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Achtes Kapitel

5. Juli.

Ich nahm das Gabelfrühstück zu Hause ein und las nachher mit dem Schlaf kämpfend am offenen Fenster bis vier Uhr. Dann aber verlockte mich der herrliche Tag zum Ausgehen. Wohin? Ich dachte an Judit und die Hampsteader Heide; ich dachte auch an Carlotta und den Hyde Park. Das Gebrüll der ihr Vesper heischenden Löwen drang durch die stille Luft zu mir herüber, doch widerstand ich der großen Versuchung, allein mit meinen Gedanken in dem naheliegenden Zoologischen Garten spazieren zu gehen. »Nein, ich darf nicht vergessen,« sagte ich mir, »daß ich für Carlottas Erziehung verantwortlich bin, für die Tiere oder für Judit aber in keinerlei Weise.«

Wenn Judit und ich irgendwelche bestimmten Ansprüche aneinander stellten, ginge der ganze Reiz unsres Verhältnisses verloren.

So entschloß ich mich denn, Carlotta zu ihrer Ausbildung mit in den Park zu nehmen. Da würde sie sehen, wie sich wohlerzogene englische Damen im Freien benehmen; der Spaziergang konnte als Anstandsstunde für sie gelten.

Ich verachte die gesellschaftlichen Formen durchaus nicht, im Gegenteil, ich beobachte sie bis zu dem Punkt, wo sie als geoffenbarte Religion behandelt werden wollen. Mein Nachbar und ich einigen uns zum Beispiel über gewisse Gesetze des Benehmens, die uns beide in Stand setzen, ohne gegenseitiges Ärgernis miteinander zu verkehren. Ich willige ein, mein Taschentuch an die Nase zu halten, wenn ich in seiner Gegenwart niese, und er verpflichtet sich, seine schmutzigen Stiefel nicht an meinem Sofa abzuwischen. Um seine Frau nicht zu beleidigen, verspreche ich, meine abscheuliche Sittenlosigkeit vor ihren Augen zu verbergen, und um mir meine Ehelosigkeit nicht noch zu erschweren, verpflichtet er sich, diese seine Frau in meiner Gegenwart weder zu schlagen, noch zu küssen. Ich gehe darauf ein, wenn er mich einlädt, in einem despotisch vorgeschriebenen Anzug zu erscheinen: dadurch gebe ich mir das Gepräge einer gewissen Gesellschaftsklasse, und seine Gäste verkehren ohne weiteres mit mir; er aber gibt mir eine gut gekochte Mahlzeit, die mir mit dem geringsten Grad von Unbequemlichkeit für mich selbst präsentiert wird. Viele rühmen sich ihrer »Erhabenheit über die gesellschaftlichen Formen«, wie sie es zu nennen belieben; in Wirklichkeit aber schaffen sie sich nur einen Deckmantel für ihre Mißachtung der Gefühle und Ansichten andrer. Unter Bohème verbirgt sich nur zu oft Trägheit, Nachlässigkeit und Mittelmäßigkeit.

Ein korrektes gesellschaftliches Benehmen ist nur eine Frage der Erziehung. Deshalb möchte ich Carlottas »Gemüt« – aus Mangel an einer näheren Begriffsbestimmung nenne ich es so – etwas wie gesellschaftliche Bildung beibringen, das wird mir künftighin viel Ärger ersparen.

Carlotta wurde also gerufen.

»Carlotta,« begann ich, »ich will mit dir in den Hyde Park gehen und dir die vornehme englische Gesellschaft zeigen, die dort ihre elegantesten Toiletten und ihr feinstes Benehmen zur Schau trägt. Das mußt du auch tun.«

»Meinen besten Anzug?« rief Carlotta mit strahlendem Gesicht.

»Ja, deinen allerbesten. Beeile dich nur!« ermahnte ich sie lächelnd.

Rasch lief sie aus dem Zimmer, und in unglaublich kurzer Zeit erschien sie, ohne im mindesten zu erröten, mit nacktem Hals und nackten Armen in dem Gesellschaftskleid, das ihr am letzten Samstag so großes Entsetzen eingeflößt hatte.

