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Drittes Kapitel

24. Mai.

Es ist etwas geschehen. Etwas Phantastisches, etwas Unbegreifliches. Jetzt werde ich mich über nichts mehr verwundern. Wenn eine Hexe auf einem Besenstiel zu meinem Fenster hereinritte und mir eine Vorlesung über die vierte Dimension halten wollte, so würde ich den Besuch als etwas ganz Natürliches betrachten.

Stundenlang bin ich in diesem mit Büchern angefüllten Zimmer auf und ab gegangen und habe mich gefragt, ob die Welt oder ich verrückt geworden sei. Bisweilen mußte ich lachen, denn die Sache ist einfach lächerlich. Bisweilen aber verfluchte ich die Unverschämtheit, daß die Sache überhaupt vorgekommen ist. Einmal stolperte ich über einen Band Muratori, der auf dem Boden lag, und stieß ihn zornig mitten durchs Zimmer. Dann aber hob ich ihn auf und weinte über den verdorbenen Einband.

Die Frage ist: Was in aller Welt soll ich tun? Warum hat Judit auch gerade diese Zeit wählen müssen, ihr Haus zuzuschließen und sich nach Paris zurückzuziehen? Warum hatte mein Rechtsanwalt gerade diesen Morgen zum Unterschreiben seiner dummen Dokumente festgesetzt? Warum kam ich drei Stunden zu spät? Warum bin ich über das Themse-Embankment gegangen? Und warum, o warum setzte ich mich auf eine Bank in den Anlagen unter der Terrasse des Nationalliberalen Klubs?

Der gestrige Tag war einer der friedlichsten und glücklichsten meines ganzen Lebens. Ich arbeitete zufrieden an meinem Werk und plauderte mit Antoinette, die mit der Bitte, eine Katze halten zu dürfen, zu mir gekommen war.

»Was für eine Katze?« fragte ich.

»Vielleicht kann Monsieur die Katzen nicht leiden?« forschte sie ängstlich.

»Bei den alten Ägyptern wurde die Katze als eine Gottheit verehrt,« bemerkte ich.

»Aber diese Katze, Monsieur, hat nur ein Auge,« sagte sie in atemloser Hast.

Ich unterhalte mich lieber mit Antoinette, als mit dem ganzen Lehrerkollegium von Girton.

Wenn sie eines Morgens erwachte und entdeckte, daß sie eine Seele hätte, würde sie es für eine Krankheit halten.

Am Nachmittag ging ich in Regent's Park spazieren, und als ich da Mrs. Murrays neunjährigem Söhnchen begegnete, in Begleitung eines Dienstmädchens, um das ein dämlicher Kerl in einem steifen Hut herumscharwenzelte, nahm ich das Kind mit mir in den Zoologischen Garten. Unterwegs erzählte es mir mit größter Freude, seine deutsche Erzieherin liege an einem furchtbar schlimmen Hals zu Bett, und deshalb habe es keine Stunden. Der dämliche Kerl dort sei Millys Bekanntschaft, und bei dem ekelhaften Getue, das die beiden miteinander verführten, werde es einem ganz übel. Nachdem er dann alles gegessen hatte, was zu essen da war, und auf allem nur möglichen geritten war, fuhr ich mit ihm in die Wellingstraße und setzte ihn bei seinen Eltern ab. So ein paar mit einem Kinde verbrachte Stunden, das ganz glücklich, ganz artig ist, sind mir ein großer Genuß. Und der Genuß wird noch intensiver im Gefühl der Dankbarkeit dafür, daß das Kind nicht das meinige, sondern das eines andern ist.

Am Abend hatte ich dann etwas gelesen und über mein glückliches Los nachgedacht. Die Jahre der Schule mit ihrer Sklaverei haben in meiner Erinnerung schon etwas von ihrer Bitterkeit eingebüßt, und manchmal frage ich mich, ob ich sie auch wirklich erlebt habe. Jetzt hatte ich keinerlei Sorgen auf der Welt und keinen Wunsch, den ich mir nicht hätte erfüllen können. Ich dachte an Judit, dann an Pasquale. Und es machte mir Spaß, irgend eine Gestalt der Renaissance zu finden, von der Pasquale die Wiederverkörperung sein könnte. Der junge Olgiati, einer der Mörder des Gian Galeazzo Sforza, schien mir dafür zu passen. Von den vielen hundert britischen Jünglingen, mit denen ich während der Zeit meiner Sklaverei zu tun gehabt hatte, ist Pasquale der einzige, der mich, nachdem er zum Mann herangewachsen war, aufgesucht hat. Und doch waren wir überhaupt nur ein paar Monate zusammengewesen, und zwar in jenem ersten Jahr, das ich die Lehrlingszeit des mir so widerwärtigen Berufs nennen möchte. Er war damals in der sechsten Klasse und nur drei oder vier Jahre jünger als ich, und der tollste, ausgelassenste und diabolischste, unbeliebteste Junge der ganzen Schule. Der Lehrkörper, dem gezwungenerweise das Konventionelle immer heilig sein muß, konnte ihn nicht ausstehen. Ich allein hatte etwas für ihn übrig, und ich glaube, daß meine merkwürdige Leidenschaft für das italienische Cinquecento etwas mit dieser Zuneigung zu tun gehabt hat. Im Äußeren ist er genau so englisch wie ich, denn er ist von einer englischen Mutter in England erzogen worden, aber es gibt Tausende von Hindus, die britischer aussehen als er. Heute nachmittag haben mir die Murrays schreckliche Dinge von ihm erzählt. Als er einmal für eine hartherzige Wiener Tänzerin glühte, hatte er ihren Kutscher sinnlos betrunken gemacht, sich selbst in dessen Livree geworfen und war nach der Vorstellung mit der Dame in später Nacht in die Vorstadt hinausgefahren. Was eigentlich geschehen ist, wußten die Murrays nicht; aber er habe in Wien ordentlich Haare lassen müssen. Und doch hat dieser inkonsequente Libertin das folgende vor meinen Augen getan: In dem strengen Winter 1894 gingen wir beide miteinander Piccadilly hinunter. Es hatte gefroren und war bitter kalt. Ein vor Kälte zitternder armer Tropf, dessen häßliche rote Zehen aus seinen Schuhen herausguckten, verkaufte Zündhölzer auf der Straße. »Nein, das kann ich nicht mitansehen!« rief Pasquale. Damit sprang er in eine langsam vorüberfahrende Droschke, zog eilig seine Stiefel aus, warf sie dem versteinerten Bettler zu und fuhr in Strümpfen nach Hause. Ich stand mit gemischten Gefühlen auf dem Bürgersteig und sah zu, wie der Empfänger inmitten einer Gruppe höchst interessierter Zuschauer die kleine, wohlgeformte Sohle an seinem Riesenfuß maß, die Stiefel dann mit einem Grinsen unter den Arm steckte und mit ihnen zum nächsten Pfandleiher wanderte. Wenn Pasquale ein ebenso mitleidiger Brite gewesen wäre, hätte er vorher überlegt und dem Mann dann einen Sovereign zugeworfen. Aber er überlegte nicht vorher; das war mein Pasquale des Cinquecento. Und ich liebte ihn dafür.

