.

»Und – ach, Herr Blake«, rief Dick seinem Sekretär nach. »Fragen Sie Hennessy, wie es mit Alden Bessie steht. – Es ging der Stute gestern abend ziemlich schlecht«, erklärte er Bonbright.

»Hanley sagte, daß er gleich mit ihnen reden müsse, Herr Forrest«, sagte Bonbright, und als er die gereizt gerunzelte Stirn seines Chefs sah, fügte er hinzu: »Es handelt sich um die Leitungen bei Buckeye Dam. Die Pläne stimmen nicht, – es ist etwas Ernstes, sagt er.«

Dick gab es auf. Eine ganze Stunde lang konferierte er mit seinen Betriebsleitern und Verwaltern über verschiedene Fragen.

Einmal verließ er mitten in einer eifrigen Diskussion über Waschmittel für Schafe seinen Schreibtisch und trat ans Fenster. Er hatte das Geräusch von Pferden und Stimmen und das Lachen Paulas gehört.

»Also der Bericht aus Montana – ich schicke Ihnen ein Exemplar«, fuhr er fort.

In diesem Augenblick kamen vier Pferde dicht nebeneinander in sein Blickfeld. Paula ritt zwischen Martinez und Froelig, einem Maler und einem Bildhauer, alten Freunden Dicks, die mit dem Morgenzug gekommen waren. Paula unterhielt sich heiter mit beiden, und Graham ritt auf Selim ein kleines Stück hinter den andern, aber Dick sagte sich, daß es nicht lange dauern würde, bis sie je zu zweien ritten.

Kurz nach elf Uhr ging er rastlos und verdrossen auf den großen Hof hinaus, um eine Zigarette zu rauchen, und lächelte erbittert, als er an verschiedenen Anzeichen merkte, daß Paula ihre Goldfische vernachlässigte. Ihm fielen die Springbrunnenbecken in ihrem verschlossenen Hofe ein, wo sie ihre ausgesuchtesten, prachtvollsten Fischarten hatte. Dorthin lenkte er seine Schritte, durch Türen ohne Griffe und Gänge, die sonst nur Paula und das Gesinde kannten.

Dies war Dicks einziges, wirklich großes Geschenk für Paula gewesen. Es war ein Liebesgeschenk, wie nur ein König des Glücks es machen konnte. Er hatte ihr vollkommen freie Hand gelassen und darauf gesehen, daß sie sich von ihren tollsten Einfällen leiten ließ. Es bestand keine Verbindung zwischen diesem Hofe und der Architektur des übrigen Hauses, aber er war der Umwelt so gut verborgen, daß er weder in Linien noch in Farben störte. Obwohl dieser Hof eine Sehenswürdigkeit war, hatten ihn nur sehr wenige erblickt, außer Paulas Schwestern und nächsten Freunden und hin und wieder einem Künstler, der ihn betreten und mit angehaltenem Atem betrachten durfte. Graham hatte von seiner Existenz gehört, aber nicht einmal er war aufgefordert worden, ihn zu besichtigen.

Der Hof war rund und ziemlich klein, so daß er in keiner Weise kalt oder leer wirkte. Das Große Haus war ganz in Beton erbaut, hier aber bestand alles aus feinstem Marmor, der einen schwach grünlichen Schimmer hatte, gerade hinreichend, um das Licht ein klein wenig zu dämpfen. Die blassesten rosa Rosen schlangen sich um die Pfeiler bis zu dem flachen Dach hinauf, von dem faunartige, heitere Gesichter herunterblickten. Dick schlenderte über den mit rosa Marmorsteinen belegten Boden der Pergola, und die Schönheit der Stätte übte allmählich ihren mildernden Einfluß auf sein Gemüt aus.

Das Herz dieses Feenhofes war der Springbrunnen, der aus drei niedrigen Becken in verschiedener Höhe bestand. Sie waren aus Marmor und so fein wie Muscheln, und in ihnen tummelten sich lebensgroße Putten aus rosa Marmor, jede für sich ein kleines Kunstwerk. Eine guckte weiter abwärts über den Rand des Beckens und streckte begehrlich die Arme nach den Goldfischen aus; eine lag auf dem Rücken und sah lächelnd in den Himmel, eine andere reckte sich auf gespreizten, molligen Beinchen. Andere wateten im Wasser, wieder andere lagen zwischen den weißen und rosa Rosen auf dem Boden, alle aber gehörten sie mit zum Springbrunnen und hatten irgendwelche Beziehungen zu ihm. So schön war die Farbe des Marmors, und so sicher war der Bildhauer in seiner Kunst gewesen, daß sie wirkten, als wären sie lebendig. Es waren keine Cherubs, sondern lebendige, warme, kleine Menschenkinder.

