Herrmann Löns
Der zweckmäßige Meyer und andere Geschichten
Herrmann Löns

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Es geht wohl noch

Wir saßen in der Elektrischen,
Die Bahn war proppenvoll,
Wir hofften alle, daß niemand
Zu uns einsteigen soll.
Bei der nächsten Haltestelle,
Flog auf die Wagentür,
Herein stieg eine Dame,
Die war so dick wie vier.
Mit ihren zwei Zentnern plumpste
Sie mitten auf die Bank,
Daß von den Zusammengequetschten
Gleich einer in Ohnmacht sank.
Und einer Dame riß sie
In die Bluse ein großes Loch
Und sagte dabei verbindlich:
»Ich glaube, es geht wohl noch!«

»Driste mott'n sin,« sagte der Fuchs, da ekelte er den Dachs zum Bau hinaus. So ähnlich lautet ein altes Bauernsprichwort. Ich aber glaube, Reineke hat, als er in das Dachsgebäude einschliefte und es sich da mehr wie bequem machte, zu Grimbart gesagt: »Es geht wohl noch.« Mit dieser schönen Redensart kommt man immer im Leben fort, und mit ihr kann man jede Flegelei, jede Rücksichtslosigkeit, jede Unverschämtheit bemänteln. Es ist genau angegeben, wieviel Sitz- und Stehplätze in den Wagen der Straßenbahn sind, aber wenn schon längst der letzte Platz doppelt besetzt ist, so findet sich noch immer ein Mensch, der mit den Worten: »Es geht wohl noch« auf unsern Krähenaugen Platz nimmt oder sich, vertrauend auf die unumstößlichen physikalischen Lehren von der Schwerkraft und der Wirkung des Keils, zwischen zwei Personen niederläßt, die schon so eng nebeneinandersitzen, wie ein Liebespaar an einem schönen Maiabend auf einer Eilenriedebank, so eng, daß sie, da sie kein Liebespaar sind, absolut keine Seligkeit darüber empfinden.

Machen läßt sich dagegen auf anständigem Wege nichts. Alle Leute, die sich mit »Es geht wohl noch« irgendwo einführen, gehören zu der Sorte, die Quadratschnauzen haben und grobe Stimmen, und wenn man sich beim Schaffner beschwert, so gibt es lange, unangenehme Auseinandersetzungen, und hat man sogar das Pech, daß dann eine Person aussteigt, wodurch der Eindringling das Recht behält, sitzen zu bleiben, so hat man den Genuß, Redensarten zu hören, die einem durchaus nicht passen. Aber es gibt doch Mittel, sich zu wehren. Damen, die sich so benehmen, haben meist große Füße und sehr schlecht sitzende Schuhe. Fixiert man nun andauernd ihre Trittlinge, dann kann man sicher sein, daß sie an der nächsten Haltestelle den Wagen verlassen. Bei Herren ist es schwieriger. Aber hat man neben sich einen Bekannten sitzen und erzählt ihm leise etwas, spöttisch lächelnd zur Seite blickend, so kann man sich meist darauf verlassen, daß der Eindringling sich bald höchst ungemütlich fühlt. Einmal habe ich es gesehen, daß ein Gegenübersitzender kaltlächelnd seine Taschenkamera auf das rücksichtslose Gegenüber richtete und es meuchlings photographierte. Das half sehr, aber man kann doch nicht immer die Kamera mit sich herumschleppen. Als mir das Unglück neulich passierte, derartig gegen eine Seitenwand gedrückt zu werden, unter dem Ausruf »Es geht wohl noch«, holte ich mein Notizbuch heraus und schrieb: »Es geht wohl noch. Dicker Herr in der Straßenbahn. Karfunkelnase. Starker Schnupfer. Elbkähne. Ausgefranste Hose. Stoff für Fritz von der Leine.« Und siehe da, es half, denn schon verdünnisierte er sich perronwärts, scheu nach mir zurückblickend. Zwei Mittel gibt's die immer helfen. Ist man stark genug, so streckt man die Knie weit vor, so daß der Ankömmling stolpern muß, dann setzt er sich ganz bestimmt nicht auf die Seite, denn ein Flegel hackt dem anderen die Augen nicht aus, oder man schneidet Fratzen, als wäre man nicht ganz bei sich. Meist hat man dann das Vergnügen, daß alles höflich Platz macht.

»Es geht wohl noch.« Überall kann man es hören, selbst in der Kirche. Sechs Plätze sind in der Bank, fünf sind besetzt, da kommen noch drei Damen und sagen: »Es geht wohl noch.« Gewiß geht es wohl noch, wenn zwei fortgehen, aber da dazu keine Veranlassung ist, so bleibt Frau Döllmer andächtig sitzen und rückt und rührt sich nicht, bis die zwei Überschüssigen mit wutentbrannten Angesichtern abschwimmen,

»Es geht wohl noch.« Gemütlich sitzt man Sonntags in einem überfüllten Restaurant an einem Tisch mit einem guten Freunde. Da kommt ein guter Mann, sagt guten Abend und fragt: »Es geht wohl noch?« Na, passen tut das einem nun eigentlich gar nicht, aber was soll man machen? Der Wirt will verdienen, und so nickt man. Mit dem vertraulichen Gespräch ist es aus, denn der Jüngling hört aufmerksam zu. Mit einem Male ruft er, mit seiner Flosse winkend: »He, Schorse, Haanrich, hier ist noch Platz,« und bumms sitzen neben uns noch zwei Jünglinge. Sie rücken mit einem freundlichen »Es geht wohl noch?« ihre Stühle immer weiter, unterhalten sich so laut, daß man keinen Ton mehr sagen kann, schlagen auf dem Tisch, daß sie Gläser hopsen, legen ihre Ellbogen auf dem Tisch, erzählen sich alberne Witze und benehmen sich so, daß der anständige Gast sich schließlich vorkommt, als sei er hier der Eindringling, und sich von dannen begibt.