Wie ich schon angedeutet habe, ging ich gestern abend als das befriedigtste aller menschlichen Wesen zu Bett. Und als ich heute morgen erwachte, drückte mich absolut nichts, als höchstens die Verabredung mit meinem Rechtsanwalt. Die Sonne schien und eine Drossel sang lustig in der großen Ulme vor meinen Schlafzimmerfenstern. Der Baum schien zu lachen; er schüttelte sein Blättergewand wie eine Frau ihren Staat, indem er mir zuflüsterte: »Sieh, wie schön grün ich nach dem Sonntagregen bin!« Antoinettes einäugige schwarze Katze (ein abscheuliches Biest) kam mir im Flur entgegen und begrüßte mich mit gekrümmtem Rücken leutselig in ihrer neuen Residenz. Auf meinem Frühstücktisch fand ich ein Exemplar der ersten Ausgabe von Cristoforo da Costàs » Elogi delle Donne Illustri«. Ich hatte Lord Carnford, der mir vollkommen fremd war, mit größter Schüchternheit gebeten gehabt, mir die hohe Gunst zu erweisen, mich in diesem zu den Schätzen seiner Bibliothek zählenden Buche etwas nachschlagen zu lassen; und da hatte er es mir nun mit der großartigen Höflichkeit eines Gelehrten zugeschickt, damit ich das Buch nach Belieben benützen könne.

Höchst menschenfreundlich und leutselig gestimmt, machte ich mich vormittags auf den Weg zu meinem Rechtsanwalt. Ich kam um drei Uhr dort an, denn ich hatte mich bei einem Antiquar aufgehalten und unterwegs gefrühstückt. Nachdem das unleserliche Dokument unterschrieben war, ging ich das Embankment entlang spazieren. Als ich unter der Hungerfordbrücke durchging, fühlte ich mich etwas erhitzt und müde, und die hübschen Anlagen luden mich gar freundlich zum Ausruhen ein. Ich schlug einen schattigen Pfad ein und ließ mich auf einer bequemen Bank nieder. Außer mir saß nur ein schwarzgekleidetes weibliches Wesen auf der Bank. Da ich mich jedoch nicht für schwarzgekleidete weibliche Wesen interessiere, nahm ich keine Notiz von ihr und versenkte mich in den Anblick des wohlgepflegten Rasens und der Blumenbeete, der grünen Bäume, die die wenig hübsche Surreyseite des Flusses verdecken, sowie in die Rückseite des Standbilds von Sir Bartle Frere. Da mir ein fortgesetztes Anstarren dieses Herrn durchaus nicht zur Erbauung gereichte (eine Statue, die einem den Rücken zukehrt, ist der langweiligste Gegenstand, den Menschen je gemacht haben), zog ich ein in braunes Leder gebundenes Buch aus der Tasche, das ich in einem Groschenstand ergattert hatte: Suite de l'histoire du Gouvernement de Venise ou l'Histoire des Uscoques, par le Sieur Houssaie, Amsterdam MDCCV.« Die ganze gelehrte Geschichte eines vergessenen Volkes für einen Groschen! Die Uskoken waren ursprünglich Dalmatiner, die sich zu Segna an der Adria niederließen und die schändlichste Piraten- und Desperadokolonie des sechzehnten Jahrhunderts in ganz Europa wurden. Ich blätterte in den stockfleckigen Seiten, sog den scharfen, dumpfigen Geruch ein und dachte unwillkürlich: »Wie viel mit dem Herzblut des Schreibers erkaufte Gelehrsamkeit, wie viele Millionen Stunden harten geistigen Kampfes sind gänzlich verschollen bis auf den Moderduft, der gelegentlich einem gelehrten Bibliophilen in die Nase steigt!«

Während ich so dachte, fiel mein Auge immer wieder auf den oft wiederholten Namen der Frangipani, der einstigen Herren von Segna. Ihre Taten sind in der landläufigen Weltgeschichte ausgelöscht, aber ihr Name hat sich zu einem sinnlichen Duft verdichtet, der sich vielleicht in den billigen Parfümfläschchen der Jahrmarktbuden wiederfindet. Unwillkürlich mußte ich über dieses sonderbare Geruchsassociation lächeln, und ich überlegte eben, ob wohl irgend ein gegenwärtig lebendes menschliches Wesen das Buch dieses Sieur Houssaie gelesen haben möchte, als ein leichter Stoß gegen meinen Arm, ein Stoß, wie ihn etwa ein vernachlässigter Terrier seinem Herrn mit der Pfote versetzt, mich in die Wirklichkeit zurückrief. Ich wandte mich rasch um und sah in zwei samtene, flehende, klagende, braune Hundeaugen, die nicht einem Terrier, sondern dem vorhin nicht beachteten schwarzgekleideten weiblichen Wesen neben mir gehörten.

