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Siebentes Kapitel

4. Juli.

Judit ist zurückgekehrt. Ich habe sie gesehen und ihr die ganze Geschichte von Carlotta erzählt.

Den ganzen Tag über war ich mir wie ein ehrbarer Mensch vorgekommen, der wegen Trunkenheit und schlechter Aufführung vor den Richter gebracht werden soll. Jetzt aber habe ich das peinliche Gefühl, mit einer Verwarnung entlassen worden zu sein. Ich bin unschuldig, aber soll es nicht wieder tun.

Gleich bei meinem Eintritt fiel mir Judit um den Hals und sprudelte eine Menge törichter Phrasen hervor, die ich, so gut ich konnte, erwiderte. Der ruhige See unsrer Zuneigung ist noch nicht oft von einem solchen Sturm heimgesucht worden.

»O wie froh bin ich, wie froh, wieder bei Ihnen zu sein! Wie habe ich mich nach Ihnen gesehnt, aber schreiben konnte ich es nicht. Ich habe gar nicht gewußt, daß ich mich nach irgend jemand so sehnen könnte.«

»Auch ich habe Sie ungeheuer vermißt, meine liebe Judit!« sagte ich. Sie sah mich einen Augenblick forschend an, dann sagte sie mit strahlendem Lächeln: »Es gefällt mir sehr an Ihnen, daß Sie nicht wie die Franzosen in einen Schwall des Entzückens ausbrechen. Ach, ich bin der Franzosen so müde! Sie sind mein guter englischer Markus, und so viel wert, als das ganze männliche Paris zusammen!«

»Besten Dank für das Kompliment,« sagte ich. »Aber Sie übertreiben sicher.«

»Mir sind Sie so viel wert, wie die ganze männliche Menschheit,« sagte Judit, indem sie sich neben mich aufs Sofa setzte, meine Hände festhielt und noch mehr törichte Sachen sagte. Als sich ihre Erregung etwas gelegt hatte, begann ich zu lachen.

»Sie haben in Paris die Kunst gelernt, in Ekstase zu geraten.«

»Vielleicht! Soll ich Sie darin unterweisen?«

»Sie müssen Mäßigung lernen, liebe Judit. Offenbar haben Sie in letzter Zeit etwas zu rasch gelebt, denn Sie sehen recht angegriffen aus.«

»Das sind nur die Folgen der Reise,« erwiderte sie.

Ich aber bin überzeugt, daß die ungewohnten Zerstreuungen daran schuld sind. Judit ist nicht kräftig, und so ist das späte Zubettgehen und das viele Herumrennen ihrer Natur nicht zuträglich. Sie ist magerer geworden und hat dunkle Ringe um die Augen. In ihrem Gesicht ist ein Zug, der sich sonst nur in Stunden körperlicher Ermüdung zeigt. Ich war gerade dabei, ihr das gründlich auseinanderzusetzen (es ist gut, wenn die Frauen jemand haben, der sie in solchen Dingen freimütig berät), als sie mich mit einer ungeduldigen Gebärde unterbrach.

»Schon gut, schon gut! Erzählen Sie mir lieber, was Sie inzwischen getrieben haben, Ihre Briefe waren nämlich sehr wenig ausführlich.«

»Leider bin ich eben ein schlechter Briefschreiber,« sagte ich.

»Ich las jeden Ihrer Briefe zehnmal,« war ihre Antwort.

Dankbar küßte ich ihr die Hand. Dann stand ich auf, zündete mir eine Zigarette an und ging im Zimmer umher. Judit strich ihr Kleid glatt und machte sich mit Hilfe der Sofakissen einen bequemen Sitz zurecht.

»Nun, was für Schandtaten haben Sie in den letzten Wochen begangen?«

Drunten auf der Straße spielte jetzt eben ein herumziehender Musikant den »süßen Traum der Liebe«. Hastig schloß ich das Fenster.

