Oskar Loerke
Das unsichtbare Reich
Oskar Loerke

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Von der Überführung der Erde in die Musik

Kein Frühblüher, war Bach der Meister der Meister geworden. Ihm wäre die Belebung einer Welt voll Formen zu einer riesigen Formenwelt mißlungen, wäre er nicht vorbestimmt gewesen, das Chaos aller irgend denkbaren Stoffe in einen einzigen Stoffkosmos zusammenzuschmelzen. Die christliche Lehre gab symbolisch und tatsächlich in ihrer Universalgeschichte die Uridee einer Musik, in der sich das Weltgebäude drehte, ohne Anfang und Ende, in ewiger Verwandlung. Wer Opern schrieb und Oratorien, wie Händel und Keiser, der zählte mit Knoten in goldener Schnur die Stunden der Unsterblichkeit. Bach diente, mochte er auch, den Gott vergessend, weil von ihm besessen, bloß über ein schwieriges Handwerk gebückt sein in der Abfassung eines Ricercars oder einer kanonischen Variation mit Quodlibetgassenhauern, er diente dabei dem einen, der Grund, Schicksal und Tod aller Dinge war. Er hauste in dem vierdimensionalen Raume, wo Harmonie, Melodie, Rhythmus und Dynamik ein Jegliches maßen und viereinig ein Jegliches mit dem selben Gesetz durchdrangen, den Schächer und den Seraph, den Tropfen und den Sonnenball. Steigen, fallen – und wieder steigen, fallen, in dem vierfachen Verstande: nach Höhe und Tiefe, horizontal und vertikal, nach der Schleunigkeit und nach der Kraft – mehr gibt es nicht. Mehr gibt es nicht in den Sekunden des Aus- und Einatmens, im Wechsel der Tage und Nächte, der Jahreszeiten, Jahre und Jahrhunderte, in den Beziehungen der Über- und Unterwelten, im gelassenen Herzschlag der Ewigkeit. Das Kirchenjahr teilt den Weltstoff ein für allemal und befiehlt die undurchbrechbare Wandlung von Todestrübsal und Lebensherrlichkeit. In breiten Staffeln rückt bei Bach alles Stoffliche ringsher in diesen Raum, gegen die Mitte zu, wo das allerheiligste Sanktus klingt. Die instrumentalen Stücke wiegen nicht anders als die gesungenen – jene zweistimmigen Inventionen, dreistimmige Symphonien, die sechs letzten großen Orgelfugen und das späte Bekenntnis ohne Vergleich auf Erden: die Kunst der Fuge, die über ihrem Urthema und dem Tiefsinn ihrer Stimmen vergißt, 21 anzusagen, wer sie spielen soll – Tasten? Saiten? Saitenchöre? Auch sie ist ein Sanktus und bekümmert und ärgert sich nicht.

Das größte Hindernis, aufgelöst als ein seliger Geist im Gesange zu schweifen, ist der schwere Körper. So gilt ja die Ewigkeit auch immer nur als von Geistern bevölkert. Bachs Intuition dagegen erkennt mit besinnungsloser Leichtigkeit: das erste, was hinübergeschafft werden muß in das unsichtbare Reich des Klingens, ist der Körper in seinem Daseinsgefühl, – anders besitzt er selbst sich nicht, nur die Natur besitzt ihn anders. In allem ist seine Ruhe oder Bewegung. Die höchste Verzückung wäre nicht ohne ihn: ihre größte Leistung war, ihn einzuschläfern, ihn sich selbst vergessen zu machen, ihm Mohn oder Wein oder Haschisch der Überwelten zu reichen. Wäre er nicht da, so wäre er auch nicht zu überlisten. Und wird er zum Verzicht bewogen, so nur mit der unsäglichen Versicherung, er dürfe dableiben und wiederkommen. Anders würde die Hingebung in den Wahn führen, wo das Bewegende und die Bewegung nicht mehr identisch blieben, oder in den selbstgewählten Tod.