Dick sah lachend und mit Wohlbehagen auf die rosige Kinderschar, während er seine Zigarette ausrauchte und sie selbst, als sie ausgegangen war, noch in der Hand behielt. Das ist es, was ihr fehlt, sagte er sich nachdenklich. Kinder – das war ihre Leidenschaft gewesen. Hätten ihre Träume sich verwirklicht ... er seufzte, ein neuer Gedanke flog ihm durch den Kopf, und er blickte nach ihrem Lieblingsplatz, überzeugt, daß er nicht ihr gewohntes Nähzeug in malerischer Unordnung sehen würde. Jetzt stickte sie nicht.

Und er schritt weiter, die Treppe hinauf, an der herrlichen Siegesgöttin vorbei, die dort stand, wo die Treppe sich teilte, und weiter zu ihren Zimmern, die den ganzen oberen Flügel einnahmen.

Er schritt durch ihre Stuben, ohne einen festen Plan und ohne sich dessen bewußt zu sein, was er sah, aber bei allem mit Liebe weilend. Wie alles, was ihr gehörte, trugen auch die Zimmer das Gepräge und den Ausdruck ihrer Persönlichkeit. Als er aber in ihr Badezimmer mit dem eingelassenen römischen Bad sah, konnte er, – und wenn es sein Leben gekostet hätte, – es nicht lassen, eine winzige Undichtigkeit zu bemerken und sich zu sagen, daß er nach dem Gutsklempner schicken müßte.

Unwillkürlich fiel sein Blick auf ihre Staffelei, in der Erwartung, eine neue Arbeit zu sehen, aber er wurde enttäuscht, denn er stand seinem eigenen Bilde gegenüber. Er wußte, daß sie Stellung und Züge nach einer Photographie zu kopieren pflegte und das übrige nach dem Gedächtnis machte. Die Photographie, die sie in diesem Falle gebraucht hatte, war eine besonders gute Amateuraufnahme von ihm. Aber das Porträt war schon weiter gediehen als die Photographie, denn Dick konnte Züge darin sehen, denen ausschließlich ihre eigene Auffassung zugrunde lag.

Er zuckte zusammen und sah genauer hin. War der Ausdruck, den er in den Augen, in dem ganzen Gesicht fand, wirklich der seine? Er blickte auf die Photographie. Dort war er nicht. Er trat vor einen der Spiegel, ließ seine Gesichtsmuskeln erschlaffen und begann, an Paula und Graham zu denken, und seine Augen und sein Gesicht nahmen langsam denselben Ausdruck an. Er gab sich hiermit jedoch nicht zufrieden, sondern trat wieder vor die Staffelei, um zu vergleichen. Paula wußte es. Paula wußte, daß er es wußte. Sie hatte ihm sein Geheimnis in einem Augenblick, als es wider Willen in seinem Antlitz zu lesen war, abgelauscht und es nach dem Gedächtnis auf die Leinwand übertragen.

Paulas chinesische Jungfer kam aus dem Ankleidezimmer, und Dick beobachtete sie unbemerkt, als sie ihm mit niedergeschlagenen Augen und anscheinend in tiefen Gedanken versunken, entgegenkam. Dick bemerkte den traurigen Ausdruck in ihrem Gesicht.

»Man sollte fast glauben, daß alle unsere Gesichter zu sprechen anfingen«, meinte er bei sich.

»Guten Morgen, Oh Gott«, begrüßte er sie.

Als sie den Gruß erschrocken erwiderte, sah er in ihren Augen einen mitleidigen Ausdruck. Sie wußte Bescheid. Außer ihnen war sie die erste, die es wußte. Aber es war ja klar, daß sie, – eine Frau, die so viele Zeit in Paulas Gesellschaft verbrachte, wenn sie allein war, – ihr Geheimnis erraten mußte.

Oh Gotts Lippen zitterten, und sie rieb sich die zitternden Hände, um, wie er sehen konnte, Mut zu fassen, ihn anzureden.