»Wollen Sie mir, bitte, sagen, was ich tun soll?«

Ich sah sie starr an. Nein, sie sah durchaus nicht so aus, wie ich mir nach dem halb unbewußten Blick, den ich kurz zuvor auf sie geworfen hatte, dieses schwarzgekleidete weibliche Wesen vorgestellt hatte; es war nämlich ein ganz junges, außerordentlich hübsches Geschöpf. Gleich beim ersten Blick fielen mir die Augen, das üppige goldbraune Haar und ein kindlich verzogenes Mäulchen auf. Aber die ganze Erscheinung hatte ein unordentliches, zerzaustes Aussehen, an dem wohl der etwas unsolide Anzug schuld war. Überdies waren ihre Hände – sie hatte keine Handschuhe an – des Waschens höchst bedürftig.

»Was ein so junges Mädchen wie Sie nicht tun sollte, ist, Herren an öffentlichen Orten anzureden.«

»Dann muß ich sterben,« erwiderte sie hilflos, indem sie von mir wegrückte.

Sie hatte einen ganz merkwürdigen fremden Akzent. Ich sah sie noch einmal an, und zwar diesmal etwas kritischer, und nun entdeckte ich, warum sie so zweifelhaft aussah. Die ganze kleine Person steckte in einem schwarzen Kleid, das viel zu groß für sie war. Da und dort, aber an den unpassendsten Stellen, waren große Falten mit Stecknadeln zusammengesteckt, so daß der Schmuck der Taille – schwarzer Samt und Jetschnallen – nur ein sonderbares Kuddelmuddel bildete. Ganz instinktmäßig stieg der Gedanke in mir auf: Dieses Kleid hat sich vor vielen Jahren eine ältliche dicke Jüdin, die mit getragenen Kleidern handelte, als Staatskleid für die Synagoge machen lassen. An der Mädchengestalt da vor mir sah es geradezu abgeschmackt aus. Ebenso abgeschmackt war ihre Kopfbedeckung, ein Monstrum von einem schwarzgarnierten Hut, von dem eine billige abgeknickte Feder herunterhing.

Die Fremde warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, wandte ihn aber sogleich wieder ab. Dann zuckte sie die Schultern und begann zu schluchzen. Meine Mutter hatte einmal ein Dienstmädchen gehabt, das immer in dieser Weise schnüffelte, ehe es zu weinen begann. Ich wußte nicht, was tun. Steinern und ungerührt sitzen zu bleiben, während dieses ungeheuerlich angezogene Frauenzimmerchen weinte, vermochte ich nicht, aber fortgehen und sie da sitzen lassen, das konnte ich auch nicht. Jetzt sah sie mich wieder an. Nein, diese glänzenden flehenden Augen waren kaum menschlich – ich kapitulierte.

»Weinen Sie nicht, sondern sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann,« sagte ich.

Sie rückte ein paar Zoll näher.

»Harry möchte ich wiederfinden,« antwortete sie. »Ich habe ihn verloren.«

»Wer ist Harry?« fragte ich selbstverständlich.

»Es ist mein künftiger Mann.«

»Wie heißt er weiter?«

»Das habe ich vergessen,« sagte sie, die Hände ausstreckend.

»Kennen Sie sonst jemand in London?« fragte ich.

Sie schüttelte traurig den Kopf. »Und ich bin so hungrig.«

Ich sagte, es gebe ja Gasthäuser in London.

»Aber ich habe kein Geld,« entgegnete sie. »Kein Geld und« – auf ihr Kleid deutend – »nichts als dies. Ist es nicht greulich?«

»Es ist ganz entschieden nicht sehr kleidsam,« gab ich zu.

»Nun, was soll ich anfangen? Sagen Sie es mir, dann werde ich es tun. Wenn Sie es mir nicht sagen, muß ich sterben.«

Nachdem sie die Verantwortung für ihr Leben so auf meine Schultern abgeladen hatte, lehnte sie sich ruhig auf der Bank zurück. Ich wußte nicht, was ich mehr bewundern sollte, ihre kalte Sicherheit, oder den stoischen Mut, mit dem sie dem Tod entgegensah.

»Ich kann Ihnen etwas Geld geben, womit Sie ein paar Tage leben können,« sagte ich. »Aber Harry aufzufinden, ohne seinen Namen zu kennen –«

»Schließlich bin ich gar nicht so sehr darauf aus, ihn zu finden,« sagte diese erstaunliche junge Person. »Auf dem Dampfschiff habe ich immerfort in meiner Kabine bleiben müssen. Zuerst bin ich froh gewesen, denn das Schiff ging auf und ab, hin und her, und ich habe gedacht, ich muß sterben, denn ich bin krank gewesen; aber nachher ist es mir besser gegangen –«

»Aber woher kommen Sie denn?« fragte ich.

»Von Alexandretta.«

»Was taten Sie dort?«

»Ich bin auf einem Baum gesessen und habe über die Mauer –«

»Welche Mauer?«

»Die Mauer von meinem Haus – von meines Vaters Haus. Er war zwar nicht mein Vater, aber er hat meine Mutter geheiratet. Ich bin eine Engländerin.« Diese letzte Tatsache brachte sie mit großem Nachdruck vor.

»Wirklich?« fragte ich.

»Jawohl. Vater, Mutter – beide Engländer. Er ist Vizekonsul gewesen. Er ist gestorben, ehe ich geboren wurde. Dann hat sein Freund Hamdi Effendi meine Mutter genommen und sie hat geheiratet. Verstehen Sie?«

Ich mußte gestehen, daß dies nicht der Fall war. »Aber wo kommt nun Harry herein?« fragte ich.

