Oskar Loerke
Das unsichtbare Reich
Oskar Loerke

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Von den Wesen der unsichtbaren Welt

Der unbewegte heilige Äther dieser tönenden Welt ist Gottvater, der bewegende Hauch des Äthers Gott der Geist. Gottvater bleibt der Kunst wie jeder anderen menschlichen Bemühung in seinem Wesen unzugänglich. Die Andacht der Kunst, das ist: ihr Andenken, Eindenken – kann sich nur auf etwas Vorgestelltes oder Durchfühltes, demnach Abgegrenztes erstrecken, weil sie unter dem Zwange steht, sich im Gegenstande des Eindenkens zu zeigen. Verlöre sie ihn, so verlöre sie sich. Unendliche Gefühle gibt es nicht. Gefühle reichen so weit, wie sie noch mit Form bewachsen, nicht um Strichesbreite weiter. Bach ist nicht unweise genug, das Unerreichbare zu erstreben. Er begnügt sich, vom allweisen Wesen (nicht seinen Emanationen) in den schwächsten Symbolen Bekenntnis abzulegen. Er hebt den heiligenden Blick auf die Tonleiter, der aus ihr die Himmelsleiter macht. Der heiligende Blick erblickt den primitiven Dreiklang, und er strahlt Reinheit, Gewißheit und Einheit in dieses Geringste. Er löst die Dissonanzen, verbirgt sich im Schweigen. Gottvater ist sich genug und kann sich daher, ohne die Stimme der Löwen und Donner zu gebrauchen, mit seinem Sohne über die Wesensgleichheit unterhalten, indem der eine sein Motiv in gebundenen, der andere dasselbe Motiv in gestoßenen Tönen auf und ab wiegt; das Gespräch ereignete sich ja in seiner Brust, mochte diese auch die offene Welt enthalten (Hohe Messe). Der Musik ist der Name Gottes weder ein einsilbiges noch ein millionensilbiges Wort. Die Unendlichkeit ist immer unfruchtbar, auch für die Musik. Was außerhalb von Grenzen liegt, verkehrt sich in Wüste. Ein Musiker, der sich ins Unendliche wagen wollte, müßte aufhören, Musik hervorzubringen. Spricht er mit seinen Tönen das Wort Unendlichkeit, so hat er es schon endlich gemacht. Wollte er mit der Allwissenheit oder Allgegenwart ernst machen, so müßte er aufhören, auch nur etwas zu wissen, auch nur irgendwo zu sein.

Jesus und der Crucifixus sind bei Bach zwei deutlich getrennte Persönlichkeiten, jedoch beide Darstellungen des Hauptbestandes der Menschheit. Der Crucifixus ist ihr aufgetanes Inneres, Jesus ist ihre gesammelte Erscheinung. Jesus wird mit seinem Lebensschicksal entwickelt, und nur ein Bruchteil davon ist die Kreuzigung. Der Crucifixus wird ohne ein sich entfaltendes Schicksal gezeigt. Die Summe der Menschen ist der Gekreuzigte, er ist in ihnen; die Potenz der 33 Menschen ist Jesus, sie sind in ihm. Der erste wird von ihnen erreicht, der zweite nie.

Der Gekreuzigte hat im Gesamtwerke Bachs sein Zeichen, eine Spur, die allenthalben nachgewiesen werden kann. Sie ist so schlicht, wie es sich für ein Urelement der Musik ziemt. Sie ist das chromatische Motiv, aufwärts und abwärts, – eine Tonerscheinung, die auftreten muß, die gar nicht umgangen werden kann. Meistens ist das Motiv nur wenige Stufen lang. Abwärts bringt es den Untergang, aufwärts die Erlösung. Es erscheint entweder nur in eine dieser beiden Richtungen gelegt, oder es winkelt sich verbunden nach beiden Richtungen. Es hat nichts Theatralisches, ist kein pomphaftes Leitmotiv, das sich vordrängen und alles übrige vergessen machen möchte. Viel lieber waltet es selbstvergessen und unauffällig wie der Mensch im Gesamtbilde der Menschheit: es sind darin der Menschen zu viele, als daß man die Züge ihrer Angesichter noch unterschiede. Sie werden geboren und sterben, sie tragen das Doppelstigma Hoffnung und Verzweiflung, Sehnsucht und Verzicht. Wir finden den noch nichts von sich selbst wissenden Crucifixus ganz früh in einer familienhaften Nebenarbeit, wo die Freunde einen Abreisenden an den Wagenschlag begleiten und lamentieren, bevor das Posthorn einsetzt: Schmerztöne von Golgatha gespenstern kindisch durch die thüringischen Wälder.

