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Aus der Werdezeit von Hermann Löns

 

»Und all mein Jauchzen, all mein Klagen,
Ein Traum, schon morgen unbekannt,
Mein Schaffen, Dichten, Tun und Sagen, –
Es rollt darüber gelber Sand.«

 

Auf der ersten Seite eines vergilbten Bündels Handschriften des Studenten Hermann Löns stehen diese Schlußverse des in dieser Auswahl veröffentlichten Gedichtes »Flugsand«. Darunter findet sich neben dem übermütig verschnörkelten Namen die nähere Bezeichnung: »Münster, 2. Mai 1890«.

Wir sind hier mitten in der ersten bis heute noch völlig unbekannten Schaffenszeit des werdenden Dichters, des vierundzwanzigjährigen Hermann Löns. Jenes Bündel Abschriften für den münsterischen Jugendfreund Max Apffelstaedt, der aus eigenem dichterischen Schaffen heraus wohl der lebendigste Anreger des jüngeren Löns gewesen ist, gibt uns allein über die Entstehung der hier veröffentlichten Dichtungen Aufschluß. Denn in der Apffelstaedtschen Handschrift sind sie und etwa sechzig weitere, hier und bisher überhaupt noch nicht mitgeteilte Gedichte allesamt zeitlich genau bezeichnet. Sie ist daher eine wesentliche Ergänzung dieser Auswahl und gestattet uns neue Einblicke in die Entwicklung des Dichters, der unendlich viel tiefer in den literarischen Strömungen seiner Zeit gestanden hat, als die Schöpfungen seiner Edelreife erkennen lassen.

Das älteste, wenigstens mir bis jetzt bekannt gewordene Gedicht des jungen Löns ist das in dieser Sammlung auf Seite 50 veröffentlichte »Segelfahrt«. Es ist in der Apffelstaedtschen Handschrift datiert: »Deutsch-Krone 1884«. Hier ist Löns ganz der romantisch überschwängliche Junge, den seine Mitschüler den »springenden Hirsch« nannten, der Naturschwärmer, der die Moor- und Seengebiete um Deutsch-Krone leidenschaftlich durchstreifte und der die Erinnerungen an diese abenteuerlich-fremdländische Jugend bis zu seinem Mannesalter nicht vergessen hat. Wie stark er dieses Land geliebt hat, sagt uns ein leider hier nicht veröffentlichtes Gedicht, eines der ersten, das September 1886 in Münster entstanden ist: »Heimatklänge«. Drei Klänge aus der Jugend liebt er: das Rauschen der dunklen Föhrenwälder, das Wellenklatschen vom See und das Lied aus Volksmund. In drei breiten Strophen rollt er dann die dunklen Schönheiten der westpreußischen Jugendheimat auf und schließt mit den wehmütigen, ahnungsvollen Worten:

»Du Wellenklang vom grünen See,
Du Lied aus Volksmund wild und weh,
Du Rauschen von dem dunklen Föhr:
Wer weiß, ob ich dich nochmals hör'!«

An der Schwelle des freien Studentenlebens steht diese echte, große Dichtung. Die in ihr angeschlagenen Töne klingen weiter durch die ganze erste Schaffenszeit, durch die Jahre 1886 bis 1890, die Löns zunächst als Zoologe und Naturwissenschaftler in Münster, dann als Mediziner in Greifswald und wiederum in Münster verbringt. Im Oktober 1890, mit der Übersiedlung nach Göttingen und mit dem Beginn der journalistischen Wanderjahre bricht der Strom jäh ab. 1893 gibt Arnold Garde bei Pierson in Dresden ein heute völlig vergessenes, aber für die damalige Zeit außerordentlich beachtenswertes »Gedichtbuch der Gegenwart« unter dem anspruchsvollen Titel »Menschliche Tragödie« heraus, zu dem Löns – wohl auf Veranlassung von Apffelstaedt – zwölf der letzten, zum Teil hier wieder veröffentlichten Gedichte aus der Jugendzeit beisteuert. Aber wir wissen aus Briefen der damaligen Zeit, daß der Dichter seit 1890 bereits keine Verse von Belang mehr geschrieben hat, bis er in Hannover bodenständig wurde und mit dem »Goldenen Buch« als Lyriker zum erstenmal vor die breite Öffentlichkeit trat.

Aber nicht »Mein goldenes Buch«, nicht »Mein blaues Buch« und nicht die »Lieder aus dem kleinen Rosengarten« geben uns Aufschluß über das Werden und Wachsen des Menschen und Dichters Hermann Löns, sondern lediglich diese leider sehr verstreuten Jugenddichtungen. Hier haben wir den ganzen Hermann Löns in all seinem leidenschaftlichen Überschwang, in all seinem trotzigen Kampf gegen alles Herkömmliche und Überlieferte, aber auch in seiner ganzen Gemütstiefe und Innerlichkeit.