»Wie gräßlich!« rief ich. »Man sollte den Menschen aufknüpfen mitsamt seinem Instrument!«

»Was, haben Sie Nerven bekommen? Sollte es etwa das Zeichen eines bösen Gewissens sein?« fragte Judit mit ironischem Lachen. »Ja, ja, Sie suchen mir etwas zu verbergen; ich habe es gleich gemerkt.«

»Wirklich? Wie denn?«

»Durch den sechsten Sinn der Frau.«

Der Kuckuck hole den sechsten Sinn der Frau! Ich glaube, der hat sich wie die Barthaare einer Katze zur Ergänzung des mangelhaften Geruchsinns entwickelt. Er ist ebenso aufdringlich wie diese Barthaare und wie diese der Gegenstand unausstehlicher Selbstgefälligkeit. Judit setzte eine Miene richterlicher Strenge auf, und ich fühlte mich sofort auf die Anklagebank versetzt.

»Es hat sich etwas ereignet!« sagte ich verzweifelt. »Ein weibliches Wesen ist bei mir eingedrungen und hat seine Wohnung in Lingfield-Terrace Nummer 26 aufgeschlagen. Vor ein paar Wochen noch aß es mit den Fingern und glaubte, die Erde sei so flach wie ein Pfannkuchen. Ich fand es in den Anlagen des Embankments, unter der Terrasse des Nationalliberalen Klubs, und jetzt lebt es von Schokoladebonbons und dem ›Lesebuch für höhere Töchter‹. Dieses Wesen ist achtzehn Jahre alt und heißt Carlotta. So!«

Da meine Zigarette ausgegangen war, warf ich sie verdrießlich in den Kamin. Judits angenommener Ernst hatte sich in einen wirklichen verwandelt. Sie saß ganz steif da und sah mich wie versteinert an.

»Was in aller Welt soll das heißen, Markus?«

»Genau das, was ich sage. Mir ist die Verantwortung für ein ebenso unverfälschtes und verblüffendes Naturkind wie Voltaires Huron aufgeladen worden. Es ist eine Engländerin, die aus einem syrischen Harem hierherkam; sie ist schön wie die Huri, an die sie glaubt, und unter die sich zu mischen sie jetzt unglücklicherweise verhindert ist. In kurzer Zeit werde ich ihr den Katechismus beibringen. Das Gesicht habe ich ihr auch schon gewaschen. Bitte, bemitleiden Sie mich, denn ich bin das unschuldige Opfer der seltsamsten Umstände.«

»Warum ich Sie bemitleiden sollte, sehe ich nicht ein,« sagte Judit.

Ich fühlte, daß ich Judit Carlottas Dasein nicht sehr taktvoll mitgeteilt hatte. Wenn zehnerlei Wege vor mir liegen, so wähle ich offenbar immer den falschen. Gerade das, was ich hatte vermeiden wollen, war eingetroffen: ich habe Judit gegen Carlotta eingenommen. Der Fluch Ismaels, der in ihrem ganzen Geschlecht noch fortlebt, ist erweckt: ihre Hand gegen jedes Weib, und jedes Weibes Hand gegen sie.

»Meine liebe Judit,« begann ich, »wenn eine böse Fee bestimmt hätte, daß ein gesundes Rhinozeros meine Hausgenossin werden sollte, dann würden Sie mir Ihre Teilnahme nicht versagt haben. Da mir aber das Schicksal einen Gast, der mir genau ebensoviel Verlegenheit bereitet, in Gestalt eines jungen Mädchens ...«

»Lieber Markus,« unterbrach mich Judit, »das gesunde Rhinozeros würde zwanzigmal mehr von Frauen verstehen als Sie.«

Dies ist meiner Meinung nach eine der dümmsten Bemerkungen, die Judit je gemacht hat.

»Aber, bitte, erzählen Sie mir zusammenhängend von der jungen Person, die Sie Carlotta nennen,« fuhr Judit fort.

Da erzählte ich ihr denn die Geschichte von A bis Z.

»Aber warum in aller Welt verheimlichten Sie mir es denn?«

»Ich mißtraute dem sechsten Sinn der Frau,« sagte ich.