Jesu musikalische Behausung ist das Baß-Arioso. Er ist auf eine sanfte Weise das dämonische Prinzip der Menschlichkeit. Ein guter Mensch ist furchtbarer, weil unbekannter, als ein böser, also ein fratzenhafter, verzerrter. Daher rührt bei Bach die Banngewalt Jesu. Er weiß zuviel von den Zusammenhängen, welche den meisten verschleiert sind. Die anderen vermuten in ihm das Verborgene, das doch niemals mit Stirn, Flügel, Finger und Fuß vor sie treten wird. Er selbst hat nicht den Wunsch, das Zusammenhangvolle in ein Tastbares und also Zusammenhangloses zu verwandeln. Darum setzt er das Abendmahl als einen Klang ein, und Wein und Brot sind Blut und Leib. Immer ist er in der Nähe seines Wortes: selig sind, die nicht sehen und doch glauben. Wir glauben, um im Unheimlichen die Güte zu erspähen. Auch Jesus hat seine Zeichenspur. Sein Heiligenschein geht ihm voran, ohne daß er selber schon da wäre. Er leuchtet in den Instrumenten auf, während die Singstimme erst die ankündigenden Worte spricht: »Nun wird das Heil der Erden einmal geboren werden.« Der Heiligenschein umleuchtet den Schlummer des Kindes; gegenüber der ersten Fassung dieses Schlafgesanges in der weltlichen Kantate ist die 34 zweite um den Farbenhauch von fünf Holzinstrumenten bereichert. Die Glorie geht dem Rätselhaften voran wie die Kometen und Nordlichter den ungeheuren Zeiten.

Christus, der erhöhte, ist irdischem Forschen und Sorgen entzogen in unproblematische Pracht der Motive. Ihm entströmt die Identität mit sich selbst als äußerste Kraft.

Diese Gestalten sind von vielen Helden bedient.