Und er ist in der Musik Bachs überall dageblieben. Mustern wir flüchtig etwa die Matthäuspassion, so ist sie durchgehends auch von Bachs Körperempfindung ein Zeugnis. Keine Klage ohne einen Klagenden, keine Buße ohne einen Büßer. Profund angesehenes Daseinsgefühl erweckt seine schlummernden Möglichkeiten und bereichert sie in unabsehbarer Reihe.

Das Gefühl des Körpers an die Musik verschenken, heißt den Blick in die Weite befreien, heißt bemerken, daß Hirsch und Hund laufen, daß der Vogel schwebt, der Wurm kriecht, und es heißt, darüber andächtig erstaunen. Es heißt sogar, das Geheimnisvolle des Nebenmenschen wirklich und wahr nehmen und ihn in seiner Kreatürlichkeit anerkennen. Sich körperlich wissen, heißt das schwermütige Glück und die Milde finden, die dem viel Überblickenden unentrinnbar sind. Dieses Erfahren des Körpers ist nicht abhängig von naseweisem Lernen und Wissen, und es ist auch nicht so, daß es alle Stunden die heilige Leihgabe wäre. Indessen das höchste Geistige, vor dem der Verstand versagt, ist nur noch mit der Intuition des Körpers aufzufassen. Logisch schließenden Gedanken wäre die Himmelfahrt niemals eingefallen, doch dem preisgegebenen Blute fällt sie ein, und dann weiß auch der Geist sie vorzustellen und ihr nachzuschauen. Die tiefen Himmelfahrten, in denen der Körper von der Seele mitgenommen wird, können sich täglich ereignen. Im Gesange mancher Instrumentalfugen für Orgel oder Klavier sind sie das eigentliche Geschehen, während 22 ein Leid durch vier Nachtgefährten sich zuspricht und, gefaßt den Ausweg suchend, im Kreise zieht: nichts erhebt sich in den vier Gefährten und um sie herum, aber es geschieht, daß der dunkle Stern von ihnen absinkt, so fernhin, daß die Bekümmernis nicht mehr heraufdringt, daß der dunkle Stern, nur ein geometrischer Punkt, zwischen anderen Sternen steht. Und ist die Fuge zu Ende, so hat er sich wieder an seine gewohnte Stätte gefunden, der Spieler mag aufstehen, seine Füße brauchen nicht zu suchen, wohin sie den nächsten Schritt nach dem letztgetanen zu setzen haben.

Die christlichen Mysterien sind für den, der sie künstlerisch gestalten will, auf keine andere Weise zu begreifen als auf körperliche. Daß der göttliche Erlöser im Fleische wandelt – wie soll er anders wandeln? Er bedient sich derselben dynamischen Sprache wie der Musiker selbst. Erlösung ist dem Musiker zunächst Selbsterlösung. Hörte er von der Tatsache theoretisch reden, so hülfe es ihm nicht dazu, auch nur eine Notenzeile zu schreiben. Lichtet sich jedoch der betrübte, unerlöste Komplex in seinem Lebensgefühl, so ist der Vorgang der Erlösung primitiv bereits erfahren. Der Gedanke der Erlösung, und zwar der Erlösung durch Gnade, ist der Gedanke der Musik selbst.

Die mystischen Lehren des Christentums reden zur entschlossenen Bejahung des Körpers gut zu. Jesus, der höchste Mensch, wohnt im Fleisch, und sogar Gott, der höchste Geist, wohnt im Fleische. Es wohnt auch – warum soll man nicht über das Alltägliche erstaunen? – jeder andere hohe und niedere Geist mit allen seinen zukünftigen Taten neun Monate im Fleische eines Weibes. Der Kriegsbringer, dessen Tote noch leben, der Brandstifter, dessen Flammen noch nicht wogen, der Dichter, der die Seelen führen wird, der Musiker, dessen Chor noch stumm ist! Das Weib geht auf der Gasse, steht am Herd, lacht, ringt die Hände. Dieses ansehen und dabei wissen, daß sie die Zukunftsträgerin ist, heißt für den Tonschöpfer, sie in dem allen als Zukunftsträgerin zeigen. Wohnt für ihn nun der Christus oder der Heilige Geist im Fleische, so doch vor allem, um sich seiner zu bedienen, um sich mit dem Lebensgefühle des Körpers verständlich zu machen. Er läßt den Körper einen erlesen schönen Gang tun und sagt damit: es ist mein Gang. Er läßt ihn tiefer jubeln und weinen, als er es vordem konnte, und spricht damit aus: das bin ich. Aber der Mensch, in dessen Körper der Geist wohnt, wacht eifersüchtig darüber, daß er sein eigenes Fleisch und Blut zurückerhalte, er will wieder auf seine eigene 23 Art gehen und ruhen, frohlocken und schluchzen. Seine bitterste Trübsal wäre, wenn der göttliche Geist bei seinem Aufbruch in die Sphären riefe: du hast deinen Körper an mich abgetreten und empfängst ihn nie wieder.