Ich sprang jäh auf. Sie sah überraschend hübsch aus, ja, auffallend schön! Es fiel mir ordentlich schwer, ihr zu sagen, sie müsse das Kleid wieder ausziehen.

»Ist es nicht recht?« fragte sie, indem sie ein Mäulchen machte.

»Nein, ganz und gar nicht,« antwortete ich. »Die Leute würden sich entsetzen.«

»Aber am Samstag abend ...« fing sie an.

»Ich weiß, Kind,« unterbrach ich sie. »In einer Gesellschaft mußt du abends halbnackt herumlaufen, sonst giltst du kaum für ein anständiges junges Mädchen, aber bei Tag würde man das für gräßlich unanständig halten. Doch das werde ich dir ein andermal näher erklären.«

»Ich werde es nie begreifen!« sagte Carlotta.

An ihren Augenwimpern hingen zwei große Tränen, die beide zu gleicher Zeit über ihre Wangen herabrollten.

»Aber worüber weinst du denn nur?« rief ich entsetzt.

»Du bist nicht mit mir zufrieden,« antwortete sie schluchzend.

Die beiden Tränen fielen wie Regentropfen auf ihre Brust herab, und wie das Bild des heftigsten Kummers stand sie vor mir. Da tat ich etwas recht Törichtes.

Im Schaufenster eines Juweliers hatte ich vorige Woche eine sehr hübsche kleine goldene Brosche gesehen, die ich in der Absicht kaufte, sie bei Gelegenheit Carlotta als Belohnung für besonders gutes Betragen zu schenken. Jetzt nahm ich, um ihr zu beweisen, daß ich keineswegs ärgerlich über sie sei, die Spielerei aus meiner Schreibtischschublade heraus und legte sie ihr in die Hand.

»Ich bin so zufrieden mit dir, Carlotta,« sagte ich, »daß ich dir das gekauft habe.«

Noch ehe ich ausgesprochen hatte, und ehe ich wußte, was sie wollte, schlang sie die Arme um meinen Hals und herzte mich, gerade wie Kinder ihre Eltern liebkosen.

Noch niemals in meinem ganzen Leben habe ich eine so seltsame Empfindung gehabt, als in dem Augenblick, wo Carlottas kühle junge Arme mein Gesicht berührten, und ich den Veilchenduft einatmete, der von ihr ausströmte. Aber rasch entzog ich mich ihrer unziemlichen Dankesbezeigung.

»Das darfst du nicht tun,« sagte ich strenge. »In England dürfen junge Mädchen nur ihre Großväter umarmen.«

Carlotta riß die Augen weit auf, runzelte die Stirne wie ein Foxterrier und sah mich starr an.

»Aber du bist doch so gut gegen mich, Siir Markuus,« sagte sie schließlich.

»Hoffentlich sind noch viele Leute gut gegen dich, Carlotta,« entgegnete ich. »Wenn du aber fortfährst, deiner Anerkennung auf diese Weise Ausdruck zu geben, wirst du falsch beurteilt werden.«

Ich hatte meine Gemütsbewegung schon überwunden und lachte erleichtert auf. Aber Carlotta sah mich noch immer von der Seite an, und um ihre Lippen schwebte ein ebenso unergründliches Lächeln, wie um die der Monna Lisa.

»Wie wäre das, wenn sie mich falsch beurteilten?«

»Sie würden dich für ein gewissenloses Geschöpf halten,« entgegnete ich mit ernstem Blick.

»Hu!« rief Carlotta lachend und rannte plötzlich aus dem Zimmer.

Einen Augenblick später öffnete sich die Tür wieder; Carlotta trat ein, kam auf mich zu und zupfte mich am Ärmel.

»Komm und zeige mir, was ich anziehen soll, damit ich dir gefalle.«

Ich klingelte Antoinette und gab ihr die nötigen Anweisungen.

Mein Gott, das nächste Mal wird sie mich als Kammerjungfer benützen wollen! Carlotta gegenüber muß ich meine Würde wahren.