»Herr Forrest«, begann sie zögernd, »vielleicht Sie meinen mich dumm, aber ich mögen sagen etwas. Sie sehr guter Mann. Sie sehr gut zu meiner alten Mutter. Sie sehr gut zu mir lange, lange Zeit ...« Sie hielt inne, befeuchtete sich die Lippen mit der Zunge, sah ihm tapfer ins Gesicht und fuhr fort: »Frau Forrest, sie, ich glauben ...«

Aber so düster wurde Dicks Gesicht, daß sie verwirrt und errötend abbrach.

»Sehr schönes Bild Frau Forrest machen«, half er ihr.

Sie sah ihn plötzlich forschend an, studierte sein Gesicht, wandte sich dann zur Leinwand um und zeigte mit den Augen:

»Nicht gut«, sagte sie streng, und ein scharfer, fast zorniger Klang war in ihrer Stimme. Dann verschwand sie in Paulas Schlafzimmer.

Dick richtete sich auf, als rüste er sich unbewußt, dem zu begegnen, was nun bald kommen mußte. Das war also der Anfang vom Ende. Oh Gott wußte Bescheid. Und er war fast froh, daß die qualvolle Spannung nicht mehr lange dauern sollte.

 

Am selben Nachmittag, als Dick mit Froelig, Martinez und Graham über alle Berge war, schlich Paula sich in seine Gemächer. Auf der Schlafveranda betrachtete sie die ganze, lange Reihe elektrischer Kontakte auf der Schalttafel, mit der er sich von seinem Bett aus mit allen Abteilungen des Gutes und mit fast ganz Kalifornien in Verbindung setzen konnte, das Diktaphon, die verschiedenen Bücher- und Zeitschriftenstapel, die darauf warteten, gelesen zu werden, Aschbecher, Zigaretten, Schreibblock und Thermosflasche.

Ihre Photographie, die einzige in der Veranda, zog ihre besondere Aufmerksamkeit auf sich. Sie hing unter seinen Barometern und Thermometern, an der Stelle, die sein Blick, wie sie wußte, am häufigsten suchte. Einer plötzlichen Eingebung folgend, drehte sie das lachende Gesicht gegen die Wand und ließ ihren Blick von der leeren Rückseite des Bildes auf das Bett und wieder zurück schweifen. Mit einer hastigen, erschrockenen Bewegung drehte sie das lachende Gesicht wieder um. Es gehört hierher, dachte sie bei sich.

Der große Revolver im Halfter an der Wand, den man leicht vom Bett aus erreichen konnte, fing ihren Blick. Sie streckte ihre Hand nach ihm aus und hob vorsichtig den Griff. Er war, wie sie erwartet hatte, locker. Ja, denn so war Dick nun einmal. Man konnte sicher sein, daß er einen Revolver nie im Halfter festfrieren ließ, so lange er auch unbenutzt dahängen mochte.

Als sie wieder im Arbeitszimmer war, durchschritt sie es feierlich und betrachtete die mächtige Kartothek, die Karte und die Schränke mit Lichtdrucken, die drehbaren Regale mit Handbüchern und die lange Reihe solide eingebundener Register des Viehbestandes. Zuletzt kam sie zu seinen eigenen Arbeiten – einer ansehnlichen Reihe von Broschüren, eingebundenen Artikeln und einem guten Dutzend anspruchsvollerer Bücher, alles über Landwirtschaft.

Sie strich zärtlich mit der Hand über die Buchrücken, preßte ihre Wange dagegen und lehnte sich mit geschlossenen Augen an das Regal. Ach, Dick, Dick, – ein Gedanke begann Form in ihr anzunehmen, ward aber gleich wieder zu einem unklaren Gefühl von Kummer und verschwand, weil sie nicht wagte, ihn zu Ende zu denken.