Schon die aus den Jahren 1886-1887 neben den »Heimatklängen« entstandenen spärlichen Gedichte »Galgenberg« (hier auf Seite 33 als »Der Nubbenberg bei Münster i. W.« betitelt), »Den Alltagsmenschen« (Seite 15),»Akkorde« (Seite 31), »Am Kolke« (Seite 81) und mehrere andere offenbaren uns das weltschmerzlerische Tasten und Suchen des jungen Menschen, das Ringen mit den Mächten der Zeit – wir leben in den Tagen der sozialen Lyrik –, aber auch schon die an der tiefsinnig verehrten Annette von Droste-Hülshoff geschulte Form einer eigenwilligen Ballade. Die Jahre 1888 und 1889 sind ganz gesättigt von den Erinnerungen an Greifswald. Als Angehöriger der Turnerschaft Cimbria hat er leidenschaftlich auf Mensur gestanden. Merkwürdige fremdländische Erscheinungen in dem Leben der pommerschen Universitätsstadt haben ihn in geistige Berührung mit der slawischen Kultur, mit Dostojewski und Tolstoi gebracht. Und das alles bricht nun in der Stille von Münster ungestüm aus ihm hervor. Ich zähle allein aus dem Herbst und Winter 1889 zwanzig, aus dem Jahre 1890 etwa fünfzig Dichtungen. Sie alle sind erfüllt von den vielseitigen Anregungen, denen diese durstige Seele sich in langen, leidenschaftlichen Zügen hingab. Da stehen weiche Sehnsuchtslieder, wie das zu Eingang dieser Auslese in handschriftlicher Nachbildung wiedergegebene »An sie, die ich liebe« und das in gleicher Form bereits im »Löns-Buch« unter dem Titel »Die blaue Blume« mitgeteilte Gegenstück »Die mich liebt«. Da umfängt uns die ganze Naturseligkeit des Träumers in dem Gedicht »Pleistermühle«, das in der Urfassung wie Heinescher Spott klingt, hier (Seite 37) aber schon reine Stimmung atmet und dann im »Goldenen Buch« (Seite 43) jene wundervolle Trunkenheit der Gefühle ausströmt, die den reinen lyrischen Dichtungen von Hermann Löns eigen ist. Da schlägt in »Einquartierung« schon die Weise an unser Ohr, die das Volksliederbuch von Löns erfüllt.

Freilich sind Dichtungen dieser reinen, ruhigen Art unter den Schöpfungen der beiden erregten Schaffensjahre 1889/90 spärlich. Selbst in einer Reihe Monatsgedichte kämpft Löns mit sich und der Umwelt. Er pfeift mit den Spatzen auf all die bürgerliche Biederkeit, auf all das Säuseln und Wimmern des Lebens, und in dem Gedicht »Juni« ruft er am Schluß »frechtrotzig«, wie er sich einmal in einem Gedicht »Ich« selbst bezeichnet, und selbstbewußt: »Ich bleib ja doch der Hermann Löns«. Dieser Kampf aber lodert in seinen sozialen und revolutionären Dichtungen jener Jahre grell auf. »Im Kohlenrevier« (Seite 54) mit der üblichen Mitleidsgebärde jener Zeit zu den Entrechteten und Mühseligen, »Wetterleuchten« (Seite 58) mit dem wilden Aufschrei: »den Millionen die Millionen!« sind Proben dieser dichterischen Erregung, die durch mancherlei Erscheinungen der Zeit erkannt wird: durch die Beschäftigung mit Freiligrath und Herwegh, sowie mit dem in der »Gesellschaft« um Michael Georg Konrad gescharten Kreise – die »Gesellschaft« veröffentlichte auch von Löns das flammende Weltvernichtungslied »An die Ungezeugten« – durch das Erwachen des konsequenten Naturalismus und durch das Vorgehen der aus Münster stammenden Gebrüder Hart, vor allem aber auch durch die wetterleuchtend in das chaotische Dunkel der Zeit hineintretende Erscheinung Tolstois. Ihm schleuderte Löns nach einer Mitteilung von Max Apffelstaedt in zwei Nächten wildester körperlicher und geistiger Entfesselung an die sechzig Gedichte entgegen, die insgesamt die gerade in jenem Jahre 1890 zum erstenmal und zunächst in deutscher Sprache veröffentlichten Kreutzer-Sonaten angriffen.

Eine Feuerseele wie Hermann Löns mußte von den Stürmen jener aufgewühlten geistigen Zeit bis ins Innerste ergriffen und entzündet werden. Vielleicht hätten die Gluten, die uns aus all den Dichtungen jener Jahre wie aus verborgenen Erdspalten allüberall entgegenschlagen, ihn ganz verzehrt, wenn nicht ein hartes Brot- und Berufsleben sie gedämpft, ja für einige Jahre ganz erstickt hätte. Aber dann steigen sie um so reiner und heller wieder ans Licht in seinen drei Gedichtbüchern und werden hier abgeklärte Erfüllung dessen, was sie in den Sturm- und Drangjahren ungebärdig und dunkel verheißen haben.

Münster, 1919.
Friedrich Castelle.

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