Sie sah überrascht aus. »Kommt herein?« wiederholte sie.

Ihr englischer Wortvorrat war offenbar sehr beschränkt, und ich stellte meine Frage anders.

»O,« sagte sie etwas lebhafter. »Er ist oft an der Mauer vorbeigegangen, und ich habe mit ihm gesprochen, wenn uns niemand gesehen hat. Er ist sehr hübsch gewesen – viel hübscher als Sie.«

»Ist es möglich?« erwiderte ich ironisch.

»O ja,« erklang ihre Antwort mit vollkommenem Ernst. »Er hat einen Schnurrbart gehabt, aber der ist nicht so lang gewesen.«

»Nun gut. Sie sprachen also mit Harry. Und was dann?«

In ihrer unschuldigen Weise berichtete sie mir ihre Geschichte, eine erbauliche Geschichte, die so alt ist, wie die Kreuzzüge: eine abendländische Verkleidung, von dem teuren Harry in einem Trödelladen gekauft, ein Seil, eine mitternächtliche Flucht, ein Billett für die Überfahrt auf einem englischen Schiff; dann werden die Anker gelichtet und die Liebenden sind frei auf dem wogenden Ozean. Wirklich eine äußerst erbauliche Geschichte. Ich machte plötzlich ein sehr ernstes Gesicht und fragte ohne alle Umschweife: »Flunkern Sie mir das nicht alles vor, junge Dame?«

Sie fuhr zusammen, ja, sie sah ganz verblüfft aus.

»Meinen Sie, ob ich lüge? Nein, nein, es ist alles wahr. Warum sollte es denn nicht wahr sein? Wie wäre ich denn sonst hierhergekommen?«

Diese Frage war nicht zu beantworten. Ihre Geschichte war ebenso unglaublich wie ihr Anzug, der dennoch Wirklichkeit war. Ich sah ihr tief in die großen, unschuldigen Augen. Ja, sie hatte mir die Wahrheit gesagt. Eine Weile plauderte sie noch weiter, und was ich erfuhr, ist folgendes: Ihr Stiefvater Hamdi Effendi ist ein türkischer Beamter. Sie hat ihr ganzes Leben in einem Harem verbracht, und aus diesem ist sie mit dem hübschen jungen Engländer durchgegangen.

»Und was soll ich nun anfangen?« fragte sie weiter.

Ich sagte, sie müsse mich eine Weile überlegen lassen. Für gewöhnlich trifft man ja keine entführten Haremstöchter in den Anlagen unter der Terrasse des Nationalliberalen Klubs. Dies war wirklich ein höchst verblüffendes Ereignis für mich. Ich sah mich um. Während der letzten zehn Minuten schien ganz und gar nichts geschehen zu sein. Ein blasser junger Mann, den ich schon bei meinem Eintritt bemerkt hatte, las auf der nächsten Bank noch immer in einer schmutzigen roten Zeitung. Die Tauben und Sperlinge hüpften unbekümmert umher. An der Reihe Droschken, die ich durch das Laubwerk gerade noch unterscheiden konnte, lehnten die Kutscher in verdrossenen Stellungen. Sir Bartle Frere wandte mir gleichgültig den Rücken zu, ohne jegliches Interesse für diese Geschichte. Von jeher habe ich dem Charakter dieses Mannes nicht recht getraut.

Welchen Rat sollte ich nur geben? Das Beste wäre, den verdammten Harry ausfindig zu machen. Ich fragte das Mädchen, auf welche Weise sie ihn verloren habe. Es scheint, er hat sie in Southhampton ans Land gebracht, nachdem er sie während der ganzen Überfahrt kaum angesehen hatte, und sie hierauf mit dem strengen Befehl, sich nicht von der Stelle zu rühren, bis er sie abhole, in einen Eisenbahnwagen gesetzt, um dann zu verschwinden.

»Hat er Ihnen ein Billett gegeben?«

»Nein.«

»Was für ein abgefeimter Spitzbube!« rief ich aus.

»Ja, ich mag ihn auch gar nicht,« sagte sie.

Wie es ihr gelang, an dem Billettkontrolleur in Vauxhall vorbeizukommen, konnte ich nicht genau herausbringen. Allem nach hatte sie ihm auf ihre vertrauensselige Art gesagt, Harry habe das Billett, und als sich in dem Zug kein Harry fand und er mit dieser Nachricht zu ihr zurückkehrte, hatte sie ihre Samtaugen flehentlich auf ihn gerichtet, und der gefühlvolle Kerl hatte sich erweichen lassen. In Waterloo hatte ihr jemand gesagt, sie müsse jetzt aussteigen, und sie hatte widerstandslos gehorcht. Sie war dann aus dem Bahnhof hinaus und über die Brücke gegangen, bis sie schließlich in den Anlagen des Embankments landete. Dann hatte sie mich gefragt, wie sie Harry wiederfinden könne. Es war wirklich eine lächerliche Ähnlichkeit zwischen ihr und Thomas à Beckets Sarazenenmutter, die in London weinend ihren Gilbert sucht. Das Allerlächerlichste aber an der Ähnlichkeit war, daß sie den Namen des Menschen nicht wußte.

»Übrigens, wie heißen Sie denn?« fragte ich.

»Carlotta.«

»Carlotta? Und wie weiter?«

»Ich habe sonst keinen Namen.«

»Aber Ihr Vater – der Vizekonsul – hatte doch einen?«

Sie runzelte die Stirn in tiefem Nachdenken.

»Ramsbotham,« sagte sie schließlich triumphierend.

»Miß Ramsbotham – nein, nein, das geht nicht,« unterbrach ich sie. »Solch eine Anrede ist vorsündflutlich, sprachwidrig und unendlich abgeschmackt. Ich kann mich ihrer nicht bedienen und muß mir deshalb die Freiheit nehmen, Sie einfach Carlotta zu nennen.«

»Aber ich habe Ihnen doch gesagt, daß das mein Name sei,« sagte sie in naiver Unschuld.