In Jesu Sterben erblickt Bach den Tod für alle und den Tod aller. Im Weihnachtsoratorium ist die Rede von der Zeit, da Maria gebären sollte. Die Weihe dieses Todes ist für ein kurzes da: Mitleid mit der leidvollen Kreatur, aber im Fernblick des Gefühls dämmert auch schon die Kreuzigung und das Absterbenmüssen alles Geborenen herauf. Das Schluchzen um das Haupt voll Blut und Wunden hallt von der Eingangsschwelle des freudepaukenden Hauses, und von der Ausgangsschwelle, betäubt vom schmetternden Blech, schluchzt noch immer das gleiche Lied.

Die Musik hat keine Mittel, die Gottheit um der Menschen willen da sein zu lassen, und umgekehrt. Beide sind um ihretwillen da, denn sie sind. Die Musik gibt beides tönend: Erlösungssehnsucht hienieden und Herrlichkeit da droben, – eine endgültig nie auszufüllende Kluft liegt dazwischen. Die Übergänge vom einen zum andern Ufer sind also musikalische Wege oder keine. Die Klänge vermögen die Sphären nicht in logische Abhängigkeit voneinander zu versetzen, sondern nur die Ausdrucksmittel der Sphären. Wie, drücken aber nicht ebendiese Mittel den kausal lebendigen Inhalt dieser Sphären aus? Nein, nur ihren beharrenden Inhalt auf bewegte Weise! Gott und Menschen sind dort aus dem gleichen Stoffe gebildet. Außermenschlichkeit entzöge den Gott der musikalischen Schöpfung. Menschlichkeit, Endlichkeit des Mittels macht ihn mächtig, sie erhöht ihn, indem sie in ihm den Menschen erhöht. Ein unmäßiger Abstand würde den Gott wie den Menschen vernichten.

Immer kommt es Bach auf den Gehalt der Tätigkeit selbst an, nicht auf das, worauf sie sich richtet. Der Tätigkeitsgehalt denkt sich in seiner Form zu Ende. Man kann einen Menschen umarmen, ein Kreuz umfangen, den Gott Christus umschlingen, einen Gedanken umwinden: auf die gleiche Weise bildet dabei Bach das Umfassen vor. Ob es sinnlich, geistig oder moralisch sei, drückt er nicht aus, einzig seine Gestalt. Der Mensch, das Kreuz, der Gott, der Gedanke gehen in ihrer Kraftäußerung auf. Der Umarmung als Vorgang sind alle Gegenstände stofffrei. Die Umarmung hat viel mehr vollbracht, als einem einmaligen Impulse zu folgen. Sie hat alle Impulse in sich hineingeschlungen und ist dadurch zu einem sie alle oder 24 ihrer keinen bergenden Stücke Natur geworden. Sie ist das geworden, was sie immer war, ein Sehnsuchtsausbruch aller Geschöpfe, in allen schlummernd, in allen erregbar.

Bewegung der Töne ist das bestürzend einfache, das kindlich geniale Mittel, die Bedeutung der Töne vom Alltagsraume der Worte abzulösen und in den idealen Raum, in den sie als Wesen ragen, einzuführen. Über ihre tönende Erscheinung hinaus fassen sie diese Bedeutung nicht. Der Eindruck der Akkorde insgesamt beispielsweise ist etwas Neutrales, solange man sie nach bloß technischem Vorsatz verwendet. Berücksichtigt man einen Augenblick die lahme ästhetische Unterscheidung, einige von ihnen seien lusthaltig, andere unlusthaltig, so tötet man schon das besondere Leben der Musik. Soll der dumpfe Trieb regieren, so kann er nur Lust sein: noch in den Kellern der Verzweifelung beherrscht die Musik Lust, nur erlebt die Lust dort ihre Nacht statt des Tages.