Der Schreibtisch war typisch für Dick. Da gab es keine Unordnung. Keine Arbeit lag auf ihm außer dem Drahtkorb mit den fertig geschriebenen Briefen, die nur auf seine Unterschrift warteten, und einem ungewöhnlich großen Stoß der zusammengefalteten, gelben Bogen, auf die sein Sekretär die Telegramme schrieb, die nach Eldorado durchgerufen wurden. Sie sah gleichgültig auf die ersten Zeilen des obersten Bogens und erblickte zufällig etwas, das sie nicht recht verstand, das sie aber interessierte. Sie las sorgsam, mit gerunzelten Brauen, und suchte dann weiter in dem Stoß, bis sie die Bestätigung fand. Jeremy Braxton war tot, der große, gemütliche, freundliche Jeremy Braxton. Er war von einer Horde betrunkener Mexikaner ermordet worden, als er über die Berge nach Arizona zu gelangen suchte. Das Datum auf dem Telegramm zeigte, daß es zwei Tage alt war. Dick wußte es also seit zwei Tagen und hatte sie nicht damit beunruhigen wollen. Und das bedeutete mehr. Das bedeutete verlorenes Geld. Es bedeutete, daß die Lage der Harvestgruppe schlimmer als je war. Aber so war Dick nun einmal.

Und Jeremy war tot. Es schien plötzlich kalt im Zimmer zu werden. Es schauderte sie. So war das Leben, – der Tod wartete immer am andern Ende des Weges. Ihre namenlose Furcht packte sie wieder. Das Verhängnis wartete. Verhängnis für wen? Sie versuchte nicht zu raten. Es genügte, daß es ein Verhängnis war. Die Luft in dem stillen Zimmer wurde schwer, und sie schritt langsam hinaus.

 

Weder bei Tisch noch später am Abend konnte jemand merken, daß nicht alles war, wie es sein sollte. Es sah aus, als wolle Dick Lutes und Ernestines Rückkehr, die gerade angekommen waren, richtig feiern, denn er war voll Tollheiten. Paula ließ sich von dieser Heiterkeit anstecken und half ihm treulich bei seinen Scherzen, die er auf alle Anwesenden münzte.

Nach dem Essen erschienen unerwartet Masons und Watsons und die ganze Gesellschaft aus Wickenberg.

Aber mitten in dem Trubel der Begrüßung zwischen den beiden großen Gesellschaften hörte Dick ganz deutlich Lottie Masons: »Ach, guten Abend, Herr Graham. Ich dachte, Sie wären abgereist!«

Und immer noch den herzlichen, gemütlichen Wirt spielend, wartete er auf den scharfen, forschenden Blick, den Frauen nur gegen andere Frauen anwenden. Kurz darauf sah er, wie Lottie Paula mit einem solchen scharfen, nachdenkenden Blick betrachtete, als die Herrin zufällig Graham begegnete und ihm etwas sagte.

»Noch nicht«, sagte sich Dick. Lottie wußte noch nichts, aber sie hegte Verdacht, und er war überzeugt, daß unter den vorliegenden Verhältnissen nichts ein Frauenherz mehr freuen würde, als wenn sie eine Schwäche an der unangreifbaren Paula entdeckte.

Lottie Mason war eine fünfundzwanzigjährige, hochgewachsene, prachtvolle Brünette, unzweifelhaft schön, und, wie Dick aus Erfahrung wußte, recht dreist.

»Ach ja, er ist ein glänzender Tänzer«, hörte Dick eine halbe Stunde später Lottie Mason zu dem kleinen Fräulein Maxwell sagen. »Stimmt das nicht, Dick?« wandte sie sich an ihn mit einer unschuldig-freimütigen Miene, hinter deren Schalkhaftigkeit sie ihn, wie er wußte, scharf beobachtete.

»Wer? Ach, Sie meinen natürlich Graham«, antwortete er ruhig. »Ja, das stimmt. Was meinen Sie, wenn wir jetzt tanzen und Fräulein Maxwell Gelegenheit geben, selbst zu urteilen? Übrigens gibt es hier nur eine Frau, die gut genug tanzt, um ihm Gelegenheit zu geben, seine Kunst zu zeigen.«

»Paula natürlich«, sagte Lottie.

»Paula natürlich. Ihr junges Gemüse habt ja keine Ahnung vom Walzertanzen.« Lottie warf verächtlich ihren hübschen Kopf zurück. »Also, wollen wir versuchen, es ihnen nachzumachen. Nehmen Sie mich ins Schlepptau, und ich möchte wetten, daß wir die einzigen Paare bleiben.«

Als der Walzer halb zu Ende war, brach er plötzlich ab: »Wir wollen ihnen den Saal allein überlassen. Es lohnt sich, ihnen zuzusehen.«

Und scheinbar von wärmster Bewunderung erfüllt, beobachtete er den Tanz seiner Frau mit Graham und wußte, daß Lottie, die neben ihm stand und ihn heimlich im Auge behielt, allmählich in ihrem Verdacht erschüttert wurde.