»Und der meinige ist Sir Markus Ordeyne. Man nennt mich Sir Markus.«

»Siir Markuus,« sagte Carlotta.

Die Tatsache, daß sie mit einem Mitglied des Adelstandes redete, schien ihr durchaus keinen Eindruck zu machen.

»Ganz recht,« sagte ich. »Und jetzt, Carlotta,« fuhr ich fort, »müssen wir in allererster Linie nach Harry fahnden. Er hat vielleicht den Zug verfehlt, ist mit einem späteren nachgekommen und späht jetzt auf dem Waterloobahnhof überall nach Ihnen aus. Sollten wir keine Spur von ihm finden, will ich mit Ihnen zum türkischen Konsul gehen und Sie dort absetzen; von dort aus wird man Sie wohlbehalten nach Alexandretta zurück bringen. Der gute Hamdi Effendi ist ohne Zweifel außer sich über Ihr Verschwinden und wird Sie mit offenen Armen empfangen.«

Ich sagte dies lediglich aus Höflichkeit und Wohlwollen.

Sie aber sprang auf, wurde kreideweiß, riß ihre großen Augen weit auf, öffnete ihren Babymund, fiel mitten in den Anlagen auf die Kniee nieder und hob die gefalteten Hände flehend empor.

»Um Gottes willen, stehen Sie auf!« rief ich, indem ich sie eiligst auf die Bank neben mich zog. »So etwas dürfen Sie nicht tun. Im Handumdrehen wird ganz London um uns versammelt sein und uns anstarren.«

Die kleine Szene hatte auch wirklich schon den bleichen jungen Mann aus seiner Lethargie aufgeweckt, und er legte die schmutzige rote Zeitung auf seine Kniee. Ich hielt Carlotta am Handgelenk fest. Sie aber schluchzte in abgerissenen Worten: »Sie dürfen mich nicht zurückschicken – Hamdi würde mich umbringen – o bitte, schicken Sie mich nicht zurück – er wird mich zu einer Heirat mit seinem Freund Mustapha zwingen – Mustapha hat nur zwei Zähne – und er ist siebzig Jahre alt – und er hat schon eine Frau – ich bin nur mit Harry gegangen, um Mustapha zu entwischen. Hamdi würde mich umbringen, er würde mich prügeln, ich müßte Mustaphas Frau werden.«

So viel brachte ich aus den wirren Reden des vor Angst fast unzurechnungsfähig gewordenen Geschöpfs heraus.

»Aber der türkische Konsul ist Ihr natürlicher Beschützer,« sagte ich.

»Sie können nicht so grausam sein,« schluchzte sie.

Der Kehllaut, mit dem sie das »r« in grausam rollte, ließ das Beiwort als empörende Barbarei erscheinen. Und dabei richtete sie ihre verflixten Augen auf mich.

Ich möchte wissen, ob es je einen größeren Narren gegeben hat als mich, denn ich versprach ihr mit meinem Ehrenwort, daß ich sie nicht dem türkischen Konsul ausliefern wolle.

Dann nahm ich eine Droschke und fuhr mit ihr nach dem Waterloobahnhof. Unterwegs sagte sie wieder, sie sei sehr hungrig, und ich gab ihr am Büfett etwas zu essen. Für hartgekochte Eier und Limonade schien sie eine Leidenschaft zu haben. Harry aufzufinden lag ihr aber offenbar nicht besonders am Herzen, denn sie plauderte die ganze Zeit über die Einrichtungen am Schenktisch. Die Bierhähne machten ihr besonders Spaß. Sie bat mich, ein Glas Bier zu bestellen (ein Getränk, das ich verabscheue), nur um noch einmal zu sehen, wie es eingeschenkt wird, und sie brach darüber in lustiges Lachen aus. Die flotte, aber nicht mit Einbildungskraft begabte Kellnerin stierte Carlotta erstaunt an, und die zwei oder drei herumstehenden Biertrinker starrten sie auch an. So war ich froh, als wir den Bahnsteig erreicht hatten.

Hier aber verfolgte uns eine Gruppe Straßenbummler, die sich im Kreis um uns aufstellten, als wir bei einem Eisenbahnbeamten stehen blieben und ihn um seinen Rat fragten. Das schöne junge Mädchen mit den großen Augen und dem goldbraunen Haar war in ihrem unkleidsamen Anzug – noch nie habe ich eine abgeknickte schwarze Feder frecher hin- und herschwanken sehen – allerdings ein Anblick, der das Herz des Londoner Straßenbummlers mit Erstaunen erfüllen mußte. Und vielleicht wurde das Widersinnige ihrer Erscheinung dadurch, daß sie sich in meiner Gesellschaft befand, noch vermehrt. Ich weiß, ich bin groß, mager und unschön; aber zu meinem Trost weiß ich auch, daß ich tadellos anständig aussehe. Die öffentliche Aufmerksamkeit, die wir erregten, war indes jedenfalls mir am peinlichsten von uns beiden. Ruhig und unbeirrt wie das Schicksal erwiderte Carlotta die Blicke der Umherstehenden und schien nur etwas ärgerlich über meine Anstrengungen, Harry zu finden. Mitten in einer ernsten Beratung mit dem Stationsvorstand bat sie mich um einen Penny, den sie in einen Bonbonsautomaten stecken wollte, an dem sie vorher einen kleinen Jungen mit Erfolg hantieren gesehen hatte. Doch ich schlug es ihr kurz ab und wandte mich wieder an den Stationsvorstand, als mich ein wieherndes Gelächter aufs neue unterbrach: Carlotta hatte wie das Äffchen eines Orgeldrehers mit ausgestreckter Hand und bittenden Augen den Jungen bewogen, ihr das klebrige Stück Zucker zu überlassen, und war eben im Begriff, es in den Mund zu stecken.