Wir sind in den Bezirk der Identitäten eingetreten. Auch seelische Bewegung wird dadurch, daß sie sich des Mittels der Musik bedient, zu sinnlicher Bewegung. Sobald ein Tönen beginnt, ist physische Bewegung da. Der nackte Ton sei kurz oder lang, er bewegt sich nach seinem Ende. Ein Akkord sei konsonant oder dissonant, er drängt nach seiner Veränderung oder Auflösung. Dauert er, so führt er uns seinen Willen zum Fortleben oder seinen Kampf vor dem Erlöschen vor. Eine Figur steige, falle oder winde sich, um einen noch so zarten Ahnungshauch, einen noch so selbstvergessenen geistigen Aufschwung zu begleiten, ihre Bewegung ist die Bewegung von etwas Körperhaftem: eine Stelle wird verlassen, eine andere erreicht.

Wenn nun in dem Übergange eines einzigen Akkordes in einen einzigen anderen der Himmel veralten kann, oder ein gesunder Leib in einen kranken verdirbt oder Heiterkeit in Betrübnis verkehrt wird; wenn ferner durch einen einzigen Melodiefall in die Septime, None oder Dezime ein Sturz in Verderbnis, Grab, Hölle symbolisiert werden kann; wenn sich durch eine einmalige Linie der Bewegung »lange«, »Schlaf«, »Weg«, »warten« oder durch eine andere gleichermaßen »jauchzen«, »flattern«, »fließen« ausdrückt, – sollte dann dort, wo diese Einmaligkeiten verarbeitet auftreten, das heißt nach der technischen Triebkraft der Lied- oder Fugenformen wiederholt, abgeändert, im Wachstum bestimmt oder im Kreise geführt, sollte da das Natürliche plötzlich abhanden kommen: nämlich eben der veraltende Himmel, der verderbende Leib, der Sturz in die 25 Hölle? Sollte die Verarbeitung mit ihrem Abschleifen, Abscheuern, Untersuchen, Kombinieren, Verkleinern, Vergrößern nicht erst recht die Natur nach ihren Identitätsreihen enthüllen? Den Vorgang im Lebensgefühle des Menschen und im Lebensgefühle der Gottheit Pan? Wir Zuhörer sind nicht befugt und wollen nicht technisch sprechen. Wir suchen nur immer die Grenze, wo sich Welteindruck und Weltausdruck treffen, immer nur die Gigantomachie zwischen dem Ich und dem Du. Die vielen vortrefflichen technischen Analysen bleiben im Du Bachs, die vielen unentbehrlichen historischen in seinem Ich. Die Dämonien der Identität zwingen Bach, sie so zu schaffen, als wären sie Gestalten, während sie doch nur Gewalten sind. Wir alle nehmen im Herzen keine Gewalt wahr, die nicht nach der Gestalt drängte, die nicht schon hart an der Grenze wäre. Wie wäre es sonst möglich, daß sich Bach, dem Künder jedermanns, die abstrakten Bibelsprüche oft bevölkern mit vielen Stimmen unsichtbarer Scharen, mit vorausgesetzten Situationen, unerzählten Geschichten? Das alles ist so exakt und ohne Rätsel wie in den Musiken, die epische Textabschnitte begleiten und die demnach ebensowenig Geschichtsmalerei sind.