Dann begannen die andern auch zu tanzen, und da es ein warmer Abend war, wurden die Flügeltüren zum Hofe weit geöffnet. Bald tanzte ein Paar, bald ein anderes durch die lange, vom Mond beschienene Pergola, bis es geradezu mit zum Tanz gehörte.

»Was für ein Junge er doch ist!« sagte Paula zu Graham, während sie zuhörten, wie er von seiner neuen Kamera schwärmte. »Nie ist ihm etwas Schlimmes zugestoßen. Er ist nie in die Knie gezwungen. Er weiß es, ja, er weiß es, und doch ist er seiner und meiner so sicher.«

Als Graham von Fräulein Maxwell zum Tanz entführt wurde, blieb Paula stehen, und ihre Gedanken beschäftigten sich weiter mit dem Problem. Schließlich litt Dick gar nicht so sehr, aber das hätte sie sich im voraus sagen können. Er war immer der kaltblütige Philosoph. Verlor er sie, so würde er das mit demselben Gleichmut hinnehmen, wie wenn er Bergkönig verlor, wie er den Tod Jeremy Braxtons und die Vernichtung der Harvest-Minen hingenommen hatte. Es war schwer für sie, – und sie lächelte bei sich, – in Graham verliebt und dabei mit einem Philosophen verheiratet zu sein, der nicht einen Finger hob, um sie zu halten. Und wieder erkannte sie, daß es unter anderm Grahams Menschlichkeit und Verliebtheit waren, die ihn so anziehend für sie machten. Sie trafen sich auf gemeinsamem Boden. Nie – selbst in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft nicht – hatte Dick sie so entflammt. Und doch war er herrlich gewesen als Liebender, mit seiner Fähigkeit, seiner Liebe in schönen Worten Ausdruck zu verleihen, und mit seinen Liebesliedern, die ihr so viel Freude bereitet hatten. Wie dem nun aber auch sein mochte, so war das Gefühl, das Graham und sie füreinander hegten, doch ein ganz anderes. Dazu kam, daß sie völlig unerfahren in allem, was Liebe und Verehrer betraf, gewesen war, als vor so langer Zeit Dick plötzlich in ihr Leben getreten war.

Und während sie so grübelte, verhärtete sich ihr Herz gegen Dick und ließ ihrer Leidenschaft für Graham die Zügel schießen. Die vielen Menschen, die steigende Lustigkeit, die enge, zärtliche Berührung im Tanz, der warme Sommerabend, das Mondlicht, das in die Pergola strömte, und der nächtliche Duft der Blumen, – alles gab ihrem Gefühl Nahrung, und sie sehnte sich von ganzer Seele nach dem einen Tanz, den sie jedenfalls noch mit Graham wagen durfte.

Oh Jeh meldete Dick, daß mehrere wichtige Telegramme gekommen waren. Er begab sich in sein Arbeitszimmer. Es handelte sich um die mexikanische Situation, und Dick brauchte geraume Zeit, um die Antworten zu diktieren.

Aber schließlich kehrte er auf einem kürzeren Wege durch das Haus und über den Hof zurück. Die Tänzer wollten gerade in den großen Saal zurückkehren, und er lehnte sich gegen einen Pfeiler und sah sie vorbeigehen. Als letztes Paar verließen Evan und Paula die Pergola, und sie kamen so dicht an ihm vorbei, daß er die Hand hätte ausstrecken und sie berühren können. Aber sie sahen ihn nicht, denn sie hatten nur Augen für einander.

Das letzte Paar vor ihnen hatte schon den Saal betreten, als die Musik verstummte. Paula und Graham blieben stehen, und er bot ihr den Arm, um sie hineinzuführen, als sie sich plötzlich, einer Eingebung folgend, an ihn klammerte. Er war als echter Mann etwas vorsichtiger und leistete einen winzigen Widerstand, aber sie schlang ihm den Arm um den Hals, zog seinen Kopf zu sich herab und küßte seine nur allzu willigen Lippen. Im nächsten Augenblick gingen sie hinein. Paula stützte sich auf Grahams Arm und lachte heiter und natürlich.