Der herrliche Nachmittag hatte eine Menge Menschen in den Park gelockt, und die freien Plätze waren gedrängt voll. Als wir an einem Kreuzweg ein Paar leere Stühle fanden, setzten wir uns und betrachteten nun die auf- und abwogende elegante Welt. Carlotta war seelenvergnügt und stellte unermüdlich Fragen. Woran ich sehen könne, ob eine Dame verheiratet oder ledig sei? Ob alle Damen Korsette trügen? Warum alle so glücklich aussähen? Ob ich den alten Herrn dort drüben für den Gatten des neben ihm stehenden jungen Mädchens hielte? Wovon wohl alle diese Leute sprächen? Ob ich nicht auch einmal mit ihr in einem so schönen Wagen spazieren fahren würde? Warum ich keinen Wagen hätte? Dann versank sie plötzlich in tiefes Sinnen, aber schon nach wenigen Augenblicken rief sie wie inspiriert: »Siir Markuus, ist dies der Heiratsmarkt?«

»Der – was?« stieß ich heraus.

»Der Heiratsmarkt? Gestern habe ich in einem Buch davon gelesen. Ich mußte Miß Griggs daraus vorlesen – von Tack– Thack–«

»Thackeray.«

»Ja–a. Dort werden junge Mädchen an die Männer verkauft, die Frauen wollen –« Mit einer leisen, erschreckten Bewegung rückte sie ein wenig von mir weg. »Du bist doch nicht mit mir hergekommen, um mich zu verkaufen?«

»Was meinst du wohl, daß du wert seiest?« fragte ich sarkastisch.

Sie streckte ihre beiden offenen Hände aus und ließ dabei ihren Sonnenschirm auf das Hündchen ihrer Nachbarin fallen, daß der Köter zu kläffen begann.

»O viel, viel!« sagte sie in ihrer freimütigen Art. »Ich bin ja so schön!«

Ich hob den Sonnenschirm auf, verbeugte mich entschuldigend vor der Herrin des getroffenen Tieres und wandte mich wieder an Carlotta.

»Hör einmal, liebes Kind, du siehst allerdings ganz nett aus, aber eine Schönheit bist du keineswegs. Wenn ich dich hier verkaufen wollte, bekäme ich vielleicht eine halbe Krone für dich.«

»Zwei Schilling und six pence?« fragte die alles wörtlich nehmende Carlotta.

»Genau so viel. Aber in Wirklichkeit würde dich gar niemand kaufen. Dies hier ist kein Heiratsmarkt. Es gibt überhaupt keinen Heiratsmarkt. Englische Eltern verkaufen ihre Töchter nicht um Geld, das wäre abscheulich und unmöglich.«

»Dann war alles erlogen, was ich in dem Buche gelesen habe?«

»Erlogen von A bis Z,« sagte ich.

Der geniale Schatten des großen Satirikers wird mir hoffentlich diese Blasphemie verziehen haben!

»Warum druckt man Lügen in die Bücher?«

»Um die Wahrheit nachdrücklicher zu machen, damit sie die Oberhand gewinne.«

Das war eine zu harte Nuß für Carlotta. Sie schwieg einen Augenblick, um dann ganz betrübt zu dem zurückzukehren, was sie verstand.

»Ich hielt mich für schön,« sagte sie.

»Wer hat dir das weisgemacht?«

»Pasquale.«

»Pasquale hat keine Ahnung!« erwiderte ich. »Manche Männer halten alle Frauen, die nicht siebzig Jahre alt, zahnlos und triefäugig sind, für schön. Pasquale sagt das zu jedem weiblichen Wesen, mit dem er zusammenkommt. Er ist ein Lothario, ein Don Juan, ein Caligula, ein Faublas und ein Casanova.«

»Und er erzählt auch Lügen?«

»O ja, zahllose. Er hat mit Beelzebub, dem Vater der Lügen, einen Kontrakt für hundert Gros per Tag abgeschlossen.«

»Pasquale ist sehr nett, und er bringt mich zum Lachen, und ich habe ihn gern,« erklärte Carlotta.

»Das tut mir sehr leid,« erwiderte ich.