»Der allereinfachste Sinn nicht nur der Frau, sondern auch der jedes andern Menschen hätte Ihnen gesagt, daß Sie sich da in eine sehr törichte Sache eingelassen haben.«

»Was hätten Sie an meiner Stelle getan?«

»Ich hätte sie sogleich aufs türkische Konsulat gebracht.«

»Sicher nicht, wenn Sie die Augen dieses Mädchens gesehen hätten.«

Judit schüttelte den Kopf. »Ein Mann ist doch wie der andre,« bemerkte sie.

»Im Gegenteil,« widersprach ich, »das, was das männliche Geschlecht vom weiblichen unterscheidet, ist gerade die größere Verschiedenheit der Charaktere; das ist einfach ein wissenschaftliches Faktum. Schon Darwin hat es festgestellt, und spätere Gelehrte haben es nachdrücklich bestätigt – unter hundert Frauen ist der gemeinsame Faktor viel größer als unter hundert Männern. Unregelmäßigkeiten sind beim männlichen Geschlecht viel häufiger. Es gibt mehr männliche Scheusale.«

»Das will ich gern glauben,« sagte Judit.

»Dann geben Sie also zu, daß nicht ein Mann wie der andre ist?«

»Gewiß nicht. Ein Mann, er mag sein, wer er will, wird einem hübschen Gesicht und den Augen eines unreifen jungen Dings gegenüber zum völligen Narren.«

»Liebe Judit,« sagte ich, »das Ihrige ausgenommen, mache ich mir auch nicht einen Deut aus irgend einem hübschen Gesicht.«

»Machen Sie sich wirklich etwas aus dem meinigen?« fragte sie nachdenklich.

»Liebste,« sagte ich, mich neben dem Sofa auf ein Knie niederlassend und ihr die Hand küssend, »ich habe mich sechs Wochen lang danach gesehnt!« Und ich zählte die Wochen an ihren Fingern ab.

Da wurde sie aufgekratzt. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, finde ich, daß in den erwachsenen Frauen etwas anbetungswürdig Kindliches steckt. Ob ein Mann sie jemals verstehen kann? Ich habe Kinder (nicht viele, wie ich mit Vergnügen gestehe) vor Entzücken jauchzen hören, wenn man an ihren kleinen Zehen zupfte und dabei sagte: »Der ist ins Wasser gefallen« und so weiter; Judit jauchzte beinahe, als ich die Wochen an ihren Fingern abzählte. Sonderbar!

Eine Stunde verging, bis mir Judit alle ihre Pariser Erlebnisse berichtet hatte. Sie war mit sehr netten und sehr schlimmen Leuten zusammengetroffen. Es war ihr geschmeichelt und der Hof gemacht worden. Ein Künstler mit Schlapphut, sackähnlichen manchesternen Beinkleidern, lose geknüpfter Halsbinde und im allgemeinen schlecht sitzenden Kleidern aus der Zeit der Dreißigerjahre, hatte ihr ganz oben auf dem Eifelturm Liebeserklärungen gemacht.

»Und er sagte,« rief Judit lachend, »› partons ensemble! Comme on dit en Anglais – fliegen Sie mit mir!‹ Darauf erwiderte ich: ›Auf dem Marsfeld würden wir dann jedenfalls vollkommen unkenntlich ankommen.‹ Er verstand den Witz nicht – es war kostbar!«

Ich lachte, sagte aber sogleich: »Übrigens begreife ich nicht, wie es einem Spaß machen kann, mit Leuten Witze zu machen, die sie gar nicht verstehen.«

»Aber das ist ja gerade Ihre ganz besondere Art von Humor,« entgegnete Judit, »und ich habe es nur von Ihnen gelernt.«

Vielleicht hat Judit recht! Es ist mir schon aufgefallen, daß die Leute meine Witze nur sehr langsam kapieren. Ich muß wirklich ein recht lederner Geselle sein! Wenn sie mich nicht lieb hätte, könnte eine so geistreiche Frau wie Judit meine Gesellschaft sicher nicht eine halbe Stunde ertragen.