Aus der unabsehbaren Fülle sei ein einziges Beispiel gewählt, um zu zeigen, wie Bach die visionäre Figur seiner Helden erzeugt, indem er die ihnen zugeschriebenen Gewalten vorführt. In überlebensgroßem Umriß erheben sie sich aus ihrer Tat. Die Tat ist eine fast physische Zeugung durch den Geist. Die Söhne dieser Zeugung kennen nur den Zustand der Erwachsenheit, nicht die Stadien Geburt und Tod. Einer von ihnen ist der Erzengel Michael. Er heißt darum mit unangreifbarem Recht der »Unerschaffene«. Er gebietet über so viel Engel, daß sie »Leib und Seele zudecken«. Bach erfuhr es während der Erzeugung Michaels, er selbst versteht nun mit Engeln, mit selbsterschaffenen Engeln, zu fahren »auf Elias Wagen rot«. Sie lagern sich, wenn alles bricht und fällt, um seine Seiten her, und er bleibt doch in unerstaunter Ruhe, vertrauend auf sein mächtiges Geschöpf. Michael, der Sieger seines Königs, schickt Bach feurige Rosse, wenn er ihrer bedarf, denn der Erzengel verdankt ja ihm sein Dasein. In drei Kantaten hat Bach ihn singend ausgeatmet, emporgeatmet, zuerst im Chore »Es erhub sich ein Streit«. Die rasende Schlange, der höllische Drache stürmt wider den Himmel, und Michael bezwingt ihn. Ungefähr fünf Jahre später erfolgte die Bestätigung in der Kantate »Man singet mit Freuden vom Sieg«, und um weitere zehn Jahre in der Kantate »Herr Gott, dich loben alle wir«. In »Es erhub sich« setzt sich der Erzengel Michael prachtreich von den gewöhnlichen Engeln ab, die in Bachs Arbeiten als ein seliges Flügeln oder Freuen erscheinen. Ein Baßmotiv von grandios geladener Kraft wie Ausholen und Niederschlagen eines Riesenschwertes zeigt sich wiederholt im hellen Krachen und Lärmen, wo der Dampf der Höhe und Tiefe durcheinanderbraust und feste Schlachtordnungen der himmlischen Heere die höllischen niedertreten, – von Anfang an schon niedergetreten haben. Die Getöteten werden immer wieder erweckt, um abermals und abermals vernichtet zu werden. Nur vor dem Beginn des Dakapo wird der Sopran von »des Satans Grausamkeit« eine kleine Weile chromatisch von der Tiefe eingesogen, und auch das Rollen 35 und Toben des Kampfes darunter schraubt sich mit seiner siegröchelnden Masse langsam nach unten; dann aber strahlt aus der Wiederholung des Anfangs der Sieg, befestigt, wieder auf, und man möchte sich das Ganze wie einen ungeheuren Strudel ohne Aufhören fortgedreht denken, immer rasender und gewaltiger. Und in der Mitte des Strudels reckt sich steil und unversehrbar der Bezwinger des Drachens. Hier ist ein Triumph der Dakapoform, – das Perpetuum mobile unsterblicher Organismen. Die Auswirkung und Erlösung einer grausam lachenden Streitlust verlieh Bach in der perspektivischen Vergrößerung einen vergrößerten Optimismus im Schmerze. Er hat erfahren, was niederzuringen er fähig ist. So steigert er in derselben Kantate absichtlich die Energie des Bösen und Gefährlichen, er dichtet den Picanderschen Text um, damit der Wunsch seiner Natur darin Gelegenheiten der Entfaltung finde. Picander schreibt für das zweite Rezitativ die Worte: »Was ist der Mensch, das Erdenkind, der Staub, der Wurm, der Sünder? daß ihn der Herr so lieb gewinnt und ihm die Gotteskinder, das große starke Himmelsheer zu einer Macht und Gegenwehr, zu seinem Schutz gesetzet.« Bach dichtet: »Was ist der schnöde Mensch, das Erdenkind? Ein Wurm, ein armer Sünder. Schaut, wie ihn selbst der Herr so lieb gewinnt, daß er ihn nicht zu niedrig schätzet und ihm die Himmelskinder, der Seraphinen Heer zu seiner Wacht und Gegenwehr, zu seinem Schutze sendet.« Er komponiert »der schnöde Mensch« als ein Absinken der Schwäche, das »Erdenkind« als ein Auffragen aus der Tiefe, und eine Disharmonie fesselt es. »Ein Wurm« bestätigt sich, festgehalten in der Fessel. »Ein armer Sünder« seufzt septimenweit rasch in die Höhe und rollt vier gleichmäßige Tonstufen hinunter. Das »Schaut!« steht schroff, abgesondert zwischen zwei Pausen. »Der Herr«, das »Seraphinenheer« und die Gegenwehr erreichen dann die Gipfeltöne im Lichte.

Was aber ist vor all diesen Gestalten die Myriade Mensch? Schmutz, Staub, Asche, Erde, Gift, Krankheit, Tod; sein Eigenname lautet: Sünder. Der Sünder ist ewig wie der Gott. Besäße er nicht das Sehorgan, das Tastorgan der Sünde, so wäre er blind und ohne Hände. Unter solchen Umständen bedeutet in Bachs Musik die Sünde eine höchste Auszeichnung: Sehnen bis zur Verzweiflung und Zerknirschung ist ihre Gnade und das Wissen um das Sterben als einen Durchgang zum heilen Ursprung. In den Passionen und Kantaten drängen sich die dem Sünder zugehörigen Sätze zwischen die Erzählung und das Drama. Sind sie Monologe? Sind 36 sie die Lyrik überhaupt? Die Sünde ist der Mut zur unverfälschten leidenschaftlichen Wirklichkeit. Schwermut preßt wild auf Schwermut, damit sich die Heiterkeit ohne Lüge herauskeltere. Was schon in den Grenzen der unbarmherzigen Wahrheit bebt, muß noch tiefer hinein, damit es unter dem zermalmenden Gewicht der Mitte an innerlichem Widerstand unermeßlich werde. Was da schon weint, muß heulen, was vor Furcht winselt, muß die Menschenrede fast verlernen, weil ihm die Zunge am Gaumen klebt. »Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen« (Kantate 12) erstarren in dem einen Worte »Crucifixus« (H-moll-Messe)! Der Erbfluch brannte im Blute der Gemarterten, nun sehen sie ihn vor sich aufgerichtet: den Marterbaum! In einer Sprache, welche nicht die ihre ist und ihren Mund prophetisch verwandelt, wimmern sie immer nur die vier Silben »Crucifixus.« Und fast schon schlägt das Wort ins Sprachlose über und löst sich, dem Elementaren heimgegeben, in bewußtloses Trauertreiben auf, das hellseherisch schon über der Vernunft der Schmerzerschütterung ist, so gewaltsam ist es. Nicht Menschen mehr essen Tränenbrot, sondern der Nachtraum selber starrt auf das Entsetzen und sinkt in langsamem Taumel herunter, in Stößen, als drehe sich das Universum im unabsehbaren Trichter des Chaos – und es dreht sich nach dem gravitätischen Tanzschritt der Passacaglia.