Das Hündchen, das an Carlottas Röcken herumgeschnuppert hatte, sprang ihr jetzt plötzlich auf den Schoß; doch mit einer raschen Handbewegung stieß sie das arme Geschöpfchen weit weg, als wenn es ein widerliches Insekt wäre.

»Carlotta!« rief ich ärgerlich, indem ich von meinem Stuhl aufsprang.

Die Damen, denen der Hund gehörte, eilten zu ihrem winselnden Liebling hin, und ihre erstaunten Blicke richteten sich durchbohrend auf Carlotta. Als sie dann den Hund aufhoben, hing eine Pfote jämmerlich herab. Carlotta stand auf, aber eigentlich nur, weil sie sah, daß ich ärgerlich war. Ich zog den Hut und sagte: »Es tut mir unendlich leid. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr ich den Vorfall bedaure. Hoffentlich ist das Hündchen nicht ernstlich verletzt? Mein Mündel, für die ich vielmals um Verzeihung bitte, ist Muhammedanerin, und für sie sind alle Hunde unrein. Bitte, schreiben Sie das Geschehene religiösen Motiven zu.«

Die Jüngere der Damen, die die Pfote untersucht hatte, sah lächelnd auf.

»Ihrem Mündel ist alles verziehen. Punch sollte nicht auf den Schoß fremder Damen springen, ob sie Muhammedanerinnen sind oder nicht. O, er ist mehr erschrocken als verletzt. Und ich,« fügte sie mit einem Augenzwinkern hinzu, »bin mehr verletzt als erschrocken, weil Sir Markus Ordeyne mich nicht mehr erkennt.«

Carlotta hätte also beinahe den Hund einer meiner Bekannten umgebracht, die ich leider nicht wiedererkannt hatte.

»Jetzt erkenne ich Sie aber,« sagte ich heuchlerisch. (Ich habe mich heute offenbar durch dick und dünn hindurchgelogen.) »Aber in der Bestürzung über den Unfall –«

»Vorigen Winter waren Sie einmal mein Tischnachbar. Es war in Mrs. Ordeynes Hause, beim Gabelfrühstück,« unterbrach mich die Dame. »Sie unterhielten mich mit transzendentaler Mathematik.«

Jetzt erinnerte ich mich wirklich. »Und dieses Verbrechen hat mir seither schwer auf dem Gewissen gelegen.«

»Davon glaube ich kein Wort,« erwiderte sie lachend und entließ mich mit einer Verbeugung, worauf ich den Hut zog und wieder zu Carlotta trat.

Die Dame war Miß Gascoigne, eine kokette Busenfreundin meiner Tante Jessica. Und dieser unzuverlässigen jungen Dame hatte ich offen eingestanden, daß ich der Vormund einer schönen Muhammedanerin sei, deren religiöse Begriffe sie dazu brächten, Hunde umzubringen. Nun, von Tante Jessica werde ich etwas zu hören bekommen!

Schweigend ging ich mit Carlotta fort.

»Du bist böse auf mich,« sagte sie schluchzend.

»Jawohl, das bin ich. Du hättest das arme kleine Tier töten können. Es war sehr unartig und grausam von dir.«

Mitten auf der Promenade brach Carlotta in helles Weinen aus. Jetzt tropften die Tränen nicht so romantisch aus ihren Augen wie vor einer Stunde – nein, jetzt war es eine wahre Tränenflut, ein wirklich herzbrechendes Kinderweinen mit fleißiger Benutzung des Taschentuchs.

Die in der Nähe sitzenden Damen betrachteten das weinende Mädchen durch ihre Lorgnetten. Vorübergehende drehten sich um und starrten ihr nach, ja, die ganze feingekleidete Menge schien nur ein einziger belustigter Blick zu sein. Im nächsten Augenblick fühlte ich, daß mir tadelnde Blicke zugeworfen wurden, die mich, so klar als nur Augen sprechen können, einen schlechten Kerl nannten, weil ich das arme junge Geschöpf, das auf Gnade und Ungnade in meiner Gewalt war, so öffentlich zum Weinen gebracht hatte. Für einen gleichmütigen Philosophen war das wahrlich eine reizende Lage. Stumpfsinnig schritten wir weiter; ich sah erregt vor mich hin, Carlotta weinte. Durch die Tücke des Schicksals war nirgend ein leerer Stuhl zu sehen, dagegen ungewöhnlich viele Leute. Ich hatte die Genugtuung, einen jungen Fant zu einem Mädchen sagen zu hören: »Der? Das ist Ordeyne – der die Baronie geerbt hat – verrückt wie ein Dingohund.«

Ich machte mich ja auf nette Art bekannt!