Allerdings glaube ich nicht, daß ich viel zum Humor der Welt beitrage, aber der Humor der Welt trägt viel zu meiner eigenen Unterhaltung bei, und manches, was mir sehr komisch vorkommt, erregt, wenn ich darauf aufmerksam mache, die Lachmuskeln der andern Leute gar nicht. Es wird wohl so sein, daß der einzelne Mensch, gerade wie jede Zivilisation, seinen eigenen Begriff von Humor hat. Wenn ich ein römischer Epikuräer wäre, anstatt ein englischer, so wäre ich einst beim Anblick eines beleibten christlichen Märtyrers, der von einem hungrigen Löwen in der Arena herumgejagt wurde, fast vor Lachen erstickt. Jetzt würde ich vor Entsetzen darüber in Ohnmacht fallen. Und ich habe auch wirklich stets das Gefühl, selbst grausam zu sein und mich an ähnlichen Begierden zu erfreuen, wenn ich über jenen armen Tiger auf Dorés wohlbekanntem Gemälde, der keinen Christen bekam, lächle. Dagegen reizt mich der Anblick eines vollblütigen gewöhnlichen Briten, der bei einer politischen Versammlung seine Gemeinplätze hinausbrüllt und vor lauter Anstrengung blaurot im Gesicht wird, stets zum Lachen, und doch hören ihm alle meine Nachbarn mit dem größten Ernst zu. Wiederum behauptet ein Feuilletonist, er werde vor lauter Vergnügen über Jane Austins Humor von wahren Lachkrämpfen befallen, während diese Schriftstellerin für mich die langweiligste aller Damen ist, die je das Triviale im Leben getreu wiedergegeben hat. Vor einer Reihe von Jahren ging ich einmal in Gehrock und Zylinder über die Putneybrücke; da gab ein vorübergehender Proletarier seinem Genossen einen Rippenstoß, und einen damals landläufigen Gassenhauer zitierend, sang er: »Er hat sie an, er hat sie an!« worauf beide in ein schallendes blödsinniges Gelächter ausbrachen. Wenn ich mich nun umgedreht und – in noch so witziger Weise – Carlyles ironisches Bild von einer nackten Hofgesellschaft ausgeschlachtet und zu ihnen gesagt hätte: »Es wäre noch komischer, wenn er sie nicht anhätte,« so wäre ich von ihnen in der ganz irrigen Meinung, ich wolle sie zum besten haben, ordentlich durchgewalkt worden. Und das bringt mich auf den Punkt zurück, von dem ich ausgegangen bin, nämlich zu meiner an Judit gerichteten Bemerkung über die Nutzlosigkeit, Witze vor Ohren zu machen, die sie nicht verstehen können.

Ich ging also auf ihre Entgegnung nicht ein.

»Und was war das Ende des Romans?« fragte ich.

»Er entlehnte zwanzig Franken von mir, womit er das Frühstück bezahlte, und dann zwang ihn sein zartes Gemüt de l'année trente, mein Dasein für immer aus seinem Gedächtnis zu streichen.«

»Hat er das Geld wirklich nicht zurückgegeben?« fragte ich.

»Als humoristischer Philosoph sind Sie köstlich!« rief Judit.

Judit liebt das Wort köstlich zu sehr. Sie wendet es bei allen passenden und nicht passenden Gelegenheiten an. Wir haben die reichste Sprache, die je ein Volk zusammengetragen hat, und benutzen sie, als wäre sie die ärmste. Unsern unermeßlichen Wortvorrat speichern wir zwischen den Deckeln der Wörterbücher auf und geben in unsrer Unterhaltung nur die abgenützten Kupfermünzen aus diesem Schatze heraus. Wir sind die Geizhälse in der Geschichte der Philologie. Wenn wir dann unsre Pfennige sparen und dafür die unechten Münzen des heutigen Slang ausgeben können, sind wir ebenso vergnügt, als wenn wir eines blinden Bettlers Dank für eine ihm in den Hut geworfene Spielmarke vernehmen.