»Ich will morgen früh wiederkommen,« sagte ich rasch zu dem Vorstand. »Sollte der Herr indessen nachfragen, dann bitten Sie ihn um seinen Namen und seine Adresse.«

Dann nahm ich Carlotta beim Arm, und einen ganzen Schweif Zuschauer hinter mir, setzte ich sie in die erste beste Droschke.

Von Harry nirgends eine Spur. Kein hübscher junger Mann wartete betrübt am Bahnhof. Niemand hatte sich in Gegenwart der Beamten das Haar gerauft und sie um Auskunft über ein verlorenes, in schäbiges Schwarz gekleidetes weibliches Wesen angefleht. Kein Harry war zu entdecken. Es war also keine Notwendigkeit mehr vorhanden, dem britischen Publikum noch länger eine Gratisvorstellung zu geben.

»Fahren Sie los!« rief ich dem Kutscher zu. »Fahren Sie wie der Gottseibeiuns!«

»Wohin?«

Ich rang nach Luft. Wohin, wohin? Der Kopf schwirrte mir.

»Fahren Sie einstweilen einmal nur zu!« befahl ich.

Der philosophische Droschkenkutscher hielt mich nicht für einen Narren, denn er knallte lustig mit der Peitsche. Als wir den steilen Abhang hinuntergefahren waren und den Bereich des gräßlichen Bahnhofs hinter uns hatten, atmete ich etwas freier und fand mein Gleichgewicht wieder. Carlotta aber leckte an ihren klebrigen Daumen und wischte sie an ihrem Kleide ab.

»Wohin fahren wir?« fragte sie.

»Über die Waterloobrücke.«

»Was haben Sie vor?«

»Dich irgendwo abzusetzen,« sagte ich grimmig, sie unwillkürlich mit »du« anredend. »Aber wo, davon habe ich noch keine Ahnung. Es gibt eine Herberge für verlorene Hunde, eine Herberge für verlaufene Katzen und ein Fundbureau auf der Polizei, aber da du weder ein Hund, noch eine Katze, noch ein Regenschirm bist, kann keiner von diesen Orten in Betracht kommen.«

Die Droschke erreichte inzwischen den »Strand«.

»Soll ich nach Osten oder Westen fahren?« fragte der Kutscher.

»Nach Westen,« sagte ich aufs Geratewohl.

Während wir in langsamem Schritt den »Strand« entlang fuhren, war ich die Beute einer Reihe quälender Gedanken. Neben mir saß ein hilfloses, heimatloses junges weibliches Geschöpf ohne Angehörige, ohne Geld, schön wie eine Göttin und unerfahren wie ein neugeborenes Kind. Was in aller Welt sollte ich mit ihr anfangen? In heller Verzweiflung sah ich sie an, doch sie erwiderte meinen Blick mit einem zufriedenen Lächeln, gerade wie wenn wir alte Bekannte wären und ich sie eingeladen hätte, irgendwo mit mir zu Mittag zu essen. Der ungewohnte Londoner Lärm und Umtrieb machten nicht mehr Eindruck auf sie als vielleicht auf ein kleines Hündchen, das einen gütigen Herrn gefunden hat.

»Wie wäre es, wenn ich dir etwas Geld gäbe, dich hier absetzte und dich allein ließe?« fragte ich.

»Dann würde ich sterben,« sagte sie fatalistisch. »Oder ich würde vielleicht einen andern freundlichen Herrn finden.«

»Ich möchte wissen, ob du so etwas wie eine Seele hast?« sagte ich.

Sie strich über ihr Kleid. »Ich habe nur dies – und es ist sehr häßlich,« bemerkte sie. »Ich möchte gern ein rosa Kleid.«

Wir fuhren nun über Trafalgar Square und ich sah auf der großen Uhr, daß es ein Viertel vor sechs war. Nein, in alle Ewigkeit konnte ich nicht mit ihr in London herumfahren. Außerdem, um halb acht wartete mein Essen auf mich.

Warum, ach warum war Judit nach Paris gereist! Wäre sie hier gewesen, dann hätte ich Carlotta in Tottenham Mansions abgesetzt und wäre mit leichtem Herzen zu meinem Essen und Cristoforo da Costà zurückgekehrt. Judit hätte Carlotta riesig unterhaltend gefunden. Sie hätte ihren Körper gewaschen und ihr Temperament analysiert. Aber Judit ist »in der Zurückgezogenheit« bei Delphine Carrère und hat mich allein gelassen, um die Last des Lebens und Verantwortlichkeit für Carlotta auf mich zu nehmen.

Der Wagen fuhr langsam den Waterlooplatz hinauf. Einen Augenblick dachte ich an meine Tanten als mögliche Helfer in der Not, verwarf aber den Gedanken sogleich wieder. Ich dachte auch an eine Polizeistation, ein Hotel, meine Rechtsanwälte (zu spät), an eine möblierte Wohnung, ein Spital. Meine Seele war in einem schmerzlichen Wirrsal.

»Wo wohnst du?« fragte Carlotta.

Ich sah sie an und stöhnte. Ja, das war der einzige Ausweg.

»In der Nähe vom Regent's Park,« antwortete ich, wohl wissend, daß sie durch diese Auskunft kein bißchen klüger wurde.

Durch die Klappe in der Decke gab ich dem Kutscher jetzt meine eigene Adresse an.

»Ich werde dich nun mit mir nach Hause nehmen und heute nacht bei mir behalten,« sagte ich streng. »Meine ausgezeichnete französische Haushälterin wird dich versorgen. Und es soll gewiß nicht die Schuld der aufgebotenen vereinigten Polizei von Großbritannien sein, wenn dein nichtswürdiger Liebster nicht aufgefunden wird.«

Sie legte ihre schmutzige kleine Hand, die sich weich und kühl anfühlte, auf die meinige.