Dick packte den Pfeiler und ließ sich auf den Marmorboden gleiten. Er drohte zu ersticken und hatte ein unheimliches Gefühl, als hätte er das Herz im Munde und bisse darauf, bis er wieder Luft bekam und es mit der einströmenden Luft niederzwang. Ihn fror, und er bemerkte, daß er plötzlich von Schweiß durchnäßt war.

Nicht Graham hatte Paula geküßt. Paula hatte Graham geküßt. Er hatte es gesehen, und während der Anblick wieder vor seinem Auge flammte, fühlte er, wie ein neues Erstickungsgefühl ihn packte. Mit einer schnellen Kraftanstrengung nahm er sich zusammen und erhob sich.

Er kehrte auf dem längeren Wege zurück und trat rasch in die Stube, den Photographenapparat in der Hand, völlig unvorbereitet auf den Empfang, der ihm zuteil wurde.

»Hast du ein Gespenst gesehen?« lautete Lutes Gruß.

»Sind Sie krank?« – »Was ist los?« fragten andere.

»Was soll denn los sein?« entgegnete er.

»Dein Gesicht – dein Aussehen«, sagte Ernestine. »Es ist etwas geschehen.«

Und während er sich in der Situation zurechtzufinden suchte, konnte er nicht umhin, den hastigen Blick zu bemerken, den Lottie Mason auf Graham und Paula warf, und zu beobachten, daß Ernestine Lotties Blick aufgefangen hatte und ihm folgte.

»Ja,« log er, »ich habe schlechte Nachrichten. Jeremy Braxton ist tot. Ermordet. Die Mexikaner haben ihn umgebracht, als er nach Arizona zu entkommen versuchte.«

»Gott sei ihm gnädig, der liebe, gute Jeremy«, sagte Terrence und legte Dick die Hand auf den Arm. »Kommen Sie, Alter, Sie brauchen eine Stärkung.«

»Ach, es geht schon vorüber«, lächelte Dick, schüttelte seine Schultern und richtete sich auf, um seine Fassung wiederzugewinnen.

»Aber im Augenblick war es ein schwerer Schlag für mich. Ich habe nie den leisesten Zweifel gehegt, daß Jeremy es schaffen würde, und jetzt ist er dahin, und zwei Ingenieure mit ihm. Sie haben ihr Leben so teuer wie möglich verkauft, standen mit dem Rücken gegen einen Felsen und hielten vierundzwanzig Stunden lang einer Horde von fünfhundert Mann stand. Dann aber warfen die Mexikaner Dynamit. Ach, alles, alles Fleisch ist Gras, und wo ist das Gras, das gestern noch stand? Terrence, Ihr Vorschlag ist gut, kommen Sie!«

Als er ein paar Schritte gemacht hatte, wandte er den Kopf und rief über die Schulter zurück: »Aber laßt euch nicht stören. Ich bin gleich wieder da und mache die Aufnahme. Willst du sie aufstellen, Ernestine, und für möglichst gutes Licht sorgen.«

Terrence drückte auf einen Knopf, so daß das verborgene Büfett am anderen Ende des Zimmers zum Vorschein kam, und stellte Gläser und Getränke hin, während Dick eine Wandlampe einschaltete und sein Gesicht in dem kleinen Spiegel der Büfettür studierte.

Sie stießen an und tranken schweigend.

»Noch eins«, sagte Dick und reichte ihm das Glas hin.

»Sagen Sie, wenn ich aufhören soll«, sagte der Irländer und sah in unerschütterlicher Ruhe zu, wie der Whisky im Glase stieg.

Dick wartete, bis es halb voll war, dann stießen sie wieder an, tranken schweigend und sahen sich in die Augen, und Dick war dankbar für die aufrichtige Zuneigung, die er in Terrences Blick las. Dann kehrten sie zur Gesellschaft zurück.

Ernestine studierte heimlich die Gesichter Lotties, Paulas und Grahams, um möglichst mehr Klarheit über das unheimliche Gefühl zu erhalten, das sie ergriffen hatte. Warum hat Lottie Paula und Graham so angesehen? fragte sie sich. Und jetzt war etwas mit Paula. Sie war nervös und zerquält, und zwar anders, als man es nach der Mitteilung von Jeremy Braxtons Tod erwarten konnte. Aus Grahams Gesicht konnte Ernestine nichts schließen.