Etwas Derartiges sagte ich, nachdem Judit wieder behaglich auf dem Sofa saß und ich auch das Fenster wieder geöffnet hatte, da der Bänkelsänger zum nächsten Wirtshaus weitergezogen war, so daß »der Liebe süßer Traum«, der auf mich wie ein Alpdrücken wirkte, nur noch gedämpft an mein Ohr schlug. Judit sah mich verschmitzt an, während ich am Fenster stand und die verhältnismäßig frische Luft, sowie die relative Stille genoß.

»Ich freue mich, zu sehen, daß Sie noch immer derselbe sind. Der Umgang mit der jungen Wilden aus Syrien hat Sie nicht im geringsten verändert.«

»Erstens wachsen in Syrien keine Wilden,« erwiderte ich. »Und zweitens: wie hätte sie mich ändern können?«

»Wenn jetzt in diesem Augenblick die Himmel sich vor Ihnen öffneten und ein neues Jerusalem auftauchte,« entgegnete Judit mit der ihrem Geschlecht eigenen Fähigkeit, etwas gar nicht zur Sache Gehöriges hereinzuziehen, »wären Sie imstande, eine ganz nüchterne Untersuchung über die bildliche Darstellung der Engel anzustellen.«

Ich saß auf dem Sofa und faßte sie an einem ihrer rosigen Öhrchen. Sie hat nämlich ganz reizende Ohren, und diese waren es auch, die mir damals in der römischen Pension vor allem andern ausgefallen sind – die kleinen Ohren, das seidenweiche Blondhaar und die dunkelblauen Augen.

»Haben Sie diese eigentümliche Redeweise in Paris aufgeschnappt?« fragte ich.

Sie hatte die Dreistigkeit, zu behaupten, daß vielmehr ich ihr Vorbild sei, und daß sie finde, die Nachahmung sei ihr recht gut gelungen.

Ehe wir uns trennten, kam sie noch einmal auf Carlotta zurück.

»Bekomme ich das junge Ding nicht zu sehen?« fragte sie.

»Das hängt ganz von Ihnen ab.«

»O, mir persönlich ist die Sache vollständig gleichgültig, lieber Markus,« entgegnete sie mit einem hochmütigen Ausdruck, hinter dem die Frauen ihre unmäßige Neugier zu verbergen pflegen.

»Dann sehe ich nicht ein, warum Sie sie kennen lernen sollten,« erwiderte ich etwas boshaft.

»Ich würde ihr schon auf die Schliche kommen, und Sie dann darauf aufmerksam machen.«

»Worauf?«

Sie zuckte die Schultern, als ob es sich nicht lohnte, an einen solch dummen Menschen wie mich noch mehr Worte zu verschwenden.

»Bringen Sie sie einmal nachmittags zu mir,« sagte sie dann.

Habe ich klug daran getan, Judit mein Erlebnis zu beichten? Warum gebrauche ich das Wort »beichten«? Bin ich nicht weit davon entfernt, eine Schlechtigkeit begangen zu haben? Ich bilde mir im Gegenteil ein, einen Beweis musterhafter Nächstenliebe gegeben zu haben. Verlangte mich etwa nach einer jungen Wilden aus Syrien, die mein streng geregeltes Leben über den Haufen werfen würde? Judit macht sich das gar nicht klar. Es schwante mir ja wohl, daß sie dem armen Mädchen nicht ohne Vorurteil begegnen werde. Und diese Ahnung hat sich bestätigt. Hätte ich nur den Mund gehalten! Da sich Judit aus einem nur ihr bekannten weiblichen Grund beständig geweigert hat, auch nur einen Fuß in mein Haus zu setzen, hätte ihr Carlottas Dasein für immer verborgen bleiben können. Und warum auch nicht? Die Tatsache, daß das Mädchen mein Pflegekind ist, ändert an dem Markus Ordeyne, der mit Judit verkehrt, kein Jota. Dieser Gedanke ist geradezu absurd. Ach, wäre ich doch vorher klug gewesen! Dann hätte ich mir viel Ärger erspart.