»Du bist böse auf mich. Warum?«

Ich entfernte ihre Hand.

»Das darfst du nicht wieder tun,« sagte ich. »Nein, ich bin durchaus nicht böse auf dich. Aber ich hoffe, du bist dir bewußt, daß dieses Ereignis von einzig dastehender Art ist.«

»Was ist einzig dastehender Art?« fragte sie, über das lange Wort stolpernd.

»Etwas, was nie zuvor geschehen ist, und was, wie ich zu Gott hoffe, nie wieder Vorkommen wird.«

Ihr Gesicht war mir zugewandt. Ihre Unterlippe zitterte ein wenig, und der Hundeblick trat wieder in ihre wunderbaren Augen.

»Du wirst gut zu mir sein,« sagte sie in ihren kindlichen einsilbigen Wörtern, von denen jedes mit einer langen Pause dazwischen sorgfältig ausgesprochen wurde.

Ich hatte das Bewußtsein, mich wie ein Grobian benommen zu haben, seit ich sie am Waterloobahnhof in den Wagen gesetzt hatte. Meine schlechte Laune verschwand, und ich lachte.

»Wenn du artig bist und tust, was ich sage,« erwiderte ich.

»Siir Markuus ist mein Herr, und ich bin seine Sklavin,« war ihre überraschende Antwort.

Dann machte ich mir klar, daß sie ja von Hamdi Effendi erzogen worden war. Etwas Gutes ist doch schließlich an der Haremserziehung.

»Ich freue mich, das zu hören,« sagte ich.

Sie schloß die Augen, und ich sah jetzt, wie müde sie war. Ich glaubte, sie sei eingeschlafen, und starrte gerade vor mich hin, während ich mich mit der Lösung der schwierigen Frage abquälte. Da wurde plötzlich der Wagenschlag heftig aufgerissen, und wenn ich Carlotta nicht zurückgehalten hätte, wäre sie auf die Straße hinausgesprungen.

»Sieh, sieh!« rief sie in großer Aufregung. »Dort! Dort steht Harrys Name!«

Und sie deutete auf einen dicht vor uns herfahrenden Metzgerkarren, aus dem in großen Buchstaben »E. Robinson« geschrieben stand.

»Wir müssen anhalten,« fuhr sie fort. »Er wird uns sagen, wo wir Harry finden.«

Ich brauchte die ganze Zeit vom Oxford-Circus bis Portman-Square, um sie zu überzeugen, daß es in London viel tausend Leute mit dem Namen Robinson gebe, und daß die Wahrscheinlichkeit, der Metzgerkarren könne einen Schlüssel zu Harrys Ermittlung abgeben, recht schwach sei.

In der Baker Street fragte sie müde: »Ist es noch weit bis zu deinem Haus?«

»Nein,« sagte ich ermutigend, »nicht sehr weit.«

»Aber man kann viele Tage lang durch die Straßen von London fahren, und dann kommen immer wieder Straßen und immer wieder Häuser. Das hat man mir in Alexandretta gesagt. London ist so groß wie der Mond, nicht wahr?«

Bei diesem Ausspruch fühlte ich mich unglaublich erleichtert. Sie war also doch eines Gedankens fähig. Ich hatte schon angefangen, mich zu fragen, ob sie nicht am Ende nur halb zurechnungsfähig sei. Die Tatsache, daß sie lesen konnte, hatte mich auch schon riesig gefreut.

»Viele Stunden lang, ja,« verbesserte ich. »Aber nicht viele Tage lang. London kommt dir also sehr groß vor?«

»O ja,« antwortete sie, indem sie sich mit der Hand über die Augen fuhr. »Es dreht sich mir alles im Kopf herum. An einem andern Tag wirst du mit mir durch diese wunderbaren Straßen fahren, aber jetzt bin ich zu müde. Ich bekomme Kopfweh davon.«

Dann schloß sie die Augen und öffnete sie erst wieder, als wir vor Lingfield-Terrace anhielten. Mein erster Eindruck von ihrer beschränkten Zurechnungsfähigkeit hatte sich bedeutend gemildert. Sie ist im Grunde gar nicht so unvernünftig. Wenn Boadicäa wieder ins Leben zurückgerufen und plötzlich an Charing-Cross abgesetzt würde, so würde ihr geistiger Zustand nicht weit von dem eines Blödsinnigen entfernt sein. Und doch war Boadicäa in ihrer eigenen Umgebung eine ganz vernünftige und begabte Dame gewesen.

Mein bewunderungswürdiger Diener Stenson öffnete die Tür und ließ uns eintreten, ohne mit der Wimper zu zucken. Selbst wenn ich mit einem wahren Ungeheuer zum Essen erschiene, würde er doch kein unpassendes Erstaunen an den Tag legen. Der unerschütterliche Gleichmut des wohlgeschulten Dieners hat meine ganze Bewunderung; er ist der Schutzengel seiner Selbstachtung. Ich befahl ihm, Antoinette ins Wohnzimmer zu rufen.

»Antoinette,« sagte ich, »diese junge Dame hat die ganze Reise von Kleinasien, wo der Apostel Petrus so viele Abenteuer zu bestehen hatte, bis hierher zurückgelegt, ohne die Kleider zu wechseln.«

» C'est-y Dieu possible!« rief Antoinette.

»Machen Sie ihr ein gutes warmes Bad zurecht, und vielleicht sind Sie auch so gut und leihen ihr die Leibwäsche, die euer Geschlecht zu tragen pflegt. Sie bringen sie dann ins Gastzimmer, denn sie wird hier übernachten, und sorgen für ihr allgemeines Wohlbefinden.«

» Bien, M'sieur,« sagte Antoinette, indem sie Carlotta äußerst verblüfft betrachtete.