Die internationale Gilde der Tänzer muß für diesen Staat erzogen werden: Allemande, Courante (mit der italischen Abart Corrente), Gigue (Giga), Menuett, Bourrée, Passepied, und wie sie alle heißen. Wo die Sünder so stark an Trauer und verzweifelter Sehnsucht sind, müssen sie, die Pfleger unschuldiger Weltlust, ebenfalls kräftig werden und wert, vor dem Großkönige zu tanzen. So werden aus den zierlichen französischen Suiten die derberen englischen und aus diesen die rassig jugendlichen deutschen Partiten. Nur die Zunahme an Willensvolumen hebt sie von denen beispielsweise Couperins ab. Der formale Bau ist gleich, und sogar mancherlei von dem, was die Gauklergestalten sich im Bereiche der Franzosen einfallen ließen, fällt ihnen auf dem Boden Bachs wieder ein.

Auch an Riesen fehlt es in den inneren Gefilden nicht. Sie sind täppisch und humorig, Abstrakta aus den Zwischenreichen der Natur mit groben Gesichtszügen und geblähtem Eifer (Kantate 3). Die vom Baume der Erkenntnis herabgekrochene Schlange gebärdet sich gelegentlich wie ein Jahrmarktstier von erstaunlicher Stattlichkeit, über die Firste der Häuser aufgerichtet, zwei Oktaven hoch, und ihr Auftritt wird von der Pauke und drei Trompeten umschmettert (Kantate 130, Baßarie).

 

37 Wir fassen zusammen. In Bachs unsichtbarem Staate herrschen nicht die Gesetze der Kausalität (außer in technischem Sinne), und darum gibt es darin keine Schuld und Sühne, nur den religiösen Glauben der Gestaltung an sich selbst.

Verschlossen ist Bach die Möglichkeit, den ethischen Beweggrund einer Handlungsweise zu geben, aus einem Erlebnis die moralische Folgerung zu ziehen, es mit einem anderen psychologisch zu verknüpfen. Aber die Musik ist Seelenkunde in sich selbst, absolut. Soziales kann demnach nur ausgespart werden, so in dem Chore, wo um Jesu Kleider gewürfelt wird, so in den Kreuzigungschören. Bach vermag nicht zu sagen: kreuzige, weil, – kreuzige, damit. Die Frage: warum lebt man, warum stirbt man? ist ihm unhörbar; hörbar ist ihm nur die Antwort: man lebt, man stirbt. Das tönende Nichts bewahrt unverrückbar das irdische All. Was die wechselnden Menschengeschlechter, darin betroffen, einmal in verschollenen Dialekten sprechend, über Zweck und Sinn des Lebens dachten, das fließt hindurch, ohne es anzurühren. Die All-Idee ist Gegenwart, oder sie ist nicht. Bachs Religion ist eine Religion des Heiligen Geistes. Sie empfängt ihn aus der Orthodoxie des Dreißigjährigen Krieges und löst ihn daraus. Das Feuer erfüllt sie wie ein Meer, Bach erkennt: dieser Geist ist heilig. Um diesen Satz auszusprechen, brauchte er all die Hunderte der Werke, die sein Leben ausmachen.

 


 


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