Ich bekam einen Brief von meiner Tante Jessica mit einer Eintrittskarte zu einem Kostümball in den Empreßrooms. Das abgeschmackte Frauenzimmer!

»Komm gewiß! Es ist gar nicht recht von einem jungen Mann, ein Leben wie ein siebzigjähriger Einsiedler zu führen. Die Saison in London ist auf ihrem Höhepunkt, und du bist gewiß noch nicht zehnmal in Gesellschaft gewesen, obgleich dir mehr als hundert der besten Häuser offen stehen.« – Wie mir der Ausdruck »die besten Häuser« zuwider ist! Wie viel oberflächliches und unwahres Wesen macht sich da breit! Wenn ich Zerstreuung haben wollte, würde ich lieber an einem »Mütterabend« teilnehmen oder ein ernstes englisches Drama sehen. – O, ich kenne diese besten Häuser! Ob ich den und den Roman gelesen habe? Ob ich zum Ball bei Mrs. Dingsda gehe? Ob ich im Park reite? Ob ich den jungen Springinsfeld bei den Leibhusaren kenne, der die Lady Betty Soundso heiratet? Was ich von der Akademie halte? Als ob man betreffs der Akademie etwas anderes empfinden könnte, als Bedauern über die Verschwendung frischer Farben – »Du mußt aufgerüttelt werden,« fährt meine Tante fort. Dummes Weib! Wenn ich etwas nicht ausstehen kann, ist es das Aufgerütteltwerden. »Komm und iß mit uns (um halb acht Uhr) im Kostüm. Ich verspreche dir einen entzückenden Abend. Und bedenke, wie stolz die Mädchen sein werden, ihren beau cousin vorstellen zu können!« Et patiti et patita! Wieder werde ich daran erinnert, daß ich das alles meiner Stellung, meinem Rang verdanke. Gott bewahre mich! Mich wie ein Scheurenpurzler in einer Jahrmarktsbude herausputzen und in verpesteter Luft mit einer Menge unbekannter und uninteressanter junger weiblicher Wesen herumhüpfen! Das wäre die richtige Art, die Verpflichtungen der Baronswürde zu erfüllen, die der Fürst des Landes meinem Urgroßvater und nach ihm seinen Nachfolgern mit diesem Titel und Rang auferlegt hat. Da fällt mir ein, daß dieser Fürst der Prinzregent war, und daß mein Ahne ihm einst in Brighton allerlei Dienste leistete. Am Ende liegt doch eine bittere Ironie der Wahrheit in Tante Jessicas Vorschlag!

Und ein » beau cousin« wäre ich sicher! In welchem Kostüm ich ihrer Meinung nach wohl erscheinen sollte? Als Musketier? Oder als Troubadour in Pluderhosen, in einem blauen Atlasmantel, in langen weißseidenen Strümpfen und Schnallenschuhen? Mit einem griechischen Helm auf dem Kopf, wie Mr. Snodgraß auf Mrs. Leo Hunters fête champêtre?

Wenn ich nur ergründen könnte, warum Tante Jessica mich in ihr gesellschaftliches Jahrmarktgetriebe hineinziehen will? Sollten die armen Mädchen keine besseren Tänzer zu erwarten haben als mich? Dann sei ihnen der Himmel gnädig!

Erst vor vierzehn Tagen bin ich mit ihnen nach Hurlingham gefahren. Meine Tante und Gwendolin verschwanden auf unerklärliche Weise mit einem andern Herrn und ließen mich in einem kleinen Zelt als Doras Beschützer zurück. Anderthalb Stunden lang genoß ich die unverdünnte Dora. Die Dosis war zu stark und verursachte mir Kopfweh. Da ziehe ich die unverdünnte Carlotta vor.


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