»Und diesen Hut nebst Kleid stecken Sie in den Kehrichteimer.«

» Bien, M'sieur

»Und da das Fräulein sich totmüde fühlt, weil sie ohne Aufenthalt von Kleinasien hierhergereist ist, soll sie so bald als möglich zu Bett gehen.«

»Der arme Engel!« sagte Antoinette. »Aber wird sie nicht mit Monsieur zu Mittag essen?«

»Ich denke nicht,« erwiderte ich trocken.

»Aber die jungen Entchen, die ich für Monsieur in der Pfanne habe?«

»Wenn sie nicht gebraten würden, hätten sie Enten werden können.«

» Oh la la!« murmelte Antoinette halblaut.

»Carlotta,« sagte ich, mich an das Mädchen wendend, das sich demütig auf einen geradlehnigen Stuhl gesetzt hatte, »geh jetzt mit Antoinette und tu, was sie dir sagt. Sie spricht nicht Englisch, aber sie ist es gewohnt, sich andern Leuten verständlich zu machen.«

» Mais, moi parler français un peu,« sagte Carlotta.

»Dann wirst du Antoinettes Herz gewinnen, und sie wird dir ihre feinste – Gute Nacht,« sagte ich plötzlich. »Ich wünsche dir eine angenehme Ruhe.«

Sie ergriff meine ausgestreckte Hand, und zu meiner großen Bestürzung zog sie sie an ihre Lippen. Mit einem gerührten Glanz in den Augen sah Antoinette zu.

»Der arme Engel!« wiederholte sie.

Etwas später gab ich Stenson kurzen Aufschluß über das Vorgefallene. Das war ich meinem guten Ruf schuldig. Dann ging ich hinauf und kleidete mich zum Essen um. Das bin ich meiner Ansicht nach Stenson schuldig. Es war schon acht Uhr vorüber, als ich mich zu Tisch setzte, aber Antoinettes junge Entlein waren ausgezeichnet und gereichten mir einigermaßen zum Trost nach all den Widerwärtigkeiten des Tages. Als ich eben die letzte Ausgabe der Westminster Gazette auseinanderfaltete, um mir damit das Ruhestündchen nach dem Essen zu versüßen, trat Antoinette ins Zimmer und berichtete von meinem Schützling.

Sie sei jetzt fest eingeschlafen, die arme Kleine. Ach, wie todmüde sie gewesen sei! Sie habe einen Teller Suppe gegessen, ein Stückchen Fisch und einen Pfannkuchen. Aber sie sei schön, sanft wie ein Lamm und habe eine Haut – » on dirait du satin«. Ob Monsieur das nicht bemerkt habe?

Ich antwortete mit übergroßem Nachdruck: »Nein, ich habe es nicht bemerkt.«

»Monsieur betrachtet lieber das Innere seiner Bücher,« sagte Antoinette.

»Sie verdienen es gewöhnlich auch mehr,« erwiderte ich.

Antoinette gab hierauf keine Antwort, aber ich sah ein weibliches Beben um ihre dicken Lippen spielen.

Für die Nacht war das Mädchen also jetzt ganz gut untergebracht, und ich atmete erleichtert auf. Morgen würde die Polizei dann schon die Spur des verschwundenen Harry auffinden. Der Umstand, daß Carlotta sich seines Geschlechtsnamens zu entsinnen wußte, erleichterte die Sache sehr. So zündete ich mir denn eine Zigarette an und öffnete die Westminster-Gazette.

Einige Augenblicke später starrte ich mit Schrecken und Entsetzen auf die Zeitung.

Harry war gefunden, es war kein Zweifel möglich, Harry Robinson, der jüngere Teilhaber der Firma Robinson & Kompanie von Mincing Lane. Jetzt wäre es vollkommen überflüssig, die Hilfe der hohen Polizei anzurufen; Harry hatte sich nämlich in dem South Western Hotel zu Southhampton erschossen.

Im Laufe des Abends las ich den Zeitungsbericht immer wieder von neuem. Nein, es herrscht kein Zweifel mehr, es ist derselbe Harry.

Die Wege der Menschen sind unerforschlich. Da ist nun ein junger Mann, der ein Mädchen aus ihrem orientalischen Harem herauslockt, sie in abscheuliche Kleider steckt, auf ein Schiff schmuggelt, wo er sie sozusagen unter Schloß und Riegel hält, sich wenig oder gar nicht um sie kümmert, sie ohne einen Groschen Geld und ohne ein Billett in den Londoner Zug setzt, und dann hingeht und sich eine Kugel durch den Kopf schießt. Wie konnte man das verstehen?

Mit Harry habe ich keine Spur von Mitleid. So ein grüner egoistischer Korinthenhändler! Vor einem Jahre schon hätte er sich erschießen sollen! Der Kerl hat aufs gewissenloseste gehandelt. Und wie, meint er wohl, soll ich Carlotta die Nachricht beibringen? Seine Selbstsucht ist wirklich gräßlich. Da liegt er nun, ganz behaglich tot im South Western Hotel, während Carlotta buchstäblich keinen Fetzen anzuziehen hat, nachdem ihre gräßlichen Besitztümer dem Kehrichteimer überantwortet worden sind. Wer, denkt er wohl, wird Carlotta Nahrung und Obdach gewähren und ihr ein rosa Kleid schenken? Was, bildet er sich ein, soll aus dem armen verlaufenen Geschöpf werden? In meinem ganzen Leben habe ich noch nie von einem zynischeren Selbstmord gehört.

Stundenlang bin ich in meinem Zimmer hin und her gelaufen, bald lachend, bald fluchend, bald den Einband meines kostbaren Muratori mit Fußtritten malträtierend und mich fragend, ob ich oder die Welt verrückt geworden sei. Denn eines ist mir vollständig klar – Carlotta ist hier, und hier muß sie bleiben.

Obgleich die wohlgeordnete Ruhe meines Lebens darüber in die Brüche gehen wird, so viel ist sicher, ich muß Carlotta adoptieren.

Es gibt nichts andres.


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