Daraus folgt, daß man stets nein sagen soll, wenn jemand zu uns sagt: »Es geht wohl noch«, denn dann setzt man sich einer augenblicklichen Unannehmlichkeit durch freche Blicke oder unverschämte Redensarten aus, anstatt einer dauernden durch unangenehme Nachbarschaft. Denn nie in meinen Leben ist es mir begegnet, daß ein Mensch, der da sagte: »Es geht wohl noch«, ein netter Mensch war, oder daß er sich für meine Rücksichtnahme gefällig erwies. Denn »Es geht wohl noch« sagt man nur, wenn es nicht mehr geht, und wer dann noch sagt, »Es geht wohl noch«, der zeigt schon, daß er zu den Leuten gehört, die dem Dichterworte nachleben: »Nur die Lumpe sind bescheiden.« Man sei aber auch nicht höflich und sagte: »Bedaure sehr, aber es geht nicht,« sondern markierte sofort einen Wutausbruch und schrie: »Fällt mir gar nicht ein! Gar keine Möglichkeit! Wäre ja noch schöner! Glauben Sie, daß ich noch für meine zehn Pfennig zu rohem Mett gequetscht werden will!« Und zu seinem Nachbar sagte man. »Was die Leute sich einbilden? Als ob sie keine Augen im Kopf haben! Es ist lächerlich!« Das hilft immer, damit kommt man durch die Welt und bleibt auf seinem Platz.

Früher war es anders und früher war meine Lehre Liebe und Höflichkeit. Aber ich bin damit schlecht gefahren in der Straßenbahn und schlecht abgekommen in Konzert, Restauration und Theater, und habe eingesehen, daß unverschämte Menschen und rücksichtslose Leute stets besser vorwärts kommen, wie höfliche und zuvorkommende. Ich habe es einmal mit angesehen, wie in einem Wartesaal vier angetrunkene Menschen alle Anwesenden terrorisierten, bis ein Reisender kam, sich den Zauber fünf Minuten ansah und dann den Wirt anschrie: »Sagen Sie mal, wo ist hier der Wartesaal für die anständigen Leute?« Das half brillant.

Und noch eine Lehre geht daraus hervor. Niemals soll man, ist man stark genug dazu, Rüpeleien und Unverschämtheiten ungerügt durchgehen lassen. Erstens hat man das wärmende Gefühl der guten Tat und zweitens kommt man immer weiter damit, wie mit Rücksichtnahme. Irgend wer erzählte mir einmal, in irgendeiner Ecke Amerikas, ich glaube in Argentinien, herrschte ein riesig liebenswürdiger Ton im Verkehr, denn jeder wisse, daß der andere auch einen Revolver in der Tasche habe. Nun, das ist hier ja überflüssig und auch nicht wünschenswert, aber wenn jeder unverschämte Mensch weiß, daß kein Mensch gesonnen ist, sich Übergriffe gefallen zu lassen – Sie sollen mal sehen, wie schnell sich die Sitten ändern werden!

Doch besser als lange Reden helfen Beispiele aus dem Leben. Passen Sie auf! Es war einmal ein junger Mann, der berüchtigte Radflegel von Hannover-Linden und Umgebung, die Vororte mitgerechnet. Dieser Mensch amüsierte sich damit, jeden Sonntagnachmittag, an dem es nicht regnete, einige Tausend Menschen in der Stadt und in der Eilenriede auf den Tod zu erschrecken. Er fuhr wie ungesund im Renntempo über die Fußwege, schrammte Passanten mit Pedalen, machte Pferde und Kindermädchen scheu und brachte alte Herren durch sein plötzliches Klingeln mit der Strippenglocke zu Herzaffektionen und alte Damen zu Weinkrämpfen. Und es begab sich, daß man ihm abends auflauerte, ihn so lange haute, bis ihm schlecht wurde, und ihn samt seiner geliebten Karre in den Schiffgraben tat, wo dieser am tiefsten war. Und ohne daß man das Vermögen des Jünglings durch ein Strafmandat beschnitt, ohne daß man die Polizei in Anspruch nahm, nur durch eine kurze, aber eindringliche Belehrung über die Rechte und Pflichten von Radfahrern und Füßgängern gewann man der menschlichen Gesellschaft ein nützliches und angenehmes Mitglied. Wenn es Sonntag nicht regnet, so können Sie ihn in der Eilenriede nett und artig fahren sehen.

Nun fassen Sie die Sache aber nicht so auf, als sollten Sie gleich jeden in den Schiffgraben werfen – nein, das will ich damit nicht gesagt haben, und obwohl ich die eben erzählte Handlungsweise auch nicht billige, freuen tut sie mich aber doch, schon im Interesse des bekehrten Jünglings. Ich wollte damit nur gesagt haben: »Was man sich nichts zu gefallen zu gelassen braucht, das braucht man sich nicht zu gefallen zu gelassen!«

 


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