»Ums Himmels willen, hör doch auf zu weinen!« sagte ich. Plötzlich tauchte die Erinnerung an meine weit zurückliegende Kindheit vor meiner Seele auf, und ich fügte grimmig hinzu: »Wenn du nicht aufhörst, übergebe ich dich dem nächsten besten Schutzmann.«

Die Wirkung war wunderbar. Carlotta sah mich erschrocken an, schnappte nach Luft, ließ ihren Schleier wieder herunter, den sie zum Trocknen ihrer Tränen hinaufgeschlagen hatte, und verstopfte sogleich die Quelle ihrer Tränen.

»Einem Schutzmann?«

»Jawohl,« sagte ich, »einem großen, breiten, garstigen Schutzmann, der die Leute, die sich nicht gut aufführen, ins Gefängnis sperrt, ihnen ihre Kleider wegnimmt, das Haar abschneidet und ihnen nur Wasser und Brot vorsetzt.«

»Ich will nicht mehr weinen,« sagte sie, und unterdrückte ein Schluchzen. »Ist es böse, wenn man weint?«

»Jede von diesen Damen hier würde lieber an Magenweh sterben oder in ihrem zu fest geschnürten Korsett ersticken,« erwiderte ich ernst. »Komm, wir wollen uns dort drüben einen Sitz suchen.«

Wir stiegen nun über die niedrige eiserne Einfriedigung, drückten uns durch die zwei vorderen Menschenreihen hindurch und fanden ganz hinten, wo es leerer war, einige freie Stühle.

»Ist Siir Markuus noch immer böse auf mich?« fragte Carlotta, und der natürliche Klageton in ihrer Stimme hätte sogar die Büste Neros erweicht. Ich hielt ihr eine Vorlesung über Tierquälerei. Der Gedanke, daß man verpflichtet sei, auch gegen die niedere Kreatur freundlich zu sein, war ihr vollständig neu.

»Wenn nun der Hund alle seine Beine und Rippen gebrochen hätte – wäre dir das nicht sehr zu Herzen gegangen?« fragte ich.

Sie verneinte es freimütig. Es sei ein häßlicher kleiner Hund gewesen, und wenn sie ihm recht weh getan hätte, um so besser. Was es denn schade, wenn ein Hund verletzt würde? Es tue ihr zwar jetzt leid, daß sie ihn weggeschleudert habe, weil er meinen Freunden gehöre und ich deswegen böse auf sie sei.

Natürlich war ich über diese gedankenlose Grausamkeit ihres Betragens empört, aber an meinem Zorn war doch auch die Angst vor dem öffentlichen Skandal schuld, sowie die Entdeckung, daß die Eigentümerin des malträtierten Geschöpfes mich kannte. Das ist ja gerade das traurige Schicksal der Erzieher der Jugend, daß sie sich heuchlerischerweise immer nur die erhabensten Beweggründe zuschreiben dürfen. Ich sprach mit Carlotta wie der gute Vater in »Robinson Hurtig« und förderte dabei so edle Gefühle zu Tage, daß ich schon nach einer Viertelstunde in den geborgten Federn von Tugend und Stolz glänzte. Wahrlich, ich hätte eine Schnecke an meine Brust drücken und eine Klapperschlange anreden mögen, wie Onkel Tobias einst die Fliege. Ich möchte wissen, ob es den Geistlichen nicht durch ein derartiges Verfahren gelingt, gut zu bleiben!