Paula war ernstlich beunruhigt. Was war geschehen? Warum hatte Dick gelogen? Daß Jeremy Braxton tot war, wußte er schon seit zwei Tagen. Und sie hatte nie gesehen, daß ein Todesfall einen solchen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Sie fragte sich, ob er vielleicht zu viel getrunken hätte. Hatte er in seiner Not mit Terrence im Rauchzimmer getrunken? Sie hatte ihn eben vor dem Mittagessen dort getroffen. Die wirkliche Ursache von Dicks merkwürdigem Benehmen fiel ihr nicht einen Augenblick ein, wenn nicht aus einem anderen Grunde, so deshalb, weil er nicht zu spionieren pflegte.

Um zwölf Uhr wurde das Abendessen serviert, und erst um zwei Uhr morgens brachen die Wickenberger auf. Als sie in ihre Wagen stiegen, schlug Paula vor, daß sie am nächsten Nachmittag einen Ausflug nach Sacramento machen sollten, um ein neues Experiment von Dick zu besichtigen, den Anbau von Reis.

»Ich habe eigentlich einen anderen Plan«, sagte er ihr. »Du kennst doch die Bergweide am Sycamorenbach? Dort sind in den letzten zehn Tagen drei Jährlinge getötet worden.«

»Berglöwen!« rief Paula.

»Ja, mindestens zwei. Sie haben sich aus dem Norden hierher verirrt«, erklärte er Graham. »Das tun sie zuweilen. Vor fünf Jahren schossen wir drei. Moss und Hartley haben sich mit den Hunden hinbegeben. Sie haben herausgefunden, wo zwei von den Tieren stecken. Was meint ihr dazu, wenn ihr alle mitkommt? Wir können gleich nach dem Frühstück reiten!«

»Darf ich Mollie reiten?« fragte Lute.

»Und du kannst Altadena nehmen«, sagte Paula zu Ernestine.

Sie einigten sich schnell über die Pferde, und Froelig und Martinez versprachen, auch mitzukommen, obwohl sie weder gut schwimmen noch reiten konnten.

Sie gingen alle hinaus, um die Wickenberger abfahren zu sehen, und als die Automobile verschwunden waren, blieben sie noch ein Weilchen stehen und verabredeten alles nähere für die Jagd.

»Gute Nacht allerseits«, sagte Dick und schickte sich an, hineinzugehen. »Ich muß vor dem Schlafengehen noch einmal nach der alten Bessie Alden sehen. Hennessy wacht bei ihr. Aber vergeßt nicht, Mädels, morgen zum Frühstück in euren Reitkleidern zu kommen, und Gott gnade dem, der sich verspätet.«

Die alte Mutter der Fotherington-Prinzessin war ernstlich erkrankt, aber Dick würde sie doch zu dieser Nachtzeit nicht besucht haben, hätte er nicht etwas Ruhe gebraucht, und hätte er sich nicht davor gefürchtet, mit Paula allein zu bleiben.

Leichte Schritte ertönten hinter ihm, und er wandte den Kopf. Ernestine holte ihn ein und nahm seinen Arm.

»Die arme alte Bessie Alden«, erklärte sie. »Ich möchte gern mitkommen.«

Dick, der immer noch die Rolle spielte, die er den ganzen Abend gespielt hatte, hatte viele lustige Einfälle und lachte heiter.

»Dick«, sagte sie, als er das erstemal schwieg. »Dir geht es schlecht.« Sie konnte fühlen, wie er sich aufrichtete und schneller ausschritt. »Kann ich dir helfen? Du weißt, du kannst dich auf mich verlassen. Sage es mir.«

»Ja, ich will es dir sagen«, antwortete er. »Nur eines.« Sie drückte dankbar seinen Arm. »Ich schicke dir morgen ein Telegramm. Es wird ernst sein, aber selbstverständlich nicht unnötig beunruhigend. Und dann packst du deinen Koffer und reist mit Lute ab.«

»Ist das alles?« fragte sie mit zitternder Stimme.

»Du würdest mir einen großen Gefallen damit erweisen.«

»Du willst mir also nichts sagen?« sagte sie, verletzt durch die Abweisung.

»Ich schicke das Telegramm so, daß du es im Bett erhältst. Und kümmere dich nicht mehr um die alte Bessie. Geh lieber hinein. Gute Nacht!«

Er küßte sie, schob sie sanft nach dem Hause zu und schritt weiter.

* * *

 


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