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Der Theologe

Wir saßen stets auf einer Bank zusammen
Und schrieben treulich voneinander ab,
Gleichzeitig sengten uns die Liebesflammen,
Gleichzeitig sank der Liebestraum ins Grab,
Wir teilten Bude, Geld und Taschentücher
Und logen für einander in der Not,
Wenn uns für Kneiperein und Ketzerbücher
Der Karzer oder das Konsil gedroht –
Stets hab' ich deinen stolzen Geist verehrt,
Auch heut' noch bist du mir bewundernswert.

»Gymnasium, du Seelenfolterzelle!«
So fluchtest du: »Nur noch ein halbes Jahr,
Dann braust um mich die bunte Lebenswelle,
Kühn tret' ich an der Freiheit Hochaltar,
Und jauchzend werf' ich in das Freudenfeuer
Die Kette der erzwungnen Heuchelei,
Dann fest gepackt des Lebenskahnes Steuer,
Das Segel los, und frei bin ich, bin frei!« –
Begeistert habe ich dir zugehört,
auch heut' noch bist du mir bewundernswert.

Wie bleich warst du, wie knirschten deine Zähne,
Wenn vor den Beichtstuhl uns der Schulzwang stieß,
Wie schwoll am Hals dir Aderstrang und Sehne,
Wenn dich der Lehrer »Lump« und »Lümmel« hieß –
Die Kette riß, es kam die Freiheitsstunde,
Du sangst das Hohelied vom Mannesruhm,
Und jubelnd sprachst du in der Freunde Runde
Von Wahrheit, Licht und freiem Menschentum –
Begeistert habe ich dir zugehört,
Auch heut' noch bist du mir bewundernswert.

Und gestern hast du dein – Primiz gelesen,
woher kam dir so plötzlich der Beruf?
Kein Saulusruf von oben ist's gewesen,
Der aus dem Ketzer einen Priester schuf;
Dein Ohm ist Domherr – eine fette Pfründe,
Die Arbeitsscheu und freies Studium,
Dafür vergißt man Kampf mit Lug und Sünde
Und lächelt über freies Menschentum –
Stets hab' ich deinen stolzen Geist verehrt,
Auch heut' noch bist du mir bewundernswert.


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