Die beruhigende Wärme bewußten Verdienstes versetzte mich wieder in gute Laune, und als sich Carlottas Hand in die meinige stahl und das Kind mich fragte, ob ich ihm verziehen hätte, erklärte ich großmütig, es sei alles vergeben und vergessen.

»Nur mußt du dir die Tränen abgewöhnen,« fügte ich noch hinzu. »Ein Weiser, namens Burton, sagt in seiner ›Anatomie der Schwermut‹ – übrigens ein schönes Buch, das ich dir, wenn du sechzig Jahre alt bist, zum Lesen geben will –: Eine weinende Frau muß so hoch eingeschätzt werden wie eine barfußgehende Gans.«

»Das war ein häßlicher alter Mann,« sagte Carlotta. »Die Frauen weinen, weil sie sich unglücklich fühlen. Die Männer sind nie unglücklich, deshalb weinen sie auch nie. Meine Mama hat immer geweint in Alexandretta – aber Hamdi!« – sie brach in ein hinreißendes trillerndes Lachen aus – »du könntest eher eine Gans in Schuhen und Strümpfen herumgehen sehen, wie den gestiefelten Kater im Märchen, als Hamdi weinen! Hu!«

Eine halbe Stunde später beim Heimfahren brach Carlotta ein ziemlich langes Schweigen, das sie augenscheinlich zum Nachdenken angewendet hatte:

»Siir Markuus!«

»Ja?«

Wenn sie sich besonders einschmeicheln will, schmiegt sie sich wie ein zärtliches Kind an einen an.

»Als ich am Samstag mit dir essen durfte, das war so nett!«

»Wirklich?«

»O ja–a. Wann läßt du mich wieder mit dir essen, um mir zu zeigen, daß du mir verziehen hast?«

In einem Viktoriawagen läßt sich die oben erwähnte Art des Einschmeichelns besonders leicht ausführen.

»Heute abend darfst du mit mir essen,« sagte ich. Da zwitscherte Carlotta vor lauter Vergnügen.

Ich bemerke, daß sie nach und nach abendländisch wird.

 

8. Juli.

Auf eine sehr energische Aufforderung von Judit hin nahm ich Carlotta heute nachmittag mit nach Tottenham Mansions. Zuerst reichte ich der Dame des Hauses die Hand, dann drehte ich mich um und sagte: »Hier, liebe Judit, bringe ich Ihnen Carlotta.«

»Ich freue mich sehr, Sie zu sehen,« sagte Judit.

»Ich auch,« erwiderte Carlotta, die in der Höflichkeit nicht zurückstehen wollte.

Ganz korrekt, steif und bolzgerade saß die Kleine auf der Kante ihres Stuhls und gab auf Judits Fragen lauter einsilbige Antworten. Wenn sie in einem französischen Kloster erzogen worden wäre, hätte ihr Betragen nicht tadelloser sein können. Aber kurz vorher, ehe wir bei Judit eintrafen, hatte sie sich vor Lachen ausschütten wollen, weil ich ihr befohlen hatte, einen ganzen Klumpen gräßlicher Bonbons auszuspucken, den sie nicht kauen konnte und den ich ihr aus ihre Bitte mit meinen Fingern aus dem Mund nehmen sollte. Jetzt aber war Sainte Nitouche im Vergleich zu Carlotta eine Mänade. Judits fruchtlose Versuche, hinter diese Mauer von Zurückhaltung zu dringen, machten mir Spaß. Carlotta sagte zu allem »O ja–a« oder »o nei–n«. Eine bedeutende Unterhaltung wurde daraus allerdings nicht. Da aber Judits Interesse sich hauptsächlich auf Carlotta beschränkte, so hielt ich mich zurück. Endlich, nach einer Pause in dem abgehackten Gespräch, sagte Carlotta sehr höflich: »Mrs. Mainwaring hat ein schönes Haus.«

»Es ist nur eine kleine Wohnung. Möchten Sie sie sehen?« fragte Judit lebhaft und warf mir einen Blick zu, der deutlich sagte: »Sei ganz überzeugt, wenn ich sie erst für mich allein habe, werde ich sie schon ergründen.«

»Ich möchte es sehr gern,« sagte Carlotta und stand sogleich auf.