Gleichnisweise nimmt Bach auch bei der Überführung der Instrumente in das unsichtbare Reich Verwandlungen vor. Nicht nur, daß er die begleitenden Orchestersätze der aus dem Weltlichen ins Geistliche erhöhten Stücke reicher und völliger macht, er nimmt sich außerdem der instrumentalen Individuen an. Eine Violine ist ein vereinzelter seliger Landfahrer, ein Klavierinstrument dagegen ist eine Gemeinschaft. Was der Landfahrer, wenn er klug ist, zu sagen hat, kann auch dem Gemeinwesen nützen. Marcello hat etwas gegeigt, wie war es zufällig! In der Sammlung der sechzehn Klavierkonzerte, die summarisch nach Vivaldi benannt werden, hat es in der Abhängigkeit von imitierenden Stimmen ein umsichtiges und gesichertes Dasein gelernt. Bach selbst hat etwas gegeigt, es ist untergegangen und dann wiedergekehrt in dem mannigfaltiger organisierten sechsten Klavierkonzert. Eine D-moll-Fuge hat ihren endgültigen Frieden erst auf der Orgel erobert, nicht vorher auf vier Saiten. Die Sinfonia der Kantata »Wir danken dir, Gott« gehörte ursprünglich der dritten Violinpartita an, und die Orgel hat es nicht leicht, ihr das arielhafte Flirren fortzuerhalten. Ein profanes Jubelorchester spielt zur Weihnacht nochmals auf: nun erst gleitet ein Irisieren dreifarbig gebrochenen Lichtes, vertieft wie der Regenbogen nach der Sintflut und kaskadenrasch rauschend, glatt um die Frohlockenden – Blechbläser, Holzbläser und Streicher, jede Gruppe in der 26 vollen Milde ihrer Natur, wie reines Gelb, Rot und Blau, und doch in einen fiebrigen Wirbel der glanzstiebenden Vermischung geschleudert.

Denken wir uns nur Einzelheiten aus dem Regelbuch der Vernunft, etwa die chromatischen Alterationen und Verminderungen der Intervalle, in die künstlerische Weisheit über der Vernunft eingezeichnet, so werden daraus Dinge, denen wir uns nur mit sinnbildlicher Zeichensprache annähern können: Geschwollenes, Geschrumpftes, Traurigkeit, Schreck, Schmerz, Entstellung; Modulation der Enttäuschung, ja der Verspottung des Erwarteten; zusammengekrampfte Intervalle, angefressene Fundamente, ungesunde Luft; Korrumpiertes, nicht Tragfähiges, Entartetes, Verweichlichtes; Flecken, Missetat, Armut; Unterspülendes, Auflösendes; Gestaltloses, Unsichtiges, Feuchtes, Schlüpfriges, Modriges, Morastiges. Und so fort. – Eine gleiche Verzauberung tritt bei sämtlichen anderen Einzelheiten und noch unendlich intensiver infolge ihrer unabsehbaren Verbindungen untereinander ein. Auch das, isoliert angesehen, Verwunderliche wird in das umfassende Werden eingereiht: Bach bringt einmal beim Worte »verschmerzen« Triller an. Warum trillert er? Ist es das Kitzeln der Wunde, wenn sie heilt? Das Aussetzen und Wiederkehren des Schmerzes? Er baute nicht wie viele seiner Vorgänger künstliche Uhrwerke, auf denen beim Stundenschlag eingeschaltete Apostelzüge vorbeimarschierten. Das persönlich Gefundene ist bei ihm allgemein gültig geworden, weil der elementare Haushalt der Musik in jeder Hinsicht, melodisch, harmonisch, rhythmisch, dynamisch, agogisch, niemals zum privaten Haushalt werden kann. Ähnlich verhält es sich mit den ebenfalls auf eine begrenzte Dauer und Geltung beschränkten geschichtlichen Befunden. Die durch Dogmen angeregten Stücke sind durch dogmatische Kunst ihres Inhaltsreizes gänzlich entkleidet, so die Orgelspiele über die Katechismuslieder. Auch der kirchlich Gläubige glaubt heute das Kirchentum nicht so, wie es vor zweihundert Jahren war; auch er glaubt nur die Musik, wie sie sich seinem Ohr anvertraut. Was das vergehende Diesseits in der Zone des Übergangs zur Kunst aufgeben mußte, erlangt es im beständigen Jenseits der Musik wieder. Ihr Jenseits erhellt sich zu einem anderen Diesseits, und das bisherige Diesseits verdunkelt sich zum Jenseits. Alles atmet dort von neuem auf, in noch schärferer Bestimmtheit als hier, aber aus anderen Gründen und unter anderen Lebensbedingungen. Es lebt dort von Anbeginn namenlos und nackt. Mehr noch: sehen wir angestrengt nach Sichtbarem, so haben wir nur einen Geist vor uns, prüfen wir den Geist, so fassen wir nur den Umriß 27 von fast tastbaren Formen. Sie werden nicht aus dem weiland irdischen Anlaß ihres jetzigen Daseins gespeist, sondern aus den Schauern, welche den Anlaß überwältigten und auslöschten. Wir Menschen haben über die Schauer keine Gewalt außer der Kunst, die sie nicht besiegen will, und unter den Künsten hat die größte Gewalt über sie die, welche sie am deutlichsten erhört, – die Musik. Daß uns Bachs Darstellungen des Abends so ergreifen, daß ein Jesuslicht durch die Dunkelheit leuchtet, ist aus der mitgesungenen Bibellegende nicht zu begreifen, sonst müßte uns außerhalb der Musik durch die Legende die gleiche Angst und der gleiche Trost widerfahren. Halbgestaltetes, Lemurisches, Drohendes, dann Halbgöttliches, Seraphisches lenkt unsere Empfindung und ist ihr Herr.