Ich öffnete den beiden die Tür und zündete mir dann eine Zigarette an. Als die Damen nach etwa zehn Minuten wieder erschienen, lächelte Carlotta höchst befriedigt, Judits Wangen aber waren stark gerötet.

Bei ihrem Anblick stieg ein sonderbares, mir bis jetzt ganz unbekanntes Gefühl des Mitleids in meinem Herzen auf, und ich kann diesen Eindruck nicht wieder loswerden. Ich sehe die beiden – Judit und Carlotta – immerfort nebeneinander stehen – ein erbarmungswürdiger Gegensatz. Vom Fenster her schien das volle Licht auf die beiden Gestalten, und der dunkle Türvorhang bildete einen wirkungsvollen Hintergrund. Die eine prunkte in dem strahlenden Übermut der Jugend, in Gesundheit, Frische, Schönheit, eine eben zu voller Pracht entfaltete Blüte! Der andern aber war der Stempel der Sorge, der Erfahrung, die so viel Kummer mit sich bringt, aufgedrückt, und in ihren Augen wohnten die Gespenster entschwundener Jahre! Ja, Judit selbst sah aus wie ein Gespenst; sie trug ein weißes Pikeekleid, das an und für sich schon die Farbe von ihrem bleichen Gesicht, von ihren blassen Lippen und von der hellen lichtblonden Haarfülle gleichsam aufsaugte – in dieser tiefen Blässe, die durch die roten Flecken auf ihren Wangen und durch ihre dunkelblauen Augen noch mehr hervorgehoben wurde, sah sie wirklich wie ein Geist aus.

Ich sah deutlich, sie hatte sich über irgend etwas geärgert.

»Ehe wir gehen,« sagte ich, »möchte ich noch etwas mit Ihnen besprechen. Carlotta wird wohl nichts dagegen haben.«

So traten wir denn ins Eßzimmer und ich ergriff Judits Hand, die trotz der Julihitze eiskalt war.

»Nun, meine Liebe,« fragte ich, »wie gefällt Ihnen meine junge Wilde aus Kleinasien?«

Judit lachte – es war kein natürliches Lachen.

»Ist das alles, was Sie mir sagen wollten?«

Sie entzog mir ihre Hand und ordnete vor dem Spiegel über dem Kamin ihr Haar.

»Ich halte sie für ein sehr unbedeutendes junges Mädchen. Ja, ich bin enttäuscht. Da hatte ich nun etwas Originelles erwartet und mich darauf gefreut. Statt dessen – wirklich, lieber Markus, sie ist bête à faire pleurer – zum Weinen dumm!«

»Weinen kann sie allerdings.«

»O wirklich!« sagte Judit, wie wenn ihr bei diesem Ausspruch ein Licht über Carlottas Charakter aufgegangen wäre. »Und wenn sie weint, sind Sie selbstverständlich nach Männerart wie Butter an der Sonne und lassen ihr den Willen?«

Judit lachte von neuem.

»O, Judit. Sie haben keine Ahnung von der guten Disziplin, die in Lingfield-Terrace herrscht!«

Mit jenem verblüffenden Umschwung ihrer Stimmung, der ihr eigen ist, wandte sich Judit jetzt plötzlich zu mir und hielt mich an den Rockaufschlägen fest.

»Lieber Markus, die ganze Woche bin ich schrecklich einsam gewesen. Wann besuchen Sie mich wieder?«

»Wenn es Ihnen paßt, können wir den ganzen Sonntag miteinander auf dem Lande zubringen,« sagte ich.

Als ich mit Carlotta die Treppe hinabging, fiel mir ein, daß mir Judit die Ursache ihrer glühenden Wangen nicht mitgeteilt hatte.

»Ich habe sie gern,« sagte Carlotta. »Sie ist eine nette alte Dame.«

»Alte Dame! Aber um alles, was sagst du da? Sie ist doch eine junge Frau!« Ich war wirklich erschrocken.