So ist's mit aller Landschaft. Wo Quellen fließen, ist immer die Gefahr, daß sie die blutigen Heilströme aus Jesu Wunden sein werden. Das Sakrament des Abendmahls droht sich immer zu vollziehen, wenn ein irdisches Wasser rauscht. Wandeln wir auf einem Stern aus Fels und Sand oder auf einem Stern der Seele? Bach antwortet: auf beiden, sobald die Saiten sich rühren (Kantate 5). Die Musik des Unterganges und der Auferstehung ist immer nah. Das Wunder geschieht: die Welt mit ihren Lasten, den Gebirgen, Hungersnöten, Kriegen, mit ihren Lasten Glaube, Hoffnung, Liebe erscheint im Raume des Ohres. Die Macht der Verwandlung ist jedesmal so groß wie die Verwandlung von Wein in Blut, von Brot in Fleisch.

Am lieblichsten aber zeigt sie sich in der Verklärung der Neigung Johann Sebastians zu Barbara oder Anna Magdalena. Wo im Werke ist die Stätte der Hausfrauen Bachs, der Mütter seiner Kinder? Tausendfach ausgestreut in holden Terzenfolgen, in dem süßen Abstand des Sextenintervalls, in den Zwiegesängen zweier verwandter Instrumente oder in den für Lebensdauer nebeneinander eingespannten Saiten auf dem Leibe eines Instrumentes, in den Duetten, den Herzkammern des Vertrauens, der Einsamkeit zu zweien, der seligen Erfüllung, des absichtslosen Wohltuns durch Gefühlserwiderung statt der guten Werke. Das Bürgerliche jedoch schwindet wiederum aus dem Klange, und Eros wächst. Eros steht als der Aufgangsstern am Himmel: »Wie schön leucht' uns der Morgenstern!«, von zwei Violinen ist der Glanz umwunden, und auch bei der Choralstrophe, die den Beschluß der Kantate macht, wird durch Hörner ein vertieftes weiches Licht ausgegossen. Der Morgensterngesang ist für Mariä Verkündigung komponiert. Die Mutter des einzigen wirklichen Königs seit je und auf je ist hier die Braut. Sie trägt unempfangen und ungeboren das Weltschicksal im 28 Schoße. Sie ist unter den Frauen die eine für alle. Was die Schattenmenschen drunten tun, wie klein und nichtig ist es! Und herrlich, daß Johann Sebastian sich und seine Geliebte hinaufverwandelt hat! – Ein grelles Gegenbild huscht in der Phantasie vorbei: Bach, aus dem gleichen Eros, ist auf dem Hügel Golgatha ans Kreuz genagelt und hängt schwer herab; Anna Magdalena ist als Königin in die Gestirne versetzt. Er weiß aus dem Drang seines Blutes das Kreuztragen und die Vollbringung des Martertodes.

 


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