»Puh!« sagte Carlotta. »Sie ist vierzig Jahre alt.«

»Durchaus nicht!« rief ich. »Sie ist viel jünger als ich.«

»Sie wollte es mir nicht sagen.«

»Hast du sie denn gefragt, wie alt sie sei?«

»O ja–a,« antwortete Carlotta. »Ich bin sehr höflich gewesen. Zuerst habe ich sie gefragt, ob sie verheiratet sei. Sie sagte ja. Dann habe ich gefragt, wo ihr Mann sei. Sie wisse es nicht, hat sie darauf gesagt. Das war komisch. Warum weiß sie es nicht, Siir Markuus?«

»Laß das,« sagte ich, »und erzähle weiter, wie höflich du warst.«

»Ich habe gefragt, wie viele Kinder sie habe. Sie sagte: ›Gar keine.‹ Ich habe gesagt, das sei schade. Und dann habe ich gesagt: ›Ich bin achtzehn Jahre alt, und ich will ganz bald heiraten und Kinder bekommen. Wie alt sind Sie?‹ Aber das wollte sie mir nicht sagen. Ich habe gesagt: ›Sie müssen so alt sein, wie meine Mama wäre, wenn sie noch lebte!‹ Dann habe ich noch allerlei gesagt über ihren Mann, was ich vergessen habe. O, ich bin sehr höflich gewesen.«

In Erwartung eines Lobes lächelte Carlotta mich an. Ich war entsetzt, unterdrückte aber einen Verweis, als ich mir klarmachte, daß Carlotta nach der Etikette eines Harems wirklich sehr höflich gewesen war.

Aber meine arme Judit! Jede dieser harmlosen Fragen muß sie getroffen haben, wie ein Messerstich eine empfindliche Stelle. Ihr jetziger Gatte – ein bildschöner Schurke – hatte sie zur Scheidung von ihrem ersten Manne vermocht, sie dann geheiratet, um sie nach zwei unglücklichen Jahren ganz gebrochen zu verlassen. Kinder? Durch Kinder würde sich ihr Leben freundlich gestaltet haben! Wußte ich doch, wie sehr sie sich darnach gesehnt hatte! Ihr Alter? Nur die ganz glücklich verheiratete Frau schlägt den herannahenden »Vierzig« ein Schnippchen; aber auch sie tut es nur, um sich mit der leidigen Tatsache zu brüsten. Und da sagt der lachende Jugendübermut: »Ich bin achtzehn – wie alt bist du?«

Meine arme Judit! Auf dem Heimweg versuchte ich, Carlotta noch einmal den Unterschied zwischen dem Morgen- und Abendland klarzumachen.

»Siir Markuus,« sagte Carlotta heute abend beim Essen – ich habe nämlich beschlossen, sie jetzt regelmäßig mit mir essen zu lassen, denn ich betrachte es als eine ganz angenehme Abwechslung, wenn ich ihr hübsches Gesicht vor mir habe und ihr unermüdliches Geplauder höre, ihr Geplauder, das ich, wie wir zu Carlottas großem Entzücken ausgemacht haben, durch ein Reiben meiner etwas hervorragenden Nase in den Grenzen des Schicklichen halte, um während Stensons Anwesenheit kein Ärgernis zu erregen. – »Siir Markuus, warum hat Mrs. Mainwaring dein Bild in ihrem Schlafzimmer?«

Wie gut, daß Stenson in diesem Augenblick nicht im Zimmer war! Seine Abwesenheit rettete meinen Gesichtsvorsprung vor dem Geschundenwerden. Meine Erklärung lautete, in England sei es bei den Damen Sitte, die Bilder ihrer Freunde zu sammeln und sie zu Dekorationszwecken zu verwenden.

»Aber das Bild von dir ist so groß,« sagte Carlotta, indem sie ihre Arme übertrieben weit auseinanderstreckte.

»Ach,« antwortete ich, »das kommt nur daher, daß ich so schön bin.«

Carlotta lachte laut auf. Die unsägliche Komik dieses Witzes verleitete sie auch während der übrigen Mahlzeit zu so vielen lustigen Bemerkungen, daß sie ihre ursprüngliche taktlose Frage glücklich darüber vergaß.


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